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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

BÖDEN ALS MODELL<br />

Gertraud Medicus konzentriert sich in ihrer <strong>Forschung</strong>sarbeit auf Materialmodelle,<br />

um mit ihnen das mechanische Verhalten von Böden mathematisch zu beschreiben.<br />

Um die gesteckten Klimaziele zu erreichen,<br />

wirft die EU einen Blick<br />

aufs Meer – bis 2050 sollen 340 Gigawatt<br />

Offshore-Strom auf den Kontinent<br />

fließen. Sind die Anlagen vom Festland<br />

entfernt, werden Tragstrukturen, Anker<br />

und Untergrund durch Wind, Wellen<br />

und Meeresströmungen belastet. Mit<br />

einer speziellen Belastung der Meeresboden-Anker-Interaktion<br />

befassen sich<br />

Forscherinnen und Forscher der University<br />

of Southampton – und warfen auf<br />

der Suche nach einem passenden Materialmodell,<br />

um dieses Bodenverhalten<br />

zu simulieren, ihren Blick Richtung Kontinent.<br />

Und wurden an der Universität<br />

Inns bruck fündig.<br />

„Gesucht wurde ein Modell, das für<br />

ganz bestimmte Belastungspfade, nämlich<br />

wiederkehrende Episoden von Scherung,<br />

dann Konsolidierung, dann wieder<br />

Scherung, usw. geeignet ist. Diese zyklische<br />

Belastung lässt sich mithilfe eines bestimmten<br />

Materialmodells, der Hypoplastizität,<br />

gut abbilden“, berichtet Gertraud<br />

Medicus vom Arbeitsbereich für Geotechnik<br />

am Institut für Infrastruktur der<br />

Universität Inns bruck. Der Arbeitsbereich<br />

ist sozusagen die Wiege der Hypoplastizität,<br />

geht doch ihre Theorie auf Dimitrios<br />

Kolymbas zurück, der von 1994 bis 2<strong>01</strong>7<br />

als Professor für Geotechnik und Tunnelbau<br />

in Inns bruck tätig war. Medicus stieß<br />

2009 über eine Dissertationsstelle auf das<br />

Thema. „Ein Glücksgriff“, sagt sie heute,<br />

GERTRAUD MEDICUS (*1981) studierte<br />

Bauingenieurwesen an der Universität<br />

Inns bruck und an der NTNU Trondheim<br />

(Norwegen) und dissertierte 2<strong>01</strong>4 in<br />

Inns bruck. Nach der Promotion war sie<br />

bis 2<strong>01</strong>7 als Postdoc in verschiedenen<br />

Projekten tätig. Von 2<strong>01</strong>7 bis 2022 leitete<br />

sie das FWF-Einzelprojekt Reloading in<br />

Barodesy. Seit 2022 hat Medicus für<br />

das Projekt Soil tests as boundary value<br />

problems using hypoplasticity eine FWF-<br />

Elise-Richter-Stelle inne.<br />

„mich fasziniert diese Kombination aus<br />

Mathematik und Bodenmechanik.“<br />

Materialmodelle sind mathematische<br />

Modelle, die das reale Spannungs-Dehnungs-Verhalten<br />

des Materials abbilden.<br />

Für ein Gummiband etwa braucht es<br />

ein elastisches Modell – die Dehnung<br />

des Bandes ist bei Entlastung voll rückläufig<br />

–, welches für einen Sandstrand<br />

aber nicht geeignet ist: Der Abdruck<br />

eines Fußes bildet sich nicht vollständig<br />

zurück. „Komplexer wird die Modellierung,<br />

wenn man noch einmal in diesen<br />

Fußabdruck steigt, wenn es also zu einer<br />

wiederholten Belastung kommt“, sagt<br />

Medicus, die sich in ihrer Arbeit auch auf<br />

Materialmodelle zur Beschreibung von<br />

zyklischem Bodenverhalten konzentriert.<br />

Inns brucker Schule<br />

„Im Bereich der Bodenmechanik gibt es<br />

zahlreiche Materialmodelle, zum Beispiel<br />

die Elastoplastizität. Sie unterscheidet<br />

sich von der Hypoplastizität nach mathematischen<br />

und nicht zwangsläufig nach<br />

bodenmechanischen Merkmalen. Welches<br />

Modell das zielführendere ist, hängt<br />

von der Aufgabenstellung ab“, erklärt die<br />

Forscherin. Vergleichbar sei es mit unterschiedlichen<br />

wissenschaftlichen Schulen,<br />

in Inns bruck eben die von Kolymbas<br />

IN DEM PROJEKT Animating Soil<br />

Models erstellte Gertraud Medicus für<br />

Lehrzwecke 3D-Visualisierungen zu<br />

Materialmodellen und stellt sie als offene<br />

Bildungsressource dauerhaft auf der<br />

Plattform Soilmodels.com/soilanim zur<br />

Verfügung. Die Abbildung zeigt den Kegel<br />

(nach Matsuoka-Nakai) der sogenannten<br />

kritischen Spannungszustände (im<br />

Hauptspannungsraum). Dieser Kegel ist<br />

in mehreren Materialmodellen, wie auch<br />

in der Hypoplastizität und Barodesie, enthalten<br />

und beschreibt unter bestimmten<br />

Bedingungen die Festigkeit des Bodens.<br />

BODENPROBEN verformen sich im Versuch nicht so homogen wie oft in der Modellierung<br />

angenommen – die Zylinder bauchen zum Beispiel aus. Gertraud Medicus will wissen, ob<br />

bzw. wie diese Inhomogenitäten Festigkeits- und Steifigkeitsprognosen beeinflussen.<br />

entwickelten Hypoplastizität und Barodesie,<br />

für die in den vergangenen Jahren<br />

mehrere Untermodelle z. B. Barodesie für<br />

Sand und Ton erstellt wurden.<br />

Ehe solch ein theoretisches Modell in<br />

die Anwendung gelangt, wird es mithilfe<br />

von Laborversuchen kalibriert und validiert.<br />

Um mit ihm geotechnische Simulationen<br />

durchzuführen, benötigt es zudem<br />

exakte Untersuchungen des Bodens. Mit<br />

den daraus gewonnenen Parametern und<br />

dem passenden Modell berechnet dann<br />

eine Finite-Elemente-Software, wie etwa<br />

ein Bauwerk und der Untergrund auf<br />

reale Bedingungen – bestimmte Kräfte,<br />

Schwingungen, Temperaturen und andere<br />

physikalische Einwirkungen – reagieren.<br />

Auch wenn sich Gertraud Medicus als<br />

Grundlagenforscherin sieht, ihr Knowhow<br />

fließt bei Kooperationen wie jener<br />

mit der University of Southampton oder<br />

einer mit der Deutschen Bahn in Zusammenarbeit<br />

mit der TU Graz („Dabei geht<br />

es um die zyklische Belastung einer Brücke.“)<br />

in die Modellberatung ein.<br />

Bei der Anbahnung internationaler Kooperationen<br />

kam Medicus ein „Herzensprojekt“,<br />

wie sie es nennt, zugute. „Materialmodelle<br />

bestehen aus vielen mathematischen<br />

Gleichungen und sind auch für<br />

Studierende abstrakt“, sagt Medicus. Daher<br />

visualisiert sie Simulationen von Versuchskurven<br />

und nützt sie in der Lehre.<br />

Während der Corona-Pandemie teilte sie<br />

viele dieser 3D-Visualisierungen via Social<br />

Media – und bekam Anfragen von Kolleginnen<br />

und Kollegen, ob sie diese auch<br />

für eigene Zwecke verwenden könnten.<br />

„Warum sollen nicht auch andere daran<br />

teilhaben?“, fragte sich Medicus. Über ein<br />

von der Uni Inns bruck gefördertes Lehreprojekt<br />

stellte sie daher Animationen und<br />

interaktive Grafiken von Fließflächen,<br />

Spannungsinvarianten, Hypoplastizität<br />

etc. auf einer Plattform zur Verfügung (siehe<br />

Infobox). „Die Seite war für die Lehre<br />

gedacht, über sie ergaben sich aber auch<br />

wissenschaftliche Kooperationen“, erzählt<br />

die Forscherin.<br />

Modell versus Laborversuch<br />

Eine Kooperation besteht auch mit der<br />

Universität Grenoble. In einem FWF-Projekt<br />

geht Medicus der Frage nach, warum<br />

und unter welchen Randbedingungen sich<br />

Bodenproben nicht so homogen verformen<br />

wie oft in der Modellierung angenommen.<br />

„Im Experiment sieht man: Die Probenform<br />

bleibt kein Zylinder, die Proben bauchen<br />

aus oder es bilden sich Scherfugen“,<br />

weiß Medicus. Sie will nun wissen, ob<br />

bzw. wie diese Inhomogenitäten Festigkeits-<br />

und Steifigkeitsprognosen und eventuell<br />

auch die Anwendung beeinflussen.<br />

Bislang wurde angenommen, dass diese<br />

Inhomogenitäten erst bei einer größeren<br />

Stauchung der Probe entstehen. „Die Kolleginnen<br />

und Kollegen in Grenoble können<br />

das Innere von Proben – auch schon<br />

während der Kompression – im Computertomograf<br />

untersuchen. Dabei konnten<br />

sie beobachten, dass sich schon von Beginn<br />

an Scherfugen bilden und dass Muster<br />

entstehen“, berichtet Medicus: „Das<br />

eröffnet eine neue Sichtweise, mit der wir<br />

eventuell unser Modell adaptieren können.<br />

Daher wollen wir diese Grenobler<br />

Experimente simulieren.“ ah<br />

18 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Gertraud Medicus<br />

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