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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

IM JAHR 2021 untersuchte<br />

das Team um Francesca Ferlaino<br />

detailliert den Lebenszyklus<br />

von suprafesten Zuständen in<br />

einem dipolaren Gas von Dysprosium-Atomen.<br />

Unerwarteter<br />

Weise beobachteten die<br />

Physiker:innen dabei, dass ein<br />

Temperaturanstieg die Entstehung<br />

von suprafesten Strukturen<br />

fördert. Gemeinsam mit<br />

der dänischen Theoriegruppe<br />

um Thomas Pohl (Aarhus<br />

University) entwickelten die<br />

Inns brucker Forscher:innen<br />

ein theoretisches Modell, dass<br />

die experimentellen Ergebnisse<br />

erklären kann und die<br />

These unterstreicht, dass ein<br />

Erwärmen der Quantenflüssigkeit<br />

zur Ausbildung eines<br />

Quantenkristalls führen kann.<br />

Die Arbeit wurde <strong>2023</strong> in<br />

Nature Communications veröffentlicht.<br />

Erbium und Dysprosium mögen zwar relativ<br />

selten sein, für Francesca Ferlaino<br />

spielen sie aber die Hauptrolle. Im Gegensatz<br />

zu den Alkalimetallen Natrium und<br />

Rubidium, mit denen vor rund 30 Jahren die<br />

ersten Quantengase erzeugt wurden, sind die<br />

zwei Metalle der Seltenen Erden komplexer:<br />

Ihre Atome haben viele Elektronen in ihren<br />

äußeren Schalen und sind noch dazu magnetisch.<br />

Dachte man anfangs, dass diese Eigenschaften<br />

das quantenphysikalische Arbeiten<br />

mit ihnen erschweren würde, zeigt sich, dass<br />

dem nicht unbedingt so ist. Erbium und Dysprosium<br />

lassen sich sogar leichter abkühlen<br />

als Alkali- oder Erdalkaliatome – ein zentraler<br />

Punkt für die <strong>Forschung</strong>en der Inns brucker<br />

Quantenphysikerin.<br />

Um Atome zu kontrollieren, um mit ihnen<br />

Experimente durchzuführen, wird als erster<br />

Schritt in einer speziellen Apparatur das gewünschte<br />

Element mit der jeweils benötigten<br />

Hitze, die von Raumtemperatur bis zu 1.100<br />

Grad Celsius reichen kann, verdampft. Dabei<br />

bildet sich eine Wolke aus hunderttausenden<br />

Atomen. In der Folge streuen Laserstrahlen<br />

Photonen auf die Atome, diese „schlucken“<br />

die Photonen und emittieren sie wieder. Dabei<br />

geben die Atome Energie an das Photon ab<br />

– und kühlen dadurch ab. Immer mehr und<br />

immer mehr Richtung dem absoluten Nullpunkt<br />

von Null Kelvin (−273,15 °C). „Eigentlich<br />

sollten Atome bei diesen Temperaturen<br />

kein Gas mehr bilden, sondern Festkörper“,<br />

sagt Ferlaino. Zudem sind die einzelnen<br />

Atome keine Teilchen mehr, sondern Wellen.<br />

Werden Teilchen nun so weit gekühlt, dass<br />

die quantenmechanischen Wellenfunktionen<br />

der Teilchen zu überlappen beginnen, spricht<br />

man von einem Quantengas. Schwingen alle<br />

quantenmechanischen Wellenfunktionen der<br />

Einzelteilchen in perfektem Gleichtakt, entsteht<br />

ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC).<br />

2<strong>01</strong>2 erzeugte Ferlainos Arbeitsgruppe<br />

das weltweit erste BEC aus rund 70. 000 Erbium-Atomen,<br />

2<strong>01</strong>6 gelang ihr die erste dipolare<br />

Quantenmischung aus Erbium und<br />

Dysprosium. Diese Quantengase bilden seither<br />

die Basis für Ferlainos Experimente und<br />

<strong>Forschung</strong>en, eignen sie sich doch sehr gut,<br />

Eigenschaften der Materie im Detail zu untersuchen<br />

sowie Effekte zu simulieren, die in der<br />

Alltagswelt nicht beobachtet werden können.<br />

Suprafluid & suprasolid<br />

2<strong>01</strong>9 etwa fand ihre <strong>Forschung</strong>sgruppe – so<br />

wie Teams aus Pisa und Stuttgart – erstmals<br />

Hinweise für Suprasolidität in ultrakalten Erbium-<br />

und Dysprosiumgasen. Suprasolidität<br />

ist ein paradoxer Zustand, in dem die Materie<br />

sowohl supraflüssige als auch kristalline<br />

Eigenschaften besitzt. Die Teilchen sind wie in<br />

einem Kristall regelmäßig angeordnet, bewegen<br />

sich aber gleichzeitig ohne Reibung. Für<br />

das Magazin Physics zählte die Entdeckung<br />

von suprasoliden Zuständen zu einem der<br />

zehn wichtigsten Highlights des Jahres 2<strong>01</strong>9.<br />

Zwei Jahre später erzeugten die Inns brucker<br />

Forscher:innen das erste zweidimensionale suprasolide<br />

System. 2022 zeigte Ferlaino gemeinsam<br />

mit ihrem Institutskollegen Russell Bisset,<br />

wie ein atomares Gas zu einem kreisförmigen<br />

Suprafestkörper abgekühlt werden kann.<br />

Ebenfalls 2022 konnte ihr Team Quanten-Wirbel<br />

in einem dipolaren Quantengas beobachten<br />

– diese ultrakalten Mini-Tornados gelten<br />

als eindeutiger Hinweis für Suprafluidität, das<br />

reibungsfreie Strömen eines Quantengases.<br />

Schon im Jahr 2021 hatten die Inns brucker<br />

Physiker:innen gemeinsam mit Kolleg:innen<br />

aus Genf einen Suprafestkörper aus dem<br />

Gleichgewicht gebracht und stießen dabei auf<br />

einen wissenschaftlich interessanten weichen<br />

Festkörper. Überraschenderweise ließ sich der<br />

Vorgang auch umkehren und die Suprafestigkeit<br />

konnte wieder hergestellt werden – und<br />

zwar durch Erwärmung. „Wir haben dieses<br />

Phänomen in unserem Experiment gesehen,<br />

konnten es uns aber nicht erklären. Wir haben<br />

auch überprüft, ob ein technischer Fehler vorlag“,<br />

erinnert sich Ferlaino. Zwei Jahre später<br />

kann sie – gemeinsam mit Physiker:innen um<br />

den Theoretiker Thomas Pohl von der University<br />

Aarhus – die Erklärung für dieses unserer<br />

Alltagswahrnehmung widersprechende Verhalten<br />

liefern. Sie entwickelten und veröffentlichten<br />

in der Fachzeitschrift Nature Communications<br />

ein theoretisches Modell, dass die<br />

experimentellen Ergebnisse erklären kann<br />

und die These unterstreicht, dass ein Erwärmen<br />

der Quantenflüssigkeit zur Ausbildung<br />

eines Quantenkristalls führen kann. Die theoretische<br />

Beschreibung zeigt, dass sich diese<br />

Strukturen mit steigender Temperatur leichter<br />

bilden können.„Mit der neuen Beschreibung<br />

verfügen wir erstmals über ein Phasendiagramm,<br />

das die Entstehung suprafester Zustände<br />

in Abhängigkeit von der Temperatur<br />

zeigt“, sagt Francesca Ferlaino.<br />

Erkenntnisse wie diese sind auch der<br />

Grund, warum für Ferlaino der Begriff Quantensimulation<br />

nicht passend gewählt ist:<br />

„Normalerweise wird etwas simuliert, was<br />

schon bekannt ist. Wir wissen ungefähr, wie<br />

etwas sein wird – wie sich zum Beispiel ein<br />

Flugzeug in starken Turbulenzen verhalten<br />

wird. Das Resultat ist keine totale Überraschung.“<br />

In der Quantenphysik, bei ihren<br />

Experimenten sei das anders: „Wir wissen<br />

manchmal überhaupt nicht, was uns erwartet.<br />

Wir können mit unseren Experimenten aber<br />

Lösungen für Fragen finden – auch wenn die<br />

Antwort eine Überraschung ist“, hält sie fest.<br />

Neutronenstern im Labor<br />

Dennoch können mit Quantensystemen Phänomene<br />

simuliert werden, aktuell widmet<br />

sich Ferlaino einem, das sich – eventuell – in<br />

den unendlichen Weiten des Weltalls abspielt:<br />

im Inneren von Neutronensternen. Die<br />

kugelförmigen Neutronensterne stellen ein<br />

Endstadium in der Sternentwicklung eines<br />

massereichen Sterns dar. „Durch den damit<br />

einhergehenden extremen Masseverlust rotieren<br />

Neutronensterne. Dabei kommt es –<br />

ähnlich einem Leuchtturm – zu regelmäßigen<br />

Lichtemissionen, die wir auf der Erde messen<br />

können“, erklärt die Physikerin. Die anfänglich<br />

extrem hohe Rotation der Neutronensterne<br />

– die höchste bislang gemessene betrug<br />

716 Umdrehungen pro Sekunde – nimmt sukzessive<br />

ab. „Dafür hat die Astrophysik eine<br />

Erklärung. Warum es aber manchmal einen<br />

Sprung in der Rotationsfrequenz gibt, ist bislang<br />

unverstanden“, berichtet Ferlaino. Eine<br />

Vermutung ist, dass das Innere eines Neutronensterns<br />

ähnlich einem Suprafestkörper ist,<br />

in dem sich durch die Rotation Wirbel bilden,<br />

was zu Störungen und in der Folge zu den<br />

Sprüngen in der Rotationsfrequenz führt. Womit<br />

Francesca Ferlaino ins Spiel kommt.<br />

„Wir haben solche ultrakalten Mini-Tornados<br />

in suprafluiden Zuständen nachgewiesen.<br />

Nun wollen wir diese Theorie in einem Suprafestkörper<br />

überprüfen“, gibt sie Einblick in<br />

ihre Arbeit. Gelingt es ihr, gibt sie nicht nur<br />

eine quantenphysikalische Antwort auf eine<br />

astrophysikalische Frage, sondern simuliert in<br />

ihrem Labor auch das Innenleben eines<br />

Sterns.<br />

ah<br />

FRANCESCA FERLAINO<br />

(*1977) studierte Physik in<br />

Neapel, Triest und Florenz.<br />

2007 kam sie als Postdoc und<br />

Lise-Meitner-Stipendiatin nach<br />

Inns bruck, 2<strong>01</strong>4 wurde sie<br />

Professorin an der Universität<br />

Inns bruck und wissenschaftliche<br />

Direktorin am Institut für<br />

Quantenoptik und Quanteninformation<br />

(IQOQI) der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften.<br />

Ferlaino und ihre<br />

Arbeitsgruppe sorgen immer<br />

wieder mit Arbeiten auf dem<br />

Gebiet ultrakalter Quantengase<br />

international für Aufmerksamkeit.<br />

Für ihre Arbeit wurde<br />

Ferlaino mehrfach ausgezeichnet.<br />

Nach einem ERC Starting<br />

Grant (2<strong>01</strong>0) und einem ERC<br />

Consolidator Grant (2<strong>01</strong>6)<br />

erhielt sie 2022 mit einem<br />

ERC Advanced Grant die dritte<br />

Spitzenförderung durch den<br />

Europäischen <strong>Forschung</strong>srat<br />

(ERC). Der Advanced Grant<br />

ist die höchste europäische<br />

Förderung für etablierte<br />

Wissenschaftler:innen in der<br />

Grundlagenforschung und<br />

mit bis zu 2,5 Millionen Euro<br />

dotiert.<br />

10 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle (1), Grafik: Aarhus University (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 11

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