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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

DAS MUSKULOSKELETTALE System des Menschen umfasst<br />

Knochen, Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder. Mithilfe von<br />

muskuloskelettalen Mehrkörpersimulationen können eine Reihe<br />

von Themen untersucht oder eingeschätzt werden, z. B. die Mechanik<br />

von Bewegungen, die Auswirkungen von Verletzungen oder<br />

Krankheiten oder die Ergebnisse von chirurgischen oder therapeutischen<br />

Eingriffen. Die Vorteile im Vergleich zu experimentellen und<br />

klinischen Studien sind unter anderem, dass Probleme isoliert von<br />

anderen Einflussfaktoren betrachtet werden können. Außerdem<br />

sind Studien möglich, die auf experimentellem oder klinischem<br />

Weg nur mit sehr hohem Aufwand umsetzbar sind. Wie der Name<br />

nahelegt, werden beteiligte Knochen darin als einzelne „Körper“<br />

dargestellt. Die Abbildung zeigt die starke Belastung der Speiche als<br />

Ergebnis einer muskuloskelettalen Mehrkörpersimulation.<br />

ROBERT EBERLE: „Starre Segmente können sich nicht verformen und damit auch keine Kräfte absorbieren. Knochen können jedoch bei<br />

Landungen nach Sprüngen oder Stürzen Energie aufnehmen.“<br />

EIN MATHEMATIKER<br />

MACHT KNOCHENARBEIT<br />

Robert Eberle vom Arbeitsbereich Technische Mathematik definiert<br />

die Eigenschaften menschlicher Knochen in Computersimulationen neu.<br />

Typische Bewegungs- und Verletzungsmuster<br />

besser zu verstehen<br />

ist für den Profisport von großer<br />

Bedeutung und beschäftigt die Sportund<br />

Bewegungswissenschaft. Die möglichst<br />

realitätsnahe Simulation von Bewegungsabläufen<br />

und Stürzen ist dabei<br />

mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil<br />

der <strong>Forschung</strong>. „Um zu untersuchen,<br />

was genau bei einem Sturz passiert, kann<br />

man schlecht sagen ‚Fall mal hin!‘“, veranschaulicht<br />

Robert Eberle vom Arbeitsbereich<br />

für Technische Mathematik.<br />

Eberle ist zwar kein Sportwissenschaftler,<br />

wirkt aber seit seiner Dissertation an<br />

der Entwicklung von biomechanischen<br />

Simulationen mit und arbeitet dabei mit<br />

Kolleginnen und Kollegen aus der Sportwissenschaft<br />

zusammen. In seinem Projekt<br />

MultiBones hat er sich einer Problemstellung<br />

gewidmet, die sich aus dieser<br />

Zusammenarbeit ergeben hat: Menschliche<br />

Knochen wurden in Simulationen bisher<br />

als starre Körper angenommen, was<br />

sie eigentlich gar nicht sind. Der sprichwörtliche<br />

harte Knochen ist nämlich elastisch,<br />

hält sogar leichter Biegung stand.<br />

Deshalb hat Robert Eberle einen neuen<br />

Weg eingeschlagen und ein muskuloskelettales<br />

Mehrkörpersimulationsmodell<br />

entwickelt, das die Flexibilität von Elle<br />

und Speiche berücksichtigt. In seinem<br />

Modell steckt Wissen aus der Baumechanik,<br />

jede Menge Rechenarbeit und eine<br />

Reihe von Laborversuchen zu den Eigenschaften<br />

menschlicher Knochen.<br />

Hilfsmittel aus der Mechanik<br />

„Starre Segmente können sich nicht verformen<br />

und damit auch keine Kräfte absorbieren.<br />

Knochen können jedoch bei<br />

Landungen nach Sprüngen oder Stürzen<br />

Energie aufnehmen“, erklärt Eberle<br />

ein Manko früherer Simulationsansätze<br />

genauer. Statt als starren Körper hat er<br />

Elle und Speiche deshalb mithilfe sogenannter<br />

Euler-Bernoulli-Balken in<br />

eine Sturz-Simulation implementiert.<br />

„Beim dynamischen Euler-Bernoulli-<br />

Balken handelt sich um eine partielle<br />

Differenzial gleichung oder einfach ausgedrückt<br />

um ein mathematisches Hilfsmittel,<br />

mit dem man in der Mechanik<br />

Durchbiegungen beanspruchter Bauteile<br />

beschreiben kann“, erläutert Eberle seine<br />

Herangehensweise. „Er ist die einfachste<br />

mechanische Methode, wenn man etwas<br />

flexibel darstellen möchte.“<br />

Um die Gleichung aufstellen zu können,<br />

müssen allerdings bestimmte<br />

Material kennwerte wie zum Beispiel Geometrie,<br />

Masse, aber auch das Trägheitsmoment<br />

und das E-Modul oder die Biegesteifigkeit<br />

bekannt sein. „Die Daten, die wir<br />

für den Euler-Bernoulli-Balken brauchten,<br />

haben wir an der Medizinischen Universität<br />

anhand von Kadaver-Studien erhoben“,<br />

schildert Eberle. Während Knochendichte<br />

und Querschnitt sich relativ einfach<br />

ROBERT EBERLE (*1984 in Bregenz)<br />

studierte an der Universität Inns bruck<br />

Technische Mathematik. Von 2<strong>01</strong>1 bis<br />

2<strong>01</strong>6 absolvierte er das Doktoratsstudium<br />

der Technischen Wissenschaften. Als Dissertant<br />

arbeitete er am Institut für Sportwissenschaften<br />

und untersuchte Kreuzbandverletzungen<br />

nach einer Landung im<br />

Abfahrtslauf mithilfe von muskuloskelettalen<br />

Simulationsmodellen. Seit 2<strong>01</strong>6 ist<br />

Robert Eberle Senior Lecturer mit Doktorat<br />

am Institut für Grundlagen der Technischen<br />

Wissenschaften und beschäftigt sich<br />

in seiner <strong>Forschung</strong> mit biomechanischen<br />

und mechanischen Simulationsmodellen.<br />

messen lassen, ist die Biegesteifigkeit ein<br />

für den Euler-Bernoulli-Balken relevanter<br />

Parameter, der sich nicht messen, sondern<br />

nur über Versuche bestimmen lässt. „Wir<br />

haben am Inns brucker Biomechaniklabor<br />

der Universitätsklinik für Orthopädie und<br />

Traumatologie sogenannte Dreipunkt-Biegeversuche<br />

mit menschlichen Knochen<br />

durchgeführt“, erklärt der Wissenschaftler.<br />

Bei diesem klassischen Experiment aus<br />

dem Ingenieurwesen wird das Material in<br />

der Prüfeinrichtung steigenden Belastungen<br />

ausgesetzt. Die Kraftwerte, bei denen<br />

das Material bricht, werden dann zur Errechnung<br />

der Biegesteifigkeitsfunktion<br />

eingesetzt.<br />

Im Übrigen ein komplexes Verfahren,<br />

für das Robert Eberle im Zuge des Projekts<br />

eine einfachere Alternative entwickelt<br />

hat. „Die neue Methode ist als ungeplantes<br />

Nebenprodukt entstanden und<br />

kann wiederum auch im Ingenieurwesen<br />

genutzt werden“, freut sich Eberle.<br />

Vielseitig anwendbar<br />

Angewendet hat Robert Eberle seine neuen<br />

Beschreibungsmethoden im Rahmen<br />

einer Mehrkörpersimulation, um eine<br />

Fraktur der Elle während eines Sturzes<br />

zu simulieren. Nützlich sind das Modell<br />

und die daraus gewonnenen Erkenntnisse<br />

übrigens nicht nur für die Sportwissenschaft:<br />

Das strukturelle Verhalten von<br />

Knochen spielt zum Beispiel auch eine<br />

wichtige Rolle bei der Anpassung von<br />

Rekonstruktionsplatten oder Prothesen.<br />

„In einer Simulation kann ich verschiedene<br />

Materialien ausprobieren und vergleichen,<br />

wenn ich zum Beispiel ein künstliches<br />

Gelenk einsetzen muss“, veranschaulicht<br />

Eberle mögliche Einsatzgebiete<br />

seiner Erkenntnisse. „Das wird bereits gemacht,<br />

aber eben mit starren Elementen.<br />

So muss man nach der Simulation ein aufwendiges<br />

und fehleranfälliges Postprocessing<br />

machen“, ergänzt er. Auf ein solches<br />

könnte man künftig verzichten, wenn die<br />

Eigenschaften von Knochen bereits in der<br />

Simulation berücksichtigt sind. ef<br />

12 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: AdobeStock / SciePro, Andreas Friedle; Grafik: Robert Eberle<br />

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