Zukunft Forschung 01/2023
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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Ausgabe 1/<strong>2023</strong>, 15. Jg.<br />
zukunft forschung <strong>01</strong> | 23<br />
zukunft<br />
forschung<br />
MODELLE &<br />
MÖGLICHKEITEN<br />
thema: simulationen in der wissenschaft | religion: exorzismus in der kirche<br />
inventare: alltagsleben im mittelalter | ökonomie: am puls der geldpolitik<br />
geschichte: der bergbau in tirol | biologie: abwehrtraining gegen krebs<br />
DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK
EDITORIAL<br />
SICHERHEIT & GRIP<br />
im Taschenformat<br />
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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />
Ob beim Queren von Altschneefeldern im Frühsommer oder auf<br />
rutschigem Untergrund — Spikes verleihen erhöhte Sicherheit.<br />
Daher sollten sie in keinem Rucksack fehlen!<br />
Sie halten die 30. Ausgabe unseres <strong>Forschung</strong>smagazins<br />
ZUKUNFT FORSCHUNG in Händen. Seit fünfzehn Jahren<br />
berichtet die Universität Inns bruck darin über aktuelle<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekte, rückt interessante Persönlichkeiten und gesellschaftlich<br />
relevante Themen in den Fokus und präsentiert<br />
sich in ihrer ganzen beeindruckenden Vielfalt. Diese lernen wir<br />
als neues Leitungsteam derzeit ebenso kennen wie die Herausforderungen<br />
in verschiedenen Bereichen und auf gesamtuniversitärer<br />
Ebene. Wie wir die anstehenden Aufgaben gemeinsam<br />
mit allen Uni-Angehörigen bewältigen und in welche Richtung<br />
wir die Universität leiten wollen, erfahren Sie in einem ausführlichen<br />
Interview in diesem Heft.<br />
Thematisch rückt die vorliegende Ausgabe Disziplinen und<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben in den Mittelpunkt, in denen mit Computersimulationen<br />
und Modellrechnungen gearbeitet wird: zum<br />
Beispiel um den Einsatz von vielversprechenden metallorganischen<br />
Verbindungen zu optimieren, typische Bewegungs- und<br />
Verletzungsmuster besser zu verstehen oder auch um quantenphysikalische<br />
Phänomene zu studieren, die in der Realität nicht<br />
beobachtbar sind. Aber auch an der Weiterentwicklung chirurgischer<br />
Simulationen und an passenden Materialmodellen<br />
Minion<br />
für<br />
das Bauen am Meeresgrund arbeiten unsere Wissenschaftler:innen.<br />
DE<br />
Darüber hinaus vermitteln wir, wie gewohnt, spannende Einblicke<br />
in die große disziplinäre Bandbreite und blicken stolz auf<br />
PEFC zertifiziert<br />
Erfolge wie die Beteiligung der Universität Inns bruck an drei<br />
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stammt aus<br />
von fünf neu genehmigten, österreichischen Exzellenz-Clustern.<br />
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!<br />
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VERONIKA SEXL, REKTORIN<br />
GREGOR WEIHS, VIZEREKTOR FÜR FORSCHUNG<br />
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IMPRESSUM<br />
Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Inns bruck, www.uibk.ac.at<br />
Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Mag. Eva Fessler (ef), Dr. Christian Flatz (cf); publicrelations@uibk.ac.at<br />
Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Maria-Theresien-Straße 21, 6020 Inns bruck, www.kultig.at<br />
Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Lea Lübbert, BSc (ll) Lisa Marchl, MSc (lm),<br />
Fabian Oswald, MA (fo), Mag. Susanne Röck (sr) Lektorat & Anzeigen: MMag. Theresa Koch Layout & Bildbearbeitung: Mag. Andreas<br />
Hauser, Florian Koch Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns bruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz<br />
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2Empfohlen zukunft forschung von: <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Andreas Friedle<br />
Foto: Uni Inns bruck<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 3
INHALT<br />
TITELTHEMA<br />
8<br />
QUANTENPHYSIK. Francesca Ferlaino forscht an ultrakalten Quantengasen.<br />
Diese bilden die Basis für Experimente, um Effekte zu<br />
simulieren, die wir in der Alltagswelt nicht beobachten können. 8<br />
MATHEMATIK. Robert Eberle definiert die Eigenschaften<br />
menschlicher Knochen in Computersimulationen neu. 12<br />
INFORMATIK. Die <strong>Forschung</strong>sgruppe Interaktive Grafik und<br />
Simulation entwirft komplexe Modelle, mit denen medizinische<br />
Eingriffe in der Virtuellen Realität geübt werden können. 14<br />
CHEMIE. Thomas Hofer arbeitet an Methoden zur Simulation<br />
von metallorganischen Verbindungen, um den Einsatz dieser<br />
zukunftsweisenden Materialklasse zu optimieren. 16<br />
GEOTECHNIK. Gertraud Medicus konzentriert sich auf<br />
Materialmodelle, um mit ihnen das mechanische Verhalten von<br />
Böden mathematisch zu beschreiben.18<br />
TITELTHEMA. Mithilfe von Simulationen erforschen<br />
Inns brucker Wissenschaftler:innen komplexe Phänomene,<br />
testen Hypothesen und treffen Vorhersagen.<br />
Wie und in welchen Disziplinen, damit beschäftigt<br />
sich diese Ausgabe von ZUKUNFT FORSCHUNG.<br />
26<br />
FORSCHUNG<br />
STANDORT. Rektorin Veronika Sexl und Vizerektor Gregor Weihs<br />
über die Aufgaben einer modernen Universität, die Flexibilisierung<br />
des Bologna-Modells, die Herausforderung Infrastruktur und<br />
wissenschaftliche Nachwuchsarbeit. 24<br />
MEDIZIN. Die Bioinformatikerin Francesca Finotello analysiert<br />
DNA-Sequenzierungs daten und schafft die Voraussetzungen für<br />
erfolgreiche personalisierte Krebstherapie. 30<br />
GESCHICHTE. Im Spätmittelalter war Tirol eines der<br />
wichtigsten Bergbauzentren Europas. Der Abbau von<br />
Kupfer, Silber und Salz bedeutete Arbeit für Tausende<br />
Menschen, belastete aber auch die Natur.<br />
34<br />
ÖKOLOGIE. Der Gletscherrückgang beraubt hochalpine Tierarten<br />
ihres Lebensraums. Ökologe Leopold Füreder plädiert daher für die<br />
Ausweitung von Schutzzonen auf die Gletschervorfelder. 32<br />
RELIGION. Nicole Bauer untersucht den Umgang mit Exorzismus<br />
in der römisch-katholischen Kirche. 36<br />
SPRACHWISSENSCHAFT. Anhand von Inventarlisten machen sich<br />
Forscher:innen der Universität Inns bruck daran, das Alltagsleben<br />
im Mittelalter zu entschlüsseln und sichtbar zu machen. 42<br />
WIRTSCHAFT. Maximilian Breitenlechner beschäftigt<br />
sich mit Konjunkturzyklen und zieht aus enormen<br />
Datensätzen Rückschlüsse daraus, wie unser<br />
Wirtschaftssystem funktioniert – oder auch nicht.<br />
RUBRIKEN<br />
EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: OTHMAR ZEILLER 4 | NEUBERUFUNG: ANNETT SCHIRMER 6 | FUNDGRUBE VERGANGENHEIT: 160 JAHRE „DAS PFLANZENLEBEN DER<br />
DONAULÄNDER“ VON ANTON KERNER 7 | MELDUNGEN 22 + 29 + 41 | WISSENSTRANSFER 38 – 40 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: ANDREAS WERNET 48 |<br />
SPRUNGBRETT INNSBRUCK: KATRIN AMANN-WINKEL 49 | ESSAY: DAS „UNCANNY VALLEY“ DER MITTELALTERREZEPTION von Franziska Ascher 50<br />
BILD DER<br />
WISSENSCHAFT<br />
Auguste Rodin hat seinen „Denker“ für die Aufstellung im öffentlichen<br />
Raum 1904 eigens monumentalisiert. Anders Othmar Zeiller (1868 –<br />
1921), der – wahrscheinlich zeitgleich – die Verkleinerung erprobte: Seine<br />
Kleinskulptur ist 1,7 cm groß, mit Sockel 10,7 cm. Sie ist eine von<br />
vielen Figuren, die unter der Projektleitung von Annette Steinsiek vom<br />
<strong>Forschung</strong>sinstitut Brenner-Archiv für einen virtuellen Katalog zusammengetragen<br />
und rundum fotografiert werden, um diesen ungewöhnlichen<br />
Bildhauer der Betrachtung und der <strong>Forschung</strong> zu empfehlen. Das Holzscheit<br />
zeigt, wie limitiert der Raum ist, in dem Zeiller seine Figuren belebte.<br />
Manche hat er auch in Bronze gegossen, winzige Kostbarkeiten.<br />
Fotos: Andreas Friedle (2), TLMF / Dip. 856 / Tafel 3; COVERFOTO: Andreas Friedle; BILD DER WISSENSCHAFT: Udo Haefeker<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 5
NEUBERUFUNG<br />
FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />
EIN LEBEN FÜR DIE PFLANZEN<br />
Die umgangssprachliche „Stressachse“<br />
im menschlichen Körper<br />
bezeichnet die Wechselwirkung<br />
zwischen drei Organen und ist Hauptteil<br />
des Hormonsystems, das unsere<br />
Reaktion auf Stress reguliert. Wissenschaftlich<br />
heißt die Stressachse HPA-<br />
Achse, nach den (englischen) Namen<br />
der drei betroffenen Organe: Hypothalamus,<br />
Hypophyse und Nebennierenrinde.<br />
Wissenschaftler:innen der McGill<br />
University in Kanada haben vor mehreren<br />
Jahren im Versuch mit Ratten nachweisen<br />
können, dass Körperkontakt im<br />
Babyalter unmittelbar Auswirkungen<br />
auf Rezeptoren in der HPA-Achse hat:<br />
Ratten, die viel Körperkontakt hatten,<br />
waren als erwachsene Ratten deutlich<br />
stressresistenter und auch sozial motivierter<br />
als andere.<br />
„Dieses Ergebnis fand ich sehr spannend<br />
– in den Ratten konnten sogar epigenetische<br />
Veränderungen nachgewiesen<br />
werden, durch Körperkontakt im<br />
Babyalter“, sagt Annett Schirmer vom<br />
Institut für Psychologie. Sie forscht zu<br />
zwischenmenschlicher Berührung und<br />
der Auswirkung von Berührungen auf<br />
Emotionen und Sozialverhalten. „Nun<br />
stellt sich natürlich die Frage, ob das<br />
auch bei Menschen nachgewiesen werden<br />
kann, und falls ja, ob die Beobachtung<br />
nur bei Babys zutrifft oder ob auch<br />
Erwachsene profitieren könnten.“ Dazu<br />
hat Schirmer mit ihrem Team Mütter<br />
mit ihren drei- bis fünfjährigen Kleinkindern<br />
eingeladen und auf Video aufgenommen.<br />
„Wir haben gezählt, wie oft<br />
die Mutter ihr Kind berührt, und uns<br />
danach angesehen, wie ausgeprägt das<br />
Sozialverhalten der Kinder ist und wie<br />
der Entwicklungsstand von Strukturen<br />
im Gehirn ist, die Emotionen und das<br />
Sozialverhalten unterstützen.“ Das Ergebnis<br />
deckte sich mit dem Tierversuch<br />
aus Kanada: Kinder, die viele Berührungen<br />
erfahren haben, konnten Emotionen<br />
besser erkennen, haben sich eher nach<br />
sozialen Stimuli in ihrer Umgebung<br />
orientiert und hatten mehr Aktivität<br />
und eine höhere Vernetzung in Gehirnstrukturen,<br />
die mit der Verarbeitung<br />
von emotionalen und sozialen Reizen<br />
zusammenhängen.<br />
ANNETT SCHIRMER studierte an<br />
der Universität Leipzig Psychologie und<br />
promovierte am dortigen Max-Planck-Institut<br />
für Kognitions- und Neurowissenschaften.<br />
2004 zog sie in die USA und<br />
trat an der University of Georgia ihre<br />
erste Professur an. 2006 wechselte sie an<br />
die National University of Singapore und<br />
2<strong>01</strong>7 an die Chinese University of Hong<br />
Kong. Seit September 2022 leitet sie die<br />
Abteilung für Allgemeine Psychologie II:<br />
Emotion und Motivation am Institut für<br />
Psychologie der Universität Inns bruck.<br />
SOZIALER DURCH BERÜHRUNG<br />
Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Annett Schirmer<br />
erforscht, wie zwischenmenschliche Berührungen Emotionen und Sozialverhalten formen.<br />
In einem künftigen Projekt will Annett<br />
Schirmer nun Erwachsene über längere<br />
Zeiträume näher untersuchen und erheben,<br />
ob der Einfluss von Berührungen<br />
auf die Funktionsweise des Gehirns auch<br />
im Erwachsenenalter noch vorhanden ist.<br />
„Es wäre großartig, wenn diese Plastizität<br />
im Gehirn bleibt und man, sehr einfach<br />
formuliert, Menschen durch Berührung<br />
sozialer machen oder sie bei der<br />
Stressregulation unterstützen könnte.“<br />
Schirmers Ziel ist, Methoden über Sensoren<br />
auf der Haut oder mittels 3D-Videotechnik<br />
zu entwickeln, die es erlauben,<br />
zwischenmenschliche Berührung im Alltag<br />
zu messen und diese mit Hirnscans<br />
zu vergleichen: „Wir arbeiten gerade an<br />
entsprechenden Anträgen und an der<br />
technischen Umsetzung.“ Kurzfristige<br />
Effekte bei Erwachsenen konnte Schirmer<br />
bereits nachweisen: Menschen sind empfänglicher<br />
für Emotionen von anderen,<br />
nachdem sie sanft berührt oder gestreichelt<br />
wurden. „Diesen kurzfristigen Effekt<br />
sehen wir im EEG. Nun interessiert<br />
mich aber, ob es auch langfristige Effekte<br />
gibt“, erklärt die Forscherin. sh<br />
Vor 160 Jahren erschien in Inns bruck Das Pflanzenleben der Donauländer, das Hauptwerk des<br />
Botanikers Anton Kerner, dem Begründer der modernen kausalanalytischen Pflanzengeografie.<br />
Schon als Jugendlicher begeisterte<br />
sich Anton Kerner für Botanik, mit<br />
seinem Bruder Josef durchstreifte er<br />
die Natur rund ums heimatliche Mautern.<br />
Als Studienfach jedoch wählte er – auf<br />
Drängen seines Vaters – die Medizin, zumindest<br />
unter Einschluss der Botanik,<br />
der er sich zudem in der 1851 in Wien gegründeten<br />
zoologisch-botanischen Gesellschaft<br />
widmete. Nach Abschluss des Studiums<br />
1854 beschäftigte sich Kerner mit<br />
medizinischer Pflanzenkunde, orientierte<br />
sich neu und wurde Lehrer für Naturgeschichte<br />
an der Oberrealschule in Ofen,<br />
1858 dann Professor am dortigen Josefs-<br />
Polytechnikum, der heutigen Technischen<br />
und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität<br />
Budapest. In dieser Zeit befasste<br />
sich Kerner intensiv mit der pannonischen<br />
Flora und unternahm Expeditionen<br />
in die Gebirge Siebenbürgens. Doch die<br />
politischen Spannungen in Ungarn, die<br />
Anfeindungen der Deutschen belasteten<br />
den Forscher, die zu besetzende Professur<br />
für Naturgeschichte an der Universität<br />
Inns bruck eröffnete ihm einen Ausweg.<br />
Die Jahre in Tirol waren für Kerner<br />
die wissenschaftlich fruchtbarste Zeit,<br />
er konnte sich zur Gänze auf botanische<br />
<strong>Forschung</strong>en konzentrieren. Er durchwanderte<br />
die Tiroler Bergwelt und begann,<br />
morphologische Differenzierung<br />
mit Areal und Standort zu verbinden. Am<br />
Blaser – ein Berg bei Trins im Gschnitztal<br />
– legte er auf 2. 200 Meter einen alpinen<br />
Versuchsgarten an, um den Einfluss der<br />
Seehöhe auf Pflanzen zu untersuchen.<br />
Mit der Professur verbunden war auch<br />
die Leitung des Botanischen Gartens,<br />
damals im Bereich der heutigen Angerzellgasse<br />
gelegen. Kerner gestaltete den<br />
Garten neu und ordnete ihn aufgrund<br />
seiner Beobachtungen im Gelände nach<br />
pflanzengeografischen Kriterien – Beete<br />
in acht Gruppen entsprachen en miniature<br />
den Hauptmassiven der Tiroler Bergwelt.<br />
Kerner ließ dafür Gesteine der einzelnen<br />
Gebirgszüge heranschaffen und gruppierte<br />
darauf Alpenpflanzen. Dieses Alpinum<br />
fand internationale Beachtung, diente der<br />
<strong>Forschung</strong> und vermittelte der Bevölkerung<br />
Wissen über die heimische Pflanzenwelt.<br />
International beachtet<br />
1863 erschien mit Das Pflanzenleben der<br />
Donauländer sein wissenschaftliches<br />
Hauptwerk, ein Jahr darauf Die Cultur<br />
der Alpenpflanzen. Mit seinen <strong>Forschung</strong>en<br />
machte sich Kerner zu einem der<br />
Begründer der Pflanzensoziologie. Seine<br />
Arbeit Die Schutzmittel der Blüthen gegen<br />
unberufene Gäste (1876), in der Kerner die<br />
„Selektionsvorteile“ bietenden Eigentümlichkeiten<br />
im Bau der Blüten untersuchte,<br />
stieß auf internationales Interesse, kein<br />
geringerer als Charles Darwin gratulierte<br />
ihm zu diesen <strong>Forschung</strong>en.<br />
Im Laufe der Inns brucker Jahre lehnte<br />
Anton Kerner (ab 1877 von Marilaun) einige<br />
Berufungen an andere Universitäten<br />
ab, jene 1878 an die Universität Wien – in<br />
Kombination mit der Direktion des dortigen<br />
Botanischen Gartens – nahm er aber<br />
an. In den 1880er-Jahren wurde ihm<br />
schließlich eine besondere Ehre zuteil.<br />
Das Bibliographische Institut, ein Verlag<br />
in Leipzig, suchte für seinen Bestseller<br />
„Brehms Tierleben“ eine floristische Ergänzung<br />
und wurde dabei auf die anschaulichen<br />
Beschreibungen in Das Pflanzenleben<br />
der Donauländer aufmerksam.<br />
Kerner erhielt den Auftrag. Zu seinem 60.<br />
Geburtstag erschien das zweibändige<br />
Pflanzenleben, das den Autor im deutschsprachigen<br />
Raum nun auch einem breiten<br />
Publikum bekannt machte. ah<br />
ANTON KERNER (1831 – 1898) studierte<br />
Medizin in Wien und promovierte 1854.<br />
1860 wurde er als Professor für Naturgeschichte<br />
an die Universität Inns bruck berufen.<br />
Anfangs umfasste der Lehrstuhl die<br />
gesamte belebte und unbelebte Natur. Mit<br />
Camil Heller (1863, Zoologie) und Adolf<br />
Pichler (1867, Mineralogie und Geognosie)<br />
kam es zur Dreiteilung des Faches, Kerner<br />
konnte sich auf die Botanik konzentrieren.<br />
1878 wurde er als Ordinarius und Direktor<br />
des Botanischen Gartens an die Universität<br />
Wien berufen. Ein Jahr zuvor war<br />
Kerner in den Adelsstand erhoben worden<br />
(„von Marilaun“). Sein selbst gestaltetes<br />
Wappen schmückte die Uraurikel Primula<br />
pubescens. Kerner erkannte als erster, dass<br />
es sich bei dieser seit Langem bekannten<br />
Garten-Primel, die er im Tiroler Gschnitztal<br />
(wieder)fand, um eine Naturhybride aus<br />
der Aurikel (Primula auricula) und der<br />
Behaarten Primel (Primula hirsuta) handelt.<br />
Unter anderem darauf gründete sich der<br />
evolutionstheoretische Ansatz Kerners,<br />
dass Artbastarde die Grundlage von Variabilität<br />
und Entstehung neuer Arten sind.<br />
6 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Andreas Friedle<br />
Foto: Archiv der Universität Wien / Fritz Bopp<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 7
ÜBERRASCHENDE<br />
ANTWORTEN<br />
Francesca Ferlaino arbeitet in ihrem Labor mit ultrakalten Quantengasen aus<br />
Erbium und Dysprosium. Diese bilden die Basis für Experimente, mit denen<br />
Eigenschaften der Materie im Detail untersucht werden können und die Effekte<br />
simulieren, die wir in der Alltagswelt nicht beobachten können.<br />
8 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Andreas Friedle<br />
Foto: Andreas Friedle<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 9
TITELTHEMA<br />
TITELTHEMA<br />
IM JAHR 2021 untersuchte<br />
das Team um Francesca Ferlaino<br />
detailliert den Lebenszyklus<br />
von suprafesten Zuständen in<br />
einem dipolaren Gas von Dysprosium-Atomen.<br />
Unerwarteter<br />
Weise beobachteten die<br />
Physiker:innen dabei, dass ein<br />
Temperaturanstieg die Entstehung<br />
von suprafesten Strukturen<br />
fördert. Gemeinsam mit<br />
der dänischen Theoriegruppe<br />
um Thomas Pohl (Aarhus<br />
University) entwickelten die<br />
Inns brucker Forscher:innen<br />
ein theoretisches Modell, dass<br />
die experimentellen Ergebnisse<br />
erklären kann und die<br />
These unterstreicht, dass ein<br />
Erwärmen der Quantenflüssigkeit<br />
zur Ausbildung eines<br />
Quantenkristalls führen kann.<br />
Die Arbeit wurde <strong>2023</strong> in<br />
Nature Communications veröffentlicht.<br />
Erbium und Dysprosium mögen zwar relativ<br />
selten sein, für Francesca Ferlaino<br />
spielen sie aber die Hauptrolle. Im Gegensatz<br />
zu den Alkalimetallen Natrium und<br />
Rubidium, mit denen vor rund 30 Jahren die<br />
ersten Quantengase erzeugt wurden, sind die<br />
zwei Metalle der Seltenen Erden komplexer:<br />
Ihre Atome haben viele Elektronen in ihren<br />
äußeren Schalen und sind noch dazu magnetisch.<br />
Dachte man anfangs, dass diese Eigenschaften<br />
das quantenphysikalische Arbeiten<br />
mit ihnen erschweren würde, zeigt sich, dass<br />
dem nicht unbedingt so ist. Erbium und Dysprosium<br />
lassen sich sogar leichter abkühlen<br />
als Alkali- oder Erdalkaliatome – ein zentraler<br />
Punkt für die <strong>Forschung</strong>en der Inns brucker<br />
Quantenphysikerin.<br />
Um Atome zu kontrollieren, um mit ihnen<br />
Experimente durchzuführen, wird als erster<br />
Schritt in einer speziellen Apparatur das gewünschte<br />
Element mit der jeweils benötigten<br />
Hitze, die von Raumtemperatur bis zu 1.100<br />
Grad Celsius reichen kann, verdampft. Dabei<br />
bildet sich eine Wolke aus hunderttausenden<br />
Atomen. In der Folge streuen Laserstrahlen<br />
Photonen auf die Atome, diese „schlucken“<br />
die Photonen und emittieren sie wieder. Dabei<br />
geben die Atome Energie an das Photon ab<br />
– und kühlen dadurch ab. Immer mehr und<br />
immer mehr Richtung dem absoluten Nullpunkt<br />
von Null Kelvin (−273,15 °C). „Eigentlich<br />
sollten Atome bei diesen Temperaturen<br />
kein Gas mehr bilden, sondern Festkörper“,<br />
sagt Ferlaino. Zudem sind die einzelnen<br />
Atome keine Teilchen mehr, sondern Wellen.<br />
Werden Teilchen nun so weit gekühlt, dass<br />
die quantenmechanischen Wellenfunktionen<br />
der Teilchen zu überlappen beginnen, spricht<br />
man von einem Quantengas. Schwingen alle<br />
quantenmechanischen Wellenfunktionen der<br />
Einzelteilchen in perfektem Gleichtakt, entsteht<br />
ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC).<br />
2<strong>01</strong>2 erzeugte Ferlainos Arbeitsgruppe<br />
das weltweit erste BEC aus rund 70. 000 Erbium-Atomen,<br />
2<strong>01</strong>6 gelang ihr die erste dipolare<br />
Quantenmischung aus Erbium und<br />
Dysprosium. Diese Quantengase bilden seither<br />
die Basis für Ferlainos Experimente und<br />
<strong>Forschung</strong>en, eignen sie sich doch sehr gut,<br />
Eigenschaften der Materie im Detail zu untersuchen<br />
sowie Effekte zu simulieren, die in der<br />
Alltagswelt nicht beobachtet werden können.<br />
Suprafluid & suprasolid<br />
2<strong>01</strong>9 etwa fand ihre <strong>Forschung</strong>sgruppe – so<br />
wie Teams aus Pisa und Stuttgart – erstmals<br />
Hinweise für Suprasolidität in ultrakalten Erbium-<br />
und Dysprosiumgasen. Suprasolidität<br />
ist ein paradoxer Zustand, in dem die Materie<br />
sowohl supraflüssige als auch kristalline<br />
Eigenschaften besitzt. Die Teilchen sind wie in<br />
einem Kristall regelmäßig angeordnet, bewegen<br />
sich aber gleichzeitig ohne Reibung. Für<br />
das Magazin Physics zählte die Entdeckung<br />
von suprasoliden Zuständen zu einem der<br />
zehn wichtigsten Highlights des Jahres 2<strong>01</strong>9.<br />
Zwei Jahre später erzeugten die Inns brucker<br />
Forscher:innen das erste zweidimensionale suprasolide<br />
System. 2022 zeigte Ferlaino gemeinsam<br />
mit ihrem Institutskollegen Russell Bisset,<br />
wie ein atomares Gas zu einem kreisförmigen<br />
Suprafestkörper abgekühlt werden kann.<br />
Ebenfalls 2022 konnte ihr Team Quanten-Wirbel<br />
in einem dipolaren Quantengas beobachten<br />
– diese ultrakalten Mini-Tornados gelten<br />
als eindeutiger Hinweis für Suprafluidität, das<br />
reibungsfreie Strömen eines Quantengases.<br />
Schon im Jahr 2021 hatten die Inns brucker<br />
Physiker:innen gemeinsam mit Kolleg:innen<br />
aus Genf einen Suprafestkörper aus dem<br />
Gleichgewicht gebracht und stießen dabei auf<br />
einen wissenschaftlich interessanten weichen<br />
Festkörper. Überraschenderweise ließ sich der<br />
Vorgang auch umkehren und die Suprafestigkeit<br />
konnte wieder hergestellt werden – und<br />
zwar durch Erwärmung. „Wir haben dieses<br />
Phänomen in unserem Experiment gesehen,<br />
konnten es uns aber nicht erklären. Wir haben<br />
auch überprüft, ob ein technischer Fehler vorlag“,<br />
erinnert sich Ferlaino. Zwei Jahre später<br />
kann sie – gemeinsam mit Physiker:innen um<br />
den Theoretiker Thomas Pohl von der University<br />
Aarhus – die Erklärung für dieses unserer<br />
Alltagswahrnehmung widersprechende Verhalten<br />
liefern. Sie entwickelten und veröffentlichten<br />
in der Fachzeitschrift Nature Communications<br />
ein theoretisches Modell, dass die<br />
experimentellen Ergebnisse erklären kann<br />
und die These unterstreicht, dass ein Erwärmen<br />
der Quantenflüssigkeit zur Ausbildung<br />
eines Quantenkristalls führen kann. Die theoretische<br />
Beschreibung zeigt, dass sich diese<br />
Strukturen mit steigender Temperatur leichter<br />
bilden können.„Mit der neuen Beschreibung<br />
verfügen wir erstmals über ein Phasendiagramm,<br />
das die Entstehung suprafester Zustände<br />
in Abhängigkeit von der Temperatur<br />
zeigt“, sagt Francesca Ferlaino.<br />
Erkenntnisse wie diese sind auch der<br />
Grund, warum für Ferlaino der Begriff Quantensimulation<br />
nicht passend gewählt ist:<br />
„Normalerweise wird etwas simuliert, was<br />
schon bekannt ist. Wir wissen ungefähr, wie<br />
etwas sein wird – wie sich zum Beispiel ein<br />
Flugzeug in starken Turbulenzen verhalten<br />
wird. Das Resultat ist keine totale Überraschung.“<br />
In der Quantenphysik, bei ihren<br />
Experimenten sei das anders: „Wir wissen<br />
manchmal überhaupt nicht, was uns erwartet.<br />
Wir können mit unseren Experimenten aber<br />
Lösungen für Fragen finden – auch wenn die<br />
Antwort eine Überraschung ist“, hält sie fest.<br />
Neutronenstern im Labor<br />
Dennoch können mit Quantensystemen Phänomene<br />
simuliert werden, aktuell widmet<br />
sich Ferlaino einem, das sich – eventuell – in<br />
den unendlichen Weiten des Weltalls abspielt:<br />
im Inneren von Neutronensternen. Die<br />
kugelförmigen Neutronensterne stellen ein<br />
Endstadium in der Sternentwicklung eines<br />
massereichen Sterns dar. „Durch den damit<br />
einhergehenden extremen Masseverlust rotieren<br />
Neutronensterne. Dabei kommt es –<br />
ähnlich einem Leuchtturm – zu regelmäßigen<br />
Lichtemissionen, die wir auf der Erde messen<br />
können“, erklärt die Physikerin. Die anfänglich<br />
extrem hohe Rotation der Neutronensterne<br />
– die höchste bislang gemessene betrug<br />
716 Umdrehungen pro Sekunde – nimmt sukzessive<br />
ab. „Dafür hat die Astrophysik eine<br />
Erklärung. Warum es aber manchmal einen<br />
Sprung in der Rotationsfrequenz gibt, ist bislang<br />
unverstanden“, berichtet Ferlaino. Eine<br />
Vermutung ist, dass das Innere eines Neutronensterns<br />
ähnlich einem Suprafestkörper ist,<br />
in dem sich durch die Rotation Wirbel bilden,<br />
was zu Störungen und in der Folge zu den<br />
Sprüngen in der Rotationsfrequenz führt. Womit<br />
Francesca Ferlaino ins Spiel kommt.<br />
„Wir haben solche ultrakalten Mini-Tornados<br />
in suprafluiden Zuständen nachgewiesen.<br />
Nun wollen wir diese Theorie in einem Suprafestkörper<br />
überprüfen“, gibt sie Einblick in<br />
ihre Arbeit. Gelingt es ihr, gibt sie nicht nur<br />
eine quantenphysikalische Antwort auf eine<br />
astrophysikalische Frage, sondern simuliert in<br />
ihrem Labor auch das Innenleben eines<br />
Sterns.<br />
ah<br />
FRANCESCA FERLAINO<br />
(*1977) studierte Physik in<br />
Neapel, Triest und Florenz.<br />
2007 kam sie als Postdoc und<br />
Lise-Meitner-Stipendiatin nach<br />
Inns bruck, 2<strong>01</strong>4 wurde sie<br />
Professorin an der Universität<br />
Inns bruck und wissenschaftliche<br />
Direktorin am Institut für<br />
Quantenoptik und Quanteninformation<br />
(IQOQI) der Österreichischen<br />
Akademie der Wissenschaften.<br />
Ferlaino und ihre<br />
Arbeitsgruppe sorgen immer<br />
wieder mit Arbeiten auf dem<br />
Gebiet ultrakalter Quantengase<br />
international für Aufmerksamkeit.<br />
Für ihre Arbeit wurde<br />
Ferlaino mehrfach ausgezeichnet.<br />
Nach einem ERC Starting<br />
Grant (2<strong>01</strong>0) und einem ERC<br />
Consolidator Grant (2<strong>01</strong>6)<br />
erhielt sie 2022 mit einem<br />
ERC Advanced Grant die dritte<br />
Spitzenförderung durch den<br />
Europäischen <strong>Forschung</strong>srat<br />
(ERC). Der Advanced Grant<br />
ist die höchste europäische<br />
Förderung für etablierte<br />
Wissenschaftler:innen in der<br />
Grundlagenforschung und<br />
mit bis zu 2,5 Millionen Euro<br />
dotiert.<br />
10 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Andreas Friedle (1), Grafik: Aarhus University (1)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 11
TITELTHEMA<br />
TITELTHEMA<br />
DAS MUSKULOSKELETTALE System des Menschen umfasst<br />
Knochen, Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder. Mithilfe von<br />
muskuloskelettalen Mehrkörpersimulationen können eine Reihe<br />
von Themen untersucht oder eingeschätzt werden, z. B. die Mechanik<br />
von Bewegungen, die Auswirkungen von Verletzungen oder<br />
Krankheiten oder die Ergebnisse von chirurgischen oder therapeutischen<br />
Eingriffen. Die Vorteile im Vergleich zu experimentellen und<br />
klinischen Studien sind unter anderem, dass Probleme isoliert von<br />
anderen Einflussfaktoren betrachtet werden können. Außerdem<br />
sind Studien möglich, die auf experimentellem oder klinischem<br />
Weg nur mit sehr hohem Aufwand umsetzbar sind. Wie der Name<br />
nahelegt, werden beteiligte Knochen darin als einzelne „Körper“<br />
dargestellt. Die Abbildung zeigt die starke Belastung der Speiche als<br />
Ergebnis einer muskuloskelettalen Mehrkörpersimulation.<br />
ROBERT EBERLE: „Starre Segmente können sich nicht verformen und damit auch keine Kräfte absorbieren. Knochen können jedoch bei<br />
Landungen nach Sprüngen oder Stürzen Energie aufnehmen.“<br />
EIN MATHEMATIKER<br />
MACHT KNOCHENARBEIT<br />
Robert Eberle vom Arbeitsbereich Technische Mathematik definiert<br />
die Eigenschaften menschlicher Knochen in Computersimulationen neu.<br />
Typische Bewegungs- und Verletzungsmuster<br />
besser zu verstehen<br />
ist für den Profisport von großer<br />
Bedeutung und beschäftigt die Sportund<br />
Bewegungswissenschaft. Die möglichst<br />
realitätsnahe Simulation von Bewegungsabläufen<br />
und Stürzen ist dabei<br />
mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil<br />
der <strong>Forschung</strong>. „Um zu untersuchen,<br />
was genau bei einem Sturz passiert, kann<br />
man schlecht sagen ‚Fall mal hin!‘“, veranschaulicht<br />
Robert Eberle vom Arbeitsbereich<br />
für Technische Mathematik.<br />
Eberle ist zwar kein Sportwissenschaftler,<br />
wirkt aber seit seiner Dissertation an<br />
der Entwicklung von biomechanischen<br />
Simulationen mit und arbeitet dabei mit<br />
Kolleginnen und Kollegen aus der Sportwissenschaft<br />
zusammen. In seinem Projekt<br />
MultiBones hat er sich einer Problemstellung<br />
gewidmet, die sich aus dieser<br />
Zusammenarbeit ergeben hat: Menschliche<br />
Knochen wurden in Simulationen bisher<br />
als starre Körper angenommen, was<br />
sie eigentlich gar nicht sind. Der sprichwörtliche<br />
harte Knochen ist nämlich elastisch,<br />
hält sogar leichter Biegung stand.<br />
Deshalb hat Robert Eberle einen neuen<br />
Weg eingeschlagen und ein muskuloskelettales<br />
Mehrkörpersimulationsmodell<br />
entwickelt, das die Flexibilität von Elle<br />
und Speiche berücksichtigt. In seinem<br />
Modell steckt Wissen aus der Baumechanik,<br />
jede Menge Rechenarbeit und eine<br />
Reihe von Laborversuchen zu den Eigenschaften<br />
menschlicher Knochen.<br />
Hilfsmittel aus der Mechanik<br />
„Starre Segmente können sich nicht verformen<br />
und damit auch keine Kräfte absorbieren.<br />
Knochen können jedoch bei<br />
Landungen nach Sprüngen oder Stürzen<br />
Energie aufnehmen“, erklärt Eberle<br />
ein Manko früherer Simulationsansätze<br />
genauer. Statt als starren Körper hat er<br />
Elle und Speiche deshalb mithilfe sogenannter<br />
Euler-Bernoulli-Balken in<br />
eine Sturz-Simulation implementiert.<br />
„Beim dynamischen Euler-Bernoulli-<br />
Balken handelt sich um eine partielle<br />
Differenzial gleichung oder einfach ausgedrückt<br />
um ein mathematisches Hilfsmittel,<br />
mit dem man in der Mechanik<br />
Durchbiegungen beanspruchter Bauteile<br />
beschreiben kann“, erläutert Eberle seine<br />
Herangehensweise. „Er ist die einfachste<br />
mechanische Methode, wenn man etwas<br />
flexibel darstellen möchte.“<br />
Um die Gleichung aufstellen zu können,<br />
müssen allerdings bestimmte<br />
Material kennwerte wie zum Beispiel Geometrie,<br />
Masse, aber auch das Trägheitsmoment<br />
und das E-Modul oder die Biegesteifigkeit<br />
bekannt sein. „Die Daten, die wir<br />
für den Euler-Bernoulli-Balken brauchten,<br />
haben wir an der Medizinischen Universität<br />
anhand von Kadaver-Studien erhoben“,<br />
schildert Eberle. Während Knochendichte<br />
und Querschnitt sich relativ einfach<br />
ROBERT EBERLE (*1984 in Bregenz)<br />
studierte an der Universität Inns bruck<br />
Technische Mathematik. Von 2<strong>01</strong>1 bis<br />
2<strong>01</strong>6 absolvierte er das Doktoratsstudium<br />
der Technischen Wissenschaften. Als Dissertant<br />
arbeitete er am Institut für Sportwissenschaften<br />
und untersuchte Kreuzbandverletzungen<br />
nach einer Landung im<br />
Abfahrtslauf mithilfe von muskuloskelettalen<br />
Simulationsmodellen. Seit 2<strong>01</strong>6 ist<br />
Robert Eberle Senior Lecturer mit Doktorat<br />
am Institut für Grundlagen der Technischen<br />
Wissenschaften und beschäftigt sich<br />
in seiner <strong>Forschung</strong> mit biomechanischen<br />
und mechanischen Simulationsmodellen.<br />
messen lassen, ist die Biegesteifigkeit ein<br />
für den Euler-Bernoulli-Balken relevanter<br />
Parameter, der sich nicht messen, sondern<br />
nur über Versuche bestimmen lässt. „Wir<br />
haben am Inns brucker Biomechaniklabor<br />
der Universitätsklinik für Orthopädie und<br />
Traumatologie sogenannte Dreipunkt-Biegeversuche<br />
mit menschlichen Knochen<br />
durchgeführt“, erklärt der Wissenschaftler.<br />
Bei diesem klassischen Experiment aus<br />
dem Ingenieurwesen wird das Material in<br />
der Prüfeinrichtung steigenden Belastungen<br />
ausgesetzt. Die Kraftwerte, bei denen<br />
das Material bricht, werden dann zur Errechnung<br />
der Biegesteifigkeitsfunktion<br />
eingesetzt.<br />
Im Übrigen ein komplexes Verfahren,<br />
für das Robert Eberle im Zuge des Projekts<br />
eine einfachere Alternative entwickelt<br />
hat. „Die neue Methode ist als ungeplantes<br />
Nebenprodukt entstanden und<br />
kann wiederum auch im Ingenieurwesen<br />
genutzt werden“, freut sich Eberle.<br />
Vielseitig anwendbar<br />
Angewendet hat Robert Eberle seine neuen<br />
Beschreibungsmethoden im Rahmen<br />
einer Mehrkörpersimulation, um eine<br />
Fraktur der Elle während eines Sturzes<br />
zu simulieren. Nützlich sind das Modell<br />
und die daraus gewonnenen Erkenntnisse<br />
übrigens nicht nur für die Sportwissenschaft:<br />
Das strukturelle Verhalten von<br />
Knochen spielt zum Beispiel auch eine<br />
wichtige Rolle bei der Anpassung von<br />
Rekonstruktionsplatten oder Prothesen.<br />
„In einer Simulation kann ich verschiedene<br />
Materialien ausprobieren und vergleichen,<br />
wenn ich zum Beispiel ein künstliches<br />
Gelenk einsetzen muss“, veranschaulicht<br />
Eberle mögliche Einsatzgebiete<br />
seiner Erkenntnisse. „Das wird bereits gemacht,<br />
aber eben mit starren Elementen.<br />
So muss man nach der Simulation ein aufwendiges<br />
und fehleranfälliges Postprocessing<br />
machen“, ergänzt er. Auf ein solches<br />
könnte man künftig verzichten, wenn die<br />
Eigenschaften von Knochen bereits in der<br />
Simulation berücksichtigt sind. ef<br />
12 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: AdobeStock / SciePro, Andreas Friedle; Grafik: Robert Eberle<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 13
TITELTHEMA<br />
TITELTHEMA<br />
In der Ausbildung von Chirurg:innen<br />
ist der Übergang zur Praxis ein fordernder<br />
Moment. Irgendwann steht<br />
die erste Operation an echten Patient:innen<br />
an. Je vielseitiger das Training davor<br />
war, desto besser. Hierbei sind Zeit,<br />
Kosten und die vorhandenen Übungsmaterialien<br />
immer ein limitierender Faktor.<br />
Deshalb arbeiten Forscher:innen am<br />
Institut für Informatik der Universität<br />
Inns bruck an der Entwicklung von VR-<br />
Modellen, die das chirurgische Training<br />
präziser, vielseitiger und nachhaltiger<br />
machen können.<br />
Matthias Harders leitet die <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />
Interaktive Grafik und Simulation.<br />
Seine verschiedenen Teammitglieder beschäftigen<br />
sich unter anderem mit medizinischer<br />
Simulation und Visualisierung,<br />
virtueller und erweiterter Realität sowie<br />
haptischer Interaktion. Fachlich ist die<br />
<strong>Forschung</strong>sgruppe bunt gemischt, denn<br />
die Entwicklung von medizinischen VR-<br />
Anwendungen und komplexen Computermodellen<br />
erfordert Kenntnisse in Informatik,<br />
Physik, Mechatronik, Medizin und<br />
Mathematik.<br />
Feedback vom Knochenbohrer<br />
„Einer unserer größten <strong>Forschung</strong>sbereiche<br />
ist die Computerhaptik“, erzählt<br />
Harders: „Bei dieser geht es darum, Tasteindrücke<br />
zu erzeugen, damit Dinge, die<br />
simuliert werden, auch gefühlt werden<br />
können. Vor allem in der Ausbildung von<br />
Chirurg:innen ist das sehr wichtig. Wenn<br />
man übt, in eine Leber zu schneiden, sollte<br />
auch das entsprechende Feedback des<br />
Gewebes zu spüren sein.“<br />
Harders greift neben seinen Schreibtisch<br />
und holt das Ergebnis der Doktorarbeit<br />
des Teammitglieds Quang Ha Van<br />
hervor. Es ist eine im 3D-Druck erstellte<br />
Attrappe einer Bohrmaschine. Sie ist<br />
einem herkömmlichen Knochenbohrer,<br />
SIMULIEREN FÜR<br />
DIE MEDIZIN<br />
Die <strong>Forschung</strong>sgruppe Interaktive Grafik und Simulation am Institut für Informatik entwirft komplexe<br />
Modelle, mit denen medizinische Eingriffe in der Virtuellen Realität geübt werden können.<br />
wie er in der Orthopädie verwendet<br />
wird, nachempfunden. Allerdings ist in<br />
diese eine spezielle Mechanik eingebaut<br />
worden. Der metallene Bohraufsatz kann<br />
durch Druck im Inneren des Gehäuses<br />
verschwinden. Dort wird über Motoren<br />
ein Widerstand erzeugt, angepasst an<br />
das Material, das gerade simuliert wird.<br />
„Knochen bestehen aus Schichten mit<br />
MATTHIAS HARDERS studierte Informatik<br />
mit Schwerpunkt Medizinische<br />
Informatik an der Universität Hildesheim,<br />
der Technischen Universität Braunschweig<br />
und der University of Houston. Er promovierte<br />
2003 an der ETH Zürich, wo er sich<br />
auch 2007 im Bereich Virtual Reality in<br />
der Medizin habilitierte. Er arbeitete bis<br />
2<strong>01</strong>2 an der ETH, mit kurzen <strong>Forschung</strong>saufenthalten<br />
in den USA, Japan und<br />
Australien. Nach einer Stelle als Reader<br />
an der University of Sheffield, UK, wurde<br />
er 2<strong>01</strong>4 als Professor an die Universität<br />
Inns bruck berufen, wo er am Institut<br />
für Informatik die <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />
Interaktive Grafik und Simulation leitet<br />
und sich mit <strong>Forschung</strong> in Medizinischer<br />
Simulation und Visualisierung, Virtueller<br />
und Erweiterter Realität sowie Haptischer<br />
Interaktion beschäftigt.<br />
verschiedenen Dichten, die auch unterschiedliches<br />
Feedback erzeugen müssen“,<br />
sagt Harders.<br />
Während also angehende Chirurg:innen<br />
mithilfe einer VR-Simulation am<br />
Computerbildschirm und dem modifizierten<br />
Bohrer eine Operation am simulierten<br />
Knochen durchführen, erzeugt<br />
das Gerät Feedback in Form von Kraft,<br />
Vibration und Geräuschen. Der Nutzen<br />
dieser Übungen wurde in einer Studie<br />
überprüft, mit dem Ergebnis, dass das<br />
Training mit echten Knochenbohrern an<br />
herkömmlichen Plastikknochen und mit<br />
dem simulierten System gleichermaßen<br />
gut abgeschnitten hat.<br />
Dabei bietet das virtuelle System aber<br />
einige Vorteile, wie Harders erklärt: „Erstens<br />
wird kein Material für das Training<br />
verschlissen, es ist also nachhaltiger. Zum<br />
anderen ist das Training in der Simulation<br />
messbar. Man kann genau bestimmen,<br />
wie tief der Bohrer eingedrungen ist, Fehler<br />
analysieren und dieselbe Operation<br />
mehrmals durchführen, um sie besser zu<br />
absolvieren.“<br />
Realistisch bluten<br />
In einem weiteren Projekt, an dem der<br />
Doktorand Nikolaus Rauch arbeitet, werden<br />
ganze virtuelle Patient:innen erstellt.<br />
Das erfordert eine detaillierte Modellierung<br />
von Anatomie, Physiologie und Pathologie.<br />
„Da gibt es verschiedene wichtige<br />
Komponenten, zum Beispiel die Gefäßsysteme“,<br />
sagt Harders. „Die Arterien<br />
und Venen können Chirurg:innen schon<br />
visuell zeigen, um welches Gewebe es<br />
sich handelt. Also ist es wichtig, dass wir<br />
die Gefäße für das Training modellieren,<br />
und diese dann auch korrekt bluten,<br />
wenn man sie in der VR-Simulation anschneidet.“<br />
Es wäre aber viel zu aufwendig,<br />
diese für jedes Modell neu per Hand<br />
zu generieren.<br />
Deswegen arbeitet das Team an Algorithmen,<br />
die automatisch neue Blutgefäßbäume<br />
erstellen. „Dafür stellt man<br />
lediglich die benötigten Parameter ein<br />
– um welches Organ es sich handelt, wo<br />
im Gewebe Sauerstoff benötigt wird, die<br />
Pathologie der Patient:innen – daraus generiert<br />
das Programm dann realistisch erscheinende<br />
Blutgefäße.“<br />
Nicht immer nur Tetris<br />
Die Frage, wie Modelle automatisch generiert<br />
werden können, findet auch Inspiration<br />
in der Spieleentwicklung. Content-Generation-Algorithmen<br />
können<br />
z. B. Landschaften entwerfen, die einem<br />
bestimmten Konzept folgen, aber sich<br />
niemals wiederholen.<br />
In einem weiteren Projekt von Harders,<br />
an dem auch die Klinik Hochzirl und<br />
das MCI Management Center Inns bruck<br />
beteiligt sind, wird dieses Prinzip in der<br />
Rehabilitation angewendet. „Nach Schlaganfällen<br />
muss das Gehirn neu vernetzt<br />
und manche Dinge müssen neu gelernt<br />
werden. In der Rehabilitation müssen<br />
Patient:innen dann Bewegungen wiederholen,<br />
um sich Abläufe, Motorik und Sensorik<br />
wieder anzueignen.“ Üblicherweise<br />
wird dies mithilfe von Therapeut:innen<br />
trainiert. Mittlerweile werden aber immer<br />
öfter auch Robotersysteme eingesetzt, um<br />
die Therapie zu unterstützen und zu ergänzen.<br />
„Ein Problem dabei ist, dass diese<br />
Übungen über Monate hinweg wiederholt<br />
werden müssen. Und das kann schon<br />
langweilig werden“, sagt Harders. „Deswegen<br />
wollen wir Rehabilitation mit motivierenden<br />
spielerischen Anwendungen<br />
kombinieren, die sich mit den physiotherapeutischen<br />
Übungen verbinden lassen.“<br />
Ein Beispiel ist ein Trainingssystem, mit<br />
dem Handbewegungen geübt werden sollen.<br />
Mittels VR lässt sich dabei Tetris spielen.<br />
Drehen, Strecken oder Drücken der<br />
Hand bewegt einen der fallenden bunten<br />
Steine in die gewünschte Richtung. Dabei<br />
ist das System individuell anpassbar. Die<br />
Steine fallen so, dass wichtige Übungen<br />
unbemerkt besonders oft gemacht werden.<br />
„Ich will in der Rehabilitation aber auch<br />
nicht drei Monate lang nur Tetris spielen“,<br />
fügt Harders hinzu. „Es wäre viel spannender,<br />
wenn die Spiele sich immer neu<br />
generieren und auch an den Geschmack<br />
der Patient:innen anpassen. Daran arbeiten<br />
wir zurzeit noch.“<br />
fo<br />
IN DIESE ATTRAPPE eines Knochenbohrers sind Mechaniken und Sensoren eingebaut,<br />
durch die das haptische Feedback einer Operation simuliert wird.<br />
14 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 15
TITELTHEMA<br />
TITELTHEMA<br />
CHEMISCHE SIMULATION: Thomas Hofer kann das Verhalten der metallorganischen Verbindungen zuverlässig modellieren.<br />
NEUE WEGE IN DER<br />
MATERIALENTWICKLUNG<br />
Metallorganische Verbindungen sind eine zukunftsweisende Materialklasse mit zahlreichen<br />
Anwendungsmöglichkeiten. Chemiker:innen um Thomas Hofer arbeiten an Methoden zur Simulation<br />
dieser Verbindungen, um ihren Einsatz zu optimieren.<br />
MOF – die drei Buchstaben stehen<br />
für Metal Organic Framework,<br />
auf deutsch Metallorganische<br />
Gerüstverbindung. MOFs repräsentieren<br />
eine Klasse von Materialien, die aus metallhaltigen<br />
Knotenpunkten und organischen<br />
Liganden aufgebaut und in einem<br />
regelmäßigen, dreidimensionalen Gitter<br />
angeordnet sind. Durch die Kombination<br />
verschiedener Metallknoten und Liganden<br />
können MOFs mit unterschiedlichen<br />
Eigenschaften hergestellt werden, was ihre<br />
Anwendbarkeit sehr vielseitig macht.<br />
„Metal Organic Frameworks<br />
können als Träger für Wirkstoffe<br />
wie Medikamente, Peptide<br />
oder Proteine dienen, die dann<br />
kontrolliert freigesetzt werden<br />
können.“ <br />
Thomas Hofer<br />
Entdeckt wurden die Verbindungen<br />
erstmals Anfang der 1990er-Jahre, seitdem<br />
stehen sie im Zentrum des Interesses<br />
zahlreicher <strong>Forschung</strong>sarbeiten.<br />
„MOFs weisen ein hohes, inneres Volumen<br />
auf und können Gastmoleküle in ihren<br />
Poren speichern. Dies macht sie ideal<br />
für die Lagerung und Freisetzung von<br />
Wasserstoff, Kohlendioxid und anderen<br />
Gasen“, erklärt Thomas Hofer, assoziierter<br />
Professor am Institut für Allgemeine,<br />
Anorganische und Theoretische Chemie<br />
der Universität Inns bruck. „Zudem ist<br />
ihr Einsatz auch für die Wirkstofffreisetzung<br />
in der Medizin sehr interessant:<br />
Sie können als Träger für Wirkstoffe wie<br />
Medikamente, Peptide oder Proteine<br />
dienen, die dann kontrolliert freigesetzt<br />
werden können. Die Porosität der MOFs<br />
soll eine höhere Wirkstoffbeladung und<br />
eine bessere Kontrolle der Freisetzung als<br />
bei herkömmlichen Materialien ermöglichen“,<br />
so der Chemiker.<br />
Es gibt beispielsweise MOFs, die aufgrund<br />
ihres Aufbaus Wirkstoffe sicher<br />
durch das saure Magenmilieu transportieren<br />
könnten oder andererseits in tendenziell<br />
sauren Tumorgeweben zerfallen<br />
und ihr Gastmolekül – in diesem Fall<br />
einen Wirkstoff – genau dort freigeben,<br />
wo es wirken soll. „Diese Technologie hat<br />
enormes Potenzial, auch für Wirkstoffe,<br />
die nur deshalb nicht weiter erforscht<br />
wurden, weil sie nicht effizient genug an<br />
das Ziel ihrer Wirkung gebracht werden<br />
konnten“, beschreibt Hofer. Seine Arbeit<br />
konzentriert sich auf die Simulation dieser<br />
vielversprechenden Verbindungen,<br />
um ihre charakteristischen Eigenschaften<br />
zum einen besser zu verstehen und<br />
zum anderen ihre Einsatzmöglichkeiten<br />
zu optimieren. Um stabil zu sein, müssen<br />
die einzelnen Verbindungen in MOFs<br />
eine möglichst neutrale Position einnehmen,<br />
in der sie sich weder zu stark anziehen<br />
noch zu stark abstoßen. „Ziel unserer<br />
<strong>Forschung</strong> ist es, die Simulation dieser<br />
Anziehung und Abstoßung in Wechselwirkung<br />
so exakt wie möglich nachzustellen,<br />
um stabile Gerüstverbindungen<br />
zu modellieren, noch bevor sie im Labor<br />
hergestellt wurden“, erklärt Thomas<br />
Hofer.<br />
ILLUSTRATION EINER chemischen<br />
Simulation eines Gast@MOF-Systems. In<br />
diesem Beispiel wurden zwei Moleküle<br />
des Krebsmedikaments Fluorouracil in<br />
die metallorganische Gerüstverbindung<br />
MOF-5 eingebettet. Das Simulationssystem<br />
besteht aus 448 Atomen. (grau<br />
= Kohlenstoff, weiß = Wasserstoff, rot =<br />
Sauerstoff, blau = Stickstoff; cyan = Fluor;<br />
schwarz = Zink)<br />
Komplexe Simulationen<br />
In Simulationen berechnen die Wissenschaftler:innen<br />
um Hofer zum einen das<br />
Verhalten und die Stabilität der Gerüstverbindung<br />
an sich, zum anderen berechnen<br />
sie auch die Wechselwirkungen des<br />
Wirtsmaterials mit den je nach Anwendungsart<br />
verschiedenen Gastmolekülen.<br />
„MOFs haben vergleichsweise viele Teilchen,<br />
die zu beschreiben sind. Ein weiteres<br />
Spezifikum ist ihre Wechselwirkung<br />
mit Kräften von außen: Normalerweise<br />
dehnen sich Materialien bei Erwärmung<br />
aus. Es gibt aber zum Beispiel auch<br />
MOFs, die sich bei Erwärmung kontrahieren.<br />
All diese Faktoren gilt es bei unseren<br />
Simulationen zu berücksichtigen“,<br />
erklärt Thomas Hofer.<br />
Aufgrund der Komplexität dieser Berechnungen<br />
greifen die Wissenschaftler:innen<br />
unter anderem auf Konzepte<br />
des maschinellen Lernens zurück. Basierend<br />
auf bestehenden Methoden haben<br />
Hofer und sein Team so eine neue<br />
Software programmiert, die es möglich<br />
macht, das Verhalten dieser komplexen<br />
Systeme schnell und zuverlässig zu simulieren.<br />
„Damit eine derartige Simulation<br />
gelingt, müssen die Kräfte, die auf<br />
die Atome wirken, so exakt wie möglich<br />
in der Berechnung nachgestellt werden“,<br />
erklärt der Chemiker. „Eine neuartige<br />
Methode, die diese atomaren Kräfte<br />
trotz geringer Berechnungszeit mit hoher<br />
Genauigkeit wiedergeben kann, sind<br />
neuronale Netzwerk-Potenziale – diese<br />
wurden mit unserer Simulations-Software<br />
kombiniert. Auf diese Weise konnte<br />
ein Verfahren entwickelt werden, das um<br />
einen Faktor 100 schneller ist als etablierte<br />
Anwendungen und dabei im Wesentlichen<br />
dieselben Ergebnisse liefert“, so<br />
Hofer.<br />
Noch sind die Chemiker:innen dabei,<br />
die von ihnen entwickelte Methode zu<br />
validieren und ihre Verlässlichkeit zu<br />
belegen. In einer kürzlich publizierten<br />
Arbeit konnten sie mit einer Simulationsreihe<br />
verschiedener organischer Gerüstverbindungen<br />
als CO 2 -Speicher bereits<br />
zeigen, dass ihre Methode eine adäquate<br />
Alternative für die Untersuchung dieser<br />
komplexen Substanzklassen darstellt und<br />
den Bereich für rechnerische Studien mit<br />
diesem Schwerpunkt erheblich erweitert.<br />
Beschichtete Nanopartikel<br />
Neben den Simulationen MOF-basierter<br />
Materialien arbeiten die Chemiker:innen<br />
um Hofer derzeit auch an Simulationen<br />
beschichteter Nanopartikeln, die unter<br />
anderem in der Tumortherapie zum Einsatz<br />
kommen könnten. Beispielsweise<br />
zeigen Nanopartikel aus Magnetit magnetische<br />
Eigenschaften – mithilfe von<br />
Magneten könnten sie gezielt in bestimmte<br />
Zellen des Körpers und somit<br />
auch in Tumorgewebe gelenkt werden.<br />
Da Eisen im Körper toxisch wirkt, müssen<br />
die Nanopartikel allerdings beschichtet<br />
werden. In Zusammenarbeit mit der<br />
UMIT TIROL simulieren Thomas Hofer<br />
und sein Team das Verhalten dieser beschichteten<br />
Nanopartikel. „Ziel ist es natürlich,<br />
die mit Amylose oder Zitronensäure<br />
beschichteten Nanopartikel möglichst<br />
zahlreich gezielt in Tumorzellen<br />
anzureichern“, so Hofer. „Um das zu erreichen,<br />
muss man allerdings genau wissen,<br />
welche Kräfte wirken, wenn sich<br />
zwei dieser Teilchen begegnen oder<br />
wenn mehrere Nanoteilchen gleichzeitig<br />
im Blutkreislauf verteilt sind.“ Mithilfe<br />
der von ihnen entwickelten Methode<br />
können Hofer und sein Team das Verhalten<br />
der Nanoteilchen unter Einbeziehung<br />
aller auf sie wirkenden Kräfte genau modellieren<br />
und liefern so wichtige Daten<br />
für die Weiterentwicklung dieses Therapieansatzes.<br />
sr<br />
THOMAS HOFER (*1978 in Inns bruck)<br />
studierte Chemie an der Universität Innsbruck<br />
und habilitierte sich hier 2<strong>01</strong>1 im<br />
Fach Theoretische Chemie und Computerchemie.<br />
Seit 2<strong>01</strong>1 ist er assoziierter<br />
Professor am Institut für Allgemeine,<br />
Anorganische und Theoretische Chemie.<br />
16 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Thomas Hofer<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 17
TITELTHEMA<br />
TITELTHEMA<br />
BÖDEN ALS MODELL<br />
Gertraud Medicus konzentriert sich in ihrer <strong>Forschung</strong>sarbeit auf Materialmodelle,<br />
um mit ihnen das mechanische Verhalten von Böden mathematisch zu beschreiben.<br />
Um die gesteckten Klimaziele zu erreichen,<br />
wirft die EU einen Blick<br />
aufs Meer – bis 2050 sollen 340 Gigawatt<br />
Offshore-Strom auf den Kontinent<br />
fließen. Sind die Anlagen vom Festland<br />
entfernt, werden Tragstrukturen, Anker<br />
und Untergrund durch Wind, Wellen<br />
und Meeresströmungen belastet. Mit<br />
einer speziellen Belastung der Meeresboden-Anker-Interaktion<br />
befassen sich<br />
Forscherinnen und Forscher der University<br />
of Southampton – und warfen auf<br />
der Suche nach einem passenden Materialmodell,<br />
um dieses Bodenverhalten<br />
zu simulieren, ihren Blick Richtung Kontinent.<br />
Und wurden an der Universität<br />
Inns bruck fündig.<br />
„Gesucht wurde ein Modell, das für<br />
ganz bestimmte Belastungspfade, nämlich<br />
wiederkehrende Episoden von Scherung,<br />
dann Konsolidierung, dann wieder<br />
Scherung, usw. geeignet ist. Diese zyklische<br />
Belastung lässt sich mithilfe eines bestimmten<br />
Materialmodells, der Hypoplastizität,<br />
gut abbilden“, berichtet Gertraud<br />
Medicus vom Arbeitsbereich für Geotechnik<br />
am Institut für Infrastruktur der<br />
Universität Inns bruck. Der Arbeitsbereich<br />
ist sozusagen die Wiege der Hypoplastizität,<br />
geht doch ihre Theorie auf Dimitrios<br />
Kolymbas zurück, der von 1994 bis 2<strong>01</strong>7<br />
als Professor für Geotechnik und Tunnelbau<br />
in Inns bruck tätig war. Medicus stieß<br />
2009 über eine Dissertationsstelle auf das<br />
Thema. „Ein Glücksgriff“, sagt sie heute,<br />
GERTRAUD MEDICUS (*1981) studierte<br />
Bauingenieurwesen an der Universität<br />
Inns bruck und an der NTNU Trondheim<br />
(Norwegen) und dissertierte 2<strong>01</strong>4 in<br />
Inns bruck. Nach der Promotion war sie<br />
bis 2<strong>01</strong>7 als Postdoc in verschiedenen<br />
Projekten tätig. Von 2<strong>01</strong>7 bis 2022 leitete<br />
sie das FWF-Einzelprojekt Reloading in<br />
Barodesy. Seit 2022 hat Medicus für<br />
das Projekt Soil tests as boundary value<br />
problems using hypoplasticity eine FWF-<br />
Elise-Richter-Stelle inne.<br />
„mich fasziniert diese Kombination aus<br />
Mathematik und Bodenmechanik.“<br />
Materialmodelle sind mathematische<br />
Modelle, die das reale Spannungs-Dehnungs-Verhalten<br />
des Materials abbilden.<br />
Für ein Gummiband etwa braucht es<br />
ein elastisches Modell – die Dehnung<br />
des Bandes ist bei Entlastung voll rückläufig<br />
–, welches für einen Sandstrand<br />
aber nicht geeignet ist: Der Abdruck<br />
eines Fußes bildet sich nicht vollständig<br />
zurück. „Komplexer wird die Modellierung,<br />
wenn man noch einmal in diesen<br />
Fußabdruck steigt, wenn es also zu einer<br />
wiederholten Belastung kommt“, sagt<br />
Medicus, die sich in ihrer Arbeit auch auf<br />
Materialmodelle zur Beschreibung von<br />
zyklischem Bodenverhalten konzentriert.<br />
Inns brucker Schule<br />
„Im Bereich der Bodenmechanik gibt es<br />
zahlreiche Materialmodelle, zum Beispiel<br />
die Elastoplastizität. Sie unterscheidet<br />
sich von der Hypoplastizität nach mathematischen<br />
und nicht zwangsläufig nach<br />
bodenmechanischen Merkmalen. Welches<br />
Modell das zielführendere ist, hängt<br />
von der Aufgabenstellung ab“, erklärt die<br />
Forscherin. Vergleichbar sei es mit unterschiedlichen<br />
wissenschaftlichen Schulen,<br />
in Inns bruck eben die von Kolymbas<br />
IN DEM PROJEKT Animating Soil<br />
Models erstellte Gertraud Medicus für<br />
Lehrzwecke 3D-Visualisierungen zu<br />
Materialmodellen und stellt sie als offene<br />
Bildungsressource dauerhaft auf der<br />
Plattform Soilmodels.com/soilanim zur<br />
Verfügung. Die Abbildung zeigt den Kegel<br />
(nach Matsuoka-Nakai) der sogenannten<br />
kritischen Spannungszustände (im<br />
Hauptspannungsraum). Dieser Kegel ist<br />
in mehreren Materialmodellen, wie auch<br />
in der Hypoplastizität und Barodesie, enthalten<br />
und beschreibt unter bestimmten<br />
Bedingungen die Festigkeit des Bodens.<br />
BODENPROBEN verformen sich im Versuch nicht so homogen wie oft in der Modellierung<br />
angenommen – die Zylinder bauchen zum Beispiel aus. Gertraud Medicus will wissen, ob<br />
bzw. wie diese Inhomogenitäten Festigkeits- und Steifigkeitsprognosen beeinflussen.<br />
entwickelten Hypoplastizität und Barodesie,<br />
für die in den vergangenen Jahren<br />
mehrere Untermodelle z. B. Barodesie für<br />
Sand und Ton erstellt wurden.<br />
Ehe solch ein theoretisches Modell in<br />
die Anwendung gelangt, wird es mithilfe<br />
von Laborversuchen kalibriert und validiert.<br />
Um mit ihm geotechnische Simulationen<br />
durchzuführen, benötigt es zudem<br />
exakte Untersuchungen des Bodens. Mit<br />
den daraus gewonnenen Parametern und<br />
dem passenden Modell berechnet dann<br />
eine Finite-Elemente-Software, wie etwa<br />
ein Bauwerk und der Untergrund auf<br />
reale Bedingungen – bestimmte Kräfte,<br />
Schwingungen, Temperaturen und andere<br />
physikalische Einwirkungen – reagieren.<br />
Auch wenn sich Gertraud Medicus als<br />
Grundlagenforscherin sieht, ihr Knowhow<br />
fließt bei Kooperationen wie jener<br />
mit der University of Southampton oder<br />
einer mit der Deutschen Bahn in Zusammenarbeit<br />
mit der TU Graz („Dabei geht<br />
es um die zyklische Belastung einer Brücke.“)<br />
in die Modellberatung ein.<br />
Bei der Anbahnung internationaler Kooperationen<br />
kam Medicus ein „Herzensprojekt“,<br />
wie sie es nennt, zugute. „Materialmodelle<br />
bestehen aus vielen mathematischen<br />
Gleichungen und sind auch für<br />
Studierende abstrakt“, sagt Medicus. Daher<br />
visualisiert sie Simulationen von Versuchskurven<br />
und nützt sie in der Lehre.<br />
Während der Corona-Pandemie teilte sie<br />
viele dieser 3D-Visualisierungen via Social<br />
Media – und bekam Anfragen von Kolleginnen<br />
und Kollegen, ob sie diese auch<br />
für eigene Zwecke verwenden könnten.<br />
„Warum sollen nicht auch andere daran<br />
teilhaben?“, fragte sich Medicus. Über ein<br />
von der Uni Inns bruck gefördertes Lehreprojekt<br />
stellte sie daher Animationen und<br />
interaktive Grafiken von Fließflächen,<br />
Spannungsinvarianten, Hypoplastizität<br />
etc. auf einer Plattform zur Verfügung (siehe<br />
Infobox). „Die Seite war für die Lehre<br />
gedacht, über sie ergaben sich aber auch<br />
wissenschaftliche Kooperationen“, erzählt<br />
die Forscherin.<br />
Modell versus Laborversuch<br />
Eine Kooperation besteht auch mit der<br />
Universität Grenoble. In einem FWF-Projekt<br />
geht Medicus der Frage nach, warum<br />
und unter welchen Randbedingungen sich<br />
Bodenproben nicht so homogen verformen<br />
wie oft in der Modellierung angenommen.<br />
„Im Experiment sieht man: Die Probenform<br />
bleibt kein Zylinder, die Proben bauchen<br />
aus oder es bilden sich Scherfugen“,<br />
weiß Medicus. Sie will nun wissen, ob<br />
bzw. wie diese Inhomogenitäten Festigkeits-<br />
und Steifigkeitsprognosen und eventuell<br />
auch die Anwendung beeinflussen.<br />
Bislang wurde angenommen, dass diese<br />
Inhomogenitäten erst bei einer größeren<br />
Stauchung der Probe entstehen. „Die Kolleginnen<br />
und Kollegen in Grenoble können<br />
das Innere von Proben – auch schon<br />
während der Kompression – im Computertomograf<br />
untersuchen. Dabei konnten<br />
sie beobachten, dass sich schon von Beginn<br />
an Scherfugen bilden und dass Muster<br />
entstehen“, berichtet Medicus: „Das<br />
eröffnet eine neue Sichtweise, mit der wir<br />
eventuell unser Modell adaptieren können.<br />
Daher wollen wir diese Grenobler<br />
Experimente simulieren.“ ah<br />
18 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Gertraud Medicus<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 19
TITELTHEMA<br />
TITELTHEMA<br />
DAS VISUALISIERUNGSLABOR DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK<br />
Das VISUAL INTERACTION LAB 1669 – uniintern Visualisierungslabor oder einfach nur VisLab genannt – wurde Ende 2<strong>01</strong>8 am<br />
Campus Technik der Universität Inns bruck eröffnet. Seither bietet es <strong>Forschung</strong> und Lehre einen Rahmen für die Darstellung großer<br />
Datenmengen und die Arbeit mit virtuellen Realitäten. Bis zu 30 Personen gleichzeitig können 2D- und 3D-Inhalte auf einer 3,1 mal<br />
1,7 Meter großen 5K-Videowand erleben. Die Infrastruktur, die vom <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt Scientific Computing und dem Zentralen<br />
Informatikdienst betrieben wird, steht allen Uni-Angehörigen offen und kann auch für innovative Lehrveranstaltungsformate<br />
genutzt werden. „Das VisLab ist – im besten Sinne des Wortes – ein Labor zur Visualisierung wissenschaftlicher Inhalte.<br />
Als Universität profitieren wir hier doppelt: Das VisLab fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit und macht zugleich<br />
diese Vernetzung unterschiedlichster Disziplinen sichtbar”, zeigt sich Alexander Ostermann als Leiter des Schwerpunkts<br />
begeistert. Hier wird Vergangenes lebendig, Zukünftiges greifbar und Unvorstellbares darstellbar.<br />
DAS VISLAB bietet Architektur-Simulationen<br />
und experimentellen Interaktionen<br />
wie dem Projekt metaphysical<br />
enviroments des PhD-Studenten und<br />
Architekten Anirudhan Iyengar einen<br />
entsprechenden Raum: Die von ihm für<br />
eine Ausstellung im Architekturzentrum<br />
aut entwickelte, ortsspezifische Installation<br />
ermöglicht mittels VR eine neue<br />
Perspektive auf das Unheimliche als<br />
emotionales Verhältnis zur konstruierten<br />
Wirklichkeit und eine Grenz-Erfahrung<br />
zwischen realer und virtueller Welt.<br />
<br />
DIE DURCH DEN urgeschichtlichen<br />
Bergbau entstandenen Hohlräume<br />
im Felsen dokumentierte Archäologe<br />
Manuel Scherer-Windisch für seine am<br />
Fachbereich Ur- und Frühgeschichte<br />
verfasste Masterarbeit mittels Fotogrammetrie;<br />
die 3D-Modelle sollten<br />
Erkenntnisse zum Vortrieb der Abbauleistung<br />
liefern. Das Vislab ermöglichte<br />
es, diese 3D-Modelle mittels VR-Brille<br />
zu betreten und zugleich am großen<br />
Display zu präsentieren. Zu sehen ist die<br />
prähistorische Silbermine Schönbiegler<br />
Bau im Tiroler Unterland.<br />
DAS VISLAB verfügt über einen<br />
Hochleistungsrechner sowie eine<br />
vollintegrierte Virtual-Reality-Installation,<br />
die in Kombination mit einer<br />
hochaufgelösten VR-Brille eine virtuelle<br />
Erfahrung ersten Ranges bietet.<br />
DER KLEINE ERDGLOBUS des Tiroler „Bauernkartographen“<br />
Peter Anich aus dem Jahr 1758 präsentiert im VisLab: Der Globus<br />
wird im Depot der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB)<br />
unter optimalen konservatorischen Bedingungen gelagert. Dank<br />
einer aufwendigen 3D-Visualisierung, die Florian Schölderle von<br />
der Fakultät für Technische Wissenschaften für die ULB umsetzt,<br />
wird er mit seinen faszinierend präzisen Details einem breiteren<br />
Interessent:innenkreis zugänglich.<br />
20 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle (4), Manuel Scherer-Windisch(2), Florian Schölderle(2)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 21
KURZMELDUNGEN<br />
ZAHLEN<br />
22<br />
BLINDE PASSAGIERE<br />
IM ERBGUT<br />
An der Uni Inns bruck haben Wissenschaftler:innen<br />
mithilfe des Hochleistungscomputer-Clusters<br />
Leo und detaillierter<br />
Detektivarbeit über 30. 000 Viren in der<br />
DNA von Einzellern entdeckt: Bei einer groß<br />
angelegten Untersuchung von komplexen<br />
einzelligen Mikroben machten Christopher<br />
Bellas, Marie-Sophie Plakolb und Ruben<br />
Sommaruga vom Institut für Ökologie eine<br />
unerwartete Entdeckung. Eingebaut in<br />
das Genom der Mikroben fanden sie die<br />
DNA von über 30. 000 bisher unbekannten<br />
Viren. Diese „versteckte“ DNA könnte<br />
den Zusammenbau von vollständigen und<br />
funktionalen Viren in der Wirtszelle ermöglichen.<br />
„Wir waren sehr überrascht, wie viele<br />
Viren wir in dieser Studie gefunden haben“,<br />
sagt Bellas: „In einigen Fällen stellte sich heraus,<br />
dass bis zu zehn Prozent des Genoms<br />
einer Mikrobe aus versteckten Viren besteht.“<br />
Offenbar scheinen diese Viren ihren<br />
Wirten nicht zu schaden. Im Gegenteil,<br />
einige könnten sie sogar schützen, denn sie<br />
ähneln so genannten Virophagen. „Warum<br />
in den Genomen dieser Mikroben so viele<br />
Viren zu finden sind, ist noch nicht klar“,<br />
sagt Bellas. „Unsere stärkste Hypothese ist,<br />
dass sie die Zelle vor einer Infektion durch<br />
gefährliche Viren schützen.“ Viele einzellige<br />
Organismen werden von „Riesenviren“<br />
infiziert. Diese Infektionen töten den Wirt<br />
und erzeugen dabei neue Kopien des Riesenvirus.<br />
Wenn sich jedoch ein Virophage<br />
in der Wirtszelle befindet, „programmiert“<br />
er das Riesenvirus so um, dass es weitere<br />
Virophagen bildet. Infolgedessen kann das<br />
Riesenvirus manchmal abgewehrt und die<br />
Wirtszellen vor der Zerstörung bewahrt<br />
werden.<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
DETEKTIVARBEIT<br />
IM MEER<br />
Die Auswertung von Umwelt-DNA soll neues<br />
Wissen über europäische Walpopulationen liefern.<br />
Detailliertes Wissen über Wale in<br />
europäischen Gewässern wird das<br />
mit Jahresbeginn gestartete Biodiversa+<br />
Projekt eWHALE unter der Leitung<br />
von Molekularökologin Bettina Thalinger<br />
liefern. Das länderübergreifende<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben bringt Partner:innen<br />
aus Wissenschaft, Wirtschaft und Bevölkerung<br />
zusammen, um mithilfe von Wasserproben<br />
ein weitreichendes, nicht-invasives<br />
Wal- und Biodiversitäts-Monitoring<br />
aufzubauen. „Bei manchen Walarten lassen<br />
sich Individuen anhand von äußerlichen<br />
Merkmalen nicht voneinander unterscheiden.<br />
Gewebeproben von Walen<br />
sind schwierig zu bekommen und eignen<br />
NEUE PILZE TRAGEN „TIROL“ IM NAMEN<br />
Modernste molekulare <strong>Forschung</strong>smethoden führten zur<br />
Entdeckung und Beschreibung von bisher unbekannten<br />
Tiroler Pilzen: Bei umfassenden Boden-Beprobungen im Grenzgebiet<br />
zwischen Tirol und Südtirol wurden insgesamt 13 neue<br />
Arten und mit Tyroliellia eine neue Bodenpilz-Gattung (rechts im<br />
Bild unter dem Mikroskop) gefunden und von Mykologin Ursula<br />
Peinter und ihrem Team in einer Publikation Ende 2022 beschrieben.<br />
Die von Forschenden rund um Martin Kirchmair zufällig<br />
entdeckten Pilzarten sind Schimmelpilze der Gattung Penicillium.<br />
„Es handelt sich dabei um extrem langsam wachsende Pilze, daher<br />
ist eine Kultivierung im Labor sehr komplex, denn sie können<br />
leicht übersehen werden. Aufgrund des Ortes dieses Erstfundes<br />
haben wir uns dazu entschlossen, diese Neuentdeckung Penicillium<br />
tirolense zu nennen“, sagt Martin Kirchmair.<br />
sich daher nicht für ein weitreichendes<br />
Monitoring“, erläutert Bettina Thalinger<br />
wichtige Gründe für die ungenügende<br />
Datenlage zu europäischen Walpopulationen.<br />
Eine sehr erfolgversprechende Methode,<br />
um Arten, Familienverbände und<br />
eventuell sogar einzelne Individuen zu<br />
identifizieren und viele weitere Aspekte<br />
über ihre Lebensweise zu erfahren, ist die<br />
Analyse der in Wasserproben enthaltenen<br />
eDNA (environmental DNA, deutsch<br />
Umwelt-DNA) mittels molekularer Methoden.<br />
– Ein Ansatz, zu dem man in der<br />
Abteilung Angewandte Tierökologie an der<br />
Universität Inns bruck umfassende Expertise<br />
gesammelt hat.<br />
Fotos: CW Azores (1), Ursula Peintner (3), Fabian Oswald (1)<br />
International vernetzt:<br />
70 Prozent<br />
der wissenschaftlichen<br />
Publikationen entstehen<br />
gemeinsam mit internationalen<br />
Co-Autor:innen.<br />
Top <strong>Forschung</strong> beim<br />
renommierten Shanghai-Ranking in<br />
17 Fachbereichen<br />
Spitzenforschung in den <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />
Alpiner Raum und Physik.<br />
Kooperation mit 9 europäischen Universitäten<br />
von Reykjavik bis Neapel in der Aurora European<br />
Universities Allianz. Von dieser Zusammenarbeit<br />
profitieren Studierende, Wissenschaftler:innen<br />
und Verwaltungsmitarbeiter:innen.<br />
Wir arbeiten vernetzt.<br />
Seit 1669<br />
Über<br />
Beste Spin-off-Strategie:<br />
Österreichweit führend mit aktuell<br />
21 Unternehmensbeteiligungen<br />
durch die 2008 gegründete<br />
Beteiligungsholding der Universität.<br />
4200 Abschlüsse im<br />
Studienjahr 2021/22 Bachelor,<br />
Master, Diplom und Doktorat.<br />
51,5 Millionen Euro<br />
öffentlicher <strong>Forschung</strong>smittel<br />
national und international<br />
eingeworben.<br />
Mehr als 25 Prozent Steigerung<br />
in 5 Jahren.<br />
UNIVERSITÄT<br />
INNSBRUCK<br />
Rang 1<br />
unter den beliebtesten<br />
Arbeitgebern in Tirol<br />
Dank spannender<br />
Arbeitsinhalte,<br />
familienfreundlicher<br />
Arbeitsbedingungen und<br />
einem internationalen<br />
Arbeitsumfeld.<br />
Beteiligung an<br />
3 FWF-Exzellenzclustern<br />
Die Universität Innsbruck koordiniert den<br />
Exzellenzcluster für Quantenwissenschaften und ist an<br />
zwei Exzellenzclustern zu politischen, sozialen und<br />
kulturellen Entwicklungen Eurasiens und zu Materialien<br />
für Energiekonversion und Speicherung beteiligt.<br />
/uniinnsbruck<br />
www.uibk.ac.at<br />
© BfÖ <strong>2023</strong>
STANDORT<br />
STANDORT<br />
PROAKTIV GESTALTEN<br />
Veronika Sexl, die neue Rektorin der Universität Inns bruck, und Gregor Weihs, Vizerektor für<br />
<strong>Forschung</strong>, über die Aufgaben einer modernen Universität, die Flexibilisierung des Bologna-Modells,<br />
die Herausforderung Infrastruktur und wissenschaftliche Nachwuchsarbeit.<br />
ZUKUNFT: Sie sind nun seit 1. März Rektorin<br />
der Universität Inns bruck. Wie war<br />
der Umstieg von einer Wissenschaftlerin<br />
zur Universitätsmanagerin?<br />
VERONIKA SEXL: Großartig. Ich habe nicht<br />
das Gefühl, dass ich etwas verloren habe.<br />
Ich habe dazugewonnen. Für mich war es<br />
der richtige Zeitpunkt, meine aktive Wissenschaftslaufbahn<br />
hintan zu stellen und<br />
meine wissenschaftlichen Projekte einem<br />
großartigen Nachwuchs zu übergeben.<br />
Zudem habe ich mit der Universität Innsbruck<br />
enorm an wissenschaftlicher Breite<br />
dazugewonnen. Ich durfte eine Volluniversität<br />
mit 16 Fakultäten übernehmen.<br />
Diese Breite finde ich unglaublich spannend<br />
und sie gehört zu den Höhepunkten<br />
in meinem Alltag als Rektorin. Und das<br />
Management macht mir enormen Spaß.<br />
Es gibt Gestaltungsmöglichkeiten, es erlaubt,<br />
junge Leute zu fördern und hat<br />
einen großen Handlungsspielraum.<br />
ZUKUNFT: Gibt es etwas, das Sie in den<br />
vergangenen Monaten an der Universität<br />
Inns bruck, aber auch der Stadt Inns bruck<br />
besonders überrascht hat?<br />
SEXL: Ja. Weniger hat mich die Universität<br />
selbst überrascht, da ich Universitäten –<br />
auch internationale – aus verschiedenen<br />
Blickwinkeln kenne. Überrascht hat mich,<br />
wie eng die Universität in die Stadt integriert<br />
ist und wie sie in der Stadt verwurzelt<br />
ist. Ebenso wie eng die Universität<br />
mit dem Land Tirol in Interaktion und im<br />
Austausch ist. Das hat mich positiv überrascht.<br />
Auch die offenen Arme, mit denen<br />
ich als Externe von Stadt, Land und Universität<br />
begrüßt wurde.<br />
ZUKUNFT: Wohin muss sich eine moderne<br />
Universität entwickeln?<br />
SEXL: Eine Universität hat drei Säulen,<br />
auf denen sie steht. Das eine ist die <strong>Forschung</strong>.<br />
Wir sind stark in der Grundlagenforschung.<br />
Hier gilt es, Neuland zu<br />
entdecken und neuen Boden zu betreten.<br />
Wissenschaft ist für mich eine Pyramide.<br />
Ganz unten steht die Grundlagenwissenschaft,<br />
darauf wurzelt die angewandte<br />
<strong>Forschung</strong>, ganz oben geht es in die Anwendung,<br />
in meinem Fall, der Krebsforschung,<br />
war es der Schritt zu den Patient:innen.<br />
Unsere zweite Säule ist die<br />
Lehre: Wir müssen junge Menschen möglichst<br />
umfassend und gut auf das Leben,<br />
und zwar auf das Leben im Allgemeinen,<br />
und ihren Beruf vorbereiten.<br />
ZUKUNFT: Die dritte Säule ist die sogenannte<br />
Third Mission.<br />
SEXL: Ja, unsere gesellschaftliche Verantwortung.<br />
Diese hört nicht damit auf, dass<br />
wir junge Menschen ausbilden, sondern<br />
dass wir unser Wissen in die Gesellschaft<br />
tragen und dass wir, wenn wir Probleme<br />
sehen, versuchen, proaktiv Lösungen zu<br />
entwickeln und anzubieten. Das sind die<br />
drei Bereiche, die eine Universität abzudecken<br />
hat. Und daran wird sich nicht<br />
viel ändern. Es ändern sich die Inhalte,<br />
aber nicht das Grundkonzept Universität.<br />
GREGOR WEIHS: Was die <strong>Forschung</strong> betrifft,<br />
haben Universitäten eine riesige Entwicklung<br />
gemacht – und machen immer<br />
noch eine. Moderne <strong>Forschung</strong> strebt nach<br />
Exzellenz, aber nicht nur in dem Sinne,<br />
wie gut man <strong>Forschung</strong> macht, sondern<br />
auch in dem Sinne, dass sie sich die Frage<br />
stellt, was spannende Probleme sind.<br />
VERONIKA SEXL (*1966) ist Krebsforscherin<br />
mit Schwerpunkt auf Leukämien.<br />
Nach dem Medizinstudium in Wien und<br />
<strong>Forschung</strong>saufenthalten in Seattle und<br />
Memphis (USA) wurde sie 2007 Professorin<br />
an der Medizinischen Universität<br />
Wien und 2<strong>01</strong>0 Institutsleiterin an der<br />
Veterinärmedizinischen Universität Wien.<br />
Seit 1. März <strong>2023</strong> ist sie die erste Rektorin<br />
der Universität Inns bruck. Für Ihre<br />
<strong>Forschung</strong>sarbeit wurde Sexl mehrfach<br />
ausgezeichnet, unter anderem mit einem<br />
ERC Advanced Grant, dem Novartis-Preis<br />
für Medizin und dem Alois-Sonnleitner-<br />
Preis der ÖAW.<br />
Interessante Fragen kommen aus der <strong>Forschung</strong><br />
selbst. Nur die Wissenschaft kann<br />
für sich selbst definieren, was interessant<br />
ist – natürlich im Austausch mit der Gesellschaft.<br />
Was danach relevant ist, haben<br />
Forscher:innen nicht selbst in der Hand.<br />
ZUKUNFT: Was sind – abseits der Finanzen<br />
– die größten Herausforderungen?<br />
SEXL: Die Infrastruktur. Die Universität<br />
ist in den letzten Jahren gewachsen<br />
und braucht Platz. Wir haben sehr viele<br />
Standorte, das ist der <strong>Forschung</strong> und Lehre<br />
nicht zuträglich. Es geht also darum,<br />
Platz zu schaffen und die Leute wieder<br />
zusammenzubringen, Begegnung und<br />
Austausch, Lehre und Wissenschaft im<br />
Diskurs zu ermöglichen. Die Infrastruktur<br />
in diesem Sinne zu optimieren, ist eine<br />
Riesenherausforderung.<br />
WEIHS: Wir haben ganz alte Gebäude und<br />
viele aus den 1970er-Jahren. Damals hat<br />
scheinbar niemand darüber nachgedacht,<br />
wo sich Studierende aufhalten, wenn sie<br />
nicht im Hörsaal sind, wo sich Mitarbeiter:innen<br />
treffen können. Heute wird<br />
anders gebaut, es gibt Begegnungszonen.<br />
Dorthin zu kommen, dass der Großteil<br />
der Studierenden und Mitarbeiter:innen<br />
eine Chance auf solche Räumlichkeiten<br />
und Zonen hat, ist eine Herausforderung.<br />
ZUKUNFT: Sie haben die Lehre erwähnt. Ist<br />
diese mehr als reine Wissensvermittlung?<br />
SEXL: Es geht nicht darum, Fakten zu lehren,<br />
sondern wie man Zusammenhänge<br />
verstehen lernt, Hinterfragen, Mustererkennung<br />
und den Umgang mit der<br />
heutigen Welt zu lehren. Unglaublich<br />
wichtig ist auch, in einem Studium Diskursfähigkeit<br />
und soziale Kompetenzen<br />
zu erwerben, sich selbst organisieren zu<br />
lernen und sich eine gewisse Flexibilität<br />
zu bewahren. Unsere Welt bewegt sich.<br />
Wir sind in einem permanenten Entwicklungsprozess,<br />
auf den die Studierenden<br />
vorbereitet werden sollen. Fakten kann<br />
ich nachschauen, die Zusammenhänge<br />
muss ich begreifen. Um das zu können,<br />
muss ich verstehen, wie ich die richtigen<br />
Fragen nach den Zusammenhängen stelle<br />
und wie ich die Muster, die vielen Dingen<br />
zugrunde liegen, erkenne.<br />
WEIHS: Wir sprechen ja von forschungsgeleiteter<br />
Lehre. Wenn junge Menschen mit<br />
ihrer Bachelor- oder Masterarbeit zur <strong>Forschung</strong><br />
kommen, müssen sie genau das<br />
machen. Die Studierenden haben ein Thema<br />
und eine Betreuung, müssen sich aber<br />
selbst reinknien, um Zusammenhänge<br />
und weitere Fragen zu finden. Bei vielen<br />
Studierenden sieht man hier einen Transformationsprozess.<br />
Dabei lernen sie genau<br />
das, wovon die Rektorin gesprochen hat.<br />
ZUKUNFT: Im Bereich der Lehre planen<br />
Sie, durch weitere Wahlpakete die Möglichkeiten<br />
eines stärker selbstgestalteten<br />
Studiums weiter auszubauen. Ist dies<br />
als ein „Back to the Future“, also als eine<br />
Das gesamte Interview finden Sie auf<br />
der Homepage der Uni Inns bruck unter:<br />
www.uibk.ac.at/forschung/magazin<br />
GREGOR WEIHS (*1971) studierte an<br />
der Universität Inns bruck Physik und dissertierte<br />
im Jahr 2000 an der Universität<br />
Wien. Weihs war an der Stanford University<br />
(USA) und ab 2005 an der University<br />
of Waterloo (Kanada), bevor er 2008 als<br />
Professor für Photonik nach Inns bruck<br />
berufen wurde. Von 2<strong>01</strong>6 bis 2020 war<br />
Weihs Vizepräsident des österreichischen<br />
Wissenschaftsfonds FWF. Seit <strong>2023</strong> leitet<br />
er den Exzellenzcluster Quantum Science<br />
Austria. Ausgezeichnet wurde er unter<br />
anderem mit einem ERC Starting Grant<br />
und der Wilhelm-Exner-Medaille der<br />
Österreichischen Gewerbevereins.<br />
„Reparatur“ des verschulten Bologna-<br />
Modells zu verstehen?<br />
SEXL: Ich würde es nicht als Reparieren<br />
bezeichnen. Es geht darum, das Bologna-<br />
System noch mehr zum Leben zu erwecken<br />
und noch mehr Vielfalt abzubilden,<br />
in das Bologna-System eine gewisse Elastizität<br />
und Flexibilität zu bringen. Bologna<br />
hat in vielen Bereichen – zum Beispiel<br />
Mobilität – die Flexibilität für Studierende<br />
erhöht. Das ist positiv und sehr schön. Innerhalb<br />
von Bologna kann man das Starre<br />
lösen, weitere Möglichkeiten einbauen.<br />
ZUKUNFT: Für eine Universität ist exzellente<br />
Nachwuchsarbeit unerlässlich, um<br />
erfolgreich und international sichtbar zu<br />
sein. Was planen Sie, um unter den Studierenden<br />
die talentiertesten zu finden?<br />
WEIHS: Im normalen Prüfungsszenario<br />
sieht man nicht die Fähigkeiten, die wir<br />
suchen, eventuell erkennt man jemanden<br />
schon in den Vorlesungen. Der beste Indikator<br />
sind die Abschlussarbeiten. Lässt<br />
man junge Menschen selbst an etwas forschen,<br />
kommen diese Fähigkeiten zutage.<br />
Auf das achten unsere Betreuer:innen<br />
und schlagen ein Doktoratsstudium vor.<br />
ZUKUNFT: Welche Rahmenbedingungen<br />
soll der wissenschaftliche Nachwuchs<br />
künftig vorfinden?<br />
WEIHS: In vielen, aber nicht allen Bereichen<br />
bieten wir Modelle einer strukturierten<br />
Doktoratsausbildung an. Das<br />
wollen wir für alle Bereiche fördern und<br />
Doktorand:innen die Möglichkeit bieten,<br />
bei einem Betreuer:innenteam neben der<br />
Dissertation Zusätzliches wie Scientific<br />
Writing, Präsentationstechniken, Antragschreiben<br />
etc. zu lernen. Das sind Qualifikationen,<br />
die sie für das wissenschaftliche<br />
Leben, aber auch in der Wirtschaft brauchen<br />
werden. Aber noch etwas zu den<br />
Doktorand:innen: Auch Nachwuchsforscher:innen<br />
von außen sind wichtig, die<br />
durchgängige interne Karriere kann nicht<br />
das alleinige Ziel sein. Es braucht eine Balance,<br />
ebenso gute Postdocs von außen.<br />
Das Rekrutieren ist aber nicht so leicht,<br />
der Wettbewerb ist hart. Manchmal haben<br />
wir aufgrund der tollen Natur und Umgebung<br />
einen Vorteil, manche gehen aber<br />
lieber in eine Großstadt. Beim Rekrutieren<br />
müssen wir uns anstrengen, nicht nur für<br />
Wissenschaftler:innen, auch für das allgemeine<br />
Personal. Es ist nicht leicht, Techniker:innen<br />
oder Mitarbeiter:innen für den<br />
Zentralen Informatikdienst zu finden.<br />
ZUKUNFT: Sie haben ein eigenes Vizerektorat<br />
für Digitalisierung und Nachhaltigkeit<br />
eingerichtet. Warum der Fokus auf<br />
diese zwei Bereiche?<br />
SEXL: Weil es die zwei Bereiche sind, mit<br />
denen unsere Studierenden und wir alle<br />
als Gesellschaft in <strong>Zukunft</strong> wirklich intensiv<br />
umgehen müssen. Die zwei Bereiche<br />
und der große Handlungsbedarf, der<br />
sich aus ihnen ergibt, sind evident. Wir<br />
wollen daher proaktiv gestalten und <strong>Forschung</strong><br />
und Lehre sowie das Hinaustragen<br />
unseres Wissens in die Gesellschaft<br />
forcieren. <br />
ah<br />
24 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 25
GESCHICHTE<br />
GESCHICHTE<br />
Am Nachmittag des 10. Juli 1999<br />
donnerten tausende Tonnen Fels<br />
vom Eiblschrofen ins Tal, weitere<br />
Felsstürze folgten und bedrohten die Bevölkerung<br />
des Schwazer Ortsteils Ried.<br />
Rund 150. 000 Kubikmeter Gestein riefen<br />
in diesen Tagen in Erinnerung, was<br />
vielen Menschen in Österreich, in Tirol,<br />
selbst in Schwaz nicht bewusst war – der<br />
Eiblschrofen ist löchrig wie Schweizer<br />
Käse. Schon in der Bronzezeit wurden am<br />
Eiblschrofen Fahlerze abgebaut, dunkle<br />
Stolleneingänge in der Wand, sogenannte<br />
Heidenzechen, sind heute noch Zeugen<br />
des urgeschichtlichen, feuergesetzten<br />
Abbaus. Die große Blütezeit des Bergbaus<br />
erlebte Schwaz aber erst im 15. und<br />
16. Jahrhundert, zahlreiche Abbaureviere<br />
wie Ringenwechsel, Falkenstein oder Alte<br />
Zeche machten Schwaz zur aller perckhwerck<br />
muater, die nach ganz Europa – und<br />
sogar darüber hinaus – ausstrahlte.<br />
„Ein Grund war, dass das Schwazer<br />
Fahlerz mit einem Prozent Silbergehalt<br />
das silberreichste Europas war. Ein anderer<br />
Grund war das ideale Umfeld: Das<br />
für die Trennung von Kupfer und Silber<br />
notwendige Blei konnte auch in Tirol – in<br />
Gossensaß, am Schneeberg und im Bergrevier<br />
Imst – abgebaut werden; die heimischen<br />
Wälder lieferten das in enormen<br />
Mengen benötigte Holz; mit dem Inn gab<br />
es den idealen Transportweg; und dank<br />
der Salzgewinnung in Hall war notwendige<br />
Infrastruktur und viel Know-how<br />
vorhanden“, zählt der Historiker Georg<br />
Neuhauser Gründe auf, die Tirol vom<br />
Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit<br />
zu einem der führenden Montanzentren<br />
Europas machten. Doch Neuhauser<br />
betont: „Auch in der Ur- und Frühgeschichte<br />
gab es eine Boomphase, der Tiroler<br />
Raum war damals eines der großen<br />
Zentren der Kupfergewinnung.“ Unter<br />
anderem im Unterinntal und im Raum<br />
Kitzbühel sind davon Spuren zu finden:<br />
urgeschichtliche Siedlungen, feuergesetz-<br />
SEGEN UND FLUCH<br />
In der Ur- und Frühgeschichte, vor allem aber im Spätmittelalter war Tirol eines der<br />
wichtigsten Bergbauzentren Europas. Der Abbau und die Gewinnung von Kupfer, Silber und Salz<br />
bedeuteten Arbeit für Tausende Menschen, sie belasteten aber auch die Natur.<br />
DER RINGENWECHSEL zählte zu den ertragreichsten Schwazer Bergbaurevieren, die zahlreichen<br />
Stollenmundlöcher zeigen, wie der Berg ausgehöhlt wurde.<br />
te Gruben, prähistorische Erzwaschanlagen,<br />
Verhüttungsplätze…<br />
„Diese haidnisch Zechl werden im Mittelalter<br />
wieder interessant“, sagt Neuhauser,<br />
der mit drei weiteren Historikern<br />
ein Überblickswerk zur Montangeschichte<br />
Tirols* verfasst hat: „Prospektoren<br />
suchten bei alten Gruben, da sie wussten,<br />
dass Silber nicht weit ist, wo man früher<br />
Kupfer gefunden hatte“, berichtet Neuhauser.<br />
Doch auch andere Beobachtungen<br />
der Natur – Pflanzen, die sulfidische<br />
Böden bevorzugen, grüne (Malachit) und<br />
blaue (Azurit) Spuren im Gestein… – halfen,<br />
potenzielle Abbaustellen zu identifizieren,<br />
sogar Wünschelruten und Berggeister<br />
kamen zum Einsatz. So berichten<br />
Quellen von einem 75-jährigen Tiroler,<br />
der behauptete, einen Berggeist zu besitzen,<br />
der ihm bei der Erzsuche helfe.<br />
Im Auftrag des Landesfürsten Erzherzog<br />
Maximilian III. wurde er losgeschickt<br />
und fand tatsächlich guete goldt und silber<br />
perckhwerch.<br />
Die gefundenen Bodenschätze wie Silber,<br />
Kupfer, Gold, Blei oder Zink sowie<br />
die Salzgewinnung in Hall machten Tirol,<br />
vor allem aber die in- und ausländischen<br />
Gewerke familien wie die Stöckl, Fugger<br />
oder Hoechstetter sowie die weltlichen<br />
und geistlichen Herrscher reich. Von<br />
1470 bis 1529 wurden in Schwaz 1. 000<br />
Tonnen Silber und 72. 000 Tonnen Kupfer<br />
verhüttet, in der Saline Hall wurden zu<br />
Spitzenzeiten 43 Tonnen Salz gewonnen<br />
– am Tag. Zahlreiche historische Bauten<br />
in Tirol bezeugen diesen Reichtum, auch<br />
die Universität Inns bruck fußt auf ihm:<br />
Mit einer von Leopold I. genehmigten<br />
Steuer von zwölf Kreuzern auf jedes in<br />
Tirol verkaufte Fuder Haller Salz – rund<br />
16 Kilo – wurden 1669 Gründung und<br />
Aufbau der Universität finanziert.<br />
Gefragtes Know-how<br />
Die Kunde von reichen Erzfunden in<br />
Schwaz, das sogenannte Berggeschrey,<br />
verbreitete sich ab 1420 in Europa, die<br />
Schwazer Bergchronik berichtet, dass<br />
vyll frembds perckh Volch aus teutschn<br />
* Georg Neuhauser • Tobias<br />
Pamer • Andreas Maier • Armin<br />
Torggler: Bergbau in Tirol.<br />
Von der Urgeschichte bis in die<br />
Gegenwart – Die Bergreviere in<br />
Nord- und Osttirol, Südtirol sowie<br />
im Trentino. Tyrolia Verlag, 2022<br />
„Schon in der Ur- und Frühgeschichte<br />
war Tirol eines<br />
der großen Zentren der<br />
Kupferverhüttung.“ Georg Neuhauser<br />
1<br />
2<br />
AM SCHNEEBERG in Südtirol liegt eines<br />
der ehemals höchstgelegenen Bergwerke<br />
Europas (2. 000 bis 2. 500 Meter), es<br />
wurde vom Mittelalter bis 1985<br />
betrieben. 1 St. Martin war bis in die<br />
1960er-Jahre die höchste, ganzjährig<br />
bewohnte Dauersiedlung Europas, heute<br />
befindet sich dort eine Schutzhütte und<br />
ein Museum. 2 Das Schwazer Bergbuch<br />
aus dem Jahr 1556 zeigt eine aus Holz<br />
errichtete Fleischbank: Zur Versorgung<br />
der Knappen wurden Ochsen aus Polen<br />
und Ungarn auf rund 2. 354 Meter getrieben,<br />
dort gehalten, vor Ort in der<br />
Metzgerei geschlachtet und verarbeitet.<br />
lantn nach Tirol einwanderte. „Es kamen<br />
Knappen aus Sachsen, Goslar und Kuttenberg,<br />
dem heutigen Kutná Hora, und<br />
brachten ihr Bergbauwissen mit“, sagt<br />
Neuhauser. Doch es dauerte nicht lange<br />
und die Schwazer Expertise war auch<br />
andernorts gefragt. So wechselten etwa<br />
ab 1540 Knappen nach der Entdeckung<br />
der Kupferadern in Kitzbühel ins Bergwerk<br />
am Rerobichl. Und auch das Ausland<br />
rief. Als die Gewerkefamilie Hoechstetter<br />
Bergwerke in England übernahm,<br />
holte sie sich Fachkräfte aus Schwaz. Bis<br />
ins 18. Jahrhundert kann Neuhauser Migrationsbewegungen<br />
Tiroler Bergleute<br />
nachweisen, ihr Know-how, die Hoffnung<br />
auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen,<br />
aber auch staatlich geförderte<br />
Migration führten sie nach Skandinavien<br />
und Russland, in den Banat und nach<br />
Siebenbürgen, nach Italien, Spanien und<br />
gar Venezuela.<br />
Die Leistungen der Knappen waren<br />
gewaltig, mit Eisen und Schlägel rückten<br />
sie dem Erz zu Leibe – allerdings im<br />
Schneckentempo. Im harten Schwazer<br />
Dolomit, schreiben Neuhauser und Kollegen,<br />
lag die Vortriebsleistung bei einem<br />
Stollenmaß von ca. 170 mal 50 Zentimeter<br />
bei zwei bis fünf Millimeter pro<br />
Arbeitsschicht, die acht Stunden dauerte.<br />
Dennoch gruben sich die Knappen tief<br />
in den Berg und weit unter die Talsohle.<br />
Der Schwazer Sigmund-Erbstollen endete<br />
1523 rund 240 Meter unter dem Inn, der<br />
Heiliggeist-Schacht in Kitzbühel im Jahr<br />
1614 gar 140 Meter unter dem Meeresspiegel.<br />
Mehr als 200 Jahre später zeigte<br />
sich davon noch Jules Verne beeindruckt:<br />
„Des Professors Berechnung stand richtig.<br />
Wir waren bereits um sechstausend<br />
Fuß tiefer gekommen, als bisher den<br />
Menschen gelungen war, zum Beispiel<br />
in den Gruben zu Kitz-Bühel in Tyrol<br />
und zu Kuttenberg in Böhmen“, heißt<br />
es in Reise zum Mittelpunkt der Erde. Um<br />
aus diesen Tiefen das Grundwasser nach<br />
oben zu schöpfen, reichte schlussendlich<br />
die menschliche Arbeitskraft nicht mehr<br />
aus. 1556 ging in Schwaz ein Pumpwerk<br />
in Betrieb, das der Kitzbüheler Werkmeister<br />
Anton Löscher konstruiert hatte – als<br />
Schwazer Wasserkunst sorgte es für Furore.<br />
Schwaz selbst entwickelte sich mit<br />
dem Bergbau zur Boomtown, ohne das<br />
Stadtrecht zu besitzen. „Da Schwaz eine<br />
enorme Wirtschaftskraft besaß, wollten<br />
die Landesfürsten der Siedlung nicht<br />
noch zusätzliche Privilegien zugestehen“,<br />
weiß Neuhauser. Ende des 16.<br />
Jahrhunderts waren 10. 000 Beschäftigte<br />
nachweisbar, in Schwaz und Umgebung<br />
lebten rund 30. 000 Menschen – nach<br />
Wien die zweitgrößte urbane Region im<br />
Gebiet des heutigen Österreichs.<br />
Die Versorgung der Menschen in einem<br />
Land, das sich aufgrund der klimatischen<br />
und geografischen Bedingungen nicht<br />
selbst versorgen kann, war eine logistische<br />
Meisterleistung – fast alles musste<br />
importiert werden. Pro Woche wurden<br />
26 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Salinen Archiv Bad Ischl, Armin Terzer, TMLF / FB 4312<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 27
GESCHICHTE<br />
KURZMELDUNGEN<br />
REGIEREN PER<br />
ALGORITHMUS?<br />
Cass Sunstein untersucht die Rolle von<br />
Algorithmen in unserer Gesellschaft.<br />
DIE HALLER SALZPRODUKTION benötigte enorme Holzmengen. Flussabwärts treibende Stämme wurden mit dem Holzrechen aufgefangen<br />
und vor der Stadtmauer in unzähligen Holzstapeln gelagert. Auch die Schmelzöfen der Glashütte (re. im Bild) brauchten viel Holz.<br />
rund 69 Tonnen Getreide nach Schwaz<br />
gebracht, pro Kopf entsprach das einem<br />
halben Kilogramm am Tag, der hauptsächlich<br />
zu Bergmus – eine Art Porridge<br />
aus Mehl, Wasser und Schmalz – verarbeitet<br />
wurde. Um 1550 benötigte man<br />
in Schwaz jährlich an die 5. 000 bis 6. 000<br />
Ochsen, die am Landweg aus innerösterreichischen<br />
Gebieten, Böhmen, Ungarn<br />
und Polen nach Tirol getrieben wurden.<br />
Dazu kamen noch Schweine, Schafe und<br />
Geflügel, 13 Metzgereien sorgten für die<br />
Verarbeitung. Selbst in St. Martin am<br />
Schneeberg, eine auf 2. 354 Meter gelegene,<br />
ganzjährig bewohnte Knappensiedlung<br />
am Ende des Südtiroler Passeiertals,<br />
gab es eine Metzgerei, um rund 600 Ochsen<br />
vor Ort zu schlachten.<br />
Fluch statt Segen<br />
Doch der Bergbau war nicht nur Segen<br />
für das Land. So berichten Quellen von<br />
konkreten Umweltschäden rund um die<br />
Schmelzhütte Grasstein südlich von Sterzing<br />
– Äcker und Wiesen waren stark<br />
ausgemergelt, verderbt und geergert. Schwermetallhaltige<br />
Dämpfe, Rauch und Kohlepartikel<br />
sorgten für Luftverschmutzung,<br />
Schwermetalle drangen in Böden und Gewässer.<br />
Vor allem der Wald war betroffen,<br />
weniger aber durch Umweltschäden, viel<br />
mehr durch Kahlschlag. „Die ständige<br />
Versorgung mit Holz stellte ein großes<br />
Problem dar“, sagt Neuhauser.<br />
Die mehrere hundert Kilometer langen<br />
Stollensysteme wurden mit Holz<br />
gesichert, aufgrund der feuchten Bedingungen<br />
mussten die Verzimmerungen<br />
alle sechs bis acht Jahre erneuert werden.<br />
Werkzeuge, Betriebsanlagen und -gebäude,<br />
aber auch die Häuser der Knappen<br />
waren aus Holz, neben Holzkohle auch<br />
der einzige Brennstoff. War Holz in den<br />
ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts<br />
fast noch in unbegrenzten Mengen vorhanden,<br />
wurde es immer mehr zur streng<br />
regulierten Ressource, die aus den Seitentälern<br />
ins Inntal getriftet wurde. „Allein<br />
Ferdinand I., der von 1521 bis 1564 regierte,<br />
erließ 47 Waldordnungen“, berichtet<br />
Neuhauser. Festgehalten wurde<br />
etwa, bis zu welcher Größe Schwemmholz<br />
für den Privatgebrauch gesammelt<br />
GEORG NEUHAUSER (*1982) studierte<br />
in Inns bruck Geschichte, Geografie,<br />
Ur- und Frühgeschichte sowie Mittelalterund<br />
Neuzeitarchäologie und dissertierte<br />
2<strong>01</strong>2 über die Geschichte des Berggerichts<br />
Montafon. Seit 2008 forscht und<br />
lehrt er an der Universität Inns bruck, seit<br />
Oktober 2021 ist er Senior Scientist am<br />
Institut für Geschichtswissenschaften und<br />
Europäische Ethnologie und koordiniert<br />
das Interdisziplinäre <strong>Forschung</strong>szentrum<br />
Regionalgeschichte Europaregion Tirol.<br />
Zudem unterrichtet Neuhauser seit 2006<br />
an Tiroler Schulen, derzeit am Abendgymnasium<br />
in Inns bruck.<br />
werden durfte, ebenso Strafen für die<br />
Entnahme von verirrtem Triftholz. „Holz<br />
war so wichtig, dass erstmals genaue<br />
Grenzen kartiert wurden, um zu wissen,<br />
wem welcher Wald gehört“, erläutert der<br />
Historiker. Ganz Hänge wurden kahl geschlagen,<br />
mit kurzzeitigen Folgen wie<br />
Hochwasser, Muren und Lawinen, aber<br />
auch langfristigen. Neuhauser: „Viele unserer<br />
Monokulturen gehen auf diese Zeit<br />
zurück. Ganze Wälder wurden bis auf<br />
ein paar Samenbäume abgeholzt. Waren<br />
das schnell wachsende Fichten, entstand<br />
dort ein reiner Fichtenwald.“<br />
Fichten-Monokulturen sind nicht die<br />
einzigen Spuren, die der Bergbau in Tirol<br />
hinterlassen hat. Nach dem Höhepunkt<br />
der Silbergewinnung – 1523 mit 15,7 Tonnen<br />
– ging es zuerst langsam, dann immer<br />
schneller bergab. Der Silberreichtum<br />
Tirols war nichts gegen die Vorkommen,<br />
die ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />
in Südamerika abgebaut wurden.<br />
Dennoch sicherte der Bergbau bis in die<br />
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von<br />
Rovereto bis Reutte Arbeit, heute wird<br />
weder Erz noch Salz im Gebiet des historischen<br />
Tirol abgebaut. Viele Stollen sind<br />
inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich,<br />
Schaubergwerke in Schwaz, Zell am Ziller<br />
oder am Schneeberg geben Einblick in die<br />
Vergangenheit. Anders nutzt Nassereith<br />
seine Bergbaugeschichte. Im Wendelinstollen,<br />
wo einst Blei und Zink abgebaut<br />
wurden, sammelt sich Bergwasser, das<br />
jahrelang durch den Fels gesickert ist. Als<br />
reines Trinkwasser versorgt es die Gemeinde<br />
am Fuße des Fernpass, seit 2022<br />
treibt es auf dem Weg ins Tal dazu ein<br />
Trinkwasserkraftwerk an, das Strom für<br />
155 Haushalte liefert. ah<br />
Cass Sunstein gilt als einer der produktivsten<br />
und als der meistzitierte<br />
rechtswissenschaftliche Autor<br />
der USA. Seine Arbeiten basieren oft auf<br />
verhaltensökonomischen Analysen von<br />
irrationalem Verhalten. Zusammen mit<br />
Richard Thaler arbeitete er eine Theorie<br />
des libertären Paternalismus aus. Für<br />
die Steuerung von staatlichen Anreizen<br />
CASS SUNSTEIN war für eine Böhm-<br />
Bawerk- Lecture Gast an der Uni Inns bruck.<br />
SOZIALES VERHALTEN ZEIGT SICH IM GEHIRN<br />
etablierten Sunstein und Thaler den Begriff<br />
„Nudging“, das Anstupsen in die<br />
gewünschte Richtung. Unter US-Präsident<br />
Obama leitete Sunstein das Office of<br />
Information and Regulatory Affairs und ist<br />
seither Professor für Rechtswissenschaft<br />
an der Harvard University. Unter Präsident<br />
Biden fungiert er als Berater für<br />
Einwanderungspolitik. Für sein wissenschaftliches<br />
Werk wurde Sunstein 2<strong>01</strong>8<br />
mit dem hoch dotierten Holberg-Preis<br />
ausgezeichnet.<br />
Mitte Mai war Cass Sunstein Gast der<br />
sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Fakultäten sowie des <strong>Forschung</strong>sschwerpunkts<br />
Wirtschaft, Politik & Gesellschaft<br />
(EPoS) und berichtete in einer<br />
Böhm-Bawerk-Lecture über seine Untersuchungen<br />
zur Rolle von Algorithmen in<br />
unserer Gesellschaft. Sie sind heute bereits<br />
in vielen Lebensbereichen und oft<br />
unbemerkt im Einsatz. In manchen Prozessen<br />
verbessern Algorithmen die Genauigkeit<br />
und kompensieren irrationales<br />
menschliches Verhalten. In wichtigen<br />
Fragen können sie mit ihren Vorhersagen<br />
aber auch daneben liegen.<br />
RÄTE FÜR SOCIAL-MEDIA-<br />
PLATTFORMEN<br />
Ein <strong>Forschung</strong>steam um Matthias Kettemann<br />
veröffentlichte politische Handlungsempfehlungen<br />
für die Umsetzung von<br />
unabhängigen Gremien zur Kontrolle von<br />
Social-Media-Plattformen. Die Wissenschaftler:innen<br />
haben ein Jahr lang untersucht, wie<br />
demokratische Werte und die Menschenrechte<br />
im digitalen Raum geschützt werden<br />
können. Sie schlagen sogenannte Plattformräte<br />
(eng: Social Media Council/SMC) als<br />
sinnvolles Beratungsinstrument für private<br />
Plattformunternehmen vor. Diese können die<br />
Interessen von Bürger:innen, Industrie und<br />
Politik bei wichtigen Entscheidungsfragen<br />
in Punkten wie Diskriminierung, Meinungsfreiheit<br />
oder Desinformation vertreten. Das<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekt Plattform://Demokratie<br />
wird von der Stiftung Mercator gefördert<br />
und vom Institut für Theorie und <strong>Zukunft</strong><br />
des Rechts der Universität Inns bruck, dem<br />
Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-<br />
Bredow-Institut (HBI), und dem Alexander<br />
von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft<br />
(HIIG) durchgeführt.<br />
In den vergangenen Jahrzehnten stieg der Spielekonsum am Computer<br />
kontinuierlich an und die Pandemie hat vielen Menschen noch mehr Gelegenheit<br />
für Gaming geboten. In vielen Fällen handelt es sich um gewalthaltige<br />
Videospiele und die Meinungen, ob diese zu Aggression führen, sind<br />
gespalten – selbst in wissenschaftlichen Kreisen gibt es keinen endgültigen<br />
Konsens: Manche sagen, dass Gamer:innen von Ego-Shootern aggressiver<br />
werden; andere meinen, diese könnten zwischen realer Welt und Videospiel<br />
differenzieren; eine dritte Sicht verweist auf die kathartische Wirkung, indem<br />
aggressive Impulse durch Mediengewalt vermindert werden. Der Inns brucker<br />
Sozialpsychologe Tobias Greitemeyer vom Institut für Psychologie sagt, dass<br />
gewalthaltige Computerspiele Aggressionen steigern. Die Effekte bei einer<br />
einzelnen Person sind gering, denn Aggression wird multidimensional durch viele Auslöser im Alltag beeinflusst, wie Partner:innen, Kinder,<br />
Kolleg:innen oder eben durch Videospiele. Gesamtgesellschaftlich betrachtet ergibt sich jedoch ein bedeutsamer Effekt, denn in Österreich<br />
gamen etwa fünf Millionen Menschen, hebt Tobias Greitemeyer hervor: „Mit Interventionen zur Reduktion von Computerspielkonsum kann<br />
man die Aggression der Spielenden reduzieren. Zusätzlich profitieren davon Personen, die selber nicht spielen, wie etwa Geschwister. Setzt<br />
man also beim Spielenden an, erreicht man aggressionsmindernd das komplette soziale Umfeld, das hat schon Relevanz.“<br />
28 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle, TLMF / Dip.856<br />
Fotos: Uni Inns bruck, Unsplash / Alex Haney, Unsplash / Adem AY<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 29
MEDIZIN<br />
MEDIZIN<br />
ABWEHRTRAINING<br />
GEGEN KREBS<br />
Die Bioinformatikerin Francesca Finotello forscht intensiv an der Behandlung von Krebs.<br />
Sie analysiert DNA-Sequenzierungsdaten und schafft die Voraussetzungen für erfolgreiche<br />
personalisierte Krebstherapie.<br />
DIE BIOINFORMATIKERIN Francesca Finotello arbeitet mit DNA-Sequenzierungsdaten.<br />
Den Nobelpreis für Medizin erhielten<br />
im Jahr 2<strong>01</strong>8 die beiden<br />
Immunologen James P. Allison<br />
(USA) und Tasuku Honjo (Japan) – „für<br />
ihre Entdeckung der Krebstherapie durch<br />
Hemmung der negativen Immunregulation“,<br />
wie es in der offiziellen Begründung<br />
des Nobelpreiskomitees lautet.<br />
Vereinfacht ausgedrückt entwickelten<br />
die beiden eine Methode, mit der man<br />
die „Bremse“ des Immunsystems lösen<br />
kann, damit es Krebszellen effizient angreifen<br />
und den Krebs im Idealfall besiegen<br />
kann.<br />
Allison und Honjo lösten mit ihrer<br />
Entdeckung eine Revolution in der Behandlung<br />
von Krebs aus: „Die Krebsimmuntherapie<br />
hat zu einem Paradigmenwechsel<br />
in der Onkologie geführt: von<br />
der direkten Bekämpfung von Krebszellen<br />
zur Unterstützung unserer Immunzellen<br />
im Kampf gegen den Krebs“,<br />
erklärt Francesca Finotello vom Institut<br />
für Molekularbiologie und dem Digital<br />
Science Center (DiSC). Sie forscht daran,<br />
die derzeitigen Grenzen von Krebsimmuntherapie<br />
und personalisierter<br />
Medizin zu überwinden, damit diese Behandlungsansätze<br />
in naher <strong>Zukunft</strong> noch<br />
mehr Krebspatient:innen zugutekommen<br />
können: „Unser Immunsystem erkennt<br />
fremde oder infizierte Zellen, und es erkennt<br />
im Normalfall auch Tumorzellen.<br />
Nun machen sich Krebszellen allerdings<br />
Mechanismen zunutze, die das Immunsystem<br />
behindern.“<br />
Sogenannte Immun-Checkpoints,<br />
Rezeptoren auf T-Zellen des Immunsystems,<br />
regeln die Immunreaktion und<br />
schützen zum Beispiel körpereigene<br />
Zellen vor Attacken durch die Körperabwehr.<br />
„Tumorzellen können diese<br />
Rezeptoren jedoch nutzen, um ein ‚Aus‘-<br />
Signal an T-Zellen zu senden und so zu<br />
verhindern, dass das Immunsystem sie<br />
angreift.“ Die Pionierarbeit von Allison<br />
und Honjo führte zur Entwicklung neuer<br />
Krebsimmuntherapien, die als Immun-<br />
Checkpoint-Blocker bezeichnet werden:<br />
Antikörper, die diese Immun-Checkpoints<br />
blockieren und die „Bremsen“ der<br />
T-Zellen freigeben. Dadurch wird eine<br />
dauerhafte Immunantwort ausgelöst:<br />
Das Immunsystem greift den Tumor an.<br />
„Das Ziel von Immuntherapie ist<br />
immer das gleiche: Wir wollen<br />
möglichst viele Immunzellen im<br />
Körper einer erkrankten Person,<br />
die den Tumor attackieren.“ <br />
<br />
Francesca Finotelloi<br />
Immuntherapie gegen Krebs<br />
Diese Immun-Checkpoint-Therapie ist<br />
bei unterschiedlichen Krebsarten – unter<br />
anderem bei Melanomen, aber auch bei<br />
Brust-, Leber- und Nierenkrebs – bereits<br />
in Form mehrerer zugelassener Medikamente<br />
im Einsatz, vorrangig bei fortgeschrittenem<br />
Krebs. „Diese Therapien retten<br />
Leben, es gibt phänomenale Resultate<br />
und eine lang anhaltende Immunantwort<br />
für Menschen mit Metastasen. Das ist<br />
allerdings leider nicht die Mehrheit der<br />
Patientinnen und Patienten, und die Mechanismen,<br />
durch die bösartige Zellen<br />
immer noch in der Lage sind, sich dem<br />
Immunsystem zu entziehen, sind nicht<br />
vollständig geklärt“, sagt Francesca Finotello.<br />
Hier kommt die Expertise der Bioinformatikerin<br />
ins Spiel: Krebszellen<br />
bilden Antigene aus, die sie den Immunzellen<br />
präsentieren, und da Krebszellen<br />
mutieren, sind auch diese sogenannten<br />
Antigene mutiert, das heißt, „neu“ für<br />
das Immunsystem – daher werden sie<br />
als „Neoantigene“ bezeichnet. „Die Neoantigene<br />
sind krebsspezifisch und in den<br />
allermeisten Fällen auch patientenspezifisch:<br />
Sie unterscheiden sich von Person<br />
zu Person“, erklärt die Bioinformatikerin.<br />
Mit ihrer <strong>Forschung</strong>sgruppe entwickelt<br />
Finotello computergestützte Instrumente<br />
zur Analyse von Genomdaten von Krebspatient:innen,<br />
konkret deren Tumorzellen,<br />
und sagt voraus, welche Neoantigene<br />
diese Krebszellen bilden und dem<br />
Immunsystem präsentieren. Mit diesen<br />
Daten lassen sich Vorhersagen treffen,<br />
welche Krebsarten welche Neoantigene<br />
bei der untersuchten Person bilden. Die<br />
Vorhersage von Krebsneoantigenen ist<br />
nicht nur wichtig, um den Verlauf der<br />
Krebsimmuntherapie zu überwachen,<br />
sondern vor allem, um personalisierte<br />
Immuntherapien zu entwickeln. Diese<br />
Therapien werden derzeit in verschiedenen<br />
klinischen Studien weltweit getestet.<br />
„Sobald zum Beispiel eine Liste von Neoantigen-Kandidaten<br />
aus der Analyse von<br />
Sequenzierungsdaten des Tumors eines<br />
Patienten identifiziert ist, kann ein personalisierter<br />
Impfstoff entwickelt werden,<br />
der die Immunzellen des Patienten gezielt<br />
anweist, die schädlichen Zellen zu<br />
erkennen und zu bekämpfen“, sagt Francesca<br />
Finotello.<br />
Eine zweite Behandlungsmethode neben<br />
der Impfung besteht darin, vorhandene<br />
Immunzellen eines Krebspatienten<br />
zu isolieren – zum Beispiel durch eine<br />
Blutentnahme – und dann die computergestützt<br />
erhobenen Ziele zu verwenden,<br />
um die T-Zellen zu identifizieren, die<br />
in der Lage sind, Tumorzellen mit diesen<br />
Neoantigenen zu erkennen. Danach<br />
können diese vermehrt werden, um daraus<br />
schließlich eine große „Armee“ von<br />
Tumor-reaktiven T-Zellen zu erhalten.<br />
Diese „richtigen“ Immunzellen können<br />
dann wieder injiziert werden und bekämpfen<br />
den Tumor. „Wenn der Krebs<br />
fortschreitet, sind die T-Zellen möglicherweise<br />
nicht in der Lage, den Tumor<br />
in ausreichender Zahl zu infiltrieren oder<br />
bösartige Zellen effizient zu erkennen<br />
und anzugreifen. Deshalb kann es einerseits<br />
helfen, das Immunsystem durch<br />
eine Impfung zu ‚trainieren‘, andererseits<br />
auch, diese vorhandenen Zellen anderweitig<br />
zu vermehren. Das Ziel von Immuntherapie<br />
ist immer das gleiche: Wir<br />
wollen möglichst viele Immunzellen im<br />
Körper einer erkrankten Person, die den<br />
Tumor attackieren.“<br />
Computergestützt<br />
Grundlage dieser Arbeit sind Open-<br />
Source-Analysetools, die Francesca Finotello<br />
und ihre Arbeitsgruppe entwickelt<br />
haben und auch stetig weiterentwickeln.<br />
Die Tools nextNEOpi und Scirpy analysieren<br />
die personalisierten RNA- und DNA-<br />
Sequenzierungsdaten und sagen sowohl<br />
die Tumor-Neoantigene als auch die T-<br />
Zell-Rezeptoren voraus, die diese Antigene<br />
erkennen. Andere digitale Werkzeuge,<br />
mit denen die Forscherin arbeitet, erlauben<br />
es zum Beispiel auch, auf Basis von<br />
RNA-Sequenzdaten vorherzusagen, wie<br />
Krebs-Patient:innen auf eine Immuntherapie<br />
reagieren (EASIER). Dieselben Daten<br />
lassen sich sogar nutzen, um die Zusammensetzung<br />
und räumliche Verteilung<br />
von bestimmten Immunzellen innerhalb<br />
eines Tumors zu bestimmen (quanTIseq<br />
und spacedeconv) – wichtige Information,<br />
wenn es darum geht, einen Tumor<br />
erfolgreich anzugreifen. Derzeit steht eine<br />
besonders aggressive Krebsart im Fokus<br />
der Forscherin: „Wir arbeiten derzeit daran,<br />
Glioblastome, eine aggressive Form<br />
von Hirnkrebs, besser zu verstehen. Immuntherapien<br />
funktionieren bei Glioblastomen<br />
derzeit nämlich leider noch nicht<br />
sehr zuverlässig. Aber wir arbeiten daran,<br />
zu verstehen, wie wir die körpereigene<br />
Abwehr besser für den Kampf gegen diese<br />
Tumore ausstatten können, konkret<br />
gerade in einem gemeinsamen Projekt mit<br />
Kolleg:innen in Mailand.“ sh<br />
FRANCESCA FINOTELLO (*1985 in<br />
Venedig) promovierte 2<strong>01</strong>4 an der Universität<br />
Padua in Bioingenieurwissenschaften.<br />
Sie ist Assistenzprofessorin am Institut für<br />
Molekularbiologie und am Digital Science<br />
Center (DiSC) der Universität Inns bruck,<br />
wo sie die Gruppe Computational Biomedicine<br />
leitet. Sie verfügt über langjährige<br />
Erfahrung in der bioinformatischen<br />
Analyse von Multiomics-Daten und in der<br />
Entwicklung von Berechnungsmethoden<br />
für Präzisions- und personalisierte Medizin.<br />
Ihre Gruppe konzentriert sich insbesondere<br />
auf die Krebsimmunologie und integriert<br />
Bioinformatik, Systembiologie und<br />
Techniken des maschinellen Lernens, um<br />
die Regeln für die Interaktion zwischen Tumor-<br />
und Immunzellen aufzuklären. Durch<br />
die Charakterisierung der Landschaft der<br />
Krebsneoantigene, der Zusammensetzung<br />
des Tumorimmunkontextes und des komplizierten<br />
Zusammenspiels, das die Zell-<br />
Zell-Interaktionen in der Mikroumgebung<br />
des Tumors steuert, will sie mechanistische<br />
Grundlagen zur Verbesserung der Krebsimmuntherapie<br />
gewinnen.<br />
30 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Andreas Friedle<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 31
ÖKOLOGIE<br />
ÖKOLOGIE<br />
HORTE DER<br />
BIODIVERSITÄT<br />
Der Gletscherrückgang beraubt hochalpine Tierarten ihres Lebensraums, wie eine<br />
internationale Studie zeigt. Der mitwirkende Ökologe Leopold Füreder plädiert<br />
daher für die Ausweitung von Schutzzonen auf die Gletschervorfelder.<br />
„Den Kaltwasser-Arten bleibt<br />
nur eine Flucht in noch größere<br />
Höhen, so lange das überhaupt<br />
noch möglich ist.“ Leopold Füreder<br />
Schmelzende Gletscher haben massive<br />
Folgen für die Biodiversität<br />
im Alpenraum: Das demonstrierte<br />
ein internationales Forscher:innen-Team<br />
kürzlich in einer im Fachmagazin Nature<br />
Ecology&Evolution veröffentlichten<br />
Untersuchung. Am Beispiel der 15 wichtigsten<br />
alpinen wirbellosen Arten wie<br />
etwa Eintags-, Stein- oder Köcherfliegen<br />
sowie Würmern wie dem Alpenstrudelwurm<br />
wurden erstmals die Auswirkungen<br />
der Klimakrise auf die Biodiversität<br />
im gesamten europäischen Alpenraum<br />
für einen Zeitraum von 2020 bis 2100<br />
modelliert. Dazu wurden Gletscher-,<br />
Landschafts- und Biodiversitätskartierungsdaten<br />
aus den Alpen kombiniert.<br />
Leopold Füreder, Leiter der River and<br />
Conservation Research Group am Institut<br />
für Ökologie, steuerte Analysen der<br />
Entwicklung dieser Kaltwasser-Arten<br />
1 2<br />
3 4<br />
vor allem aus der Gletscherregion Rotmoostal<br />
im Hinteren Ötztal Tirols für die<br />
Modellierungen bei. Die dortigen Flussläufe<br />
untersucht der Forscher bereits seit<br />
20 Jahren genau.<br />
EINBLICK IN DIE HOCHALPINE TIERWELT: 1 Crenobia alpina: Der Alpenstrudelwurm<br />
ist typisch für Bäche ohne Gletschereinfluss. 2 Rhithrogena: Die Eintagsfliegenlarve lebt<br />
typischerweise in gletscherbeeinflussten Bächen. 3 Diamesa: Die Zuckmückenlarve ist<br />
typisch für stark vergletscherte Bäche. 4 Drusus discolor: Die Köcherfliegenlarve kommt<br />
typischerweise in Hochgebirgsbächen vor.<br />
LEOPOLD FÜREDER (*1958) studierte<br />
Zoologie mit Schwerpunkt Limnologie<br />
und Taxonomie an der Universität Innsbruck.<br />
Sein Doktorat erwarb er an den<br />
Universitäten Inns bruck und Philadelphia.<br />
2003 habilitierte er sich in den Fächern<br />
Limnologie und Zoologie. Er ist Leiter der<br />
Arbeitsgruppe River and Conservation<br />
Research am Institut für Ökologie an der<br />
Universität Inns bruck. Seit 2002 ist er<br />
Vorsitzender des Naturschutzbeirats der<br />
Tiroler Landesregierung, seit 2<strong>01</strong>5 von<br />
ISCAR (International Scientific Commission<br />
of the Alpine Region).<br />
Angepasste Kälte-Spezialisten<br />
„Die Larven von Fliegen und Würmern,<br />
wie sie in Quell- und Gletscherbächen<br />
im hochalpinen Raum vorkommen, sind<br />
hoch spezialisiert für ihren kalten Lebensraum<br />
und spielen in der Nahrungskette<br />
eine wichtige Rolle“, verdeutlicht<br />
Leopold Füreder. „Durch die Zunahme<br />
der Temperaturen schmelzen einerseits<br />
die Gletscher, andererseits erwärmt sich<br />
auch das Wasser der Bäche. Daher verschiebt<br />
sich ihr Refugium in immer höher<br />
gelegene Bereiche oder verschwindet im<br />
schlimmsten Fall komplett – mit Folgen<br />
für das gesamte alpine Ökosystem. Den<br />
Kaltwasser-Arten bleibt nur eine Flucht<br />
in noch größere Höhen, so lange das<br />
überhaupt noch möglich ist“, erklärt der<br />
Ökologe.<br />
Kurzfristig werden Gletscherflüsse<br />
aufgrund der Schmelze mehr Wasser<br />
führen, in langfristiger Perspektive allerdings<br />
wird sich die Wassermenge verringern<br />
und die Wassertemperatur noch<br />
weiter erhöhen. Darin sieht der Ökologe<br />
die Gefahr einer Kettenreaktion: „Wir<br />
haben dann fehlende Nahrung in Form<br />
von Insektenlarven zum Beispiel für Fische<br />
wie die Bachforelle, aber auch für<br />
terrestrische Tiere wie Vögel, die sich von<br />
den ausgewachsenen Wasserinsekten ernähren,<br />
bedeutet dies Einschnitte in der<br />
Nahrungsverfügbarkeit.“<br />
Schutzgebiete ausbauen<br />
Die wenigen Bereiche, die als Lebensraum<br />
für die auf Kälte spezialisierten Arten-Gemeinschaften<br />
noch bleiben, sollten<br />
daher besonders geschützt werden, wie<br />
die Autor:innen betonen. Nur etwa zwölf<br />
Prozent der bis zum Jahr 2100 laut der<br />
Modellierungen noch bestehenden Refugien<br />
befinden sich in heutigen Naturschutzgebieten.<br />
„Da sich die Lage durch<br />
die steigenden Temperaturen immer weiter<br />
verschärfen wird, müssen wir davon<br />
ausgehen, dass sich auch der Druck auf<br />
die noch verbleibenden Gletschergebiete<br />
erhöhen wird. Die Suche nach schneesicheren<br />
Skigebieten ist dabei genauso ein<br />
Thema wie der Ausbau der Wasserkraft“,<br />
so Leopold Füreder. „Gletscherschutz –<br />
und damit Schutz der Biodiversität – bedeutet<br />
daher auch, die Gletscher samt<br />
ihren Vorfeldern vermehrt zu Naturschutzgebieten<br />
zu erklären.“ mb<br />
32 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Leopold Füreder<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 33
WIRTSCHAFT<br />
WIRTSCHAFT<br />
„Alle Handlungen der<br />
EZB sind darauf<br />
ausgerichtet,<br />
ein möglichst<br />
schwankungsfreies<br />
Preisniveau in Europa<br />
zu gewährleisten.“<br />
AM PULS DER<br />
GELDPOLITIK<br />
Maximilian Breitenlechner interessiert sich für das große Ganze<br />
der europäischen und globalen Wirtschaft. In der Makroökonomie<br />
verhaftet, beschäftigt sich der Wirtschaftswissenschaftler vor allem mit<br />
Konjunkturzyklen und zieht aus enormen Datensätzen Rückschlüsse daraus,<br />
wie unser Wirtschaftssystem funktioniert – oder auch nicht.<br />
ZUKUNFT: Bei einem Blick auf Ihre <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />
stechen einige Begriffe ins Auge, die<br />
aktueller gerade nicht sein könnten: Preise,<br />
Zinsen, Inflation. Woran arbeiten Sie in diesem<br />
Bereich?<br />
MAXIMILIAN BREITENLECHNER: Wir interessieren<br />
uns in der Makroökonomie unter anderem<br />
für Konjunkturzyklen und stellen uns die Frage,<br />
was deren Entwicklung beeinflusst. Das ist<br />
natürlich ein sehr komplexes Feld, denn in die<br />
Konjunktur spielen viele ökonomische Größen<br />
hinein, wie etwa Produktion, Konsum, Preise<br />
oder Zinsen. Der Fokus meiner <strong>Forschung</strong><br />
liegt hier seit jeher in der Geldpolitik – und<br />
damit auch intensiv auf der Rolle von Zentralbanken.<br />
Ich möchte mit meinem empirischen<br />
Zugang klären und auch quantifizieren, welche<br />
Rolle Zentralbanken in der Stabilisierung<br />
von Konjunkturzyklen haben und wo und<br />
wie sich ihre Eingriffe in die Geldpolitik tatsächlich<br />
abbilden. Meine Perspektive ist dabei<br />
aber weniger auf Nationalstaaten gerichtet,<br />
sondern auf die großen Währungsräume wie<br />
die EU mit der Europäischen Zentralbank EZB<br />
oder auch die USA mit ihrem Zentralbank-<br />
System Federal Reserve.<br />
ZUKUNFT: Wie untersuchen Sie diese Fragestellungen?<br />
BREITENLECHNER: Da sind wir gleich bei einer<br />
der größten Herausforderung meiner For-<br />
schungsarbeit, nämlich der Zugang zu Daten<br />
bzw. deren Verfügbarkeit. Wir empirische Makroökonom:innen<br />
stehen immer wieder vor<br />
dem Problem, wenige Daten zu haben oder –<br />
wenn sie verfügbar sind – eher nur für kurze<br />
Zeitperioden. Wenn wir zum Beispiel in die<br />
USA blicken, so haben wir dort die Situation,<br />
dass wir riesige und frei zugängliche Datensätze<br />
haben. Ein Beispiel: In den USA kann<br />
man von jeder Bank die vierteljährlichen Bilanzdaten<br />
einsehen, und das zurück bis 1980.<br />
In meiner Dissertation habe ich diese Daten<br />
dazu verwendet, um zu zeigen, wie der Bankensektor<br />
Einfluss nimmt in die Transmission<br />
von geldpolitischen Entscheidungen auf die<br />
Wirtschaft. In Europa ist die Datenverfügbarkeit<br />
leider nicht so gut, die Lage hat sich in<br />
den letzten Jahren diesbezüglich aber verbessert,<br />
was zu immer mehr Projekten mit europäischem<br />
Schwerpunkt führt.<br />
ZUKUNFT: Und wenn Sie sich mit diesem europäischen<br />
Schwerpunkt auseinandersetzen,<br />
spielt die Europäische Nationalbank in diesem<br />
Sinne eine große Rolle.<br />
BREITENLECHNER: Ja, die EZB spielt da naturgemäß<br />
eine wesentliche Rolle, da ihre Aufgabe<br />
im Verfügen geldpolitischer Maßnahmen<br />
liegt, wie etwa der Regulierung der Zinssätze<br />
oder auch in der Überwachung des Bankensektors.<br />
Das wichtigste Mandat der Europäischen<br />
Zentralbank ist die Preisstabilität, alle<br />
Handlungen dieser Institution sind darauf<br />
ausgerichtet, ein möglichst schwankungsfreies<br />
Preisniveau in Europa zu gewährleisten.<br />
Die Entwicklungen auf nationalstaatlicher<br />
Ebene sind vom Leitzins, den die EZB vorgibt,<br />
abhängig und prägen somit die volkswirtschaftlichen<br />
Entwicklungen im Grunde<br />
auf allen Ebenen.<br />
ZUKUNFT: Da könnte man nun aber in Anbetracht<br />
allein der jüngsten Vergangenheit mit<br />
enorm gestiegenen Preisen für Waren sowie<br />
Dienstleistungen und hoher Inflation etwas<br />
zweifeln, ob das so gut funktioniert, oder?<br />
BREITENLECHNER: Werfen wir vielleicht kurz<br />
einen Blick auf die allgemeinen Zusammenhänge,<br />
warum Inflation entsteht. Preissteigerungen<br />
ergeben sich im Wesentlichen, wenn<br />
die Nachfrage nach Gütern steigt oder das<br />
Angebot sinkt. Nun hat sich durch die Kombination<br />
aus Folgen der Pandemie und dem<br />
Ausbruch des Angriffskrieges Russlands<br />
gegen die Ukraine eine besonders herausfordernde<br />
Situation für die globale Wirtschaft<br />
ergeben. Zum einen gab es nach Abflauen<br />
der Corona-Krise einen starken Drang nach<br />
Konsum, gleichzeitig wurde durch die Energieabhängigkeit<br />
von Russland und Problemen<br />
in globalen Lieferketten die Produktion viel<br />
teurer. Diese Kombination hat zu einem starken<br />
Anstieg des Preisniveaus, also zu hoher<br />
Inflation geführt und diese Entwicklung entspannt<br />
sich erst langsam. Nun ist die Frage:<br />
Was kann dagegen getan werden? Und da<br />
kommt der EZB eine zentrale Rolle zu, da sie<br />
über Zinsen Einfluss auf diese Entwicklung<br />
nehmen kann. Erhöht die EZB den Leitzins,<br />
werden Kredite teurer und Investitionen gehen<br />
zurück. Das drückt schlussendlich die<br />
Nachfrage und reduziert den Preisdruck und<br />
die Inflation. Allerdings bedeutet eine geringere<br />
Nachfrage auch einen Rückgang der<br />
Wirtschaftsleistung. Die Ausgestaltung der<br />
Geldpolitik ist also heikel und die Faktoren,<br />
die etwa die EZB zu gewissen Handlungen<br />
veranlassen, sind sehr komplex. Diese empirisch<br />
zu erfassen ist eine große Herausforderung.<br />
ZUKUNFT: Welchen Aspekt aus diesem komplexen<br />
Feld, in das Sie uns nun einen Einblick<br />
gewährt haben, bearbeiten Sie im Moment?<br />
BREITENLECHNER: Wie ich eingangs bereits erwähnt<br />
habe, hat sich die Datenlage auch im<br />
europäischen Umfeld glücklicherweise verbessert.<br />
Daher können wir nun empirisch<br />
untersuchen, wie sich die Politik der EZB über<br />
die Zeit auf Produktion und Preise im Euro-<br />
Raum auswirkt – und zwar erstmals mittels<br />
entsprechender Datenreihen in historischer<br />
Perspektive. Die Europäische Zentralbank ist<br />
mit ihrer Gründung 1998 eine verhältnismäßig<br />
junge Institution, die sich sozusagen erst<br />
den „Respekt“ im Sinne einer finanzpolitischen<br />
Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit<br />
erarbeiten musste. Das heißt: Die Wirksamkeit<br />
ihrer geldpolitischen Entscheidungen wie etwa<br />
die Gestaltung des Leitzinses hat sich über<br />
die Zeit verändert und über die Jahre – wie<br />
wir aus ersten Ergebnissen sehen können –<br />
verstärkt. Es besteht in der empirischen Makroökonomie<br />
noch enorm viel <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
und ich bin zuversichtlich, dass unsere<br />
Ergebnisse in <strong>Zukunft</strong> dazu beitragen können,<br />
die Dynamiken unseres Wirtschaftssystems<br />
besser zu verstehen. Denn daraus lässt<br />
sich dann möglicherweise auch ableiten, wie<br />
die jeweiligen Zentralbanken weltweit aufeinander<br />
einwirken und welche Effekte deren<br />
geldpolitische Maßnahmen in globaler Perspektive<br />
haben. Eine stärkere internationale<br />
Koordination könnte dazu beitragen, die Bedürfnisse<br />
kleinerer Volkswirtschaften in sogenannten<br />
Entwicklungsländern stärker zu<br />
berücksichtigen und damit der globalen Dimension<br />
von Preisentwicklungen gerecht zu<br />
werden. <br />
mb<br />
MAXIMILIAN<br />
BREITENLECHNER, PhD,<br />
forscht als Assistenzprofessor<br />
am Institut für Wirtschaftstheorie,<br />
-politik und -geschichte<br />
und im Rahmen des<br />
<strong>Forschung</strong>sschwerpunktes<br />
Economics, Politics and Society<br />
(EPoS) an der Universität<br />
Inns bruck. Seine <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />
liegen in den Bereichen<br />
Monetäre Ökonomie,<br />
Angewandte Makroökonometrie<br />
und Internationale Makroökonomie.<br />
Breitenlechner<br />
studierte an der Uni Inns bruck<br />
und am University College<br />
Cork Wirtschaftswissenschaften<br />
und schloss 2<strong>01</strong>7 sein<br />
PhD-Studium ab. Der Ökonom<br />
ist international vernetzt,<br />
Research Affiliate an der City<br />
University Hong Kong und war<br />
beratend für die Europäische<br />
Zentralbank EZB tätig.<br />
34 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andeas Friedle<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 35
RELIGION<br />
RELIGION<br />
ZWISCHEN RELIGION<br />
UND POPKULTUR<br />
Exorzismus und Besessenheitsvorstellungen sind sowohl im römisch-katholischen Glauben<br />
als auch in der Populärkultur nach wie vor präsent. Die Religionswissenschaftlerin Nicole Bauer<br />
untersucht den Umgang mit Exorzismus in der römisch-katholischen Kirche.<br />
FAITH BRAND: Nicole Bauer hat den römisch-katholischen Exorzismus in Österreich untersucht.<br />
Satan und die Austreibung des Bösen<br />
spielen in der römisch-katholischen<br />
Kirche eine größere Rolle als gemeinhin<br />
bekannt ist. „Mein Schwerpunkt<br />
liegt in der Religionsökonomie, und vor<br />
diesem Hintergrund habe ich mich auch<br />
mit Exorzismuspraktiken in der Kirche<br />
beschäftigt. Betrachtet man die Entwicklung<br />
vom Exorzismus in der katholischen<br />
Kirche, findet man einige Analogien zu<br />
marktwirtschaftlichen Dynamiken“, erklärt<br />
die Religionswissenschaftlerin Nicole<br />
Bauer: „Zudem habe ich mir angesehen,<br />
ob es eine Überlappung zwischen<br />
religiöser Praxis und der Entwicklung im<br />
popkulturellen Feld gibt.“<br />
In der katholischen Kirche waren die<br />
Themen Besessenheit und Exorzismus<br />
immer präsent. Der katholische Exorzismus<br />
bezieht sich in seiner gegenwärtigen<br />
Umsetzung auf einen Ritualtext<br />
des frühen 17. Jahrhunderts. Das Rituale<br />
Romanum von 1614 stellt die Grundlage<br />
der weltweit durchgeführten kirchlichen<br />
Exorzismus-Praxis dar und ist auch kirchenrechtlich<br />
verankert.<br />
Popkulturelles Phänomen<br />
Mit dem Erfolg des Films Der Exorzist aus<br />
dem Jahr 1973 gelang dem Exorzismus<br />
der Sprung in die Populärkultur und verschaffte<br />
dem Thema eine Art Wiedererwachen.<br />
Zahlreiche weitere Filme, Serien<br />
und Bestseller folgten. Auch innerhalb<br />
der katholischen Kirche rückten Teufelsaustreibungen<br />
dadurch wieder etwas<br />
mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit.<br />
Innerhalb der Kirche etablierte sich der<br />
italienische Priester und Autor Gabriele<br />
Amorth mit zahlreichen auch international<br />
übersetzten Bestsellern und einer<br />
starken Medienpräsenz zum Gesicht des<br />
katholischen Exorzismus in Italien.<br />
Amorth sah es als seine göttliche<br />
Mission an, die Idee des Teufels, der<br />
dämonischen Besessenheit und damit<br />
die Notwendigkeit des Exorzismus in<br />
der gesamten katholischen Welt zu verbreiten.<br />
1999 wurde – angestoßen durch<br />
das Zweite Vatikanische Konzil – das<br />
Exorzismus-Ritual von 1614 überarbeitet;<br />
damit einher ging auch die Gründung<br />
einer internationalen Exorzisten-Vereinigung,<br />
die vom Vatikan kirchenrechtlich<br />
anerkannt wurde. Ende der 2000er-Jahre<br />
gab es zudem auch in Österreich eine<br />
Aufforderung an die österreichische Bi-<br />
schofskonferenz, in allen Diözesen einen<br />
Exorzisten zu bestellen.<br />
„Diese Aufforderung kam direkt von<br />
der Glaubenskongregation und man<br />
berief sich dabei auf das Kirchenrecht,<br />
in dem verankert ist, dass jede Diözese<br />
einen Exorzisten stellen muss“, erläutert<br />
Nicole Bauer. Die meisten österreichischen<br />
Diözesen sind dieser Aufforderung<br />
auch nachgekommen, auch wenn<br />
die Bezeichnungen für die Verantwortlichen<br />
unterschiedlich sind. Meist spricht<br />
man von Heilungs- und Befreiungsdienst<br />
oder spezieller Seelsorge. „Es gibt natürlich<br />
auch innerhalb der Kirche unterschiedliche<br />
Haltungen. Exorzismus zählt<br />
nicht zur Mainstream-Theologie, aber er<br />
existiert und war und ist Teil der römischkatholischen<br />
Ideologie“, so Nicole Bauer.<br />
„Auch wenn Exorzismen in der Realität<br />
nicht ganz so spektakulär ablaufen, wie in<br />
Filmen dargestellt, sie werden noch heute<br />
– auch in Österreich – durchgeführt.<br />
Lange Tradition<br />
Seit dem Wiederaufleben des Exorzismus<br />
in der Populärkultur entwickelte sich<br />
neben der römisch-katholischen Kirche<br />
auch ein großes Feld an „Dienstleistern“,<br />
die unabhängig vom religiösen Kontext<br />
Exorzismen, Besessenheitsheilungen und<br />
Reinigungen anbieten. „Dieses Feld umfasst<br />
Esoteriker:innen, Energetiker:innen<br />
und Geistheiler:innen, die katholische<br />
Narrative einbeziehen und sich selbst<br />
zum Teil als Exorzist:innen bezeichnen“,<br />
beschreibt Nicole Bauer.<br />
Die Religionswissenschaftlerin hat<br />
untersucht, wie sich katholischer Exorzismus<br />
auch in der Selbstdarstellung davon<br />
unterscheidet. „Marken entstehen immer<br />
durch Abgrenzung von anderen ähnlichen<br />
Anbietern. Ich habe also untersucht,<br />
wie sich der römisch-katholische Exorzismus<br />
von anderen Heilungsangeboten<br />
abgrenzt, was sozusagen sein Alleinstellungsmerkmal<br />
ist“, erklärt Bauer. Eine<br />
der wesentlichsten Storylines, welche die<br />
Religionswissenschaftlerin dabei identifiziert<br />
hat, ist die lange Tradition des katholischen<br />
Exorzismus. „Der katholische<br />
Exorzismus geht auf Jesus selbst zurück<br />
und katholische Exorzisten sehen sich<br />
als Nachfolger Jesu in einer direkten Traditionslinie.<br />
Verweise auf die Bibel und<br />
das Rituale Romanum vermitteln den Eindruck<br />
einer uralten Praxis mit bewährter<br />
Wirksamkeit“, sagt Bauer.<br />
KATHOLISCHE EXORZISTEN sehen sich als Nachfolger Jesu. Im Bild eine Dämonenaustreibung<br />
durch Jesus Christus auf einem Fastentuch im Gurker Dom aus dem Jahr 1458.<br />
NICOLE BAUER (*1980) studierte<br />
Soziologie mit dem Schwerpunkt<br />
Religionssoziologie an der Universität<br />
Graz und promovierte 2<strong>01</strong>5 am Institut<br />
für Religionswissenschaft der Universität<br />
Heidelberg, wo sie bis 2<strong>01</strong>6 als wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin tätig war. 2<strong>01</strong>7<br />
wechselte sie als wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin an die Universität Innsbruck,<br />
zuerst an das Institut für Praktische<br />
Theologie und 2022 an das Institut für<br />
Bibelwissenschaften und Historische<br />
Theologie.<br />
Gleichzeitig beruhen laut Nicole Bauer<br />
aber viele Aspekte der heutigen Exorzismus-Praxis<br />
auf modernen Ideen und Diskursen<br />
und haben keine biblische Grundlage.<br />
Hier spielt vor allem die sogenannte<br />
Medikalisierung eine große Rolle. „Was<br />
den Exorzismus der katholischen Kirche<br />
von anderen ähnlichen religiösen Heilpraktiken<br />
unterscheidet, ist die deutliche<br />
Einbeziehung psychiatrischer, medizinischer<br />
und psychologischer Fachkenntnisse“,<br />
so Bauer. Es werden bestimmte<br />
medizinische und psychologische Methoden<br />
aufgegriffen und eingebaut, wie<br />
schon die verwendeten Begrifflichkeiten<br />
wie „Diagnose“ und „Anamnese“ zeigen.<br />
2<strong>01</strong>8 wurde zudem ein Exorzismus-Kurs<br />
an der Vatikanischen Hochschule Regina<br />
Apostulorum etabliert.<br />
„Durch diesen Kurs und die Verwendung<br />
medizinischer und psychologischer<br />
Begrifflichkeiten kommt es auch zu einer<br />
Akademisierung des katholischen Exorzismus“,<br />
erläutert Nicole Bauer. Was den<br />
katholischen Exorzismus zudem deutlich<br />
von esoterischen Angeboten unterscheidet,<br />
ist die vorhandene Struktur. Es<br />
gibt klare kirchenrechtliche Rahmenbedingungen<br />
für die Durchführung eines<br />
Exorzismus. Neben der Einbindung von<br />
Mediziner:innen ist auch eine bischöfliche<br />
Genehmigung vorgesehen, bevor ein<br />
Exorzismus durchgeführt werden darf.<br />
„Genau diese Struktur ist natürlich wesentlich<br />
für das faith brand Römisch-Katholischer<br />
Exorzismus“, so Bauer.<br />
Die Religionswissenschaftlerin betont<br />
allerdings, dass auch in der katholischen<br />
Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen<br />
Konzil mehrheitlich Abschied vom Teufel<br />
genommen wurde und dieser eher als<br />
Metapher verstanden wird. „Es war nie<br />
mein Anliegen, Glaubenshaltungen zu<br />
bewerten, sondern sie als eine von vielen<br />
Wirklichkeitskonstruktionen darzustellen<br />
und zu zeigen, woran Menschen glauben.<br />
Der Glaube an Besessenheit und Exorzismus<br />
ist eben eine von vielen Optionen<br />
in einer religiösen Skala.“ sr<br />
36 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Andreas Friedle (2), commons.wikimedia.org/Johann Jaritz (1)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 37
WISSENSTRANSFER<br />
WISSENSTRANSFER<br />
MOBIL IM ÖTZTAL<br />
Eine klimafreundliche Mobilität im Tiroler Ötztal will ein von der<br />
Bundesregierung unterstütztes Projekt fördern.<br />
LASERSCANNING mittels Drohe ermöglicht die Digitalisierung von Umspannwerken.<br />
DER BLICK VON OBEN<br />
Mit einer Laserdrohne der Universität vermisst das Inns brucker<br />
Spin-off-Unternehmen Laserdata Infrastrukturanlagen und Massenbewegungen.<br />
Für die kleinräumige Vermessung<br />
der Erdoberfläche aus der Luft hat<br />
sich in den letzten Jahren der Einsatz<br />
von Laserscanning-Drohnen als sehr<br />
fortschrittlich erwiesen. Diese Drohnen<br />
verwenden Lasertechnologie, um präzise<br />
Vermessungsdaten zu erheben. Sie<br />
fliegen über Untersuchungsgebiete und<br />
senden Laserimpulse aus, die von der<br />
Oberfläche reflektiert werden. Die zurückkehrenden<br />
Signale werden vom<br />
Sensor auf der Drohne erfasst. Basierend<br />
auf den gewonnenen Daten können dann<br />
3D-Punktwolken und Rastermodelle erstellt<br />
werden. Auf die Verarbeitung und<br />
Auswertung solcher 3D-Punktwolken<br />
hat sich das Inns brucker Spin-off Laserdata<br />
GmbH spezialisiert.<br />
Im Rahmen einer Nutzungsvereinbarung<br />
verwendet Laserdata für Messkampagnen<br />
eine Hochleistungsdrohne<br />
der Universität Inns bruck. Im Auftrag<br />
der Austrian Power Grid AG werden mit<br />
dieser Drohne zum Beispiel Umspannwerke<br />
in Österreich aus der Luft vermessen.<br />
„Die Daten werden mit am Boden<br />
erfassten 3D-Punktwolken zusammengeführt<br />
und bilden die Grundlage für<br />
aktuelle CAD-Pläne“, erklärt Frederic<br />
Petrini-Monteferri, Geschäftsführer der<br />
Laserdata. So werden seit 2<strong>01</strong>9 jährlich<br />
circa ein Dutzend Umspannwerke in<br />
Österreich digital dokumentiert. Die Befliegungen<br />
mit der Drohne werden von<br />
speziell ausgebildetem Personal der Universität<br />
durchgeführt. „Es braucht dafür<br />
einen Piloten und einen Operateur, der<br />
den Flugplan an die Drohne übergibt, mit<br />
dem diese ein festgelegtes Gebiet lückenlos<br />
abfliegt“, erzählt Petrini-Monteferri.<br />
„Diese Zusammenarbeit bringt Synergien<br />
für beide Seiten: Die Universität kann auf<br />
eine regelmäßige Nutzung der teuren<br />
<strong>Forschung</strong>sinfrastruktur vertrauen, wir<br />
finanzieren das Betriebspersonal und<br />
können gegen fremdübliche Verrechnung<br />
kommerzielle Projekte umsetzen.“<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekte<br />
Laserdata nutzt die Drohe auch für <strong>Forschung</strong>sprojekte.<br />
So wird seit einigen<br />
Jahren die Renaturierung einer ehemaligen<br />
Kohleabbaustätte im deutschen<br />
Brandenburg aus der Luft überwacht.<br />
„Die Ufer des angelegten Cottbuser Ostsees<br />
geben seit der Flutung mit Wasser<br />
immer wieder nach“, schildert Frederic<br />
Petrini-Monteferri: „Diese Prozesse zu<br />
dokumentieren und zu quantifizieren ist<br />
unsere Aufgabe.“ Aber auch im alpinen<br />
Gelände kommt die Laserdrohne zum<br />
Einsatz. So hat das Team von Laserdata<br />
im Auftrag des Landes Tirol den Felssturz<br />
im Valser Tal 2<strong>01</strong>7 mehrfach aus der<br />
Luft dokumentiert.<br />
Um noch größere Gebiete aus der Luft<br />
zu vermessen, hat die Universität einen<br />
sogenannten Helipod für den Laserscanner<br />
erworben. So sind Befliegungen mit<br />
dem Helikopter möglich, was noch raschere<br />
und großflächigere Vermessungen<br />
erlaubt. Laserdata nutzt dieses System im<br />
Rahmen eines neuen <strong>Forschung</strong>sprojektes<br />
etwa dazu, das Abschmelzen der<br />
Gletscher zu dokumentieren. Mit den gewonnenen<br />
Daten über die Gletscherstände<br />
werden virtuelle 3D-Modelle errechnet<br />
und visualisiert. Die Ergebnisse werden<br />
im Unterricht verwendet, um Schülerinnen<br />
und Schülern, die selbst die<br />
Gletscher nicht besuchen können, mithilfe<br />
von VR-Brillen eine virtuelle Begehung<br />
der schwindenden Gletscherwelt zu ermöglichen.<br />
<br />
Das Tiroler Ötztal ist neben dem<br />
Tullnerfeld, Salzburg und Graz<br />
Umgebung eine der vier Pilotregionen,<br />
in der innovative Angebote und<br />
Maßnahmen für Alltagsmobilität, Pendeln<br />
und Tourismusmobilität entwickelt<br />
und umgesetzt werden. Innovationsbarrieren<br />
sollen in dem Projekt identifiziert<br />
und überwunden werden. „In dem Projekt<br />
ULTIMOB entwickeln und erproben<br />
wir in der Pilotregion Ötztal Lösungen,<br />
die zu einer nachhaltigen Tourismusmobilität<br />
und weniger Verkehr in der<br />
Region beitragen sollen. Mit der Ötztaler<br />
Verkehrsgesellschaft und dem VVT haben<br />
AQT ERREICHT QUANTENVOLUMEN VON 128<br />
wir hier starke lokale Partner im Projekt,<br />
die an <strong>Forschung</strong> und Umsetzung mitwirken“,<br />
erklärt Projektkoordinator Markus<br />
Mailer vom Arbeitsbereich Intelligente<br />
Verkehrssysteme der Uni Innsbruck..<br />
Eine Gepäcklogistikbörse soll zum Beispiel<br />
ein Tür-zu-Tür-Gepäckservice ermöglichen<br />
und gleichzeitig die Zustellfahrten<br />
reduzieren. Durch die Errichtung<br />
von sogenannten Mobility Hubs sollen<br />
unterschiedliche Mobilitätsangebote an<br />
den Haltestellen Gaislachkogelbahn und<br />
Postplatz in Sölden gebündelt und dadurch<br />
die Anreise mit der Bahn und die<br />
Mobilität in der Region ohne eigenes<br />
Auto erleichtert werden. An diesen Knoten<br />
finden sich beispielsweise unter der<br />
Federführung des Projektpartners VVT<br />
errichtete Fahrradboxen, die auch als Gepäckboxen<br />
genutzt werden können. Weitere<br />
Projektpartner in der Pilotregion sind<br />
die Ötztaler Verkehrsgesellschaft, die FH<br />
Oberösterreich, die <strong>Forschung</strong>sfirma netwiss<br />
und die Ride-Sharing-Plattform ummadum.<br />
Letztere möchte im Projekt nicht<br />
nur Einheimischen und Pendlern Mitfahrgelegenheiten<br />
im Ötztal vermitteln,<br />
sondern die Plattform auch für Urlaubsgäste<br />
als zusätzliches Mobilitätsangebot<br />
während ihres Aufenthalts öffnen. <br />
Mehrere Unternehmen, sowohl kommerzielle als<br />
auch akademische, arbeiten an der Realisierung<br />
von Quantencomputern und verwenden dabei<br />
sehr unterschiedliche physikalische Plattformen, was<br />
die Bewertung eines Quantencomputers zu einer<br />
Herausforderung macht: Verfügt er beispielsweise<br />
über genügend Speicher oder ist die Fehlerrate des<br />
Prozessors niedrig genug? Das Quantenvolumen ist<br />
derzeit einer der am häufigsten verwendeten Referenzwerte,<br />
der eine, auf eine Zahl reduzierte Aussage<br />
über die Gesamtfähigkeiten eines Quantensystems<br />
liefert. Das Inns brucker Quanten-Startup AQT hat im<br />
Frühjahr auf seinem 19-Zoll-Rack-Quantencomputer PINE System ein Quantenvolumen von<br />
128 demonstriert. Das Quantenvolumen ist ein Wert, der die Fähigkeiten und Fehlerraten<br />
eines Quantencomputers angibt. Das Resultat stellt einen europäischen Rekord für den in<br />
Inns bruck entwickelten und gebauten, universellen Quantencomputer dar.<br />
STUDIENAUTOR Leonhard Dobusch und<br />
Auftraggeber Georg Willi (v. l.)<br />
MIT STUDIE GEGEN TEUERUNG<br />
Zur Abfederung der teils massiven Teuerungen,<br />
vor allem im Energiebereich,<br />
wurden bereits im vergangenen Jahr mehrere<br />
Unterstützungspakete auf Bundes- und Landesebene<br />
geschnürt. Auch der Inns brucker<br />
Gemeinderat beschloss 2022 ein Hilfspaket in<br />
der Höhe von 2,7 Millionen Euro. Im Frühjahr<br />
stellte Studienautor Leonhard Dobusch die<br />
Machbarkeitsstudie „Inns bruck Aktiv gegen<br />
Teuerung“ vor. Der Inns brucker Bürgermeister<br />
Georg Willi hatte die Studie bei Leonhard<br />
Dobusch in Auftrag gegeben: „Ziel war es<br />
herauszuarbeiten, wo wir auf kommunaler<br />
Ebene in Ergänzungen zu den Hilfen von<br />
Bund und Land weitere gezielte Unterstützungsmöglichkeiten<br />
anbieten können.“<br />
Diese Prämisse war auch Ausgangspunkt<br />
der Überlegungen für die Studie: „Klar ist,<br />
Kommunen alleine können die Teuerungen<br />
nicht zur Gänze abfedern. Aber sie können<br />
zusätzliche Unterstützungen anbieten – akut<br />
wie potenziell längerfristig“, erklärt Dobusch.<br />
Neben möglichen akuten Hilfestellungen<br />
hat die Studie vor allem untersucht, welche<br />
strukturellen Maßnahmen finanzschwache<br />
Personen langfristig unterstützen und ihre<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern<br />
könnten. Vorgeschlagen wird eine Innsbruck<br />
Aktiv Card, die verschiedene Ermäßigungen<br />
und Zuschüsse beinhaltet und auch bereits<br />
bestehende Aktionen und Ermäßigungen<br />
miteinschließen würde. Vorbild sind hier<br />
Städte wie Linz, Graz und Wien, die ein<br />
solches Angebot bereits etabliert haben.<br />
Konkret werden in der Studie folgende Ermäßigungen<br />
vorgeschlagen: für den Jahrestarif<br />
des Stadtrades, die Benutzung des Frauen-<br />
Nachttaxis, Eintritte in die Bäder der Stadt,<br />
die Eishalle, Theater und Museen, den Jahrestarif<br />
der Stadtbibliothek, den Jahresbeitrag<br />
von Sportvereinen, für Kurse der Volkshochschule<br />
sowie Ermäßigungen bei Druckkosten<br />
oder den Kauf von FFP2-Masken.<br />
38 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Laserdata GmbH / Frederic Petrini-Monteferri<br />
Fotos: Markus Geisler / Ötztaler (1), AQT (1), Michael Freinhofer (1)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 39
WISSENSTRANSFER<br />
KURZMELDUNGEN<br />
IMPULSGEBER FÜR<br />
TIROLER STARTUPS<br />
Was braucht es, um eine Idee in ein erfolgreiches Unternehmen umzuwandeln?<br />
Eine Frage, mit der sich viele Unternehmer:innen und kreative Köpfe in Tirol konfrontiert sehen.<br />
Hier kommt der InnCubator ins Spiel.<br />
INNCUBATOR-TEAM: Kathrin Schrebe, Simon Fuger, Katharina Plangger, Robert Schimpf (v.l.)<br />
Der InnCubator wurde 2<strong>01</strong>6 als<br />
Hub für Innovation und Unternehmertum<br />
von der Universität<br />
Inns bruck und der Wirtschaftskammer<br />
Tirol gegründet und spielt seitdem eine<br />
wichtige Rolle bei der Unterstützung<br />
von Innovation und Startups in Tirol.<br />
Als sogenannter Businessinkubator ist<br />
er – direkt übersetzt – ein Brutkasten für<br />
Innovationen und neue Geschäftsideen.<br />
Als Teil der Universität trägt er zur Third<br />
Mission – also dem Wissenstransfer in<br />
die Gesellschaft und Wirtschaft – bei.<br />
„Durch dieses Zusammenspiel ist es<br />
möglich, den jungen Unternehmen nicht<br />
nur Räumlichkeiten und Infrastruktur,<br />
sondern auch ein umfangreiches Netzwerk<br />
aus Expertinnen und Experten sowie<br />
ein intensives Trainingsprogramm<br />
anzubieten“, sagt der Leiter des InnCubators,<br />
Robert Schimpf. „Zudem besteht<br />
die Möglichkeit, Prototypen im hauseigenen<br />
IOT-Lab oder der modernen Prototypen-Werkstatt<br />
des WIFI Tirol umzusetzen.“<br />
Bereits über 270 Geschäftsideen bzw.<br />
Gründer:innenteams haben das sechsmonatige<br />
Trainingsprogramm im Inn-<br />
Cubator erfolgreich besucht. „Das Ziel<br />
dabei ist es, eine Idee in ein umsetzbares<br />
Konzept zu verwandeln, ein passendes<br />
Geschäftsmodell zu erstellen, einen<br />
ersten Prototyp zu entwickeln und mit<br />
ersten potenziellen Kund:innen über die<br />
Idee zu sprechen“, sagt Simon Fuger, der<br />
auch von Beginn an dabei ist.<br />
Wichtig: Es geht in diesem Programm<br />
nicht ausschließlich um die Geschäftsidee,<br />
sondern vielmehr um die Personen<br />
und deren Entwicklung als Unternehmer:innen.<br />
Das Angebot ist nicht exklusiv<br />
für Studierende oder Forscher:innen<br />
der Universität, sondern offen für alle,<br />
die innovative Geschäftsideen haben.<br />
Unterstützt wird dieses Programm auch<br />
von Startup.tirol. Über die Jahre ist so<br />
eine Community entstanden, die sich<br />
bei dem Ziel, Innovation zu etablieren,<br />
unterstützt – mit Feedback oder einfach<br />
nur mit motivierenden Worten.<br />
Neben den Aufgaben als Startup-Berater:innen<br />
arbeiten die Mitarbeiter:innen<br />
des InnCubators auch aktiv in der Lehre<br />
an der Universität Inns bruck mit: im<br />
Erweiterungsstudium Entrepreneurship<br />
gemeinsam mit der <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />
Innovation und Entrepreneurship. Als Teil<br />
des DIH West erweiterte der InnCubator<br />
seine Zielgruppe und öffnete die entwickelte<br />
Methodenkiste zur Ideen- und Geschäftsmodellgenerierung<br />
für kleine und<br />
mittlere Unternehmen.<br />
Ähnlich den Kund:innen des InnCubators<br />
strebt der Innovationshub eine<br />
ständige Weiterentwicklung an. „Konkret<br />
bedeutet dies: Aufbau zusätzlicher<br />
Netzwerke und Expertise, Ausbau von<br />
Räumlichkeiten und Labs, zusätzliche<br />
Angebote in den Bezirken Tirols und<br />
kundenzentrierte neue Services“, sagt<br />
Robert Schimpf. Dies inkludiert Überlegungen<br />
zu weiter spezialisierten Inkubationsprogrammen<br />
und Lehrgängen zu<br />
zukunftsrelevanten Themen.<br />
„Wir – das InnCubator Team – sehen<br />
das Potenzial, die großen Probleme unserer<br />
Gesellschaft durch Innovationen und<br />
Startups anzugehen“, ist Schimpf überzeugt.<br />
„Die Universität stellt hierbei die<br />
Quelle von Wissen, Technologie und Talent.<br />
Der InnCubator ist die dazugehörige<br />
Spielwiese, sich auszuprobieren und<br />
Innovation zu lernen.“<br />
INNCUBATOR<br />
www.inncubator.at<br />
info@inncubator.at<br />
+43-590-905-7800<br />
Egger-Lienz-Straße 116, Inns bruck<br />
ALARMIERENDE<br />
STUDIE<br />
Alpine Gewässer erwärmen sich schneller als erwartet und<br />
besonders in den Wintermonaten.<br />
Bislang ging man davon aus, dass<br />
die Erwärmung von Gebirgsflüssen<br />
aufgrund des Kaltwassereintrags<br />
durch Schnee oder Eis gedämpft<br />
wird. Die Lufttemperaturen in Gebirgsregionen<br />
steigen jedoch schneller als im<br />
globalen Durchschnitt, sodass Erwärmungseffekte<br />
auch für kalte Flussökosysteme<br />
zu erwarten sind. Georg Niedrist,<br />
Wissenschaftler in der von Leopold Füreder<br />
geleiteten <strong>Forschung</strong>sgruppe Fließgewässerökologie<br />
und Naturschutz, analysierte<br />
Langzeit-Messdaten des Hydrologischen<br />
Dienstes des Landes Tirol zur Wassertemperatur<br />
der Tiroler Gebirgsflüsse Inn und<br />
Großache. Die Wassertemperatur in den<br />
beiden Flüssen stieg um +0,24 und +0,44<br />
°C pro Jahrzehnt. Auch die jährlichen<br />
Höchst- und Tiefsttemperaturen stiegen<br />
KLIMAKRISE MACHT AMEISEN AGGRESSIVER<br />
im Beobachtungszeitraum signifikant<br />
und die warmen Perioden wurden deutlich<br />
länger. „Neu ist eine generelle und<br />
erhebliche Erwärmung beider Gewässer<br />
in den Wintermonaten. So steigen die<br />
winterlichen Temperaturen zumindest<br />
ähnlich schnell wie jene im Sommer“, erläutert<br />
der Ökologe. Dabei zeigt besonders<br />
das letzte Jahrzehnt einen starken<br />
Anstieg der niedrigsten und höchsten<br />
Wassertemperaturen pro Jahr, welcher<br />
mit dem Anstieg der lokalen Lufttemperaturen<br />
korreliert. „Vor allem aufgrund<br />
der neu aufgezeigten Erwärmung der Gewässer<br />
im Winter müssen wir von drastischen<br />
Auswirkungen auf die winterliche<br />
Entwicklung von Kaltwasserorganismen<br />
wie beispielsweise der Bachforelle ausgehen“,<br />
sagt der Ökologe.<br />
Feindselig durch Hitze: Durch die Klimakrise hervorgerufene Effekte wie höhere Temperaturen<br />
und mehr Stickstoff im Boden führen zu stärkerer Aggressivität unter Ameisen-Kolonien.<br />
Das zeigt ein Team um die Inns brucker Ökolog:innen Patrick Krapf, Birgit C.<br />
Schlick-Steiner und Florian M. Steiner von der <strong>Forschung</strong>sgruppe Molekulare Ökologie am<br />
Beispiel der weit verbreiteten Ameise Tetramorium alpestre an acht hochalpinen Standorten<br />
in Österreich, Italien, Frankreich und der Schweiz. „Neben der erhöhten Lufttemperatur<br />
beobachten wir auch einen Zusammenhang zwischen Stickstoffgehalt in den Arbeiterinnen<br />
und im Boden und der Feindseligkeit. Die Stickstoffverfügbarkeit ist vermutlich auch<br />
aufgrund des ökologischen Wandels durch die Klimakrise in Böden erhöht“, schildert Krapf.<br />
„Da Ameisen sehr wichtige Ökosystemdienstleister sind, ist ein besseres Verständnis der<br />
Folgen des globalen Wandels von großer Bedeutung.“<br />
LUFTGÜTE: LEHRMEINUNG<br />
MUSS REVIDIERT WERDEN<br />
Ein internationales Team um Thomas Karl<br />
(im Bild) vom Institut für Atmosphärenund<br />
Kryosphärenwissenschaften hat die<br />
Chemie von Ozon, Stickstoffmonoxid und<br />
Stickstoffdioxid im urbanen Raum detailliert<br />
analysiert. Dieser chemische Zyklus wurde<br />
vor über 60 Jahren im ersten Lehrbuch zur<br />
Luftverschmutzung von Philip Leighton mathematisch<br />
beschrieben und wird seither als<br />
Leighton-Beziehung bezeichnet. Computermodelle<br />
der Atmosphärenchemie nutzen die<br />
Leighton-Beziehung, um die Komplexität zu<br />
minimieren, indem sie die Konzentration von<br />
Ozon, Stickstoffmonoxid und Stickstoffdioxid<br />
aus der Konzentration der jeweils beiden<br />
anderen ableiten. In der Praxis dient dies<br />
zum Beispiel dazu, die Ozonkonzentration<br />
in Gebieten abzuleiten, die durch Stickoxide<br />
verschmutzt sind. Die Daten der Inns brucker<br />
Atmosphärenforscher zeigen nun, dass bei<br />
Vorhandensein von hohen Stickstoffmonoxid-<br />
Emissionen rechnerische Vereinfachungen,<br />
die Leighton vorgenommen hat, zu falschen<br />
Ergebnissen führen. „In Städten mit hohen<br />
Stickstoffmonoxid-Emissionen wird dieses<br />
Verhältnis um bis zu 50 Prozent überschätzt“,<br />
warnt Thomas Karl. „Dies führt dazu, dass<br />
Modellrechnungen die Konzentration von<br />
bodennahem Ozon im urbanen Raum<br />
überschätzen. Dies spiegelt sich auch in den<br />
Luftgütevorhersagen wider.“<br />
40 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: InnCubator<br />
Fotos: Georg Niedrist (1), Uni Inns bruck (1), Petra Thurner (1)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 41
SPRACHWISSENSCHAFT<br />
SPRACHWISSENSCHAFT<br />
TRUHEN, SPOREN UND DIE<br />
GOLDENE GEISSEL<br />
Anhand von Inventarlisten machen sich Forscher:innen der Universität Inns bruck daran,<br />
das Alltagsleben im Mittelalter zu entschlüsseln und sichtbar zu machen.<br />
Zu den sichtbarsten Spuren, die das<br />
Mittelalter hinterlassen hat, gehören<br />
Burgen. An vielen Orten Europas<br />
prägen sie das Stadt- oder Landschaftsbild,<br />
mal als kaum erkennbare Ruine, mal<br />
als vollkommen restaurierter Prachtbau.<br />
Wie so viele Orte aus der Vergangenheit<br />
laden sie zum Tagträumen ein. Wie sah es<br />
hier wohl vor genau 500 Jahren aus? Was<br />
haben die Menschen gedacht, die sich<br />
durch diese Räume und Gänge bewegt<br />
haben, wie haben sie gelebt?<br />
Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese<br />
Frage schwer zu beantworten, weil die<br />
damaligen Chronisten sich hauptsächlich<br />
für das Leben und Wirken von Männern<br />
interessiert haben. Außerdem schrieben<br />
sie eher über Ritter und den Adel und<br />
nicht unbedingt über das Leben der einfachen<br />
Leute, schon gar nicht auf Burgen.<br />
Das Bild von kämpfenden Rittern als<br />
Inbegriff des Mittelalters hat sich durch<br />
Filme, Romane, Kinderbücher und nicht<br />
zuletzt Spielzeug in der Popkultur festgesetzt.<br />
Eine <strong>Forschung</strong>skooperation der<br />
Universität Salzburg und der Universität<br />
Inns bruck versucht nun auf sehr originellem<br />
Weg, dieses Bild zu hinterfragen. Dafür<br />
analysieren die Wissenschaftler:innen<br />
Dokumente, die nicht weiter entfernt sein<br />
könnten von einer verklärten Mittelalterromantik.<br />
Nämlich Inventare.<br />
Sichtbare Beziehungen<br />
Burginventare sind, wie der Name bereits<br />
vermuten lässt, Listen, die alle vorhandenen<br />
Möbel und Gerätschaften auf Burgen<br />
dokumentieren. Im Tiroler Landesarchiv<br />
sind rund 240 solcher Inventare aus dem<br />
Mittelalter erhalten geblieben. Diese Listen<br />
sind aber mehr als eine bloße Aufzählung<br />
von Objekten. Denn sie liefern auch<br />
Information über Beziehungen, über Besitzverhältnisse<br />
und die Menschen, denen<br />
die Objekte gehörten oder die sie nutzten.<br />
Um dieses komplizierte Geflecht übersichtlich<br />
und analysierbar zu machen,<br />
bedarf es zunächst einer fachkundigen<br />
Aufbereitung der Daten aus den Tiroler<br />
Burgen. Diese Aufgabe fällt einem Team<br />
der Universität Inns bruck zu, unter der<br />
Leitung von Claudia Posch und Gerhard<br />
Rampl vom Institut für Sprachwissenschaft<br />
und Gerald Hiebel vom Institut<br />
für Archäologie und dem Digital Science<br />
Center. Diese haben gemeinsam schon<br />
mehrere interdisziplinäre Digital-Humanities-Projekte<br />
erfolgreich abgeschlossen<br />
und forschen zu linguistischen und semantischen<br />
Verfahren der Textaufbereitung<br />
und -analyse.<br />
„In den Inventaren finden sich oft<br />
Handlungen, die mit Dingen in Verbindung<br />
stehen“, erzählt Posch. „Zum Beispiel,<br />
dass ein bestimmter Gegenstand<br />
von einer Person an eine andere verschenkt<br />
wurde. Dann kann darüber eine<br />
Beziehung eingesehen werden. Oder ein<br />
Werkzeug, dass gerade nicht da ist, weil<br />
es jemand auf die Alm mitgenommen<br />
oder der Schmied es gebraucht hat. Wenn<br />
man den Fokus auf solche Details legt,<br />
kann man das Alltagsleben auf der Burg<br />
gut rekonstruieren.“<br />
Als erster Schritt steht hierbei die Transkription<br />
der mittelalterlichen Dokumente<br />
an. Dafür wird unter anderem die an<br />
der Universität Inns bruck mitentwickelte<br />
Software Transkribus verwendet, die<br />
durch künstliche Intelligenz Handschriften<br />
erkennen und digitalisieren kann.<br />
„Anschließend werden die digitalen Texte<br />
als Daten weiterverarbeitet“, erklärt<br />
Posch. „Dazu weisen wir den Textbausteinen<br />
semantische Informationen zu –<br />
zum Beispiel, ob etwas eine Person, ein<br />
Gegenstand, ein Tier oder eine Handlung<br />
ist. Dann können diese Begriffe mit Mindmaps<br />
visualisiert und miteinander in Beziehung<br />
gesetzt werden. Wenn ich dann<br />
anfrage, wo es auf einer Burg überall Truhen<br />
gab, kann mir ein Diagramm zeigen,<br />
in welchem Raum Truhen standen und<br />
wer mit ihnen zu tun hatte. Anschließend<br />
könnte ich mich zu jeder Person weiterklicken<br />
und ihr eigenes Beziehungsgeflecht<br />
einsehen.“<br />
Der Himmel sorgt für Verwirrung<br />
Zu der Textverarbeitung gehört auch<br />
die Erstellung eines sogenannten Thesaurus,<br />
einer Datenbank, in der einzelne<br />
Begriffe definiert werden – zum Beispiel<br />
der Gegenstand „Truhe“. Alle anderen<br />
Truhen, seien sie anders geschrieben<br />
DER ALLTAG auf Tiroler Burgen, wie<br />
Burg Ehrenberg bei Reutte (Bild links)<br />
stehen im Fokus der Arbeit von Claudia<br />
Posch und Christina Antenhofer<br />
(Bild rechts, v. r.). Sie untersuchen dafür<br />
Burginventare (Bild Mitte, Auszug eines<br />
Inventars der Burg Rattenberg).<br />
oder spezieller definiert, werden diesem<br />
„Überbegriff“ zugewiesen, sodass bei der<br />
Suche nach „Truhe“ auch wirklich alle<br />
gefunden werden können. Die dafür notwendige<br />
Vereinheitlichung ist mitunter<br />
sehr kompliziert. Die Projektleiterin an<br />
der Universität Salzburg, Christina Antenhofer,<br />
verweist dabei gerne auf den in<br />
den Inventaren häufiger vorkommenden<br />
Begriff „Himmel“. Gemeint ist damit ein<br />
Baldachin, wie er oft über Betten aufgespannt<br />
wurde. „Neben dem Betthimmel<br />
gab es allerdings auch einen Himmel für<br />
Tische und einen für Altäre, der während<br />
Prozessionen genutzt wurde. Um was<br />
für einen Himmel es sich also tatsächlich<br />
handelt, muss erst aus dem Kontext<br />
herausgearbeitet werden. Das hat uns oft<br />
verrückt gemacht“, sagt Antenhofer und<br />
muss lachen.<br />
Zu Antenhofers und Poschs besonderem<br />
Interesse zählt vor allem das Alltagsleben<br />
von Frauen auf der Burg, über<br />
das nicht viel überliefert ist. Obwohl das<br />
Projekt erst im Oktober 2022 startete, hat<br />
die Vorarbeit dazu bereits interessante Erkenntnisse<br />
zutage gefördert.<br />
„Zunächst kann man mit der Vorstellung<br />
aufräumen, dass es bestimmte Objekte<br />
gibt, die sich klar Frauen zuordnen<br />
lassen“, erklärt Antenhofer. „Dadurch<br />
wurden früher Räume oft falsch bestimmt<br />
und als exklusive Frauenräume definiert,<br />
weil sie zum Beispiel Kochgeschirr enthielten.<br />
Das ist absurd, weil auch Männer<br />
gekocht haben. Ein anderes Beispiel sind<br />
Reitersporen, die in der <strong>Forschung</strong> nur<br />
Männern zugewiesen werden. Wir konnten<br />
aber über Inventare nachweisen, dass<br />
auch Frauen Sporen besessen haben und<br />
diese so wie Männer zum Reiten benutzt<br />
haben. Generell muss man verstehen,<br />
dass Frauen im Mittelalter nicht abgeschlossen<br />
von der Männerwelt existierten,<br />
sondern viele Tätigkeiten sich mit denen<br />
von Männern überschnitten. Es gibt natürlich<br />
auch Frauen, die selbst Burgherrinnen<br />
waren, wenn ihnen Burgen etwa<br />
als Mitgift überschrieben wurden.“<br />
Aus dem Projekt sollen noch viel mehr<br />
Anwendungen entstehen, die auch für die<br />
Öffentlichkeit interessant und zugänglich<br />
sind. Dazu gehört eine 3D-Visualisierung<br />
ausgewählter Burgen unter der Leitung<br />
von Ingrid Matschinegg am Institut für<br />
Realienkunde des Mittelalters und der<br />
frühen Neuzeit der Universität Salzburg.<br />
In diese 3D-Burgenmodelle werden die<br />
Daten aus der Inventarforschung eingearbeitet<br />
und beleben damit das Innere der<br />
Burg.<br />
Auch der bereits erwähnte Thesaurus<br />
ist Teil eines viel größeren Vorhabens<br />
namens CIDOC CRM. Dieses Vorhaben<br />
der Digital Humanities wird von vielen<br />
verschiedenen <strong>Forschung</strong>sgruppen weltweit<br />
betreut und soll zu einem Thesaurus<br />
wachsen, der die gesamte Welt erfasst –<br />
nicht nur alle Dinge, die existieren, sondern<br />
alle Dinge, die jemals existiert haben,<br />
versehen mit einer eindeutigen ID, die unabhängig<br />
von Sprachen funktioniert. Eine<br />
Truhe aus einer englischen Burg könnte<br />
somit sofort auf eine Truhe in einer Tiroler<br />
Burg verweisen.<br />
Noch ein Nachtrag zu Truhen: Dass diese<br />
so oft in Inventaren erwähnt werden,<br />
liegt daran, dass Truhen im Mittelalter das<br />
Multifunktionsobjekt schlechthin waren.<br />
Sie wurden als Reisekoffer, Schrank, Tisch<br />
und Sitzgelegenheit genutzt. Hin und wieder<br />
tauchen in den Listen aber auch deutlich<br />
ausgefallenere Gegenstände auf.<br />
„Im Brautschatzinventar einer Fürstin<br />
habe ich einmal eine Geißel gefunden, die<br />
aus Silber und Gold bestand und mit Perlen<br />
besetzt war“, sagt Antenhofer. „Da<br />
frage ich mich immer noch, was genau<br />
damit gemacht wurde.“<br />
fo<br />
CLAUDIA POSCH forscht am Institut<br />
für Sprachwissenschaft der Universität<br />
Inns bruck. Ihre Schwerpunkte liegen in<br />
der digitalen Linguistik, Korpuslinguistik<br />
und feministischen Diskursanalyse. Sie<br />
ist Sprecherin der <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />
Language and Gender und Mitglied des<br />
<strong>Forschung</strong>szentrums Digital Humanities.<br />
42 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Claudia Posch (1), Tiroler Landesarchiv (1), Andreas Friedle (2)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 43
BERUFUNG<br />
GEFUNDEN.<br />
DREI VON FÜNF<br />
PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />
Die Universität Inns bruck ist in drei von fünf österreichischen<br />
Exzellenzclustern vertreten. Mit dem von Gregor Weihs koordinierten<br />
Exzellenzcluster für Quantenwissenschaften entsteht ein neues<br />
österreichweites Quantenphysik-Zentrum mit internationaler Strahlkraft.<br />
Gundula Ludwig<br />
Martin Hellbert<br />
Gemeinsam sind<br />
wir Uni!<br />
GUNDULA LUDWIG IST PROFESSORIN FÜR SOZIALWISSENSCHAFT-<br />
LICHE THEORIEN DER GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE UND LEITET DIE<br />
FORSCHUNGSPLATTFORM CENTER INTERDISZIPLINÄRE GESCHLECH-<br />
TERFORSCHUNG INNSBRUCK (CGI)<br />
Nicht nur als Professorin, sondern auch als Leiterin<br />
der <strong>Forschung</strong>splattform Center Interdisziplinäre<br />
Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) hat Gundula<br />
Ludwig alle Hände voll zu tun.<br />
Die Mit-Herausgeberin der einzigen feministischen<br />
politikwissenschaftlichen Zeitschrift im deutschsprachigen<br />
Raum verfolgt auch feministische, queere<br />
und antirassistische Aktivismen rund um den Globus<br />
aufmerksam: „Politischen Aktivismus und Formen<br />
gelebter Solidarität und Utopien finde ich beeindruckend<br />
und bestärkend – gerade in Zeiten, in denen<br />
sich die vielen Krisen dramatisch zuspitzen.“<br />
Wir denken weiter.<br />
Seit 1669<br />
MARTIN HELLBERT ARBEITET AM INSTITUT FÜR EXPERIMENTAL-<br />
PHYSIK. ALS LABORANT IST ER FÜR VORLESUNGSVORBEREITUNGEN<br />
UND PRAKTIKA ZUSTÄNDIG.<br />
Fragt man Martin Hellbert nach seiner Tätigkeit am<br />
Campus Technik, antwortet er bescheiden. „Eigentlich<br />
bin ich so richtig unscheinbar“, glaubt er, wobei er<br />
sich allerdings täuscht. Denn es gibt wohl kaum einen<br />
Physikstudierenden in Innsbruck, der ihn nicht zumindest<br />
vom Sehen kennt. Immerhin sind die von ihm<br />
vorbereiteten und teilweise selbst gebauten Physik-<br />
Versuche fixer Bestandteil ihres Studiums.<br />
Wissenschaftliches Interesse begleitet Martin Hellbert<br />
sein Leben lang. „Das hat eigentlich schon in der Kindheit<br />
angefangen“, erzählt er. „Der Grundstein ist wohl<br />
mit einem Chemiebaukasten gelegt worden – und von<br />
da an hat sich das entwickelt.“<br />
/uniinnsbruck<br />
www.uibk.ac.at/karriere<br />
Die Erwartungen an die neuen Exzellenzcluster<br />
sind hoch: Sie sollen langfristig<br />
<strong>Forschung</strong>sthemen auf internationalem<br />
Spitzenniveau in Österreich verankern<br />
und in der Entwicklung und Erweiterung<br />
ihres <strong>Forschung</strong>sfeldes international eine<br />
führende Rolle übernehmen. „Die Universität<br />
Inns bruck hat sich im hart umkämpften Wettbewerb<br />
um die neuen Exzellenzcluster hervorragend<br />
geschlagen“, freut sich Rektorin<br />
Veronika Sexl. „Unsere breite Beteiligung an<br />
den nun bewilligten Exzellenzclustern unterstreicht<br />
unsere führende Rolle als <strong>Forschung</strong>suniversität<br />
in Österreich.“<br />
Foto: FWF / Daniel Novotny<br />
Quantenwissenschaftszentrum<br />
Quantum Science Austria, der neue Exzellenzcluster<br />
für Quantenwissenschaften, wird vom<br />
Experimentalphysiker Gregor Weihs koordiniert:<br />
„Österreich hat sich in den vergangenen<br />
drei Jahrzehnten zu einem weltweit führenden<br />
Zentrum der Quantenphysik entwickelt.<br />
Das unterstreicht der Nobelpreis für Anton<br />
Zeilinger. Diese Entwicklung verdanken wir<br />
auch der immer schon sehr engen Zusammenarbeit<br />
der <strong>Forschung</strong>sgruppen in Österreich.<br />
Mit dem neuen Exzellenzcluster können<br />
wir diese Kooperationen weiter intensivieren<br />
und ein international sichtbares Zentrum der<br />
Quantenwissenschaften in Österreich etablieren,<br />
das die besten Köpfe nach Österreich<br />
locken wird“, sagt Gregor Weihs, Vizerektor<br />
für <strong>Forschung</strong>.<br />
Ein weiterer Exzellenzcluster widmet sich<br />
dem kulturellen Erbe Eurasiens. Von Mitteleuropa<br />
bis nach Asien entwickelte sich über<br />
drei Jahrtausende das „Eurasische Wunder“<br />
(Jack Goody), historische Transformationsprozesse,<br />
die bis in die moderne Zeit hineinwirken.<br />
Wachstum und Verfall von Imperien,<br />
Umweltveränderungen sowie Mobilität und<br />
Migration hatten Folgen für wirtschaftliche<br />
Entwicklungen und wurden bewältigt durch<br />
neue Identitätsdiskurse und Ausgrenzungsstrategien,<br />
auch religiöser Art. Die historischen<br />
Quellen aus dieser Zeit sind in einer<br />
Vielzahl von Sprachen und Schriften erhalten.<br />
Das kulturelle Erbe dieser Großregion harrt<br />
vielfach noch der Aufarbeitung und Analyse.<br />
Sechs Forschende der Universität Inns bruck<br />
um Robert Rollinger widmen sich gemeinsam<br />
mit den nationalen und internationalen Partnern<br />
diesen Themen.<br />
Julia Kunze-Liebhäuser ist Teil des Exzellenzclusters<br />
zu Materialien für Energiekonversion<br />
und Speicherung, in dem neue Technologien<br />
für effiziente Energieumwandlung<br />
und Energiespeicherung gesucht werden, um<br />
den Weg zu einer Gesellschaft ohne fossile<br />
Brennstoffe zu ebnen.<br />
DAS BOARD DES neuen<br />
Exzellenzclusters für Quantenwissenschaften<br />
(v. l.): Armando<br />
Rastelli (Uni Linz), Hannes-Jörg<br />
Schmiedmayer (TU Wien),<br />
Francesca Ferlaino (Uni Innsbruck/IQQOI),<br />
Gregor Weihs<br />
(Uni Inns bruck), Oriol Romero-<br />
Isart (Uni Inns bruck/IQOQI)<br />
und Markus Aspelmeyer (Uni<br />
Wien/IQOQI); nicht im Bild:<br />
Johannes Fink (IST)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 45
PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />
PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />
BESTE ARBEIT<br />
Die Professorin für<br />
klinische Pharmazie,<br />
Anita E. Weidmann,<br />
wurde vom International<br />
Journal of<br />
Clinical Pharmacy für<br />
das beste Paper des<br />
Jahres 2022 ausgezeichnet.<br />
In der Publikation analysiert Anita<br />
Weidmann vom Institut für Pharmazie, wie<br />
die Kompetenzen von klinischen Pharmazeutinnen<br />
und Pharmazeuten gestärkt werden<br />
können, die Allgemeinärztinnen und<br />
-ärzte unterstützen.<br />
WILHELM-BESSEL-FORSCHUNGSPREIS<br />
Der Informatiker<br />
Adam Jatowt erhielt<br />
von der Alexandervon-Humboldt-Stiftung<br />
den renommierten<br />
Wilhelm-Bessel-<br />
<strong>Forschung</strong>spreis. Im<br />
Sommer wird Jatowt<br />
einige Monate am Karlsruher Institut für<br />
Technologie (KIT) forschen. Adam Jatowt<br />
forscht zur Wissens- und Informationsgewinnung<br />
aus unstrukturierten Textsammlungen,<br />
etwa Nachrichtenartikeln<br />
oder Social-Media-Posts. Bei der European<br />
Conference on Information Retrieval (ECIR)<br />
in Dublin wurde Adam Jatowt im April für<br />
seinen Beitrag Temporal Natural Language<br />
Inference: Evidence-Based Evaluation of<br />
Temporal Text Validity mit dem Best Paper<br />
Award ausgezeichnet.<br />
WERNER-KRAUSS-PREIS<br />
Der Deutsche Hispanistenverband<br />
zeichnet alle zwei<br />
Jahre herausragende<br />
hispanistische Dissertationen<br />
aus, die<br />
an einer Universität<br />
im deutschen Sprachraum<br />
verfasst wurden. Teresa Millesi erhielt<br />
den Werner-Krauss-Preis <strong>2023</strong> für ihre Dissertation<br />
Por la vida, por el territorio. Die<br />
filmische Verhandlung territorialer Konflikte<br />
im indigenen Dokumentarfilm Lateinamerikas,<br />
die sie am Institut für Romanistik verfasste.<br />
Betreut wurde sie von Claudia Jünke<br />
und Birgit Mertz-Baumgartner. Die Arbeit<br />
ist im Vorjahr im Verlag transcript in der<br />
Reihe Postcolonial Studies unter dem Titel<br />
Filmischer Widerstand erschienen.<br />
DIE PREISTRÄGER:INNEN: Jannis Harjus, Christian Roos, Robert Rollinger, Thomas<br />
Magauer und Gina Moseley (v.l.)<br />
SÜDTIROLER<br />
FORSCHUNGSPREISE<br />
Der Wissenschaftspreis der Stiftung Südtiroler Sparkasse ging in<br />
diesem Jahr an Robert Rollinger. Vier weitere Forschende erhielten<br />
einen <strong>Forschung</strong>spreis der Stiftung.<br />
Robert Rollinger ist seit 2005 Professor<br />
für Alte Geschichte und<br />
Altorientalistik an der Universität<br />
Inns bruck und erhielt den Preis der<br />
Stiftung Südtiroler Sparkasse für sein<br />
wissenschaftliches Gesamtwerk. Der<br />
gebürtige Vorarlberger lehrt zu Kulturbeziehungen<br />
und Kulturkontakten zwischen<br />
den Kulturen des Alten Orients<br />
und des mediterranen Raumes und weist<br />
ein breit gefächertes Repertoire an <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />
auf. Diese liegen<br />
in den Kontakten zwischen Griechenland<br />
und dem Alten Orient, Altorientalischer<br />
Geschichte des 1. Jahrtausends v. Chr.,<br />
Geschichtsdenken, <strong>Forschung</strong>s- und<br />
Rezeptionsgeschichte, Antiker Historiografie,<br />
der Provinzialgeschichte Rätiens<br />
in der Spätantike, Antiker Ethnografie,<br />
den Achaimeniden, Imperiengeschichte<br />
sowie der Landschaftsgeschichte und<br />
Raumwahrnehmung. Rollinger ist Mitglied<br />
in zahlreichen internationalen Organisationen,<br />
<strong>Forschung</strong>sprojekten und<br />
Gremien, darunter der Österreichischen<br />
Akademie der Wissenschaften. Mit seiner<br />
Heimat Vorarlberg ist Rollinger auch<br />
wissenschaftlich stets verbunden geblieben.<br />
So wurde er 2<strong>01</strong>0 mit dem Wissenschaftspreis<br />
des Landes Vorarlberg ausgezeichnet<br />
und gehört unter anderem<br />
der wissenschaftlichen Jury des „Montafoner<br />
Wissenschaftspreises“ an.<br />
Den „Wissenschaftspreis für außergewöhnliche<br />
<strong>Forschung</strong>sleistung der Stiftung<br />
Südtiroler Sparkasse“ verleiht die<br />
Universität Inns bruck seit dem Jahr<br />
2008 im Namen der Stiftung Südtiroler<br />
Sparkasse. Weitere <strong>Forschung</strong>spreise<br />
gingen in diesem Jahr an den Chemiker<br />
Thomas Magauer, die Geologin Gina<br />
Moseley, den Experimentalphysiker<br />
Christian Roos und den Romanisten<br />
Jannis Harjus. <br />
LIECHTENSTEIN-PREIS<br />
Der Preis des Fürstentums Liechtenstein für wissenschaftliche<br />
<strong>Forschung</strong> an den beiden Inns brucker Universitäten wurde in<br />
diesem Jahr in Inns bruck verliehen.<br />
LIECHTENSTEINPREIS: Vizerektor Gregor Weihs, Regierungsrätin Dominique Hasler,<br />
die Preisträger:innen Gertraud Medicus, Matthias Neuner und Julian Schwärzler sowie<br />
Vizerektorin Christine Bandtlow (v. l., Preisträger Jonathan Singerton war verhindert).<br />
In diesem Jahr ging der Preis des<br />
Fürstentums Liechtenstein an Bauingenieurin<br />
Gertraud Medicus, den<br />
Techniker Matthias Neuner und den<br />
Historiker Jonathan Singerton von der<br />
Universität Inns bruck sowie den Mediziner<br />
Julian Schwärzler von der Medizinischen<br />
Universität. Die Urkunden<br />
überreichte Regierungsrätin Dominique<br />
Hasler in feierlichem Rahmen in der<br />
Claudiana in der Inns brucker Altstadt:<br />
„Als Bildungsministerin Liechtensteins<br />
ist die Verleihung dieses Preises für<br />
mich nicht nur eine Selbstverständlichkeit,<br />
sondern eine Herzensangelegenheit.<br />
Und ich sage Ihnen auch gerne,<br />
warum: Es ist die Wissenschaft, die an<br />
vorderster Front darum besorgt ist, dass<br />
sich unsere Gesellschaft immerzu weiterentwickelt.<br />
Es ist die Wissenschaft,<br />
die unter größtem Einsatz Antworten<br />
auf die vielen Herausforderungen der<br />
Gegenwart und <strong>Zukunft</strong> sucht und<br />
findet. Es ist die Wissenschaft, auf die<br />
die Menschheit letztlich auf eine ganz<br />
tiefgreifende, die Grundfesten ihrer<br />
Existenz betreffende Art und Weise angewiesen<br />
ist. Mit Preisvergaben wie der<br />
heutigen können wir dieser enormen<br />
Bedeutung Rechnung tragen und die<br />
Verdienste jener Menschen, die es als<br />
ihre Aufgabe verstehen, sich als Forscherinnen<br />
und Forscher in den Dienst<br />
aller zu stellen, angemessen würdigen“,<br />
betonte die Regierungsrätin. Der mit<br />
insgesamt 14. 000 Euro dotierte Preis<br />
wurde zu gleichen Teilen an die Ausgezeichneten<br />
übergeben.<br />
Der Vizerektor für <strong>Forschung</strong> der Universität<br />
Inns bruck, Gregor Weihs, hob<br />
bei der Verleihung die große Relevanz<br />
des Preises für die Inns brucker Forscherinnen<br />
und Forscher hervor: „Der Preis<br />
des Fürstentums Liechtenstein für wissenschaftliche<br />
<strong>Forschung</strong> motiviert unsere<br />
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />
zu weiteren Spitzenleistungen<br />
– er ist eine wertvolle Unterstützung<br />
wissenschaftlicher Karrieren, dafür danken<br />
wir dem Fürstentum Liechtenstein<br />
herzlich. Seit nunmehr 40 Jahren ist der<br />
prestigeträchtige Preis des Fürstentums<br />
Ausdruck großer Anerkennung für die<br />
<strong>Forschung</strong> an unserer Universität.“<br />
TOURISMUS-PREIS<br />
Der DGT-ITB Wissenschaftspreis<br />
für die<br />
beste Nachwuchsarbeit<br />
in der Kategorie<br />
Masterarbeit hat in<br />
diesem Jahr Mirjam<br />
Mischi von der Universität<br />
Inns bruck erhalten.<br />
In der ausgezeichneten Abschlussarbeit<br />
befasste sich die Preisträgerin mit den Auswirkungen<br />
der COVID-19-Krise auf die Familienstrukturen<br />
von Familienunternehmen.<br />
Sie untersuchte, wie das Virus zu Veränderungen<br />
in den Betrieben geführt hat. Die<br />
Ergebnisse zeigen, dass die Auswirkungen<br />
von COVID-19 auf das Familiensystem mit<br />
den Auswirkungen auf das Geschäftssystem<br />
zusammenhängen. Darüber hinaus betont<br />
die Arbeit die wichtige Rolle des Erhalts des<br />
sozialen Kapitals, der familiären Bindung und<br />
der Beziehung zu externen Stakeholdern. Betreut<br />
wurde die Arbeit von Birgit Pikkemaat<br />
vom Institut für Strategisches Management,<br />
Marketing und Tourismus.<br />
GORDON-MEMORIAL-SPEAKER<br />
Die Experimentalphysikerin<br />
Tracy<br />
Northup wurde im<br />
Mai als Gordon Memorial<br />
Speaker zur<br />
Conference on Lasers<br />
and Electro-Optics<br />
(CLEO) nach San Jose<br />
eingeladen. Die Einladung erinnert an den<br />
US-amerikanischen Quantenoptiker James<br />
Power Gordon, einen der Entwickler der<br />
ersten Mikrowellen-Laser. Vor Northup kam<br />
diese Ehre so bekannten Physikern wie Jeff<br />
Kimble, Mikhail Lukin und Paul Kwiat zu.<br />
THIRRING-PREIS<br />
Der Theoretische Physiker<br />
Hannes Pichler<br />
wurde mit dem diesjährigen<br />
Hans-und-<br />
Walter-Thirring-Preis<br />
gewürdigt. Er wurde<br />
für seine hervorragenden<br />
Arbeiten auf dem<br />
Gebiet der Quantenphysik geehrt. Die Auszeichnung<br />
wird von der Österreichischen<br />
Akademie der Wissenschaften verliehen<br />
und ist mit 4. 000 Euro dotiert. Pichler entwickelt<br />
neue Ansätze zur Realisierung von<br />
Quantencomputern und Quantensimulatoren.<br />
46 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Fotos: Uni Inns bruck (1), Gaio Photography (1), Privat (1), Deutscher Hispanistenverband (1)<br />
Fotos: Uni Inns bruck (1), privat (1), Diana Nöbl (1), M. R. Knabl (1)<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 47
ZWISCHENSTOPP INNS BRUCK<br />
SPRUNGBRETT INNS BRUCK<br />
WASSER VERSTEHEN<br />
RÜCKKEHR NACH INNS BRUCK<br />
Der Erziehungswissenschaftler Andreas Wernet beschäftigt sich gemeinsam mit Kolleg:innen<br />
an der Universität Inns bruck mit Fragen der universitären Lehrkultur.<br />
Andreas Wernet steht seit Längerem<br />
in wissenschaftlichem Austausch<br />
mit Kolleginnen und Kollegen des<br />
Instituts für Psychosoziale Intervention<br />
und Kommunikationsforschung. Nun<br />
war er zwei Monate als Gastprofessor in<br />
Inns bruck, um diese Zusammenarbeit<br />
zu vertiefen und eine dauerhafte Kooperation<br />
der Universitäten von Inns bruck<br />
und Hannover zu etablieren. Mit Tirol<br />
verbindet der Erziehungswissenschaftler<br />
aber auch Kindheitserinnerungen: „Aus<br />
Bergurlauben in meiner Kindheit habe ich<br />
die Stadt in lebhafter und eindrücklicher<br />
Erinnerung“, erzählt Wernet. „Ich kann<br />
mich auch noch daran erinnern, dass wir<br />
damals, Ende der 60er-Jahre, zur Europabrücke<br />
gefahren sind, um dieses Bauwerk<br />
zu bestaunen. Das Wort ‚Brenner‘ hat sich<br />
mir als Kind geradezu eingebrannt.“<br />
Universitäre Lehrkultur<br />
Wissenschaftlich beschäftigt sich Andreas<br />
Wernet mit Fragen der pädagogischen<br />
Professionalität, <strong>Forschung</strong>en zur<br />
unterrichtlichen Interaktion und Arbeiten<br />
zur Theorie und Praxis einer fallbasierten<br />
wissenschaftlichen Lehrer:innenbildung.<br />
Er interessiert sich auch für „unwahrscheinliche“<br />
Bildungsaufstiege,<br />
also für Fälle von Bildungserfolg, die<br />
unter sozial statistischer Perspektive<br />
nicht erwartbar, nicht selbstverständlich,<br />
nicht „in die Wiege gelegt“ sind. In Innsbruck<br />
hat Wernet zusammen mit Claudia<br />
Scheid und ihrem <strong>Forschung</strong>steam ein<br />
deutsch-österreichisches <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
konzipiert, das sich mit der Frage<br />
der universitären Lehrkultur beschäftigt.<br />
Dabei geht es vor allem um subjektive<br />
Deutungsmuster und Habituskonstellationen<br />
von Lehrenden in Bezug auf die<br />
Verbindung von <strong>Forschung</strong> und Lehre.<br />
„Daneben bin ich hier in Inns bruck meinem<br />
Interesse für Bildungsaufstiege und<br />
ihrem familialen Hintergrund nachgegangen“,<br />
erzählt Andreas Wernet. „Dazu<br />
habe ich zusammen mit Franziska Lessky,<br />
die über große <strong>Forschung</strong>serfahrungen<br />
im Kontext ‚First-in-Family‘ verfügt,<br />
bildungsbiografische Interviews mit Studierenden<br />
geführt und ausgewertet.“<br />
ANDREAS WERNET (*1960) ist einer<br />
der renommiertesten zeitgenössischen<br />
Forscher im Bereich der fallrekonstruktiven<br />
Bildungsforschung. Er ist seit 2007<br />
Professor für Schulpädagogik mit dem<br />
Schwerpunkt Schul- und Professionsforschung<br />
an der Leibniz-Universität-<br />
Hannover und war im März und April<br />
Gastprofessor am Institut für Psychosoziale<br />
Intervention und Kommunikationsforschung<br />
der Universität Inns bruck.<br />
Methodische Vertiefungen<br />
Die Studierenden profitierten von der<br />
großen Erfahrung des profilierten Wissenschaftlers<br />
in der fallrekonstruktiven<br />
Bildungsforschung. In einem Seminar<br />
zu qualitativen <strong>Forschung</strong>smethoden<br />
vermittelte Andreas Wernet den Studierenden<br />
grundlegende methodische<br />
Kenntnisse und machte die erkenntnislogische<br />
und forschungspraktische Differenzierung<br />
verschiedener methodischer<br />
Ansätze verständlich. Im Kontext einer<br />
bildungsbiografischen Fragestellung<br />
konnten die Studierenden selbst Interviews<br />
führen und einzelne Sequenzen<br />
transkribieren, die dann im Seminar mithilfe<br />
der Methode der Objektiven Hermeneutik<br />
gemeinsam interpretiert wurden.<br />
„Dieser konkrete <strong>Forschung</strong>sbezug ist<br />
mir in der Lehre deshalb wichtig, weil er<br />
einerseits die ‚faszinierende‘ Erfahrung<br />
von Erkenntnismomenten ermöglicht,<br />
andererseits aber auch die ‚frustrierende‘<br />
Limitiertheit empirisch begründeter<br />
Aussagen vor Augen führt“, sagt Andreas<br />
Wernet. „Wenn ich den Studierenden<br />
beides vermittelt konnte, bin ich sehr zufrieden.“<br />
„Für mich stellte die Gastprofessur in<br />
Inns bruck eine großartige Möglichkeit<br />
dar, meinen wissenschaftlichen Horizont<br />
zu erweitern, bestehende <strong>Forschung</strong>skontakte<br />
zu vertiefen und neue Kontakte<br />
zu knüpfen“, resümiert Andreas Wernet:<br />
„Das LFUI Guest Professorship Programm<br />
bot dafür eine außerordentliche Gelegenheit.“<br />
<br />
cf<br />
Die Physikerin Katrin Amann-Winkel hat zehn Jahre in Inns bruck die Eigenschaften von Wasser<br />
erforscht. Seit Kurzem ist sie Junior-Professorin an der Universität Mainz.<br />
Viele Eigenschaften von Wasser sind<br />
noch immer nicht verstanden, und<br />
es gibt sogar immer wieder neue<br />
Überraschungen, wie zum Beispiel die<br />
Entdeckung neuer, bisher unbekannter<br />
Eisformen. „Wasser spielt eine zentrale<br />
Rolle in Biologie, Meteorologie oder der<br />
Astrophysik“, sagt Katrin Amann-Winkel.<br />
„Grundlagenforschung in diesem<br />
Bereich ist wichtig, um alle Prozesse<br />
besser verstehen zu können.“ An der<br />
Universität Inns bruck hat die Wissenschaftlerin<br />
in den Arbeitsgruppen von<br />
Erwin Mayer und Thomas Loerting am<br />
Institut für Physikalische Chemie den<br />
Grundstein für ihre weitere <strong>Forschung</strong><br />
gelegt. Die Physikerin beschäftigte sich<br />
mit amorphem Eis, das sie mit speziellen<br />
experimentellen Methoden und unter<br />
Einsatz von hohem Druck und sehr niedrigen<br />
Temperaturen herstellte. So konnte<br />
sie zur weiteren Aufklärung der sehr<br />
unterschiedlichen Materiezustände von<br />
Wasser beitragen.<br />
Zwei Flüssigkeiten<br />
Mit dem Umzug an die Universität<br />
Stockholm im Jahr 2<strong>01</strong>4 verlagerte sich<br />
ihr <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt auf ultraschnelle<br />
Röntgenmessungen. „Dadurch<br />
haben sich für mich ganz neue experimentelle<br />
Möglichkeiten eröffnet“, erzählt<br />
die gebürtige Deutsche. „Diese<br />
Technologie steckte damals gerade erst<br />
in den Kinderschuhen. Es ist ein großes<br />
Privileg, diese Entwicklung miterleben<br />
zu dürfen.“ Die Experimente in Stockholm<br />
haben es ihr mithilfe ultraschneller<br />
Laser- und Röntgenpulse erlaubt, flüssiges<br />
Wasser in einem Temperaturbereich<br />
zu untersuchen, wo normalerweise nur<br />
kristallines Eis existiert. „Unsere Ergebnisse<br />
sind konsistent mit der Hypothese,<br />
dass Wasser aus zwei Flüssigkeiten besteht.<br />
Auch Thomas Loertings Gruppe<br />
hat neue Erkenntnisse über den Glasübergang<br />
im amorphen Eis gewinnen<br />
können. Gemeinsam mit neuartigen<br />
Computersimulationen von Gruppen<br />
aus Amerika und Italien deuten all diese<br />
Ergebnisse drauf hin, dass die Hypothese<br />
von den zwei Flüssigkeiten zutrifft,<br />
und könnten somit die Anomalien des<br />
Wassers erklären“, ist Katrin Amann-<br />
Winkel zuversichtlich.<br />
Sehnsucht nach den Bergen<br />
Mit der Inns brucker Arbeitsgruppe um<br />
Thomas Loerting steht die erfolgreiche<br />
Forscherin noch heute in regem Austausch.<br />
„Derzeit planen wir gemeinsame<br />
Messungen am DESY und dem European<br />
XFEL in Hamburg“, erzählt Katrin<br />
Amann-Winkel. Überhaupt erinnert sie<br />
sich gerne an ihre Zeit in Inns bruck zurück:<br />
„Ich vermisse die Berge und die<br />
schöne Aussicht aus meinem Büro auf<br />
die Nordkette.“<br />
cf<br />
KATRIN AMANN-WINKEL (*1977) hat<br />
an der Technischen Universität Darmstadt<br />
Physik studiert. 2004 kam sie an die<br />
Universität Inns bruck, um ihre Arbeit an<br />
Phasenübergängen in amorphem Eis fortzuführen.<br />
2009 promovierte sie in Chemie<br />
und blieb noch bis 2<strong>01</strong>4 als Inhaberin einer<br />
FWF-Hertha-Firnberg-Stelle in Inns bruck.<br />
Ihre Arbeiten hier wurden mehrfach ausgezeichnet,<br />
u.a. mit dem Fritz-Kohlrausch-<br />
Preis der ÖPG 2<strong>01</strong>4. Ende 2<strong>01</strong>4 zog sie<br />
mit ihrer Familie nach Schweden, um an<br />
der Universität Stockholm zu forschen und<br />
leitete dort ab 2<strong>01</strong>8 eine eigenständige<br />
<strong>Forschung</strong>sgruppe. 2021 wurde sie als<br />
Junior-Professorin an die Johannes-Gutenberg-Universität<br />
Mainz berufen, gefördert<br />
von der Carl-Zeiss-Stiftung. Seitdem ist sie<br />
als Gruppenleiterin auch am Max-Planck-<br />
Institut für Polymerforschung tätig.<br />
48 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: privat<br />
Foto: C. Costard<br />
zukunft forschung <strong>01</strong>/23 49
ESSAY<br />
DAS „UNCANNY VALLEY“ DER<br />
MITTELALTERREZEPTION<br />
Was kann man aus vermeintlich realistischen Computerspielen über das<br />
Mittelalter lernen und was nicht? Dieser Frage widmet sich Franziska Ascher.<br />
„Eine Simulation<br />
spiegelt den<br />
Wissensstand und<br />
damit auch die<br />
Weltsicht derer wider,<br />
die sie erschaffen<br />
haben.“<br />
FRANZISKA ASCHER (*1988<br />
in Landshut, Deutschland)<br />
studierte Germanistische<br />
Mediävistik, Neuere Deutsche<br />
Literatur und Psychologie<br />
an der Ludwig-Maximilians-<br />
Universität München. Ihr<br />
Doktoratsstudium, das sie<br />
an der Goethe-Universität<br />
Frankfurt und der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München<br />
absolvierte, schloss Ascher<br />
2020 ab. Seit 2021 forscht<br />
sie als Postdoc am Institut für<br />
Germanistik der Universität<br />
Inns bruck. Außerdem ist sie<br />
Herausgeberin von PAIDIA –<br />
Zeitschrift für Computerspielforschung<br />
und Mitbegründerin<br />
der Inns brucker <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />
Game Studies.<br />
Im Jahre 2<strong>01</strong>8 kam mit ‚Kingdom Come<br />
Deliverance‘ (KCD) ein Computerspiel auf<br />
den Markt, dessen größtes Feature die Abwesenheit<br />
eines Features war: keine Drachen<br />
oder Elfen! Stattdessen: beinharter Realismus.<br />
So zumindest wurde es beworben: „Ein realistisches<br />
First-Person RPG, das dich ins mittelalterliche<br />
Europa entführt.“<br />
KCD ist somit zwar kein Simulator, wie<br />
etwa der jährlich neu aufgelegte ‚Landwirtschafts-Simulator‘,<br />
hat aber den durchaus<br />
simulatorischen Anspruch, ein authentisches<br />
Bild des Mittelalters zu zeichnen. Eine Mittelalter-Simulation<br />
sozusagen. Doch kann KCD<br />
– oder irgendein Spiel – diesem Anspruch gerecht<br />
werden?<br />
Nüchtern betrachtet: Gemessen an der Realität<br />
muss eine Simulation immer defizitär erscheinen,<br />
denn Simulationen simulieren nicht<br />
ganzheitlich Realität, sondern bestimmte Aspekte<br />
davon. Doch ist das ein Makel?<br />
Stellen wir uns einen Flugsimulator vor,<br />
in dem es gelegentlich vorkommt, dass Spieler:innen<br />
mit ihrem Flugzeug ins Meer stürzen.<br />
Ist das Spiel deswegen in der Pflicht,<br />
ein komplettes Unterwasser-Ökosystem zu<br />
simulieren? Nein, denn es handelt sich ja um<br />
einen Flugsimulator. Es geht dem Spiel nicht<br />
um Korallenriffe, Meeresströmungen oder<br />
Fischschwärme – und eigentlich nicht einmal<br />
ums Abstürzen. Es geht darum, Spieler:innen<br />
einen möglichst realistischen Eindruck davon<br />
zu vermitteln, wie sich ein Flugzeug steuert.<br />
Die Zielsetzung bestimmt die Simulation.<br />
Außerdem spiegelt eine Simulation den<br />
Wissensstand (und das bedeutet auch die<br />
Weltsicht) derer wider, die sie erschaffen haben.<br />
Das lässt sich gut anhand von Spielen illustrieren,<br />
welche den Klimawandel thematisieren,<br />
denn sie können den Klimawandel maximal<br />
so weit simulieren, wie die <strong>Forschung</strong><br />
ihn versteht.<br />
Nun reden wir aber nicht von Simulation<br />
zu <strong>Forschung</strong>szwecken, sondern von Serious<br />
Games, die zwar Wissen vermitteln wollen,<br />
aber auch als Spiele attraktiv genug sein müssen,<br />
um Spieler:innen bei der Stange zu halten.<br />
Realismus kann der Tod des Spielspaßes sein,<br />
von daher ist Simulation in diesem Kontext<br />
vor allem ein Versprechen. Und zwar das Versprechen,<br />
man könne spielerisch – was auch für<br />
‚leicht‘ und/oder ‚lustvoll‘ steht – Erkenntnis<br />
über die ‚echte‘ Welt erlangen.<br />
Kann man also durch KDC etwas über das<br />
Mittelalter lernen? Etwas bestimmt. Es gelten<br />
jedoch die oben genannten Einschränkungen<br />
und so lernen wir vor allem etwas über das<br />
Mittelalterbild seiner Entwickler:innen. Allzu<br />
oft verbergen sich die ‚Ismen‘ der Gegenwart<br />
hinter einem vermeintlichen Authentizitätsanspruch,<br />
und gerade die mittelalterliche Mentalität<br />
– die zugegebenermaßen schwieriger als<br />
ein Paar Sandalen zu rekonstruieren ist – wird<br />
häufig vernachlässigt.<br />
Mittelhochdeutsche Epen haben wenig Beweiskraft,<br />
was die Lebensrealität mittelalterlicher<br />
Menschen angeht. Doch sie sagen uns<br />
viel über die Ideale und Träume der Menschen<br />
von damals. Und die können Befremden auslösen,<br />
wenn man in das Uncanny Valley der<br />
Mittelalterrezeption fällt: Auf den ersten Blick<br />
scheint alles vertraut und gar nicht so anders<br />
als heute. Liebe, Hass, Familie, Freundschaft<br />
– das sind universelle Konzepte, die man zu<br />
kennen glaubt. Doch in dem Moment, da der<br />
mittelalterliche Text eine fremde Mentalität<br />
offenbart und einem klar wird, dass das, was<br />
man für eine anthropologische Konstante gehalten<br />
hat, vor nicht einmal 1. 000 Jahren noch<br />
anders aussah, ist der Schock nur umso größer.<br />
Die eigene Kultur erscheint plötzlich wie<br />
eine fremde.<br />
Das Mittelalter, wie es uns aus mittelalterlichen<br />
Texten entgegentritt, überrascht einen<br />
immer wieder – mal im positiven, mal im<br />
negativen Sinne. Es ist, bei aller Vertrautheit,<br />
anders. Nicht nur anders als die Gegenwart,<br />
sondern vor allem anders als unsere populären<br />
Imaginationen des Mittelalters.<br />
Was viele ‚Mittelalter-Simulationen‘ aktuell<br />
nicht leisten, ist, diese Andersartigkeit erfahrbar<br />
zu machen. Und dafür ist es völlig zweitrangig,<br />
ob in einem Spiel Drachen vorkommen<br />
oder nicht.<br />
50 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Thomas Mauer<br />
SOS-Kinderdorf dankt KULTIG für die kostenlose Einschaltung!
WISSENSCHAFT<br />
BRAUCHT RAUM<br />
Mit seiner inspirierenden Architektur, der<br />
Wandlungsfähigkeit und der State-of-the-<br />
Art-Technik eröffnet Congress Innsbruck<br />
neue Freiräume für Wissenschaft und <strong>Forschung</strong>.<br />
Das Haus bietet Platz für bis zu<br />
2.500 Teilnehmer:innen. Es befindet sich<br />
inmitten der Universitäts- und Wissensstadt<br />
Innsbruck, die sich durch ihr alpin-urbanes<br />
Flair auszeichnet.<br />
ALPIN. URBAN.<br />
INSPIRIEREND.<br />
cmi.at<br />
52 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />
Foto: Andreas Friedle