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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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GESCHICHTE<br />

KURZMELDUNGEN<br />

REGIEREN PER<br />

ALGORITHMUS?<br />

Cass Sunstein untersucht die Rolle von<br />

Algorithmen in unserer Gesellschaft.<br />

DIE HALLER SALZPRODUKTION benötigte enorme Holzmengen. Flussabwärts treibende Stämme wurden mit dem Holzrechen aufgefangen<br />

und vor der Stadtmauer in unzähligen Holzstapeln gelagert. Auch die Schmelzöfen der Glashütte (re. im Bild) brauchten viel Holz.<br />

rund 69 Tonnen Getreide nach Schwaz<br />

gebracht, pro Kopf entsprach das einem<br />

halben Kilogramm am Tag, der hauptsächlich<br />

zu Bergmus – eine Art Porridge<br />

aus Mehl, Wasser und Schmalz – verarbeitet<br />

wurde. Um 1550 benötigte man<br />

in Schwaz jährlich an die 5. 000 bis 6. 000<br />

Ochsen, die am Landweg aus innerösterreichischen<br />

Gebieten, Böhmen, Ungarn<br />

und Polen nach Tirol getrieben wurden.<br />

Dazu kamen noch Schweine, Schafe und<br />

Geflügel, 13 Metzgereien sorgten für die<br />

Verarbeitung. Selbst in St. Martin am<br />

Schneeberg, eine auf 2. 354 Meter gelegene,<br />

ganzjährig bewohnte Knappensiedlung<br />

am Ende des Südtiroler Passeiertals,<br />

gab es eine Metzgerei, um rund 600 Ochsen<br />

vor Ort zu schlachten.<br />

Fluch statt Segen<br />

Doch der Bergbau war nicht nur Segen<br />

für das Land. So berichten Quellen von<br />

konkreten Umweltschäden rund um die<br />

Schmelzhütte Grasstein südlich von Sterzing<br />

– Äcker und Wiesen waren stark<br />

ausgemergelt, verderbt und geergert. Schwermetallhaltige<br />

Dämpfe, Rauch und Kohlepartikel<br />

sorgten für Luftverschmutzung,<br />

Schwermetalle drangen in Böden und Gewässer.<br />

Vor allem der Wald war betroffen,<br />

weniger aber durch Umweltschäden, viel<br />

mehr durch Kahlschlag. „Die ständige<br />

Versorgung mit Holz stellte ein großes<br />

Problem dar“, sagt Neuhauser.<br />

Die mehrere hundert Kilometer langen<br />

Stollensysteme wurden mit Holz<br />

gesichert, aufgrund der feuchten Bedingungen<br />

mussten die Verzimmerungen<br />

alle sechs bis acht Jahre erneuert werden.<br />

Werkzeuge, Betriebsanlagen und -gebäude,<br />

aber auch die Häuser der Knappen<br />

waren aus Holz, neben Holzkohle auch<br />

der einzige Brennstoff. War Holz in den<br />

ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts<br />

fast noch in unbegrenzten Mengen vorhanden,<br />

wurde es immer mehr zur streng<br />

regulierten Ressource, die aus den Seitentälern<br />

ins Inntal getriftet wurde. „Allein<br />

Ferdinand I., der von 1521 bis 1564 regierte,<br />

erließ 47 Waldordnungen“, berichtet<br />

Neuhauser. Festgehalten wurde<br />

etwa, bis zu welcher Größe Schwemmholz<br />

für den Privatgebrauch gesammelt<br />

GEORG NEUHAUSER (*1982) studierte<br />

in Inns bruck Geschichte, Geografie,<br />

Ur- und Frühgeschichte sowie Mittelalterund<br />

Neuzeitarchäologie und dissertierte<br />

2<strong>01</strong>2 über die Geschichte des Berggerichts<br />

Montafon. Seit 2008 forscht und<br />

lehrt er an der Universität Inns bruck, seit<br />

Oktober 2021 ist er Senior Scientist am<br />

Institut für Geschichtswissenschaften und<br />

Europäische Ethnologie und koordiniert<br />

das Interdisziplinäre <strong>Forschung</strong>szentrum<br />

Regionalgeschichte Europaregion Tirol.<br />

Zudem unterrichtet Neuhauser seit 2006<br />

an Tiroler Schulen, derzeit am Abendgymnasium<br />

in Inns bruck.<br />

werden durfte, ebenso Strafen für die<br />

Entnahme von verirrtem Triftholz. „Holz<br />

war so wichtig, dass erstmals genaue<br />

Grenzen kartiert wurden, um zu wissen,<br />

wem welcher Wald gehört“, erläutert der<br />

Historiker. Ganz Hänge wurden kahl geschlagen,<br />

mit kurzzeitigen Folgen wie<br />

Hochwasser, Muren und Lawinen, aber<br />

auch langfristigen. Neuhauser: „Viele unserer<br />

Monokulturen gehen auf diese Zeit<br />

zurück. Ganze Wälder wurden bis auf<br />

ein paar Samenbäume abgeholzt. Waren<br />

das schnell wachsende Fichten, entstand<br />

dort ein reiner Fichtenwald.“<br />

Fichten-Monokulturen sind nicht die<br />

einzigen Spuren, die der Bergbau in Tirol<br />

hinterlassen hat. Nach dem Höhepunkt<br />

der Silbergewinnung – 1523 mit 15,7 Tonnen<br />

– ging es zuerst langsam, dann immer<br />

schneller bergab. Der Silberreichtum<br />

Tirols war nichts gegen die Vorkommen,<br />

die ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />

in Südamerika abgebaut wurden.<br />

Dennoch sicherte der Bergbau bis in die<br />

zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von<br />

Rovereto bis Reutte Arbeit, heute wird<br />

weder Erz noch Salz im Gebiet des historischen<br />

Tirol abgebaut. Viele Stollen sind<br />

inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich,<br />

Schaubergwerke in Schwaz, Zell am Ziller<br />

oder am Schneeberg geben Einblick in die<br />

Vergangenheit. Anders nutzt Nassereith<br />

seine Bergbaugeschichte. Im Wendelinstollen,<br />

wo einst Blei und Zink abgebaut<br />

wurden, sammelt sich Bergwasser, das<br />

jahrelang durch den Fels gesickert ist. Als<br />

reines Trinkwasser versorgt es die Gemeinde<br />

am Fuße des Fernpass, seit 2022<br />

treibt es auf dem Weg ins Tal dazu ein<br />

Trinkwasserkraftwerk an, das Strom für<br />

155 Haushalte liefert. ah<br />

Cass Sunstein gilt als einer der produktivsten<br />

und als der meistzitierte<br />

rechtswissenschaftliche Autor<br />

der USA. Seine Arbeiten basieren oft auf<br />

verhaltensökonomischen Analysen von<br />

irrationalem Verhalten. Zusammen mit<br />

Richard Thaler arbeitete er eine Theorie<br />

des libertären Paternalismus aus. Für<br />

die Steuerung von staatlichen Anreizen<br />

CASS SUNSTEIN war für eine Böhm-<br />

Bawerk- Lecture Gast an der Uni Inns bruck.<br />

SOZIALES VERHALTEN ZEIGT SICH IM GEHIRN<br />

etablierten Sunstein und Thaler den Begriff<br />

„Nudging“, das Anstupsen in die<br />

gewünschte Richtung. Unter US-Präsident<br />

Obama leitete Sunstein das Office of<br />

Information and Regulatory Affairs und ist<br />

seither Professor für Rechtswissenschaft<br />

an der Harvard University. Unter Präsident<br />

Biden fungiert er als Berater für<br />

Einwanderungspolitik. Für sein wissenschaftliches<br />

Werk wurde Sunstein 2<strong>01</strong>8<br />

mit dem hoch dotierten Holberg-Preis<br />

ausgezeichnet.<br />

Mitte Mai war Cass Sunstein Gast der<br />

sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Fakultäten sowie des <strong>Forschung</strong>sschwerpunkts<br />

Wirtschaft, Politik & Gesellschaft<br />

(EPoS) und berichtete in einer<br />

Böhm-Bawerk-Lecture über seine Untersuchungen<br />

zur Rolle von Algorithmen in<br />

unserer Gesellschaft. Sie sind heute bereits<br />

in vielen Lebensbereichen und oft<br />

unbemerkt im Einsatz. In manchen Prozessen<br />

verbessern Algorithmen die Genauigkeit<br />

und kompensieren irrationales<br />

menschliches Verhalten. In wichtigen<br />

Fragen können sie mit ihren Vorhersagen<br />

aber auch daneben liegen.<br />

RÄTE FÜR SOCIAL-MEDIA-<br />

PLATTFORMEN<br />

Ein <strong>Forschung</strong>steam um Matthias Kettemann<br />

veröffentlichte politische Handlungsempfehlungen<br />

für die Umsetzung von<br />

unabhängigen Gremien zur Kontrolle von<br />

Social-Media-Plattformen. Die Wissenschaftler:innen<br />

haben ein Jahr lang untersucht, wie<br />

demokratische Werte und die Menschenrechte<br />

im digitalen Raum geschützt werden<br />

können. Sie schlagen sogenannte Plattformräte<br />

(eng: Social Media Council/SMC) als<br />

sinnvolles Beratungsinstrument für private<br />

Plattformunternehmen vor. Diese können die<br />

Interessen von Bürger:innen, Industrie und<br />

Politik bei wichtigen Entscheidungsfragen<br />

in Punkten wie Diskriminierung, Meinungsfreiheit<br />

oder Desinformation vertreten. Das<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekt Plattform://Demokratie<br />

wird von der Stiftung Mercator gefördert<br />

und vom Institut für Theorie und <strong>Zukunft</strong><br />

des Rechts der Universität Inns bruck, dem<br />

Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-<br />

Bredow-Institut (HBI), und dem Alexander<br />

von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft<br />

(HIIG) durchgeführt.<br />

In den vergangenen Jahrzehnten stieg der Spielekonsum am Computer<br />

kontinuierlich an und die Pandemie hat vielen Menschen noch mehr Gelegenheit<br />

für Gaming geboten. In vielen Fällen handelt es sich um gewalthaltige<br />

Videospiele und die Meinungen, ob diese zu Aggression führen, sind<br />

gespalten – selbst in wissenschaftlichen Kreisen gibt es keinen endgültigen<br />

Konsens: Manche sagen, dass Gamer:innen von Ego-Shootern aggressiver<br />

werden; andere meinen, diese könnten zwischen realer Welt und Videospiel<br />

differenzieren; eine dritte Sicht verweist auf die kathartische Wirkung, indem<br />

aggressive Impulse durch Mediengewalt vermindert werden. Der Inns brucker<br />

Sozialpsychologe Tobias Greitemeyer vom Institut für Psychologie sagt, dass<br />

gewalthaltige Computerspiele Aggressionen steigern. Die Effekte bei einer<br />

einzelnen Person sind gering, denn Aggression wird multidimensional durch viele Auslöser im Alltag beeinflusst, wie Partner:innen, Kinder,<br />

Kolleg:innen oder eben durch Videospiele. Gesamtgesellschaftlich betrachtet ergibt sich jedoch ein bedeutsamer Effekt, denn in Österreich<br />

gamen etwa fünf Millionen Menschen, hebt Tobias Greitemeyer hervor: „Mit Interventionen zur Reduktion von Computerspielkonsum kann<br />

man die Aggression der Spielenden reduzieren. Zusätzlich profitieren davon Personen, die selber nicht spielen, wie etwa Geschwister. Setzt<br />

man also beim Spielenden an, erreicht man aggressionsmindernd das komplette soziale Umfeld, das hat schon Relevanz.“<br />

28 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle, TLMF / Dip.856<br />

Fotos: Uni Inns bruck, Unsplash / Alex Haney, Unsplash / Adem AY<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 29

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