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Zukunft Forschung 01/2023

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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Ausgabe 1/<strong>2023</strong>, 15. Jg.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong> | 23<br />

zukunft<br />

forschung<br />

MODELLE &<br />

MÖGLICHKEITEN<br />

thema: simulationen in der wissenschaft | religion: exorzismus in der kirche<br />

inventare: alltagsleben im mittelalter | ökonomie: am puls der geldpolitik<br />

geschichte: der bergbau in tirol | biologie: abwehrtraining gegen krebs<br />

DAS MAGAZIN FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK


EDITORIAL<br />

SICHERHEIT & GRIP<br />

im Taschenformat<br />

nur 320 g (pro Paar, Größe M)<br />

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,<br />

Ob beim Queren von Altschneefeldern im Frühsommer oder auf<br />

rutschigem Untergrund — Spikes verleihen erhöhte Sicherheit.<br />

Daher sollten sie in keinem Rucksack fehlen!<br />

Sie halten die 30. Ausgabe unseres <strong>Forschung</strong>smagazins<br />

ZUKUNFT FORSCHUNG in Händen. Seit fünfzehn Jahren<br />

berichtet die Universität Inns bruck darin über aktuelle<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekte, rückt interessante Persönlichkeiten und gesellschaftlich<br />

relevante Themen in den Fokus und präsentiert<br />

sich in ihrer ganzen beeindruckenden Vielfalt. Diese lernen wir<br />

als neues Leitungsteam derzeit ebenso kennen wie die Herausforderungen<br />

in verschiedenen Bereichen und auf gesamtuniversitärer<br />

Ebene. Wie wir die anstehenden Aufgaben gemeinsam<br />

mit allen Uni-Angehörigen bewältigen und in welche Richtung<br />

wir die Universität leiten wollen, erfahren Sie in einem ausführlichen<br />

Interview in diesem Heft.<br />

Thematisch rückt die vorliegende Ausgabe Disziplinen und<br />

<strong>Forschung</strong>svorhaben in den Mittelpunkt, in denen mit Computersimulationen<br />

und Modellrechnungen gearbeitet wird: zum<br />

Beispiel um den Einsatz von vielversprechenden metallorganischen<br />

Verbindungen zu optimieren, typische Bewegungs- und<br />

Verletzungsmuster besser zu verstehen oder auch um quantenphysikalische<br />

Phänomene zu studieren, die in der Realität nicht<br />

beobachtbar sind. Aber auch an der Weiterentwicklung chirurgischer<br />

Simulationen und an passenden Materialmodellen<br />

Minion<br />

für<br />

das Bauen am Meeresgrund arbeiten unsere Wissenschaftler:innen.<br />

DE<br />

Darüber hinaus vermitteln wir, wie gewohnt, spannende Einblicke<br />

in die große disziplinäre Bandbreite und blicken stolz auf<br />

PEFC zertifiziert<br />

Erfolge wie die Beteiligung der Universität Inns bruck an drei<br />

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stammt aus<br />

von fünf neu genehmigten, österreichischen Exzellenz-Clustern.<br />

Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!<br />

nachhaltig<br />

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Wäldern und<br />

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VERONIKA SEXL, REKTORIN<br />

GREGOR WEIHS, VIZEREKTOR FÜR FORSCHUNG<br />

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IMPRESSUM<br />

Herausgeber & Medieninhaber: Leopold-Franzens-Universität Inns bruck, Christoph-Probst-Platz, Innrain 52, 6020 Inns bruck, www.uibk.ac.at<br />

Projektleitung: Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturservice – Mag. Uwe Steger (us), Mag. Eva Fessler (ef), Dr. Christian Flatz (cf); publicrelations@uibk.ac.at<br />

Verleger: KULTIG Werbeagentur KG – Corporate Publishing, Maria-Theresien-Straße 21, 6020 Inns bruck, www.kultig.at<br />

Redaktion: Mag. Melanie Bartos (mb), Mag. Andreas Hauser (ah), Mag. Stefan Hohenwarter (sh), Lea Lübbert, BSc (ll) Lisa Marchl, MSc (lm),<br />

Fabian Oswald, MA (fo), Mag. Susanne Röck (sr) Lektorat & Anzeigen: MMag. Theresa Koch Layout & Bildbearbeitung: Mag. Andreas<br />

Hauser, Florian Koch Fotos: Andreas Friedle, Universität Inns bruck Druck: Gutenberg, 4021 Linz<br />

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2Empfohlen zukunft forschung von: <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

Foto: Uni Inns bruck<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 3


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

8<br />

QUANTENPHYSIK. Francesca Ferlaino forscht an ultrakalten Quantengasen.<br />

Diese bilden die Basis für Experimente, um Effekte zu<br />

simulieren, die wir in der Alltagswelt nicht beobachten können. 8<br />

MATHEMATIK. Robert Eberle definiert die Eigenschaften<br />

menschlicher Knochen in Computersimulationen neu. 12<br />

INFORMATIK. Die <strong>Forschung</strong>sgruppe Interaktive Grafik und<br />

Simulation entwirft komplexe Modelle, mit denen medizinische<br />

Eingriffe in der Virtuellen Realität geübt werden können. 14<br />

CHEMIE. Thomas Hofer arbeitet an Methoden zur Simulation<br />

von metallorganischen Verbindungen, um den Einsatz dieser<br />

zukunftsweisenden Materialklasse zu optimieren. 16<br />

GEOTECHNIK. Gertraud Medicus konzentriert sich auf<br />

Materialmodelle, um mit ihnen das mechanische Verhalten von<br />

Böden mathematisch zu beschreiben.18<br />

TITELTHEMA. Mithilfe von Simulationen erforschen<br />

Inns brucker Wissenschaftler:innen komplexe Phänomene,<br />

testen Hypothesen und treffen Vorhersagen.<br />

Wie und in welchen Disziplinen, damit beschäftigt<br />

sich diese Ausgabe von ZUKUNFT FORSCHUNG.<br />

26<br />

FORSCHUNG<br />

STANDORT. Rektorin Veronika Sexl und Vizerektor Gregor Weihs<br />

über die Aufgaben einer modernen Universität, die Flexibilisierung<br />

des Bologna-Modells, die Herausforderung Infrastruktur und<br />

wissenschaftliche Nachwuchsarbeit. 24<br />

MEDIZIN. Die Bioinformatikerin Francesca Finotello analysiert<br />

DNA-Sequenzierungs daten und schafft die Voraussetzungen für<br />

erfolgreiche personalisierte Krebstherapie. 30<br />

GESCHICHTE. Im Spätmittelalter war Tirol eines der<br />

wichtigsten Bergbauzentren Europas. Der Abbau von<br />

Kupfer, Silber und Salz bedeutete Arbeit für Tausende<br />

Menschen, belastete aber auch die Natur.<br />

34<br />

ÖKOLOGIE. Der Gletscherrückgang beraubt hochalpine Tierarten<br />

ihres Lebensraums. Ökologe Leopold Füreder plädiert daher für die<br />

Ausweitung von Schutzzonen auf die Gletschervorfelder. 32<br />

RELIGION. Nicole Bauer untersucht den Umgang mit Exorzismus<br />

in der römisch-katholischen Kirche. 36<br />

SPRACHWISSENSCHAFT. Anhand von Inventarlisten machen sich<br />

Forscher:innen der Universität Inns bruck daran, das Alltagsleben<br />

im Mittelalter zu entschlüsseln und sichtbar zu machen. 42<br />

WIRTSCHAFT. Maximilian Breitenlechner beschäftigt<br />

sich mit Konjunkturzyklen und zieht aus enormen<br />

Datensätzen Rückschlüsse daraus, wie unser<br />

Wirtschaftssystem funktioniert – oder auch nicht.<br />

RUBRIKEN<br />

EDITORIAL/IMPRESSUM 3 | BILD DER WISSENSCHAFT: OTHMAR ZEILLER 4 | NEUBERUFUNG: ANNETT SCHIRMER 6 | FUNDGRUBE VERGANGENHEIT: 160 JAHRE „DAS PFLANZENLEBEN DER<br />

DONAULÄNDER“ VON ANTON KERNER 7 | MELDUNGEN 22 + 29 + 41 | WISSENSTRANSFER 38 – 40 | PREISE & AUSZEICHNUNGEN 45 – 47 | ZWISCHENSTOPP: ANDREAS WERNET 48 |<br />

SPRUNGBRETT INNSBRUCK: KATRIN AMANN-WINKEL 49 | ESSAY: DAS „UNCANNY VALLEY“ DER MITTELALTERREZEPTION von Franziska Ascher 50<br />

BILD DER<br />

WISSENSCHAFT<br />

Auguste Rodin hat seinen „Denker“ für die Aufstellung im öffentlichen<br />

Raum 1904 eigens monumentalisiert. Anders Othmar Zeiller (1868 –<br />

1921), der – wahrscheinlich zeitgleich – die Verkleinerung erprobte: Seine<br />

Kleinskulptur ist 1,7 cm groß, mit Sockel 10,7 cm. Sie ist eine von<br />

vielen Figuren, die unter der Projektleitung von Annette Steinsiek vom<br />

<strong>Forschung</strong>sinstitut Brenner-Archiv für einen virtuellen Katalog zusammengetragen<br />

und rundum fotografiert werden, um diesen ungewöhnlichen<br />

Bildhauer der Betrachtung und der <strong>Forschung</strong> zu empfehlen. Das Holzscheit<br />

zeigt, wie limitiert der Raum ist, in dem Zeiller seine Figuren belebte.<br />

Manche hat er auch in Bronze gegossen, winzige Kostbarkeiten.<br />

Fotos: Andreas Friedle (2), TLMF / Dip. 856 / Tafel 3; COVERFOTO: Andreas Friedle; BILD DER WISSENSCHAFT: Udo Haefeker<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 5


NEUBERUFUNG<br />

FUNDGRUBE VERGANGENHEIT<br />

EIN LEBEN FÜR DIE PFLANZEN<br />

Die umgangssprachliche „Stressachse“<br />

im menschlichen Körper<br />

bezeichnet die Wechselwirkung<br />

zwischen drei Organen und ist Hauptteil<br />

des Hormonsystems, das unsere<br />

Reaktion auf Stress reguliert. Wissenschaftlich<br />

heißt die Stressachse HPA-<br />

Achse, nach den (englischen) Namen<br />

der drei betroffenen Organe: Hypothalamus,<br />

Hypophyse und Nebennierenrinde.<br />

Wissenschaftler:innen der McGill<br />

University in Kanada haben vor mehreren<br />

Jahren im Versuch mit Ratten nachweisen<br />

können, dass Körperkontakt im<br />

Babyalter unmittelbar Auswirkungen<br />

auf Rezeptoren in der HPA-Achse hat:<br />

Ratten, die viel Körperkontakt hatten,<br />

waren als erwachsene Ratten deutlich<br />

stressresistenter und auch sozial motivierter<br />

als andere.<br />

„Dieses Ergebnis fand ich sehr spannend<br />

– in den Ratten konnten sogar epigenetische<br />

Veränderungen nachgewiesen<br />

werden, durch Körperkontakt im<br />

Babyalter“, sagt Annett Schirmer vom<br />

Institut für Psychologie. Sie forscht zu<br />

zwischenmenschlicher Berührung und<br />

der Auswirkung von Berührungen auf<br />

Emotionen und Sozialverhalten. „Nun<br />

stellt sich natürlich die Frage, ob das<br />

auch bei Menschen nachgewiesen werden<br />

kann, und falls ja, ob die Beobachtung<br />

nur bei Babys zutrifft oder ob auch<br />

Erwachsene profitieren könnten.“ Dazu<br />

hat Schirmer mit ihrem Team Mütter<br />

mit ihren drei- bis fünfjährigen Kleinkindern<br />

eingeladen und auf Video aufgenommen.<br />

„Wir haben gezählt, wie oft<br />

die Mutter ihr Kind berührt, und uns<br />

danach angesehen, wie ausgeprägt das<br />

Sozialverhalten der Kinder ist und wie<br />

der Entwicklungsstand von Strukturen<br />

im Gehirn ist, die Emotionen und das<br />

Sozialverhalten unterstützen.“ Das Ergebnis<br />

deckte sich mit dem Tierversuch<br />

aus Kanada: Kinder, die viele Berührungen<br />

erfahren haben, konnten Emotionen<br />

besser erkennen, haben sich eher nach<br />

sozialen Stimuli in ihrer Umgebung<br />

orientiert und hatten mehr Aktivität<br />

und eine höhere Vernetzung in Gehirnstrukturen,<br />

die mit der Verarbeitung<br />

von emotionalen und sozialen Reizen<br />

zusammenhängen.<br />

ANNETT SCHIRMER studierte an<br />

der Universität Leipzig Psychologie und<br />

promovierte am dortigen Max-Planck-Institut<br />

für Kognitions- und Neurowissenschaften.<br />

2004 zog sie in die USA und<br />

trat an der University of Georgia ihre<br />

erste Professur an. 2006 wechselte sie an<br />

die National University of Singapore und<br />

2<strong>01</strong>7 an die Chinese University of Hong<br />

Kong. Seit September 2022 leitet sie die<br />

Abteilung für Allgemeine Psychologie II:<br />

Emotion und Motivation am Institut für<br />

Psychologie der Universität Inns bruck.<br />

SOZIALER DURCH BERÜHRUNG<br />

Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Annett Schirmer<br />

erforscht, wie zwischenmenschliche Berührungen Emotionen und Sozialverhalten formen.<br />

In einem künftigen Projekt will Annett<br />

Schirmer nun Erwachsene über längere<br />

Zeiträume näher untersuchen und erheben,<br />

ob der Einfluss von Berührungen<br />

auf die Funktionsweise des Gehirns auch<br />

im Erwachsenenalter noch vorhanden ist.<br />

„Es wäre großartig, wenn diese Plastizität<br />

im Gehirn bleibt und man, sehr einfach<br />

formuliert, Menschen durch Berührung<br />

sozialer machen oder sie bei der<br />

Stressregulation unterstützen könnte.“<br />

Schirmers Ziel ist, Methoden über Sensoren<br />

auf der Haut oder mittels 3D-Videotechnik<br />

zu entwickeln, die es erlauben,<br />

zwischenmenschliche Berührung im Alltag<br />

zu messen und diese mit Hirnscans<br />

zu vergleichen: „Wir arbeiten gerade an<br />

entsprechenden Anträgen und an der<br />

technischen Umsetzung.“ Kurzfristige<br />

Effekte bei Erwachsenen konnte Schirmer<br />

bereits nachweisen: Menschen sind empfänglicher<br />

für Emotionen von anderen,<br />

nachdem sie sanft berührt oder gestreichelt<br />

wurden. „Diesen kurzfristigen Effekt<br />

sehen wir im EEG. Nun interessiert<br />

mich aber, ob es auch langfristige Effekte<br />

gibt“, erklärt die Forscherin. sh<br />

Vor 160 Jahren erschien in Inns bruck Das Pflanzenleben der Donauländer, das Hauptwerk des<br />

Botanikers Anton Kerner, dem Begründer der modernen kausalanalytischen Pflanzengeografie.<br />

Schon als Jugendlicher begeisterte<br />

sich Anton Kerner für Botanik, mit<br />

seinem Bruder Josef durchstreifte er<br />

die Natur rund ums heimatliche Mautern.<br />

Als Studienfach jedoch wählte er – auf<br />

Drängen seines Vaters – die Medizin, zumindest<br />

unter Einschluss der Botanik,<br />

der er sich zudem in der 1851 in Wien gegründeten<br />

zoologisch-botanischen Gesellschaft<br />

widmete. Nach Abschluss des Studiums<br />

1854 beschäftigte sich Kerner mit<br />

medizinischer Pflanzenkunde, orientierte<br />

sich neu und wurde Lehrer für Naturgeschichte<br />

an der Oberrealschule in Ofen,<br />

1858 dann Professor am dortigen Josefs-<br />

Polytechnikum, der heutigen Technischen<br />

und Wirtschaftswissenschaftlichen Universität<br />

Budapest. In dieser Zeit befasste<br />

sich Kerner intensiv mit der pannonischen<br />

Flora und unternahm Expeditionen<br />

in die Gebirge Siebenbürgens. Doch die<br />

politischen Spannungen in Ungarn, die<br />

Anfeindungen der Deutschen belasteten<br />

den Forscher, die zu besetzende Professur<br />

für Naturgeschichte an der Universität<br />

Inns bruck eröffnete ihm einen Ausweg.<br />

Die Jahre in Tirol waren für Kerner<br />

die wissenschaftlich fruchtbarste Zeit,<br />

er konnte sich zur Gänze auf botanische<br />

<strong>Forschung</strong>en konzentrieren. Er durchwanderte<br />

die Tiroler Bergwelt und begann,<br />

morphologische Differenzierung<br />

mit Areal und Standort zu verbinden. Am<br />

Blaser – ein Berg bei Trins im Gschnitztal<br />

– legte er auf 2. 200 Meter einen alpinen<br />

Versuchsgarten an, um den Einfluss der<br />

Seehöhe auf Pflanzen zu untersuchen.<br />

Mit der Professur verbunden war auch<br />

die Leitung des Botanischen Gartens,<br />

damals im Bereich der heutigen Angerzellgasse<br />

gelegen. Kerner gestaltete den<br />

Garten neu und ordnete ihn aufgrund<br />

seiner Beobachtungen im Gelände nach<br />

pflanzengeografischen Kriterien – Beete<br />

in acht Gruppen entsprachen en miniature<br />

den Hauptmassiven der Tiroler Bergwelt.<br />

Kerner ließ dafür Gesteine der einzelnen<br />

Gebirgszüge heranschaffen und gruppierte<br />

darauf Alpenpflanzen. Dieses Alpinum<br />

fand internationale Beachtung, diente der<br />

<strong>Forschung</strong> und vermittelte der Bevölkerung<br />

Wissen über die heimische Pflanzenwelt.<br />

International beachtet<br />

1863 erschien mit Das Pflanzenleben der<br />

Donauländer sein wissenschaftliches<br />

Hauptwerk, ein Jahr darauf Die Cultur<br />

der Alpenpflanzen. Mit seinen <strong>Forschung</strong>en<br />

machte sich Kerner zu einem der<br />

Begründer der Pflanzensoziologie. Seine<br />

Arbeit Die Schutzmittel der Blüthen gegen<br />

unberufene Gäste (1876), in der Kerner die<br />

„Selektionsvorteile“ bietenden Eigentümlichkeiten<br />

im Bau der Blüten untersuchte,<br />

stieß auf internationales Interesse, kein<br />

geringerer als Charles Darwin gratulierte<br />

ihm zu diesen <strong>Forschung</strong>en.<br />

Im Laufe der Inns brucker Jahre lehnte<br />

Anton Kerner (ab 1877 von Marilaun) einige<br />

Berufungen an andere Universitäten<br />

ab, jene 1878 an die Universität Wien – in<br />

Kombination mit der Direktion des dortigen<br />

Botanischen Gartens – nahm er aber<br />

an. In den 1880er-Jahren wurde ihm<br />

schließlich eine besondere Ehre zuteil.<br />

Das Bibliographische Institut, ein Verlag<br />

in Leipzig, suchte für seinen Bestseller<br />

„Brehms Tierleben“ eine floristische Ergänzung<br />

und wurde dabei auf die anschaulichen<br />

Beschreibungen in Das Pflanzenleben<br />

der Donauländer aufmerksam.<br />

Kerner erhielt den Auftrag. Zu seinem 60.<br />

Geburtstag erschien das zweibändige<br />

Pflanzenleben, das den Autor im deutschsprachigen<br />

Raum nun auch einem breiten<br />

Publikum bekannt machte. ah<br />

ANTON KERNER (1831 – 1898) studierte<br />

Medizin in Wien und promovierte 1854.<br />

1860 wurde er als Professor für Naturgeschichte<br />

an die Universität Inns bruck berufen.<br />

Anfangs umfasste der Lehrstuhl die<br />

gesamte belebte und unbelebte Natur. Mit<br />

Camil Heller (1863, Zoologie) und Adolf<br />

Pichler (1867, Mineralogie und Geognosie)<br />

kam es zur Dreiteilung des Faches, Kerner<br />

konnte sich auf die Botanik konzentrieren.<br />

1878 wurde er als Ordinarius und Direktor<br />

des Botanischen Gartens an die Universität<br />

Wien berufen. Ein Jahr zuvor war<br />

Kerner in den Adelsstand erhoben worden<br />

(„von Marilaun“). Sein selbst gestaltetes<br />

Wappen schmückte die Uraurikel Primula<br />

pubescens. Kerner erkannte als erster, dass<br />

es sich bei dieser seit Langem bekannten<br />

Garten-Primel, die er im Tiroler Gschnitztal<br />

(wieder)fand, um eine Naturhybride aus<br />

der Aurikel (Primula auricula) und der<br />

Behaarten Primel (Primula hirsuta) handelt.<br />

Unter anderem darauf gründete sich der<br />

evolutionstheoretische Ansatz Kerners,<br />

dass Artbastarde die Grundlage von Variabilität<br />

und Entstehung neuer Arten sind.<br />

6 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

Foto: Archiv der Universität Wien / Fritz Bopp<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 7


ÜBERRASCHENDE<br />

ANTWORTEN<br />

Francesca Ferlaino arbeitet in ihrem Labor mit ultrakalten Quantengasen aus<br />

Erbium und Dysprosium. Diese bilden die Basis für Experimente, mit denen<br />

Eigenschaften der Materie im Detail untersucht werden können und die Effekte<br />

simulieren, die wir in der Alltagswelt nicht beobachten können.<br />

8 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 9


TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

IM JAHR 2021 untersuchte<br />

das Team um Francesca Ferlaino<br />

detailliert den Lebenszyklus<br />

von suprafesten Zuständen in<br />

einem dipolaren Gas von Dysprosium-Atomen.<br />

Unerwarteter<br />

Weise beobachteten die<br />

Physiker:innen dabei, dass ein<br />

Temperaturanstieg die Entstehung<br />

von suprafesten Strukturen<br />

fördert. Gemeinsam mit<br />

der dänischen Theoriegruppe<br />

um Thomas Pohl (Aarhus<br />

University) entwickelten die<br />

Inns brucker Forscher:innen<br />

ein theoretisches Modell, dass<br />

die experimentellen Ergebnisse<br />

erklären kann und die<br />

These unterstreicht, dass ein<br />

Erwärmen der Quantenflüssigkeit<br />

zur Ausbildung eines<br />

Quantenkristalls führen kann.<br />

Die Arbeit wurde <strong>2023</strong> in<br />

Nature Communications veröffentlicht.<br />

Erbium und Dysprosium mögen zwar relativ<br />

selten sein, für Francesca Ferlaino<br />

spielen sie aber die Hauptrolle. Im Gegensatz<br />

zu den Alkalimetallen Natrium und<br />

Rubidium, mit denen vor rund 30 Jahren die<br />

ersten Quantengase erzeugt wurden, sind die<br />

zwei Metalle der Seltenen Erden komplexer:<br />

Ihre Atome haben viele Elektronen in ihren<br />

äußeren Schalen und sind noch dazu magnetisch.<br />

Dachte man anfangs, dass diese Eigenschaften<br />

das quantenphysikalische Arbeiten<br />

mit ihnen erschweren würde, zeigt sich, dass<br />

dem nicht unbedingt so ist. Erbium und Dysprosium<br />

lassen sich sogar leichter abkühlen<br />

als Alkali- oder Erdalkaliatome – ein zentraler<br />

Punkt für die <strong>Forschung</strong>en der Inns brucker<br />

Quantenphysikerin.<br />

Um Atome zu kontrollieren, um mit ihnen<br />

Experimente durchzuführen, wird als erster<br />

Schritt in einer speziellen Apparatur das gewünschte<br />

Element mit der jeweils benötigten<br />

Hitze, die von Raumtemperatur bis zu 1.100<br />

Grad Celsius reichen kann, verdampft. Dabei<br />

bildet sich eine Wolke aus hunderttausenden<br />

Atomen. In der Folge streuen Laserstrahlen<br />

Photonen auf die Atome, diese „schlucken“<br />

die Photonen und emittieren sie wieder. Dabei<br />

geben die Atome Energie an das Photon ab<br />

– und kühlen dadurch ab. Immer mehr und<br />

immer mehr Richtung dem absoluten Nullpunkt<br />

von Null Kelvin (−273,15 °C). „Eigentlich<br />

sollten Atome bei diesen Temperaturen<br />

kein Gas mehr bilden, sondern Festkörper“,<br />

sagt Ferlaino. Zudem sind die einzelnen<br />

Atome keine Teilchen mehr, sondern Wellen.<br />

Werden Teilchen nun so weit gekühlt, dass<br />

die quantenmechanischen Wellenfunktionen<br />

der Teilchen zu überlappen beginnen, spricht<br />

man von einem Quantengas. Schwingen alle<br />

quantenmechanischen Wellenfunktionen der<br />

Einzelteilchen in perfektem Gleichtakt, entsteht<br />

ein Bose-Einstein-Kondensat (BEC).<br />

2<strong>01</strong>2 erzeugte Ferlainos Arbeitsgruppe<br />

das weltweit erste BEC aus rund 70. 000 Erbium-Atomen,<br />

2<strong>01</strong>6 gelang ihr die erste dipolare<br />

Quantenmischung aus Erbium und<br />

Dysprosium. Diese Quantengase bilden seither<br />

die Basis für Ferlainos Experimente und<br />

<strong>Forschung</strong>en, eignen sie sich doch sehr gut,<br />

Eigenschaften der Materie im Detail zu untersuchen<br />

sowie Effekte zu simulieren, die in der<br />

Alltagswelt nicht beobachtet werden können.<br />

Suprafluid & suprasolid<br />

2<strong>01</strong>9 etwa fand ihre <strong>Forschung</strong>sgruppe – so<br />

wie Teams aus Pisa und Stuttgart – erstmals<br />

Hinweise für Suprasolidität in ultrakalten Erbium-<br />

und Dysprosiumgasen. Suprasolidität<br />

ist ein paradoxer Zustand, in dem die Materie<br />

sowohl supraflüssige als auch kristalline<br />

Eigenschaften besitzt. Die Teilchen sind wie in<br />

einem Kristall regelmäßig angeordnet, bewegen<br />

sich aber gleichzeitig ohne Reibung. Für<br />

das Magazin Physics zählte die Entdeckung<br />

von suprasoliden Zuständen zu einem der<br />

zehn wichtigsten Highlights des Jahres 2<strong>01</strong>9.<br />

Zwei Jahre später erzeugten die Inns brucker<br />

Forscher:innen das erste zweidimensionale suprasolide<br />

System. 2022 zeigte Ferlaino gemeinsam<br />

mit ihrem Institutskollegen Russell Bisset,<br />

wie ein atomares Gas zu einem kreisförmigen<br />

Suprafestkörper abgekühlt werden kann.<br />

Ebenfalls 2022 konnte ihr Team Quanten-Wirbel<br />

in einem dipolaren Quantengas beobachten<br />

– diese ultrakalten Mini-Tornados gelten<br />

als eindeutiger Hinweis für Suprafluidität, das<br />

reibungsfreie Strömen eines Quantengases.<br />

Schon im Jahr 2021 hatten die Inns brucker<br />

Physiker:innen gemeinsam mit Kolleg:innen<br />

aus Genf einen Suprafestkörper aus dem<br />

Gleichgewicht gebracht und stießen dabei auf<br />

einen wissenschaftlich interessanten weichen<br />

Festkörper. Überraschenderweise ließ sich der<br />

Vorgang auch umkehren und die Suprafestigkeit<br />

konnte wieder hergestellt werden – und<br />

zwar durch Erwärmung. „Wir haben dieses<br />

Phänomen in unserem Experiment gesehen,<br />

konnten es uns aber nicht erklären. Wir haben<br />

auch überprüft, ob ein technischer Fehler vorlag“,<br />

erinnert sich Ferlaino. Zwei Jahre später<br />

kann sie – gemeinsam mit Physiker:innen um<br />

den Theoretiker Thomas Pohl von der University<br />

Aarhus – die Erklärung für dieses unserer<br />

Alltagswahrnehmung widersprechende Verhalten<br />

liefern. Sie entwickelten und veröffentlichten<br />

in der Fachzeitschrift Nature Communications<br />

ein theoretisches Modell, dass die<br />

experimentellen Ergebnisse erklären kann<br />

und die These unterstreicht, dass ein Erwärmen<br />

der Quantenflüssigkeit zur Ausbildung<br />

eines Quantenkristalls führen kann. Die theoretische<br />

Beschreibung zeigt, dass sich diese<br />

Strukturen mit steigender Temperatur leichter<br />

bilden können.„Mit der neuen Beschreibung<br />

verfügen wir erstmals über ein Phasendiagramm,<br />

das die Entstehung suprafester Zustände<br />

in Abhängigkeit von der Temperatur<br />

zeigt“, sagt Francesca Ferlaino.<br />

Erkenntnisse wie diese sind auch der<br />

Grund, warum für Ferlaino der Begriff Quantensimulation<br />

nicht passend gewählt ist:<br />

„Normalerweise wird etwas simuliert, was<br />

schon bekannt ist. Wir wissen ungefähr, wie<br />

etwas sein wird – wie sich zum Beispiel ein<br />

Flugzeug in starken Turbulenzen verhalten<br />

wird. Das Resultat ist keine totale Überraschung.“<br />

In der Quantenphysik, bei ihren<br />

Experimenten sei das anders: „Wir wissen<br />

manchmal überhaupt nicht, was uns erwartet.<br />

Wir können mit unseren Experimenten aber<br />

Lösungen für Fragen finden – auch wenn die<br />

Antwort eine Überraschung ist“, hält sie fest.<br />

Neutronenstern im Labor<br />

Dennoch können mit Quantensystemen Phänomene<br />

simuliert werden, aktuell widmet<br />

sich Ferlaino einem, das sich – eventuell – in<br />

den unendlichen Weiten des Weltalls abspielt:<br />

im Inneren von Neutronensternen. Die<br />

kugelförmigen Neutronensterne stellen ein<br />

Endstadium in der Sternentwicklung eines<br />

massereichen Sterns dar. „Durch den damit<br />

einhergehenden extremen Masseverlust rotieren<br />

Neutronensterne. Dabei kommt es –<br />

ähnlich einem Leuchtturm – zu regelmäßigen<br />

Lichtemissionen, die wir auf der Erde messen<br />

können“, erklärt die Physikerin. Die anfänglich<br />

extrem hohe Rotation der Neutronensterne<br />

– die höchste bislang gemessene betrug<br />

716 Umdrehungen pro Sekunde – nimmt sukzessive<br />

ab. „Dafür hat die Astrophysik eine<br />

Erklärung. Warum es aber manchmal einen<br />

Sprung in der Rotationsfrequenz gibt, ist bislang<br />

unverstanden“, berichtet Ferlaino. Eine<br />

Vermutung ist, dass das Innere eines Neutronensterns<br />

ähnlich einem Suprafestkörper ist,<br />

in dem sich durch die Rotation Wirbel bilden,<br />

was zu Störungen und in der Folge zu den<br />

Sprüngen in der Rotationsfrequenz führt. Womit<br />

Francesca Ferlaino ins Spiel kommt.<br />

„Wir haben solche ultrakalten Mini-Tornados<br />

in suprafluiden Zuständen nachgewiesen.<br />

Nun wollen wir diese Theorie in einem Suprafestkörper<br />

überprüfen“, gibt sie Einblick in<br />

ihre Arbeit. Gelingt es ihr, gibt sie nicht nur<br />

eine quantenphysikalische Antwort auf eine<br />

astrophysikalische Frage, sondern simuliert in<br />

ihrem Labor auch das Innenleben eines<br />

Sterns.<br />

ah<br />

FRANCESCA FERLAINO<br />

(*1977) studierte Physik in<br />

Neapel, Triest und Florenz.<br />

2007 kam sie als Postdoc und<br />

Lise-Meitner-Stipendiatin nach<br />

Inns bruck, 2<strong>01</strong>4 wurde sie<br />

Professorin an der Universität<br />

Inns bruck und wissenschaftliche<br />

Direktorin am Institut für<br />

Quantenoptik und Quanteninformation<br />

(IQOQI) der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften.<br />

Ferlaino und ihre<br />

Arbeitsgruppe sorgen immer<br />

wieder mit Arbeiten auf dem<br />

Gebiet ultrakalter Quantengase<br />

international für Aufmerksamkeit.<br />

Für ihre Arbeit wurde<br />

Ferlaino mehrfach ausgezeichnet.<br />

Nach einem ERC Starting<br />

Grant (2<strong>01</strong>0) und einem ERC<br />

Consolidator Grant (2<strong>01</strong>6)<br />

erhielt sie 2022 mit einem<br />

ERC Advanced Grant die dritte<br />

Spitzenförderung durch den<br />

Europäischen <strong>Forschung</strong>srat<br />

(ERC). Der Advanced Grant<br />

ist die höchste europäische<br />

Förderung für etablierte<br />

Wissenschaftler:innen in der<br />

Grundlagenforschung und<br />

mit bis zu 2,5 Millionen Euro<br />

dotiert.<br />

10 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle (1), Grafik: Aarhus University (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 11


TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

DAS MUSKULOSKELETTALE System des Menschen umfasst<br />

Knochen, Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder. Mithilfe von<br />

muskuloskelettalen Mehrkörpersimulationen können eine Reihe<br />

von Themen untersucht oder eingeschätzt werden, z. B. die Mechanik<br />

von Bewegungen, die Auswirkungen von Verletzungen oder<br />

Krankheiten oder die Ergebnisse von chirurgischen oder therapeutischen<br />

Eingriffen. Die Vorteile im Vergleich zu experimentellen und<br />

klinischen Studien sind unter anderem, dass Probleme isoliert von<br />

anderen Einflussfaktoren betrachtet werden können. Außerdem<br />

sind Studien möglich, die auf experimentellem oder klinischem<br />

Weg nur mit sehr hohem Aufwand umsetzbar sind. Wie der Name<br />

nahelegt, werden beteiligte Knochen darin als einzelne „Körper“<br />

dargestellt. Die Abbildung zeigt die starke Belastung der Speiche als<br />

Ergebnis einer muskuloskelettalen Mehrkörpersimulation.<br />

ROBERT EBERLE: „Starre Segmente können sich nicht verformen und damit auch keine Kräfte absorbieren. Knochen können jedoch bei<br />

Landungen nach Sprüngen oder Stürzen Energie aufnehmen.“<br />

EIN MATHEMATIKER<br />

MACHT KNOCHENARBEIT<br />

Robert Eberle vom Arbeitsbereich Technische Mathematik definiert<br />

die Eigenschaften menschlicher Knochen in Computersimulationen neu.<br />

Typische Bewegungs- und Verletzungsmuster<br />

besser zu verstehen<br />

ist für den Profisport von großer<br />

Bedeutung und beschäftigt die Sportund<br />

Bewegungswissenschaft. Die möglichst<br />

realitätsnahe Simulation von Bewegungsabläufen<br />

und Stürzen ist dabei<br />

mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil<br />

der <strong>Forschung</strong>. „Um zu untersuchen,<br />

was genau bei einem Sturz passiert, kann<br />

man schlecht sagen ‚Fall mal hin!‘“, veranschaulicht<br />

Robert Eberle vom Arbeitsbereich<br />

für Technische Mathematik.<br />

Eberle ist zwar kein Sportwissenschaftler,<br />

wirkt aber seit seiner Dissertation an<br />

der Entwicklung von biomechanischen<br />

Simulationen mit und arbeitet dabei mit<br />

Kolleginnen und Kollegen aus der Sportwissenschaft<br />

zusammen. In seinem Projekt<br />

MultiBones hat er sich einer Problemstellung<br />

gewidmet, die sich aus dieser<br />

Zusammenarbeit ergeben hat: Menschliche<br />

Knochen wurden in Simulationen bisher<br />

als starre Körper angenommen, was<br />

sie eigentlich gar nicht sind. Der sprichwörtliche<br />

harte Knochen ist nämlich elastisch,<br />

hält sogar leichter Biegung stand.<br />

Deshalb hat Robert Eberle einen neuen<br />

Weg eingeschlagen und ein muskuloskelettales<br />

Mehrkörpersimulationsmodell<br />

entwickelt, das die Flexibilität von Elle<br />

und Speiche berücksichtigt. In seinem<br />

Modell steckt Wissen aus der Baumechanik,<br />

jede Menge Rechenarbeit und eine<br />

Reihe von Laborversuchen zu den Eigenschaften<br />

menschlicher Knochen.<br />

Hilfsmittel aus der Mechanik<br />

„Starre Segmente können sich nicht verformen<br />

und damit auch keine Kräfte absorbieren.<br />

Knochen können jedoch bei<br />

Landungen nach Sprüngen oder Stürzen<br />

Energie aufnehmen“, erklärt Eberle<br />

ein Manko früherer Simulationsansätze<br />

genauer. Statt als starren Körper hat er<br />

Elle und Speiche deshalb mithilfe sogenannter<br />

Euler-Bernoulli-Balken in<br />

eine Sturz-Simulation implementiert.<br />

„Beim dynamischen Euler-Bernoulli-<br />

Balken handelt sich um eine partielle<br />

Differenzial gleichung oder einfach ausgedrückt<br />

um ein mathematisches Hilfsmittel,<br />

mit dem man in der Mechanik<br />

Durchbiegungen beanspruchter Bauteile<br />

beschreiben kann“, erläutert Eberle seine<br />

Herangehensweise. „Er ist die einfachste<br />

mechanische Methode, wenn man etwas<br />

flexibel darstellen möchte.“<br />

Um die Gleichung aufstellen zu können,<br />

müssen allerdings bestimmte<br />

Material kennwerte wie zum Beispiel Geometrie,<br />

Masse, aber auch das Trägheitsmoment<br />

und das E-Modul oder die Biegesteifigkeit<br />

bekannt sein. „Die Daten, die wir<br />

für den Euler-Bernoulli-Balken brauchten,<br />

haben wir an der Medizinischen Universität<br />

anhand von Kadaver-Studien erhoben“,<br />

schildert Eberle. Während Knochendichte<br />

und Querschnitt sich relativ einfach<br />

ROBERT EBERLE (*1984 in Bregenz)<br />

studierte an der Universität Inns bruck<br />

Technische Mathematik. Von 2<strong>01</strong>1 bis<br />

2<strong>01</strong>6 absolvierte er das Doktoratsstudium<br />

der Technischen Wissenschaften. Als Dissertant<br />

arbeitete er am Institut für Sportwissenschaften<br />

und untersuchte Kreuzbandverletzungen<br />

nach einer Landung im<br />

Abfahrtslauf mithilfe von muskuloskelettalen<br />

Simulationsmodellen. Seit 2<strong>01</strong>6 ist<br />

Robert Eberle Senior Lecturer mit Doktorat<br />

am Institut für Grundlagen der Technischen<br />

Wissenschaften und beschäftigt sich<br />

in seiner <strong>Forschung</strong> mit biomechanischen<br />

und mechanischen Simulationsmodellen.<br />

messen lassen, ist die Biegesteifigkeit ein<br />

für den Euler-Bernoulli-Balken relevanter<br />

Parameter, der sich nicht messen, sondern<br />

nur über Versuche bestimmen lässt. „Wir<br />

haben am Inns brucker Biomechaniklabor<br />

der Universitätsklinik für Orthopädie und<br />

Traumatologie sogenannte Dreipunkt-Biegeversuche<br />

mit menschlichen Knochen<br />

durchgeführt“, erklärt der Wissenschaftler.<br />

Bei diesem klassischen Experiment aus<br />

dem Ingenieurwesen wird das Material in<br />

der Prüfeinrichtung steigenden Belastungen<br />

ausgesetzt. Die Kraftwerte, bei denen<br />

das Material bricht, werden dann zur Errechnung<br />

der Biegesteifigkeitsfunktion<br />

eingesetzt.<br />

Im Übrigen ein komplexes Verfahren,<br />

für das Robert Eberle im Zuge des Projekts<br />

eine einfachere Alternative entwickelt<br />

hat. „Die neue Methode ist als ungeplantes<br />

Nebenprodukt entstanden und<br />

kann wiederum auch im Ingenieurwesen<br />

genutzt werden“, freut sich Eberle.<br />

Vielseitig anwendbar<br />

Angewendet hat Robert Eberle seine neuen<br />

Beschreibungsmethoden im Rahmen<br />

einer Mehrkörpersimulation, um eine<br />

Fraktur der Elle während eines Sturzes<br />

zu simulieren. Nützlich sind das Modell<br />

und die daraus gewonnenen Erkenntnisse<br />

übrigens nicht nur für die Sportwissenschaft:<br />

Das strukturelle Verhalten von<br />

Knochen spielt zum Beispiel auch eine<br />

wichtige Rolle bei der Anpassung von<br />

Rekonstruktionsplatten oder Prothesen.<br />

„In einer Simulation kann ich verschiedene<br />

Materialien ausprobieren und vergleichen,<br />

wenn ich zum Beispiel ein künstliches<br />

Gelenk einsetzen muss“, veranschaulicht<br />

Eberle mögliche Einsatzgebiete<br />

seiner Erkenntnisse. „Das wird bereits gemacht,<br />

aber eben mit starren Elementen.<br />

So muss man nach der Simulation ein aufwendiges<br />

und fehleranfälliges Postprocessing<br />

machen“, ergänzt er. Auf ein solches<br />

könnte man künftig verzichten, wenn die<br />

Eigenschaften von Knochen bereits in der<br />

Simulation berücksichtigt sind. ef<br />

12 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: AdobeStock / SciePro, Andreas Friedle; Grafik: Robert Eberle<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 13


TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

In der Ausbildung von Chirurg:innen<br />

ist der Übergang zur Praxis ein fordernder<br />

Moment. Irgendwann steht<br />

die erste Operation an echten Patient:innen<br />

an. Je vielseitiger das Training davor<br />

war, desto besser. Hierbei sind Zeit,<br />

Kosten und die vorhandenen Übungsmaterialien<br />

immer ein limitierender Faktor.<br />

Deshalb arbeiten Forscher:innen am<br />

Institut für Informatik der Universität<br />

Inns bruck an der Entwicklung von VR-<br />

Modellen, die das chirurgische Training<br />

präziser, vielseitiger und nachhaltiger<br />

machen können.<br />

Matthias Harders leitet die <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Interaktive Grafik und Simulation.<br />

Seine verschiedenen Teammitglieder beschäftigen<br />

sich unter anderem mit medizinischer<br />

Simulation und Visualisierung,<br />

virtueller und erweiterter Realität sowie<br />

haptischer Interaktion. Fachlich ist die<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppe bunt gemischt, denn<br />

die Entwicklung von medizinischen VR-<br />

Anwendungen und komplexen Computermodellen<br />

erfordert Kenntnisse in Informatik,<br />

Physik, Mechatronik, Medizin und<br />

Mathematik.<br />

Feedback vom Knochenbohrer<br />

„Einer unserer größten <strong>Forschung</strong>sbereiche<br />

ist die Computerhaptik“, erzählt<br />

Harders: „Bei dieser geht es darum, Tasteindrücke<br />

zu erzeugen, damit Dinge, die<br />

simuliert werden, auch gefühlt werden<br />

können. Vor allem in der Ausbildung von<br />

Chirurg:innen ist das sehr wichtig. Wenn<br />

man übt, in eine Leber zu schneiden, sollte<br />

auch das entsprechende Feedback des<br />

Gewebes zu spüren sein.“<br />

Harders greift neben seinen Schreibtisch<br />

und holt das Ergebnis der Doktorarbeit<br />

des Teammitglieds Quang Ha Van<br />

hervor. Es ist eine im 3D-Druck erstellte<br />

Attrappe einer Bohrmaschine. Sie ist<br />

einem herkömmlichen Knochenbohrer,<br />

SIMULIEREN FÜR<br />

DIE MEDIZIN<br />

Die <strong>Forschung</strong>sgruppe Interaktive Grafik und Simulation am Institut für Informatik entwirft komplexe<br />

Modelle, mit denen medizinische Eingriffe in der Virtuellen Realität geübt werden können.<br />

wie er in der Orthopädie verwendet<br />

wird, nachempfunden. Allerdings ist in<br />

diese eine spezielle Mechanik eingebaut<br />

worden. Der metallene Bohraufsatz kann<br />

durch Druck im Inneren des Gehäuses<br />

verschwinden. Dort wird über Motoren<br />

ein Widerstand erzeugt, angepasst an<br />

das Material, das gerade simuliert wird.<br />

„Knochen bestehen aus Schichten mit<br />

MATTHIAS HARDERS studierte Informatik<br />

mit Schwerpunkt Medizinische<br />

Informatik an der Universität Hildesheim,<br />

der Technischen Universität Braunschweig<br />

und der University of Houston. Er promovierte<br />

2003 an der ETH Zürich, wo er sich<br />

auch 2007 im Bereich Virtual Reality in<br />

der Medizin habilitierte. Er arbeitete bis<br />

2<strong>01</strong>2 an der ETH, mit kurzen <strong>Forschung</strong>saufenthalten<br />

in den USA, Japan und<br />

Australien. Nach einer Stelle als Reader<br />

an der University of Sheffield, UK, wurde<br />

er 2<strong>01</strong>4 als Professor an die Universität<br />

Inns bruck berufen, wo er am Institut<br />

für Informatik die <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Interaktive Grafik und Simulation leitet<br />

und sich mit <strong>Forschung</strong> in Medizinischer<br />

Simulation und Visualisierung, Virtueller<br />

und Erweiterter Realität sowie Haptischer<br />

Interaktion beschäftigt.<br />

verschiedenen Dichten, die auch unterschiedliches<br />

Feedback erzeugen müssen“,<br />

sagt Harders.<br />

Während also angehende Chirurg:innen<br />

mithilfe einer VR-Simulation am<br />

Computerbildschirm und dem modifizierten<br />

Bohrer eine Operation am simulierten<br />

Knochen durchführen, erzeugt<br />

das Gerät Feedback in Form von Kraft,<br />

Vibration und Geräuschen. Der Nutzen<br />

dieser Übungen wurde in einer Studie<br />

überprüft, mit dem Ergebnis, dass das<br />

Training mit echten Knochenbohrern an<br />

herkömmlichen Plastikknochen und mit<br />

dem simulierten System gleichermaßen<br />

gut abgeschnitten hat.<br />

Dabei bietet das virtuelle System aber<br />

einige Vorteile, wie Harders erklärt: „Erstens<br />

wird kein Material für das Training<br />

verschlissen, es ist also nachhaltiger. Zum<br />

anderen ist das Training in der Simulation<br />

messbar. Man kann genau bestimmen,<br />

wie tief der Bohrer eingedrungen ist, Fehler<br />

analysieren und dieselbe Operation<br />

mehrmals durchführen, um sie besser zu<br />

absolvieren.“<br />

Realistisch bluten<br />

In einem weiteren Projekt, an dem der<br />

Doktorand Nikolaus Rauch arbeitet, werden<br />

ganze virtuelle Patient:innen erstellt.<br />

Das erfordert eine detaillierte Modellierung<br />

von Anatomie, Physiologie und Pathologie.<br />

„Da gibt es verschiedene wichtige<br />

Komponenten, zum Beispiel die Gefäßsysteme“,<br />

sagt Harders. „Die Arterien<br />

und Venen können Chirurg:innen schon<br />

visuell zeigen, um welches Gewebe es<br />

sich handelt. Also ist es wichtig, dass wir<br />

die Gefäße für das Training modellieren,<br />

und diese dann auch korrekt bluten,<br />

wenn man sie in der VR-Simulation anschneidet.“<br />

Es wäre aber viel zu aufwendig,<br />

diese für jedes Modell neu per Hand<br />

zu generieren.<br />

Deswegen arbeitet das Team an Algorithmen,<br />

die automatisch neue Blutgefäßbäume<br />

erstellen. „Dafür stellt man<br />

lediglich die benötigten Parameter ein<br />

– um welches Organ es sich handelt, wo<br />

im Gewebe Sauerstoff benötigt wird, die<br />

Pathologie der Patient:innen – daraus generiert<br />

das Programm dann realistisch erscheinende<br />

Blutgefäße.“<br />

Nicht immer nur Tetris<br />

Die Frage, wie Modelle automatisch generiert<br />

werden können, findet auch Inspiration<br />

in der Spieleentwicklung. Content-Generation-Algorithmen<br />

können<br />

z. B. Landschaften entwerfen, die einem<br />

bestimmten Konzept folgen, aber sich<br />

niemals wiederholen.<br />

In einem weiteren Projekt von Harders,<br />

an dem auch die Klinik Hochzirl und<br />

das MCI Management Center Inns bruck<br />

beteiligt sind, wird dieses Prinzip in der<br />

Rehabilitation angewendet. „Nach Schlaganfällen<br />

muss das Gehirn neu vernetzt<br />

und manche Dinge müssen neu gelernt<br />

werden. In der Rehabilitation müssen<br />

Patient:innen dann Bewegungen wiederholen,<br />

um sich Abläufe, Motorik und Sensorik<br />

wieder anzueignen.“ Üblicherweise<br />

wird dies mithilfe von Therapeut:innen<br />

trainiert. Mittlerweile werden aber immer<br />

öfter auch Robotersysteme eingesetzt, um<br />

die Therapie zu unterstützen und zu ergänzen.<br />

„Ein Problem dabei ist, dass diese<br />

Übungen über Monate hinweg wiederholt<br />

werden müssen. Und das kann schon<br />

langweilig werden“, sagt Harders. „Deswegen<br />

wollen wir Rehabilitation mit motivierenden<br />

spielerischen Anwendungen<br />

kombinieren, die sich mit den physiotherapeutischen<br />

Übungen verbinden lassen.“<br />

Ein Beispiel ist ein Trainingssystem, mit<br />

dem Handbewegungen geübt werden sollen.<br />

Mittels VR lässt sich dabei Tetris spielen.<br />

Drehen, Strecken oder Drücken der<br />

Hand bewegt einen der fallenden bunten<br />

Steine in die gewünschte Richtung. Dabei<br />

ist das System individuell anpassbar. Die<br />

Steine fallen so, dass wichtige Übungen<br />

unbemerkt besonders oft gemacht werden.<br />

„Ich will in der Rehabilitation aber auch<br />

nicht drei Monate lang nur Tetris spielen“,<br />

fügt Harders hinzu. „Es wäre viel spannender,<br />

wenn die Spiele sich immer neu<br />

generieren und auch an den Geschmack<br />

der Patient:innen anpassen. Daran arbeiten<br />

wir zurzeit noch.“<br />

fo<br />

IN DIESE ATTRAPPE eines Knochenbohrers sind Mechaniken und Sensoren eingebaut,<br />

durch die das haptische Feedback einer Operation simuliert wird.<br />

14 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 15


TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

CHEMISCHE SIMULATION: Thomas Hofer kann das Verhalten der metallorganischen Verbindungen zuverlässig modellieren.<br />

NEUE WEGE IN DER<br />

MATERIALENTWICKLUNG<br />

Metallorganische Verbindungen sind eine zukunftsweisende Materialklasse mit zahlreichen<br />

Anwendungsmöglichkeiten. Chemiker:innen um Thomas Hofer arbeiten an Methoden zur Simulation<br />

dieser Verbindungen, um ihren Einsatz zu optimieren.<br />

MOF – die drei Buchstaben stehen<br />

für Metal Organic Framework,<br />

auf deutsch Metallorganische<br />

Gerüstverbindung. MOFs repräsentieren<br />

eine Klasse von Materialien, die aus metallhaltigen<br />

Knotenpunkten und organischen<br />

Liganden aufgebaut und in einem<br />

regelmäßigen, dreidimensionalen Gitter<br />

angeordnet sind. Durch die Kombination<br />

verschiedener Metallknoten und Liganden<br />

können MOFs mit unterschiedlichen<br />

Eigenschaften hergestellt werden, was ihre<br />

Anwendbarkeit sehr vielseitig macht.<br />

„Metal Organic Frameworks<br />

können als Träger für Wirkstoffe<br />

wie Medikamente, Peptide<br />

oder Proteine dienen, die dann<br />

kontrolliert freigesetzt werden<br />

können.“ <br />

Thomas Hofer<br />

Entdeckt wurden die Verbindungen<br />

erstmals Anfang der 1990er-Jahre, seitdem<br />

stehen sie im Zentrum des Interesses<br />

zahlreicher <strong>Forschung</strong>sarbeiten.<br />

„MOFs weisen ein hohes, inneres Volumen<br />

auf und können Gastmoleküle in ihren<br />

Poren speichern. Dies macht sie ideal<br />

für die Lagerung und Freisetzung von<br />

Wasserstoff, Kohlendioxid und anderen<br />

Gasen“, erklärt Thomas Hofer, assoziierter<br />

Professor am Institut für Allgemeine,<br />

Anorganische und Theoretische Chemie<br />

der Universität Inns bruck. „Zudem ist<br />

ihr Einsatz auch für die Wirkstofffreisetzung<br />

in der Medizin sehr interessant:<br />

Sie können als Träger für Wirkstoffe wie<br />

Medikamente, Peptide oder Proteine<br />

dienen, die dann kontrolliert freigesetzt<br />

werden können. Die Porosität der MOFs<br />

soll eine höhere Wirkstoffbeladung und<br />

eine bessere Kontrolle der Freisetzung als<br />

bei herkömmlichen Materialien ermöglichen“,<br />

so der Chemiker.<br />

Es gibt beispielsweise MOFs, die aufgrund<br />

ihres Aufbaus Wirkstoffe sicher<br />

durch das saure Magenmilieu transportieren<br />

könnten oder andererseits in tendenziell<br />

sauren Tumorgeweben zerfallen<br />

und ihr Gastmolekül – in diesem Fall<br />

einen Wirkstoff – genau dort freigeben,<br />

wo es wirken soll. „Diese Technologie hat<br />

enormes Potenzial, auch für Wirkstoffe,<br />

die nur deshalb nicht weiter erforscht<br />

wurden, weil sie nicht effizient genug an<br />

das Ziel ihrer Wirkung gebracht werden<br />

konnten“, beschreibt Hofer. Seine Arbeit<br />

konzentriert sich auf die Simulation dieser<br />

vielversprechenden Verbindungen,<br />

um ihre charakteristischen Eigenschaften<br />

zum einen besser zu verstehen und<br />

zum anderen ihre Einsatzmöglichkeiten<br />

zu optimieren. Um stabil zu sein, müssen<br />

die einzelnen Verbindungen in MOFs<br />

eine möglichst neutrale Position einnehmen,<br />

in der sie sich weder zu stark anziehen<br />

noch zu stark abstoßen. „Ziel unserer<br />

<strong>Forschung</strong> ist es, die Simulation dieser<br />

Anziehung und Abstoßung in Wechselwirkung<br />

so exakt wie möglich nachzustellen,<br />

um stabile Gerüstverbindungen<br />

zu modellieren, noch bevor sie im Labor<br />

hergestellt wurden“, erklärt Thomas<br />

Hofer.<br />

ILLUSTRATION EINER chemischen<br />

Simulation eines Gast@MOF-Systems. In<br />

diesem Beispiel wurden zwei Moleküle<br />

des Krebsmedikaments Fluorouracil in<br />

die metallorganische Gerüstverbindung<br />

MOF-5 eingebettet. Das Simulationssystem<br />

besteht aus 448 Atomen. (grau<br />

= Kohlenstoff, weiß = Wasserstoff, rot =<br />

Sauerstoff, blau = Stickstoff; cyan = Fluor;<br />

schwarz = Zink)<br />

Komplexe Simulationen<br />

In Simulationen berechnen die Wissenschaftler:innen<br />

um Hofer zum einen das<br />

Verhalten und die Stabilität der Gerüstverbindung<br />

an sich, zum anderen berechnen<br />

sie auch die Wechselwirkungen des<br />

Wirtsmaterials mit den je nach Anwendungsart<br />

verschiedenen Gastmolekülen.<br />

„MOFs haben vergleichsweise viele Teilchen,<br />

die zu beschreiben sind. Ein weiteres<br />

Spezifikum ist ihre Wechselwirkung<br />

mit Kräften von außen: Normalerweise<br />

dehnen sich Materialien bei Erwärmung<br />

aus. Es gibt aber zum Beispiel auch<br />

MOFs, die sich bei Erwärmung kontrahieren.<br />

All diese Faktoren gilt es bei unseren<br />

Simulationen zu berücksichtigen“,<br />

erklärt Thomas Hofer.<br />

Aufgrund der Komplexität dieser Berechnungen<br />

greifen die Wissenschaftler:innen<br />

unter anderem auf Konzepte<br />

des maschinellen Lernens zurück. Basierend<br />

auf bestehenden Methoden haben<br />

Hofer und sein Team so eine neue<br />

Software programmiert, die es möglich<br />

macht, das Verhalten dieser komplexen<br />

Systeme schnell und zuverlässig zu simulieren.<br />

„Damit eine derartige Simulation<br />

gelingt, müssen die Kräfte, die auf<br />

die Atome wirken, so exakt wie möglich<br />

in der Berechnung nachgestellt werden“,<br />

erklärt der Chemiker. „Eine neuartige<br />

Methode, die diese atomaren Kräfte<br />

trotz geringer Berechnungszeit mit hoher<br />

Genauigkeit wiedergeben kann, sind<br />

neuronale Netzwerk-Potenziale – diese<br />

wurden mit unserer Simulations-Software<br />

kombiniert. Auf diese Weise konnte<br />

ein Verfahren entwickelt werden, das um<br />

einen Faktor 100 schneller ist als etablierte<br />

Anwendungen und dabei im Wesentlichen<br />

dieselben Ergebnisse liefert“, so<br />

Hofer.<br />

Noch sind die Chemiker:innen dabei,<br />

die von ihnen entwickelte Methode zu<br />

validieren und ihre Verlässlichkeit zu<br />

belegen. In einer kürzlich publizierten<br />

Arbeit konnten sie mit einer Simulationsreihe<br />

verschiedener organischer Gerüstverbindungen<br />

als CO 2 -Speicher bereits<br />

zeigen, dass ihre Methode eine adäquate<br />

Alternative für die Untersuchung dieser<br />

komplexen Substanzklassen darstellt und<br />

den Bereich für rechnerische Studien mit<br />

diesem Schwerpunkt erheblich erweitert.<br />

Beschichtete Nanopartikel<br />

Neben den Simulationen MOF-basierter<br />

Materialien arbeiten die Chemiker:innen<br />

um Hofer derzeit auch an Simulationen<br />

beschichteter Nanopartikeln, die unter<br />

anderem in der Tumortherapie zum Einsatz<br />

kommen könnten. Beispielsweise<br />

zeigen Nanopartikel aus Magnetit magnetische<br />

Eigenschaften – mithilfe von<br />

Magneten könnten sie gezielt in bestimmte<br />

Zellen des Körpers und somit<br />

auch in Tumorgewebe gelenkt werden.<br />

Da Eisen im Körper toxisch wirkt, müssen<br />

die Nanopartikel allerdings beschichtet<br />

werden. In Zusammenarbeit mit der<br />

UMIT TIROL simulieren Thomas Hofer<br />

und sein Team das Verhalten dieser beschichteten<br />

Nanopartikel. „Ziel ist es natürlich,<br />

die mit Amylose oder Zitronensäure<br />

beschichteten Nanopartikel möglichst<br />

zahlreich gezielt in Tumorzellen<br />

anzureichern“, so Hofer. „Um das zu erreichen,<br />

muss man allerdings genau wissen,<br />

welche Kräfte wirken, wenn sich<br />

zwei dieser Teilchen begegnen oder<br />

wenn mehrere Nanoteilchen gleichzeitig<br />

im Blutkreislauf verteilt sind.“ Mithilfe<br />

der von ihnen entwickelten Methode<br />

können Hofer und sein Team das Verhalten<br />

der Nanoteilchen unter Einbeziehung<br />

aller auf sie wirkenden Kräfte genau modellieren<br />

und liefern so wichtige Daten<br />

für die Weiterentwicklung dieses Therapieansatzes.<br />

sr<br />

THOMAS HOFER (*1978 in Inns bruck)<br />

studierte Chemie an der Universität Innsbruck<br />

und habilitierte sich hier 2<strong>01</strong>1 im<br />

Fach Theoretische Chemie und Computerchemie.<br />

Seit 2<strong>01</strong>1 ist er assoziierter<br />

Professor am Institut für Allgemeine,<br />

Anorganische und Theoretische Chemie.<br />

16 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Thomas Hofer<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 17


TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

BÖDEN ALS MODELL<br />

Gertraud Medicus konzentriert sich in ihrer <strong>Forschung</strong>sarbeit auf Materialmodelle,<br />

um mit ihnen das mechanische Verhalten von Böden mathematisch zu beschreiben.<br />

Um die gesteckten Klimaziele zu erreichen,<br />

wirft die EU einen Blick<br />

aufs Meer – bis 2050 sollen 340 Gigawatt<br />

Offshore-Strom auf den Kontinent<br />

fließen. Sind die Anlagen vom Festland<br />

entfernt, werden Tragstrukturen, Anker<br />

und Untergrund durch Wind, Wellen<br />

und Meeresströmungen belastet. Mit<br />

einer speziellen Belastung der Meeresboden-Anker-Interaktion<br />

befassen sich<br />

Forscherinnen und Forscher der University<br />

of Southampton – und warfen auf<br />

der Suche nach einem passenden Materialmodell,<br />

um dieses Bodenverhalten<br />

zu simulieren, ihren Blick Richtung Kontinent.<br />

Und wurden an der Universität<br />

Inns bruck fündig.<br />

„Gesucht wurde ein Modell, das für<br />

ganz bestimmte Belastungspfade, nämlich<br />

wiederkehrende Episoden von Scherung,<br />

dann Konsolidierung, dann wieder<br />

Scherung, usw. geeignet ist. Diese zyklische<br />

Belastung lässt sich mithilfe eines bestimmten<br />

Materialmodells, der Hypoplastizität,<br />

gut abbilden“, berichtet Gertraud<br />

Medicus vom Arbeitsbereich für Geotechnik<br />

am Institut für Infrastruktur der<br />

Universität Inns bruck. Der Arbeitsbereich<br />

ist sozusagen die Wiege der Hypoplastizität,<br />

geht doch ihre Theorie auf Dimitrios<br />

Kolymbas zurück, der von 1994 bis 2<strong>01</strong>7<br />

als Professor für Geotechnik und Tunnelbau<br />

in Inns bruck tätig war. Medicus stieß<br />

2009 über eine Dissertationsstelle auf das<br />

Thema. „Ein Glücksgriff“, sagt sie heute,<br />

GERTRAUD MEDICUS (*1981) studierte<br />

Bauingenieurwesen an der Universität<br />

Inns bruck und an der NTNU Trondheim<br />

(Norwegen) und dissertierte 2<strong>01</strong>4 in<br />

Inns bruck. Nach der Promotion war sie<br />

bis 2<strong>01</strong>7 als Postdoc in verschiedenen<br />

Projekten tätig. Von 2<strong>01</strong>7 bis 2022 leitete<br />

sie das FWF-Einzelprojekt Reloading in<br />

Barodesy. Seit 2022 hat Medicus für<br />

das Projekt Soil tests as boundary value<br />

problems using hypoplasticity eine FWF-<br />

Elise-Richter-Stelle inne.<br />

„mich fasziniert diese Kombination aus<br />

Mathematik und Bodenmechanik.“<br />

Materialmodelle sind mathematische<br />

Modelle, die das reale Spannungs-Dehnungs-Verhalten<br />

des Materials abbilden.<br />

Für ein Gummiband etwa braucht es<br />

ein elastisches Modell – die Dehnung<br />

des Bandes ist bei Entlastung voll rückläufig<br />

–, welches für einen Sandstrand<br />

aber nicht geeignet ist: Der Abdruck<br />

eines Fußes bildet sich nicht vollständig<br />

zurück. „Komplexer wird die Modellierung,<br />

wenn man noch einmal in diesen<br />

Fußabdruck steigt, wenn es also zu einer<br />

wiederholten Belastung kommt“, sagt<br />

Medicus, die sich in ihrer Arbeit auch auf<br />

Materialmodelle zur Beschreibung von<br />

zyklischem Bodenverhalten konzentriert.<br />

Inns brucker Schule<br />

„Im Bereich der Bodenmechanik gibt es<br />

zahlreiche Materialmodelle, zum Beispiel<br />

die Elastoplastizität. Sie unterscheidet<br />

sich von der Hypoplastizität nach mathematischen<br />

und nicht zwangsläufig nach<br />

bodenmechanischen Merkmalen. Welches<br />

Modell das zielführendere ist, hängt<br />

von der Aufgabenstellung ab“, erklärt die<br />

Forscherin. Vergleichbar sei es mit unterschiedlichen<br />

wissenschaftlichen Schulen,<br />

in Inns bruck eben die von Kolymbas<br />

IN DEM PROJEKT Animating Soil<br />

Models erstellte Gertraud Medicus für<br />

Lehrzwecke 3D-Visualisierungen zu<br />

Materialmodellen und stellt sie als offene<br />

Bildungsressource dauerhaft auf der<br />

Plattform Soilmodels.com/soilanim zur<br />

Verfügung. Die Abbildung zeigt den Kegel<br />

(nach Matsuoka-Nakai) der sogenannten<br />

kritischen Spannungszustände (im<br />

Hauptspannungsraum). Dieser Kegel ist<br />

in mehreren Materialmodellen, wie auch<br />

in der Hypoplastizität und Barodesie, enthalten<br />

und beschreibt unter bestimmten<br />

Bedingungen die Festigkeit des Bodens.<br />

BODENPROBEN verformen sich im Versuch nicht so homogen wie oft in der Modellierung<br />

angenommen – die Zylinder bauchen zum Beispiel aus. Gertraud Medicus will wissen, ob<br />

bzw. wie diese Inhomogenitäten Festigkeits- und Steifigkeitsprognosen beeinflussen.<br />

entwickelten Hypoplastizität und Barodesie,<br />

für die in den vergangenen Jahren<br />

mehrere Untermodelle z. B. Barodesie für<br />

Sand und Ton erstellt wurden.<br />

Ehe solch ein theoretisches Modell in<br />

die Anwendung gelangt, wird es mithilfe<br />

von Laborversuchen kalibriert und validiert.<br />

Um mit ihm geotechnische Simulationen<br />

durchzuführen, benötigt es zudem<br />

exakte Untersuchungen des Bodens. Mit<br />

den daraus gewonnenen Parametern und<br />

dem passenden Modell berechnet dann<br />

eine Finite-Elemente-Software, wie etwa<br />

ein Bauwerk und der Untergrund auf<br />

reale Bedingungen – bestimmte Kräfte,<br />

Schwingungen, Temperaturen und andere<br />

physikalische Einwirkungen – reagieren.<br />

Auch wenn sich Gertraud Medicus als<br />

Grundlagenforscherin sieht, ihr Knowhow<br />

fließt bei Kooperationen wie jener<br />

mit der University of Southampton oder<br />

einer mit der Deutschen Bahn in Zusammenarbeit<br />

mit der TU Graz („Dabei geht<br />

es um die zyklische Belastung einer Brücke.“)<br />

in die Modellberatung ein.<br />

Bei der Anbahnung internationaler Kooperationen<br />

kam Medicus ein „Herzensprojekt“,<br />

wie sie es nennt, zugute. „Materialmodelle<br />

bestehen aus vielen mathematischen<br />

Gleichungen und sind auch für<br />

Studierende abstrakt“, sagt Medicus. Daher<br />

visualisiert sie Simulationen von Versuchskurven<br />

und nützt sie in der Lehre.<br />

Während der Corona-Pandemie teilte sie<br />

viele dieser 3D-Visualisierungen via Social<br />

Media – und bekam Anfragen von Kolleginnen<br />

und Kollegen, ob sie diese auch<br />

für eigene Zwecke verwenden könnten.<br />

„Warum sollen nicht auch andere daran<br />

teilhaben?“, fragte sich Medicus. Über ein<br />

von der Uni Inns bruck gefördertes Lehreprojekt<br />

stellte sie daher Animationen und<br />

interaktive Grafiken von Fließflächen,<br />

Spannungsinvarianten, Hypoplastizität<br />

etc. auf einer Plattform zur Verfügung (siehe<br />

Infobox). „Die Seite war für die Lehre<br />

gedacht, über sie ergaben sich aber auch<br />

wissenschaftliche Kooperationen“, erzählt<br />

die Forscherin.<br />

Modell versus Laborversuch<br />

Eine Kooperation besteht auch mit der<br />

Universität Grenoble. In einem FWF-Projekt<br />

geht Medicus der Frage nach, warum<br />

und unter welchen Randbedingungen sich<br />

Bodenproben nicht so homogen verformen<br />

wie oft in der Modellierung angenommen.<br />

„Im Experiment sieht man: Die Probenform<br />

bleibt kein Zylinder, die Proben bauchen<br />

aus oder es bilden sich Scherfugen“,<br />

weiß Medicus. Sie will nun wissen, ob<br />

bzw. wie diese Inhomogenitäten Festigkeits-<br />

und Steifigkeitsprognosen und eventuell<br />

auch die Anwendung beeinflussen.<br />

Bislang wurde angenommen, dass diese<br />

Inhomogenitäten erst bei einer größeren<br />

Stauchung der Probe entstehen. „Die Kolleginnen<br />

und Kollegen in Grenoble können<br />

das Innere von Proben – auch schon<br />

während der Kompression – im Computertomograf<br />

untersuchen. Dabei konnten<br />

sie beobachten, dass sich schon von Beginn<br />

an Scherfugen bilden und dass Muster<br />

entstehen“, berichtet Medicus: „Das<br />

eröffnet eine neue Sichtweise, mit der wir<br />

eventuell unser Modell adaptieren können.<br />

Daher wollen wir diese Grenobler<br />

Experimente simulieren.“ ah<br />

18 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle; Grafik: Gertraud Medicus<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 19


TITELTHEMA<br />

TITELTHEMA<br />

DAS VISUALISIERUNGSLABOR DER UNIVERSITÄT INNS BRUCK<br />

Das VISUAL INTERACTION LAB 1669 – uniintern Visualisierungslabor oder einfach nur VisLab genannt – wurde Ende 2<strong>01</strong>8 am<br />

Campus Technik der Universität Inns bruck eröffnet. Seither bietet es <strong>Forschung</strong> und Lehre einen Rahmen für die Darstellung großer<br />

Datenmengen und die Arbeit mit virtuellen Realitäten. Bis zu 30 Personen gleichzeitig können 2D- und 3D-Inhalte auf einer 3,1 mal<br />

1,7 Meter großen 5K-Videowand erleben. Die Infrastruktur, die vom <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt Scientific Computing und dem Zentralen<br />

Informatikdienst betrieben wird, steht allen Uni-Angehörigen offen und kann auch für innovative Lehrveranstaltungsformate<br />

genutzt werden. „Das VisLab ist – im besten Sinne des Wortes – ein Labor zur Visualisierung wissenschaftlicher Inhalte.<br />

Als Universität profitieren wir hier doppelt: Das VisLab fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit und macht zugleich<br />

diese Vernetzung unterschiedlichster Disziplinen sichtbar”, zeigt sich Alexander Ostermann als Leiter des Schwerpunkts<br />

begeistert. Hier wird Vergangenes lebendig, Zukünftiges greifbar und Unvorstellbares darstellbar.<br />

DAS VISLAB bietet Architektur-Simulationen<br />

und experimentellen Interaktionen<br />

wie dem Projekt metaphysical<br />

enviroments des PhD-Studenten und<br />

Architekten Anirudhan Iyengar einen<br />

entsprechenden Raum: Die von ihm für<br />

eine Ausstellung im Architekturzentrum<br />

aut entwickelte, ortsspezifische Installation<br />

ermöglicht mittels VR eine neue<br />

Perspektive auf das Unheimliche als<br />

emotionales Verhältnis zur konstruierten<br />

Wirklichkeit und eine Grenz-Erfahrung<br />

zwischen realer und virtueller Welt.<br />

<br />

DIE DURCH DEN urgeschichtlichen<br />

Bergbau entstandenen Hohlräume<br />

im Felsen dokumentierte Archäologe<br />

Manuel Scherer-Windisch für seine am<br />

Fachbereich Ur- und Frühgeschichte<br />

verfasste Masterarbeit mittels Fotogrammetrie;<br />

die 3D-Modelle sollten<br />

Erkenntnisse zum Vortrieb der Abbauleistung<br />

liefern. Das Vislab ermöglichte<br />

es, diese 3D-Modelle mittels VR-Brille<br />

zu betreten und zugleich am großen<br />

Display zu präsentieren. Zu sehen ist die<br />

prähistorische Silbermine Schönbiegler<br />

Bau im Tiroler Unterland.<br />

DAS VISLAB verfügt über einen<br />

Hochleistungsrechner sowie eine<br />

vollintegrierte Virtual-Reality-Installation,<br />

die in Kombination mit einer<br />

hochaufgelösten VR-Brille eine virtuelle<br />

Erfahrung ersten Ranges bietet.<br />

DER KLEINE ERDGLOBUS des Tiroler „Bauernkartographen“<br />

Peter Anich aus dem Jahr 1758 präsentiert im VisLab: Der Globus<br />

wird im Depot der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB)<br />

unter optimalen konservatorischen Bedingungen gelagert. Dank<br />

einer aufwendigen 3D-Visualisierung, die Florian Schölderle von<br />

der Fakultät für Technische Wissenschaften für die ULB umsetzt,<br />

wird er mit seinen faszinierend präzisen Details einem breiteren<br />

Interessent:innenkreis zugänglich.<br />

20 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle (4), Manuel Scherer-Windisch(2), Florian Schölderle(2)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 21


KURZMELDUNGEN<br />

ZAHLEN<br />

22<br />

BLINDE PASSAGIERE<br />

IM ERBGUT<br />

An der Uni Inns bruck haben Wissenschaftler:innen<br />

mithilfe des Hochleistungscomputer-Clusters<br />

Leo und detaillierter<br />

Detektivarbeit über 30. 000 Viren in der<br />

DNA von Einzellern entdeckt: Bei einer groß<br />

angelegten Untersuchung von komplexen<br />

einzelligen Mikroben machten Christopher<br />

Bellas, Marie-Sophie Plakolb und Ruben<br />

Sommaruga vom Institut für Ökologie eine<br />

unerwartete Entdeckung. Eingebaut in<br />

das Genom der Mikroben fanden sie die<br />

DNA von über 30. 000 bisher unbekannten<br />

Viren. Diese „versteckte“ DNA könnte<br />

den Zusammenbau von vollständigen und<br />

funktionalen Viren in der Wirtszelle ermöglichen.<br />

„Wir waren sehr überrascht, wie viele<br />

Viren wir in dieser Studie gefunden haben“,<br />

sagt Bellas: „In einigen Fällen stellte sich heraus,<br />

dass bis zu zehn Prozent des Genoms<br />

einer Mikrobe aus versteckten Viren besteht.“<br />

Offenbar scheinen diese Viren ihren<br />

Wirten nicht zu schaden. Im Gegenteil,<br />

einige könnten sie sogar schützen, denn sie<br />

ähneln so genannten Virophagen. „Warum<br />

in den Genomen dieser Mikroben so viele<br />

Viren zu finden sind, ist noch nicht klar“,<br />

sagt Bellas. „Unsere stärkste Hypothese ist,<br />

dass sie die Zelle vor einer Infektion durch<br />

gefährliche Viren schützen.“ Viele einzellige<br />

Organismen werden von „Riesenviren“<br />

infiziert. Diese Infektionen töten den Wirt<br />

und erzeugen dabei neue Kopien des Riesenvirus.<br />

Wenn sich jedoch ein Virophage<br />

in der Wirtszelle befindet, „programmiert“<br />

er das Riesenvirus so um, dass es weitere<br />

Virophagen bildet. Infolgedessen kann das<br />

Riesenvirus manchmal abgewehrt und die<br />

Wirtszellen vor der Zerstörung bewahrt<br />

werden.<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

DETEKTIVARBEIT<br />

IM MEER<br />

Die Auswertung von Umwelt-DNA soll neues<br />

Wissen über europäische Walpopulationen liefern.<br />

Detailliertes Wissen über Wale in<br />

europäischen Gewässern wird das<br />

mit Jahresbeginn gestartete Biodiversa+<br />

Projekt eWHALE unter der Leitung<br />

von Molekularökologin Bettina Thalinger<br />

liefern. Das länderübergreifende<br />

<strong>Forschung</strong>svorhaben bringt Partner:innen<br />

aus Wissenschaft, Wirtschaft und Bevölkerung<br />

zusammen, um mithilfe von Wasserproben<br />

ein weitreichendes, nicht-invasives<br />

Wal- und Biodiversitäts-Monitoring<br />

aufzubauen. „Bei manchen Walarten lassen<br />

sich Individuen anhand von äußerlichen<br />

Merkmalen nicht voneinander unterscheiden.<br />

Gewebeproben von Walen<br />

sind schwierig zu bekommen und eignen<br />

NEUE PILZE TRAGEN „TIROL“ IM NAMEN<br />

Modernste molekulare <strong>Forschung</strong>smethoden führten zur<br />

Entdeckung und Beschreibung von bisher unbekannten<br />

Tiroler Pilzen: Bei umfassenden Boden-Beprobungen im Grenzgebiet<br />

zwischen Tirol und Südtirol wurden insgesamt 13 neue<br />

Arten und mit Tyroliellia eine neue Bodenpilz-Gattung (rechts im<br />

Bild unter dem Mikroskop) gefunden und von Mykologin Ursula<br />

Peinter und ihrem Team in einer Publikation Ende 2022 beschrieben.<br />

Die von Forschenden rund um Martin Kirchmair zufällig<br />

entdeckten Pilzarten sind Schimmelpilze der Gattung Penicillium.<br />

„Es handelt sich dabei um extrem langsam wachsende Pilze, daher<br />

ist eine Kultivierung im Labor sehr komplex, denn sie können<br />

leicht übersehen werden. Aufgrund des Ortes dieses Erstfundes<br />

haben wir uns dazu entschlossen, diese Neuentdeckung Penicillium<br />

tirolense zu nennen“, sagt Martin Kirchmair.<br />

sich daher nicht für ein weitreichendes<br />

Monitoring“, erläutert Bettina Thalinger<br />

wichtige Gründe für die ungenügende<br />

Datenlage zu europäischen Walpopulationen.<br />

Eine sehr erfolgversprechende Methode,<br />

um Arten, Familienverbände und<br />

eventuell sogar einzelne Individuen zu<br />

identifizieren und viele weitere Aspekte<br />

über ihre Lebensweise zu erfahren, ist die<br />

Analyse der in Wasserproben enthaltenen<br />

eDNA (environmental DNA, deutsch<br />

Umwelt-DNA) mittels molekularer Methoden.<br />

– Ein Ansatz, zu dem man in der<br />

Abteilung Angewandte Tierökologie an der<br />

Universität Inns bruck umfassende Expertise<br />

gesammelt hat.<br />

Fotos: CW Azores (1), Ursula Peintner (3), Fabian Oswald (1)<br />

International vernetzt:<br />

70 Prozent<br />

der wissenschaftlichen<br />

Publikationen entstehen<br />

gemeinsam mit internationalen<br />

Co-Autor:innen.<br />

Top <strong>Forschung</strong> beim<br />

renommierten Shanghai-Ranking in<br />

17 Fachbereichen<br />

Spitzenforschung in den <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />

Alpiner Raum und Physik.<br />

Kooperation mit 9 europäischen Universitäten<br />

von Reykjavik bis Neapel in der Aurora European<br />

Universities Allianz. Von dieser Zusammenarbeit<br />

profitieren Studierende, Wissenschaftler:innen<br />

und Verwaltungsmitarbeiter:innen.<br />

Wir arbeiten vernetzt.<br />

Seit 1669<br />

Über<br />

Beste Spin-off-Strategie:<br />

Österreichweit führend mit aktuell<br />

21 Unternehmensbeteiligungen<br />

durch die 2008 gegründete<br />

Beteiligungsholding der Universität.<br />

4200 Abschlüsse im<br />

Studienjahr 2021/22 Bachelor,<br />

Master, Diplom und Doktorat.<br />

51,5 Millionen Euro<br />

öffentlicher <strong>Forschung</strong>smittel<br />

national und international<br />

eingeworben.<br />

Mehr als 25 Prozent Steigerung<br />

in 5 Jahren.<br />

UNIVERSITÄT<br />

INNSBRUCK<br />

Rang 1<br />

unter den beliebtesten<br />

Arbeitgebern in Tirol<br />

Dank spannender<br />

Arbeitsinhalte,<br />

familienfreundlicher<br />

Arbeitsbedingungen und<br />

einem internationalen<br />

Arbeitsumfeld.<br />

Beteiligung an<br />

3 FWF-Exzellenzclustern<br />

Die Universität Innsbruck koordiniert den<br />

Exzellenzcluster für Quantenwissenschaften und ist an<br />

zwei Exzellenzclustern zu politischen, sozialen und<br />

kulturellen Entwicklungen Eurasiens und zu Materialien<br />

für Energiekonversion und Speicherung beteiligt.<br />

/uniinnsbruck<br />

www.uibk.ac.at<br />

© BfÖ <strong>2023</strong>


STANDORT<br />

STANDORT<br />

PROAKTIV GESTALTEN<br />

Veronika Sexl, die neue Rektorin der Universität Inns bruck, und Gregor Weihs, Vizerektor für<br />

<strong>Forschung</strong>, über die Aufgaben einer modernen Universität, die Flexibilisierung des Bologna-Modells,<br />

die Herausforderung Infrastruktur und wissenschaftliche Nachwuchsarbeit.<br />

ZUKUNFT: Sie sind nun seit 1. März Rektorin<br />

der Universität Inns bruck. Wie war<br />

der Umstieg von einer Wissenschaftlerin<br />

zur Universitätsmanagerin?<br />

VERONIKA SEXL: Großartig. Ich habe nicht<br />

das Gefühl, dass ich etwas verloren habe.<br />

Ich habe dazugewonnen. Für mich war es<br />

der richtige Zeitpunkt, meine aktive Wissenschaftslaufbahn<br />

hintan zu stellen und<br />

meine wissenschaftlichen Projekte einem<br />

großartigen Nachwuchs zu übergeben.<br />

Zudem habe ich mit der Universität Innsbruck<br />

enorm an wissenschaftlicher Breite<br />

dazugewonnen. Ich durfte eine Volluniversität<br />

mit 16 Fakultäten übernehmen.<br />

Diese Breite finde ich unglaublich spannend<br />

und sie gehört zu den Höhepunkten<br />

in meinem Alltag als Rektorin. Und das<br />

Management macht mir enormen Spaß.<br />

Es gibt Gestaltungsmöglichkeiten, es erlaubt,<br />

junge Leute zu fördern und hat<br />

einen großen Handlungsspielraum.<br />

ZUKUNFT: Gibt es etwas, das Sie in den<br />

vergangenen Monaten an der Universität<br />

Inns bruck, aber auch der Stadt Inns bruck<br />

besonders überrascht hat?<br />

SEXL: Ja. Weniger hat mich die Universität<br />

selbst überrascht, da ich Universitäten –<br />

auch internationale – aus verschiedenen<br />

Blickwinkeln kenne. Überrascht hat mich,<br />

wie eng die Universität in die Stadt integriert<br />

ist und wie sie in der Stadt verwurzelt<br />

ist. Ebenso wie eng die Universität<br />

mit dem Land Tirol in Interaktion und im<br />

Austausch ist. Das hat mich positiv überrascht.<br />

Auch die offenen Arme, mit denen<br />

ich als Externe von Stadt, Land und Universität<br />

begrüßt wurde.<br />

ZUKUNFT: Wohin muss sich eine moderne<br />

Universität entwickeln?<br />

SEXL: Eine Universität hat drei Säulen,<br />

auf denen sie steht. Das eine ist die <strong>Forschung</strong>.<br />

Wir sind stark in der Grundlagenforschung.<br />

Hier gilt es, Neuland zu<br />

entdecken und neuen Boden zu betreten.<br />

Wissenschaft ist für mich eine Pyramide.<br />

Ganz unten steht die Grundlagenwissenschaft,<br />

darauf wurzelt die angewandte<br />

<strong>Forschung</strong>, ganz oben geht es in die Anwendung,<br />

in meinem Fall, der Krebsforschung,<br />

war es der Schritt zu den Patient:innen.<br />

Unsere zweite Säule ist die<br />

Lehre: Wir müssen junge Menschen möglichst<br />

umfassend und gut auf das Leben,<br />

und zwar auf das Leben im Allgemeinen,<br />

und ihren Beruf vorbereiten.<br />

ZUKUNFT: Die dritte Säule ist die sogenannte<br />

Third Mission.<br />

SEXL: Ja, unsere gesellschaftliche Verantwortung.<br />

Diese hört nicht damit auf, dass<br />

wir junge Menschen ausbilden, sondern<br />

dass wir unser Wissen in die Gesellschaft<br />

tragen und dass wir, wenn wir Probleme<br />

sehen, versuchen, proaktiv Lösungen zu<br />

entwickeln und anzubieten. Das sind die<br />

drei Bereiche, die eine Universität abzudecken<br />

hat. Und daran wird sich nicht<br />

viel ändern. Es ändern sich die Inhalte,<br />

aber nicht das Grundkonzept Universität.<br />

GREGOR WEIHS: Was die <strong>Forschung</strong> betrifft,<br />

haben Universitäten eine riesige Entwicklung<br />

gemacht – und machen immer<br />

noch eine. Moderne <strong>Forschung</strong> strebt nach<br />

Exzellenz, aber nicht nur in dem Sinne,<br />

wie gut man <strong>Forschung</strong> macht, sondern<br />

auch in dem Sinne, dass sie sich die Frage<br />

stellt, was spannende Probleme sind.<br />

VERONIKA SEXL (*1966) ist Krebsforscherin<br />

mit Schwerpunkt auf Leukämien.<br />

Nach dem Medizinstudium in Wien und<br />

<strong>Forschung</strong>saufenthalten in Seattle und<br />

Memphis (USA) wurde sie 2007 Professorin<br />

an der Medizinischen Universität<br />

Wien und 2<strong>01</strong>0 Institutsleiterin an der<br />

Veterinärmedizinischen Universität Wien.<br />

Seit 1. März <strong>2023</strong> ist sie die erste Rektorin<br />

der Universität Inns bruck. Für Ihre<br />

<strong>Forschung</strong>sarbeit wurde Sexl mehrfach<br />

ausgezeichnet, unter anderem mit einem<br />

ERC Advanced Grant, dem Novartis-Preis<br />

für Medizin und dem Alois-Sonnleitner-<br />

Preis der ÖAW.<br />

Interessante Fragen kommen aus der <strong>Forschung</strong><br />

selbst. Nur die Wissenschaft kann<br />

für sich selbst definieren, was interessant<br />

ist – natürlich im Austausch mit der Gesellschaft.<br />

Was danach relevant ist, haben<br />

Forscher:innen nicht selbst in der Hand.<br />

ZUKUNFT: Was sind – abseits der Finanzen<br />

– die größten Herausforderungen?<br />

SEXL: Die Infrastruktur. Die Universität<br />

ist in den letzten Jahren gewachsen<br />

und braucht Platz. Wir haben sehr viele<br />

Standorte, das ist der <strong>Forschung</strong> und Lehre<br />

nicht zuträglich. Es geht also darum,<br />

Platz zu schaffen und die Leute wieder<br />

zusammenzubringen, Begegnung und<br />

Austausch, Lehre und Wissenschaft im<br />

Diskurs zu ermöglichen. Die Infrastruktur<br />

in diesem Sinne zu optimieren, ist eine<br />

Riesenherausforderung.<br />

WEIHS: Wir haben ganz alte Gebäude und<br />

viele aus den 1970er-Jahren. Damals hat<br />

scheinbar niemand darüber nachgedacht,<br />

wo sich Studierende aufhalten, wenn sie<br />

nicht im Hörsaal sind, wo sich Mitarbeiter:innen<br />

treffen können. Heute wird<br />

anders gebaut, es gibt Begegnungszonen.<br />

Dorthin zu kommen, dass der Großteil<br />

der Studierenden und Mitarbeiter:innen<br />

eine Chance auf solche Räumlichkeiten<br />

und Zonen hat, ist eine Herausforderung.<br />

ZUKUNFT: Sie haben die Lehre erwähnt. Ist<br />

diese mehr als reine Wissensvermittlung?<br />

SEXL: Es geht nicht darum, Fakten zu lehren,<br />

sondern wie man Zusammenhänge<br />

verstehen lernt, Hinterfragen, Mustererkennung<br />

und den Umgang mit der<br />

heutigen Welt zu lehren. Unglaublich<br />

wichtig ist auch, in einem Studium Diskursfähigkeit<br />

und soziale Kompetenzen<br />

zu erwerben, sich selbst organisieren zu<br />

lernen und sich eine gewisse Flexibilität<br />

zu bewahren. Unsere Welt bewegt sich.<br />

Wir sind in einem permanenten Entwicklungsprozess,<br />

auf den die Studierenden<br />

vorbereitet werden sollen. Fakten kann<br />

ich nachschauen, die Zusammenhänge<br />

muss ich begreifen. Um das zu können,<br />

muss ich verstehen, wie ich die richtigen<br />

Fragen nach den Zusammenhängen stelle<br />

und wie ich die Muster, die vielen Dingen<br />

zugrunde liegen, erkenne.<br />

WEIHS: Wir sprechen ja von forschungsgeleiteter<br />

Lehre. Wenn junge Menschen mit<br />

ihrer Bachelor- oder Masterarbeit zur <strong>Forschung</strong><br />

kommen, müssen sie genau das<br />

machen. Die Studierenden haben ein Thema<br />

und eine Betreuung, müssen sich aber<br />

selbst reinknien, um Zusammenhänge<br />

und weitere Fragen zu finden. Bei vielen<br />

Studierenden sieht man hier einen Transformationsprozess.<br />

Dabei lernen sie genau<br />

das, wovon die Rektorin gesprochen hat.<br />

ZUKUNFT: Im Bereich der Lehre planen<br />

Sie, durch weitere Wahlpakete die Möglichkeiten<br />

eines stärker selbstgestalteten<br />

Studiums weiter auszubauen. Ist dies<br />

als ein „Back to the Future“, also als eine<br />

Das gesamte Interview finden Sie auf<br />

der Homepage der Uni Inns bruck unter:<br />

www.uibk.ac.at/forschung/magazin<br />

GREGOR WEIHS (*1971) studierte an<br />

der Universität Inns bruck Physik und dissertierte<br />

im Jahr 2000 an der Universität<br />

Wien. Weihs war an der Stanford University<br />

(USA) und ab 2005 an der University<br />

of Waterloo (Kanada), bevor er 2008 als<br />

Professor für Photonik nach Inns bruck<br />

berufen wurde. Von 2<strong>01</strong>6 bis 2020 war<br />

Weihs Vizepräsident des österreichischen<br />

Wissenschaftsfonds FWF. Seit <strong>2023</strong> leitet<br />

er den Exzellenzcluster Quantum Science<br />

Austria. Ausgezeichnet wurde er unter<br />

anderem mit einem ERC Starting Grant<br />

und der Wilhelm-Exner-Medaille der<br />

Österreichischen Gewerbevereins.<br />

„Reparatur“ des verschulten Bologna-<br />

Modells zu verstehen?<br />

SEXL: Ich würde es nicht als Reparieren<br />

bezeichnen. Es geht darum, das Bologna-<br />

System noch mehr zum Leben zu erwecken<br />

und noch mehr Vielfalt abzubilden,<br />

in das Bologna-System eine gewisse Elastizität<br />

und Flexibilität zu bringen. Bologna<br />

hat in vielen Bereichen – zum Beispiel<br />

Mobilität – die Flexibilität für Studierende<br />

erhöht. Das ist positiv und sehr schön. Innerhalb<br />

von Bologna kann man das Starre<br />

lösen, weitere Möglichkeiten einbauen.<br />

ZUKUNFT: Für eine Universität ist exzellente<br />

Nachwuchsarbeit unerlässlich, um<br />

erfolgreich und international sichtbar zu<br />

sein. Was planen Sie, um unter den Studierenden<br />

die talentiertesten zu finden?<br />

WEIHS: Im normalen Prüfungsszenario<br />

sieht man nicht die Fähigkeiten, die wir<br />

suchen, eventuell erkennt man jemanden<br />

schon in den Vorlesungen. Der beste Indikator<br />

sind die Abschlussarbeiten. Lässt<br />

man junge Menschen selbst an etwas forschen,<br />

kommen diese Fähigkeiten zutage.<br />

Auf das achten unsere Betreuer:innen<br />

und schlagen ein Doktoratsstudium vor.<br />

ZUKUNFT: Welche Rahmenbedingungen<br />

soll der wissenschaftliche Nachwuchs<br />

künftig vorfinden?<br />

WEIHS: In vielen, aber nicht allen Bereichen<br />

bieten wir Modelle einer strukturierten<br />

Doktoratsausbildung an. Das<br />

wollen wir für alle Bereiche fördern und<br />

Doktorand:innen die Möglichkeit bieten,<br />

bei einem Betreuer:innenteam neben der<br />

Dissertation Zusätzliches wie Scientific<br />

Writing, Präsentationstechniken, Antragschreiben<br />

etc. zu lernen. Das sind Qualifikationen,<br />

die sie für das wissenschaftliche<br />

Leben, aber auch in der Wirtschaft brauchen<br />

werden. Aber noch etwas zu den<br />

Doktorand:innen: Auch Nachwuchsforscher:innen<br />

von außen sind wichtig, die<br />

durchgängige interne Karriere kann nicht<br />

das alleinige Ziel sein. Es braucht eine Balance,<br />

ebenso gute Postdocs von außen.<br />

Das Rekrutieren ist aber nicht so leicht,<br />

der Wettbewerb ist hart. Manchmal haben<br />

wir aufgrund der tollen Natur und Umgebung<br />

einen Vorteil, manche gehen aber<br />

lieber in eine Großstadt. Beim Rekrutieren<br />

müssen wir uns anstrengen, nicht nur für<br />

Wissenschaftler:innen, auch für das allgemeine<br />

Personal. Es ist nicht leicht, Techniker:innen<br />

oder Mitarbeiter:innen für den<br />

Zentralen Informatikdienst zu finden.<br />

ZUKUNFT: Sie haben ein eigenes Vizerektorat<br />

für Digitalisierung und Nachhaltigkeit<br />

eingerichtet. Warum der Fokus auf<br />

diese zwei Bereiche?<br />

SEXL: Weil es die zwei Bereiche sind, mit<br />

denen unsere Studierenden und wir alle<br />

als Gesellschaft in <strong>Zukunft</strong> wirklich intensiv<br />

umgehen müssen. Die zwei Bereiche<br />

und der große Handlungsbedarf, der<br />

sich aus ihnen ergibt, sind evident. Wir<br />

wollen daher proaktiv gestalten und <strong>Forschung</strong><br />

und Lehre sowie das Hinaustragen<br />

unseres Wissens in die Gesellschaft<br />

forcieren. <br />

ah<br />

24 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 25


GESCHICHTE<br />

GESCHICHTE<br />

Am Nachmittag des 10. Juli 1999<br />

donnerten tausende Tonnen Fels<br />

vom Eiblschrofen ins Tal, weitere<br />

Felsstürze folgten und bedrohten die Bevölkerung<br />

des Schwazer Ortsteils Ried.<br />

Rund 150. 000 Kubikmeter Gestein riefen<br />

in diesen Tagen in Erinnerung, was<br />

vielen Menschen in Österreich, in Tirol,<br />

selbst in Schwaz nicht bewusst war – der<br />

Eiblschrofen ist löchrig wie Schweizer<br />

Käse. Schon in der Bronzezeit wurden am<br />

Eiblschrofen Fahlerze abgebaut, dunkle<br />

Stolleneingänge in der Wand, sogenannte<br />

Heidenzechen, sind heute noch Zeugen<br />

des urgeschichtlichen, feuergesetzten<br />

Abbaus. Die große Blütezeit des Bergbaus<br />

erlebte Schwaz aber erst im 15. und<br />

16. Jahrhundert, zahlreiche Abbaureviere<br />

wie Ringenwechsel, Falkenstein oder Alte<br />

Zeche machten Schwaz zur aller perckhwerck<br />

muater, die nach ganz Europa – und<br />

sogar darüber hinaus – ausstrahlte.<br />

„Ein Grund war, dass das Schwazer<br />

Fahlerz mit einem Prozent Silbergehalt<br />

das silberreichste Europas war. Ein anderer<br />

Grund war das ideale Umfeld: Das<br />

für die Trennung von Kupfer und Silber<br />

notwendige Blei konnte auch in Tirol – in<br />

Gossensaß, am Schneeberg und im Bergrevier<br />

Imst – abgebaut werden; die heimischen<br />

Wälder lieferten das in enormen<br />

Mengen benötigte Holz; mit dem Inn gab<br />

es den idealen Transportweg; und dank<br />

der Salzgewinnung in Hall war notwendige<br />

Infrastruktur und viel Know-how<br />

vorhanden“, zählt der Historiker Georg<br />

Neuhauser Gründe auf, die Tirol vom<br />

Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit<br />

zu einem der führenden Montanzentren<br />

Europas machten. Doch Neuhauser<br />

betont: „Auch in der Ur- und Frühgeschichte<br />

gab es eine Boomphase, der Tiroler<br />

Raum war damals eines der großen<br />

Zentren der Kupfergewinnung.“ Unter<br />

anderem im Unterinntal und im Raum<br />

Kitzbühel sind davon Spuren zu finden:<br />

urgeschichtliche Siedlungen, feuergesetz-<br />

SEGEN UND FLUCH<br />

In der Ur- und Frühgeschichte, vor allem aber im Spätmittelalter war Tirol eines der<br />

wichtigsten Bergbauzentren Europas. Der Abbau und die Gewinnung von Kupfer, Silber und Salz<br />

bedeuteten Arbeit für Tausende Menschen, sie belasteten aber auch die Natur.<br />

DER RINGENWECHSEL zählte zu den ertragreichsten Schwazer Bergbaurevieren, die zahlreichen<br />

Stollenmundlöcher zeigen, wie der Berg ausgehöhlt wurde.<br />

te Gruben, prähistorische Erzwaschanlagen,<br />

Verhüttungsplätze…<br />

„Diese haidnisch Zechl werden im Mittelalter<br />

wieder interessant“, sagt Neuhauser,<br />

der mit drei weiteren Historikern<br />

ein Überblickswerk zur Montangeschichte<br />

Tirols* verfasst hat: „Prospektoren<br />

suchten bei alten Gruben, da sie wussten,<br />

dass Silber nicht weit ist, wo man früher<br />

Kupfer gefunden hatte“, berichtet Neuhauser.<br />

Doch auch andere Beobachtungen<br />

der Natur – Pflanzen, die sulfidische<br />

Böden bevorzugen, grüne (Malachit) und<br />

blaue (Azurit) Spuren im Gestein… – halfen,<br />

potenzielle Abbaustellen zu identifizieren,<br />

sogar Wünschelruten und Berggeister<br />

kamen zum Einsatz. So berichten<br />

Quellen von einem 75-jährigen Tiroler,<br />

der behauptete, einen Berggeist zu besitzen,<br />

der ihm bei der Erzsuche helfe.<br />

Im Auftrag des Landesfürsten Erzherzog<br />

Maximilian III. wurde er losgeschickt<br />

und fand tatsächlich guete goldt und silber<br />

perckhwerch.<br />

Die gefundenen Bodenschätze wie Silber,<br />

Kupfer, Gold, Blei oder Zink sowie<br />

die Salzgewinnung in Hall machten Tirol,<br />

vor allem aber die in- und ausländischen<br />

Gewerke familien wie die Stöckl, Fugger<br />

oder Hoechstetter sowie die weltlichen<br />

und geistlichen Herrscher reich. Von<br />

1470 bis 1529 wurden in Schwaz 1. 000<br />

Tonnen Silber und 72. 000 Tonnen Kupfer<br />

verhüttet, in der Saline Hall wurden zu<br />

Spitzenzeiten 43 Tonnen Salz gewonnen<br />

– am Tag. Zahlreiche historische Bauten<br />

in Tirol bezeugen diesen Reichtum, auch<br />

die Universität Inns bruck fußt auf ihm:<br />

Mit einer von Leopold I. genehmigten<br />

Steuer von zwölf Kreuzern auf jedes in<br />

Tirol verkaufte Fuder Haller Salz – rund<br />

16 Kilo – wurden 1669 Gründung und<br />

Aufbau der Universität finanziert.<br />

Gefragtes Know-how<br />

Die Kunde von reichen Erzfunden in<br />

Schwaz, das sogenannte Berggeschrey,<br />

verbreitete sich ab 1420 in Europa, die<br />

Schwazer Bergchronik berichtet, dass<br />

vyll frembds perckh Volch aus teutschn<br />

* Georg Neuhauser • Tobias<br />

Pamer • Andreas Maier • Armin<br />

Torggler: Bergbau in Tirol.<br />

Von der Urgeschichte bis in die<br />

Gegenwart – Die Bergreviere in<br />

Nord- und Osttirol, Südtirol sowie<br />

im Trentino. Tyrolia Verlag, 2022<br />

„Schon in der Ur- und Frühgeschichte<br />

war Tirol eines<br />

der großen Zentren der<br />

Kupferverhüttung.“ Georg Neuhauser<br />

1<br />

2<br />

AM SCHNEEBERG in Südtirol liegt eines<br />

der ehemals höchstgelegenen Bergwerke<br />

Europas (2. 000 bis 2. 500 Meter), es<br />

wurde vom Mittelalter bis 1985<br />

betrieben. 1 St. Martin war bis in die<br />

1960er-Jahre die höchste, ganzjährig<br />

bewohnte Dauersiedlung Europas, heute<br />

befindet sich dort eine Schutzhütte und<br />

ein Museum. 2 Das Schwazer Bergbuch<br />

aus dem Jahr 1556 zeigt eine aus Holz<br />

errichtete Fleischbank: Zur Versorgung<br />

der Knappen wurden Ochsen aus Polen<br />

und Ungarn auf rund 2. 354 Meter getrieben,<br />

dort gehalten, vor Ort in der<br />

Metzgerei geschlachtet und verarbeitet.<br />

lantn nach Tirol einwanderte. „Es kamen<br />

Knappen aus Sachsen, Goslar und Kuttenberg,<br />

dem heutigen Kutná Hora, und<br />

brachten ihr Bergbauwissen mit“, sagt<br />

Neuhauser. Doch es dauerte nicht lange<br />

und die Schwazer Expertise war auch<br />

andernorts gefragt. So wechselten etwa<br />

ab 1540 Knappen nach der Entdeckung<br />

der Kupferadern in Kitzbühel ins Bergwerk<br />

am Rerobichl. Und auch das Ausland<br />

rief. Als die Gewerkefamilie Hoechstetter<br />

Bergwerke in England übernahm,<br />

holte sie sich Fachkräfte aus Schwaz. Bis<br />

ins 18. Jahrhundert kann Neuhauser Migrationsbewegungen<br />

Tiroler Bergleute<br />

nachweisen, ihr Know-how, die Hoffnung<br />

auf bessere Arbeits- und Lebensbedingungen,<br />

aber auch staatlich geförderte<br />

Migration führten sie nach Skandinavien<br />

und Russland, in den Banat und nach<br />

Siebenbürgen, nach Italien, Spanien und<br />

gar Venezuela.<br />

Die Leistungen der Knappen waren<br />

gewaltig, mit Eisen und Schlägel rückten<br />

sie dem Erz zu Leibe – allerdings im<br />

Schneckentempo. Im harten Schwazer<br />

Dolomit, schreiben Neuhauser und Kollegen,<br />

lag die Vortriebsleistung bei einem<br />

Stollenmaß von ca. 170 mal 50 Zentimeter<br />

bei zwei bis fünf Millimeter pro<br />

Arbeitsschicht, die acht Stunden dauerte.<br />

Dennoch gruben sich die Knappen tief<br />

in den Berg und weit unter die Talsohle.<br />

Der Schwazer Sigmund-Erbstollen endete<br />

1523 rund 240 Meter unter dem Inn, der<br />

Heiliggeist-Schacht in Kitzbühel im Jahr<br />

1614 gar 140 Meter unter dem Meeresspiegel.<br />

Mehr als 200 Jahre später zeigte<br />

sich davon noch Jules Verne beeindruckt:<br />

„Des Professors Berechnung stand richtig.<br />

Wir waren bereits um sechstausend<br />

Fuß tiefer gekommen, als bisher den<br />

Menschen gelungen war, zum Beispiel<br />

in den Gruben zu Kitz-Bühel in Tyrol<br />

und zu Kuttenberg in Böhmen“, heißt<br />

es in Reise zum Mittelpunkt der Erde. Um<br />

aus diesen Tiefen das Grundwasser nach<br />

oben zu schöpfen, reichte schlussendlich<br />

die menschliche Arbeitskraft nicht mehr<br />

aus. 1556 ging in Schwaz ein Pumpwerk<br />

in Betrieb, das der Kitzbüheler Werkmeister<br />

Anton Löscher konstruiert hatte – als<br />

Schwazer Wasserkunst sorgte es für Furore.<br />

Schwaz selbst entwickelte sich mit<br />

dem Bergbau zur Boomtown, ohne das<br />

Stadtrecht zu besitzen. „Da Schwaz eine<br />

enorme Wirtschaftskraft besaß, wollten<br />

die Landesfürsten der Siedlung nicht<br />

noch zusätzliche Privilegien zugestehen“,<br />

weiß Neuhauser. Ende des 16.<br />

Jahrhunderts waren 10. 000 Beschäftigte<br />

nachweisbar, in Schwaz und Umgebung<br />

lebten rund 30. 000 Menschen – nach<br />

Wien die zweitgrößte urbane Region im<br />

Gebiet des heutigen Österreichs.<br />

Die Versorgung der Menschen in einem<br />

Land, das sich aufgrund der klimatischen<br />

und geografischen Bedingungen nicht<br />

selbst versorgen kann, war eine logistische<br />

Meisterleistung – fast alles musste<br />

importiert werden. Pro Woche wurden<br />

26 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Salinen Archiv Bad Ischl, Armin Terzer, TMLF / FB 4312<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 27


GESCHICHTE<br />

KURZMELDUNGEN<br />

REGIEREN PER<br />

ALGORITHMUS?<br />

Cass Sunstein untersucht die Rolle von<br />

Algorithmen in unserer Gesellschaft.<br />

DIE HALLER SALZPRODUKTION benötigte enorme Holzmengen. Flussabwärts treibende Stämme wurden mit dem Holzrechen aufgefangen<br />

und vor der Stadtmauer in unzähligen Holzstapeln gelagert. Auch die Schmelzöfen der Glashütte (re. im Bild) brauchten viel Holz.<br />

rund 69 Tonnen Getreide nach Schwaz<br />

gebracht, pro Kopf entsprach das einem<br />

halben Kilogramm am Tag, der hauptsächlich<br />

zu Bergmus – eine Art Porridge<br />

aus Mehl, Wasser und Schmalz – verarbeitet<br />

wurde. Um 1550 benötigte man<br />

in Schwaz jährlich an die 5. 000 bis 6. 000<br />

Ochsen, die am Landweg aus innerösterreichischen<br />

Gebieten, Böhmen, Ungarn<br />

und Polen nach Tirol getrieben wurden.<br />

Dazu kamen noch Schweine, Schafe und<br />

Geflügel, 13 Metzgereien sorgten für die<br />

Verarbeitung. Selbst in St. Martin am<br />

Schneeberg, eine auf 2. 354 Meter gelegene,<br />

ganzjährig bewohnte Knappensiedlung<br />

am Ende des Südtiroler Passeiertals,<br />

gab es eine Metzgerei, um rund 600 Ochsen<br />

vor Ort zu schlachten.<br />

Fluch statt Segen<br />

Doch der Bergbau war nicht nur Segen<br />

für das Land. So berichten Quellen von<br />

konkreten Umweltschäden rund um die<br />

Schmelzhütte Grasstein südlich von Sterzing<br />

– Äcker und Wiesen waren stark<br />

ausgemergelt, verderbt und geergert. Schwermetallhaltige<br />

Dämpfe, Rauch und Kohlepartikel<br />

sorgten für Luftverschmutzung,<br />

Schwermetalle drangen in Böden und Gewässer.<br />

Vor allem der Wald war betroffen,<br />

weniger aber durch Umweltschäden, viel<br />

mehr durch Kahlschlag. „Die ständige<br />

Versorgung mit Holz stellte ein großes<br />

Problem dar“, sagt Neuhauser.<br />

Die mehrere hundert Kilometer langen<br />

Stollensysteme wurden mit Holz<br />

gesichert, aufgrund der feuchten Bedingungen<br />

mussten die Verzimmerungen<br />

alle sechs bis acht Jahre erneuert werden.<br />

Werkzeuge, Betriebsanlagen und -gebäude,<br />

aber auch die Häuser der Knappen<br />

waren aus Holz, neben Holzkohle auch<br />

der einzige Brennstoff. War Holz in den<br />

ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts<br />

fast noch in unbegrenzten Mengen vorhanden,<br />

wurde es immer mehr zur streng<br />

regulierten Ressource, die aus den Seitentälern<br />

ins Inntal getriftet wurde. „Allein<br />

Ferdinand I., der von 1521 bis 1564 regierte,<br />

erließ 47 Waldordnungen“, berichtet<br />

Neuhauser. Festgehalten wurde<br />

etwa, bis zu welcher Größe Schwemmholz<br />

für den Privatgebrauch gesammelt<br />

GEORG NEUHAUSER (*1982) studierte<br />

in Inns bruck Geschichte, Geografie,<br />

Ur- und Frühgeschichte sowie Mittelalterund<br />

Neuzeitarchäologie und dissertierte<br />

2<strong>01</strong>2 über die Geschichte des Berggerichts<br />

Montafon. Seit 2008 forscht und<br />

lehrt er an der Universität Inns bruck, seit<br />

Oktober 2021 ist er Senior Scientist am<br />

Institut für Geschichtswissenschaften und<br />

Europäische Ethnologie und koordiniert<br />

das Interdisziplinäre <strong>Forschung</strong>szentrum<br />

Regionalgeschichte Europaregion Tirol.<br />

Zudem unterrichtet Neuhauser seit 2006<br />

an Tiroler Schulen, derzeit am Abendgymnasium<br />

in Inns bruck.<br />

werden durfte, ebenso Strafen für die<br />

Entnahme von verirrtem Triftholz. „Holz<br />

war so wichtig, dass erstmals genaue<br />

Grenzen kartiert wurden, um zu wissen,<br />

wem welcher Wald gehört“, erläutert der<br />

Historiker. Ganz Hänge wurden kahl geschlagen,<br />

mit kurzzeitigen Folgen wie<br />

Hochwasser, Muren und Lawinen, aber<br />

auch langfristigen. Neuhauser: „Viele unserer<br />

Monokulturen gehen auf diese Zeit<br />

zurück. Ganze Wälder wurden bis auf<br />

ein paar Samenbäume abgeholzt. Waren<br />

das schnell wachsende Fichten, entstand<br />

dort ein reiner Fichtenwald.“<br />

Fichten-Monokulturen sind nicht die<br />

einzigen Spuren, die der Bergbau in Tirol<br />

hinterlassen hat. Nach dem Höhepunkt<br />

der Silbergewinnung – 1523 mit 15,7 Tonnen<br />

– ging es zuerst langsam, dann immer<br />

schneller bergab. Der Silberreichtum<br />

Tirols war nichts gegen die Vorkommen,<br />

die ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />

in Südamerika abgebaut wurden.<br />

Dennoch sicherte der Bergbau bis in die<br />

zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von<br />

Rovereto bis Reutte Arbeit, heute wird<br />

weder Erz noch Salz im Gebiet des historischen<br />

Tirol abgebaut. Viele Stollen sind<br />

inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich,<br />

Schaubergwerke in Schwaz, Zell am Ziller<br />

oder am Schneeberg geben Einblick in die<br />

Vergangenheit. Anders nutzt Nassereith<br />

seine Bergbaugeschichte. Im Wendelinstollen,<br />

wo einst Blei und Zink abgebaut<br />

wurden, sammelt sich Bergwasser, das<br />

jahrelang durch den Fels gesickert ist. Als<br />

reines Trinkwasser versorgt es die Gemeinde<br />

am Fuße des Fernpass, seit 2022<br />

treibt es auf dem Weg ins Tal dazu ein<br />

Trinkwasserkraftwerk an, das Strom für<br />

155 Haushalte liefert. ah<br />

Cass Sunstein gilt als einer der produktivsten<br />

und als der meistzitierte<br />

rechtswissenschaftliche Autor<br />

der USA. Seine Arbeiten basieren oft auf<br />

verhaltensökonomischen Analysen von<br />

irrationalem Verhalten. Zusammen mit<br />

Richard Thaler arbeitete er eine Theorie<br />

des libertären Paternalismus aus. Für<br />

die Steuerung von staatlichen Anreizen<br />

CASS SUNSTEIN war für eine Böhm-<br />

Bawerk- Lecture Gast an der Uni Inns bruck.<br />

SOZIALES VERHALTEN ZEIGT SICH IM GEHIRN<br />

etablierten Sunstein und Thaler den Begriff<br />

„Nudging“, das Anstupsen in die<br />

gewünschte Richtung. Unter US-Präsident<br />

Obama leitete Sunstein das Office of<br />

Information and Regulatory Affairs und ist<br />

seither Professor für Rechtswissenschaft<br />

an der Harvard University. Unter Präsident<br />

Biden fungiert er als Berater für<br />

Einwanderungspolitik. Für sein wissenschaftliches<br />

Werk wurde Sunstein 2<strong>01</strong>8<br />

mit dem hoch dotierten Holberg-Preis<br />

ausgezeichnet.<br />

Mitte Mai war Cass Sunstein Gast der<br />

sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Fakultäten sowie des <strong>Forschung</strong>sschwerpunkts<br />

Wirtschaft, Politik & Gesellschaft<br />

(EPoS) und berichtete in einer<br />

Böhm-Bawerk-Lecture über seine Untersuchungen<br />

zur Rolle von Algorithmen in<br />

unserer Gesellschaft. Sie sind heute bereits<br />

in vielen Lebensbereichen und oft<br />

unbemerkt im Einsatz. In manchen Prozessen<br />

verbessern Algorithmen die Genauigkeit<br />

und kompensieren irrationales<br />

menschliches Verhalten. In wichtigen<br />

Fragen können sie mit ihren Vorhersagen<br />

aber auch daneben liegen.<br />

RÄTE FÜR SOCIAL-MEDIA-<br />

PLATTFORMEN<br />

Ein <strong>Forschung</strong>steam um Matthias Kettemann<br />

veröffentlichte politische Handlungsempfehlungen<br />

für die Umsetzung von<br />

unabhängigen Gremien zur Kontrolle von<br />

Social-Media-Plattformen. Die Wissenschaftler:innen<br />

haben ein Jahr lang untersucht, wie<br />

demokratische Werte und die Menschenrechte<br />

im digitalen Raum geschützt werden<br />

können. Sie schlagen sogenannte Plattformräte<br />

(eng: Social Media Council/SMC) als<br />

sinnvolles Beratungsinstrument für private<br />

Plattformunternehmen vor. Diese können die<br />

Interessen von Bürger:innen, Industrie und<br />

Politik bei wichtigen Entscheidungsfragen<br />

in Punkten wie Diskriminierung, Meinungsfreiheit<br />

oder Desinformation vertreten. Das<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekt Plattform://Demokratie<br />

wird von der Stiftung Mercator gefördert<br />

und vom Institut für Theorie und <strong>Zukunft</strong><br />

des Rechts der Universität Inns bruck, dem<br />

Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-<br />

Bredow-Institut (HBI), und dem Alexander<br />

von Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft<br />

(HIIG) durchgeführt.<br />

In den vergangenen Jahrzehnten stieg der Spielekonsum am Computer<br />

kontinuierlich an und die Pandemie hat vielen Menschen noch mehr Gelegenheit<br />

für Gaming geboten. In vielen Fällen handelt es sich um gewalthaltige<br />

Videospiele und die Meinungen, ob diese zu Aggression führen, sind<br />

gespalten – selbst in wissenschaftlichen Kreisen gibt es keinen endgültigen<br />

Konsens: Manche sagen, dass Gamer:innen von Ego-Shootern aggressiver<br />

werden; andere meinen, diese könnten zwischen realer Welt und Videospiel<br />

differenzieren; eine dritte Sicht verweist auf die kathartische Wirkung, indem<br />

aggressive Impulse durch Mediengewalt vermindert werden. Der Inns brucker<br />

Sozialpsychologe Tobias Greitemeyer vom Institut für Psychologie sagt, dass<br />

gewalthaltige Computerspiele Aggressionen steigern. Die Effekte bei einer<br />

einzelnen Person sind gering, denn Aggression wird multidimensional durch viele Auslöser im Alltag beeinflusst, wie Partner:innen, Kinder,<br />

Kolleg:innen oder eben durch Videospiele. Gesamtgesellschaftlich betrachtet ergibt sich jedoch ein bedeutsamer Effekt, denn in Österreich<br />

gamen etwa fünf Millionen Menschen, hebt Tobias Greitemeyer hervor: „Mit Interventionen zur Reduktion von Computerspielkonsum kann<br />

man die Aggression der Spielenden reduzieren. Zusätzlich profitieren davon Personen, die selber nicht spielen, wie etwa Geschwister. Setzt<br />

man also beim Spielenden an, erreicht man aggressionsmindernd das komplette soziale Umfeld, das hat schon Relevanz.“<br />

28 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle, TLMF / Dip.856<br />

Fotos: Uni Inns bruck, Unsplash / Alex Haney, Unsplash / Adem AY<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 29


MEDIZIN<br />

MEDIZIN<br />

ABWEHRTRAINING<br />

GEGEN KREBS<br />

Die Bioinformatikerin Francesca Finotello forscht intensiv an der Behandlung von Krebs.<br />

Sie analysiert DNA-Sequenzierungsdaten und schafft die Voraussetzungen für erfolgreiche<br />

personalisierte Krebstherapie.<br />

DIE BIOINFORMATIKERIN Francesca Finotello arbeitet mit DNA-Sequenzierungsdaten.<br />

Den Nobelpreis für Medizin erhielten<br />

im Jahr 2<strong>01</strong>8 die beiden<br />

Immunologen James P. Allison<br />

(USA) und Tasuku Honjo (Japan) – „für<br />

ihre Entdeckung der Krebstherapie durch<br />

Hemmung der negativen Immunregulation“,<br />

wie es in der offiziellen Begründung<br />

des Nobelpreiskomitees lautet.<br />

Vereinfacht ausgedrückt entwickelten<br />

die beiden eine Methode, mit der man<br />

die „Bremse“ des Immunsystems lösen<br />

kann, damit es Krebszellen effizient angreifen<br />

und den Krebs im Idealfall besiegen<br />

kann.<br />

Allison und Honjo lösten mit ihrer<br />

Entdeckung eine Revolution in der Behandlung<br />

von Krebs aus: „Die Krebsimmuntherapie<br />

hat zu einem Paradigmenwechsel<br />

in der Onkologie geführt: von<br />

der direkten Bekämpfung von Krebszellen<br />

zur Unterstützung unserer Immunzellen<br />

im Kampf gegen den Krebs“,<br />

erklärt Francesca Finotello vom Institut<br />

für Molekularbiologie und dem Digital<br />

Science Center (DiSC). Sie forscht daran,<br />

die derzeitigen Grenzen von Krebsimmuntherapie<br />

und personalisierter<br />

Medizin zu überwinden, damit diese Behandlungsansätze<br />

in naher <strong>Zukunft</strong> noch<br />

mehr Krebspatient:innen zugutekommen<br />

können: „Unser Immunsystem erkennt<br />

fremde oder infizierte Zellen, und es erkennt<br />

im Normalfall auch Tumorzellen.<br />

Nun machen sich Krebszellen allerdings<br />

Mechanismen zunutze, die das Immunsystem<br />

behindern.“<br />

Sogenannte Immun-Checkpoints,<br />

Rezeptoren auf T-Zellen des Immunsystems,<br />

regeln die Immunreaktion und<br />

schützen zum Beispiel körpereigene<br />

Zellen vor Attacken durch die Körperabwehr.<br />

„Tumorzellen können diese<br />

Rezeptoren jedoch nutzen, um ein ‚Aus‘-<br />

Signal an T-Zellen zu senden und so zu<br />

verhindern, dass das Immunsystem sie<br />

angreift.“ Die Pionierarbeit von Allison<br />

und Honjo führte zur Entwicklung neuer<br />

Krebsimmuntherapien, die als Immun-<br />

Checkpoint-Blocker bezeichnet werden:<br />

Antikörper, die diese Immun-Checkpoints<br />

blockieren und die „Bremsen“ der<br />

T-Zellen freigeben. Dadurch wird eine<br />

dauerhafte Immunantwort ausgelöst:<br />

Das Immunsystem greift den Tumor an.<br />

„Das Ziel von Immuntherapie ist<br />

immer das gleiche: Wir wollen<br />

möglichst viele Immunzellen im<br />

Körper einer erkrankten Person,<br />

die den Tumor attackieren.“ <br />

<br />

Francesca Finotelloi<br />

Immuntherapie gegen Krebs<br />

Diese Immun-Checkpoint-Therapie ist<br />

bei unterschiedlichen Krebsarten – unter<br />

anderem bei Melanomen, aber auch bei<br />

Brust-, Leber- und Nierenkrebs – bereits<br />

in Form mehrerer zugelassener Medikamente<br />

im Einsatz, vorrangig bei fortgeschrittenem<br />

Krebs. „Diese Therapien retten<br />

Leben, es gibt phänomenale Resultate<br />

und eine lang anhaltende Immunantwort<br />

für Menschen mit Metastasen. Das ist<br />

allerdings leider nicht die Mehrheit der<br />

Patientinnen und Patienten, und die Mechanismen,<br />

durch die bösartige Zellen<br />

immer noch in der Lage sind, sich dem<br />

Immunsystem zu entziehen, sind nicht<br />

vollständig geklärt“, sagt Francesca Finotello.<br />

Hier kommt die Expertise der Bioinformatikerin<br />

ins Spiel: Krebszellen<br />

bilden Antigene aus, die sie den Immunzellen<br />

präsentieren, und da Krebszellen<br />

mutieren, sind auch diese sogenannten<br />

Antigene mutiert, das heißt, „neu“ für<br />

das Immunsystem – daher werden sie<br />

als „Neoantigene“ bezeichnet. „Die Neoantigene<br />

sind krebsspezifisch und in den<br />

allermeisten Fällen auch patientenspezifisch:<br />

Sie unterscheiden sich von Person<br />

zu Person“, erklärt die Bioinformatikerin.<br />

Mit ihrer <strong>Forschung</strong>sgruppe entwickelt<br />

Finotello computergestützte Instrumente<br />

zur Analyse von Genomdaten von Krebspatient:innen,<br />

konkret deren Tumorzellen,<br />

und sagt voraus, welche Neoantigene<br />

diese Krebszellen bilden und dem<br />

Immunsystem präsentieren. Mit diesen<br />

Daten lassen sich Vorhersagen treffen,<br />

welche Krebsarten welche Neoantigene<br />

bei der untersuchten Person bilden. Die<br />

Vorhersage von Krebsneoantigenen ist<br />

nicht nur wichtig, um den Verlauf der<br />

Krebsimmuntherapie zu überwachen,<br />

sondern vor allem, um personalisierte<br />

Immuntherapien zu entwickeln. Diese<br />

Therapien werden derzeit in verschiedenen<br />

klinischen Studien weltweit getestet.<br />

„Sobald zum Beispiel eine Liste von Neoantigen-Kandidaten<br />

aus der Analyse von<br />

Sequenzierungsdaten des Tumors eines<br />

Patienten identifiziert ist, kann ein personalisierter<br />

Impfstoff entwickelt werden,<br />

der die Immunzellen des Patienten gezielt<br />

anweist, die schädlichen Zellen zu<br />

erkennen und zu bekämpfen“, sagt Francesca<br />

Finotello.<br />

Eine zweite Behandlungsmethode neben<br />

der Impfung besteht darin, vorhandene<br />

Immunzellen eines Krebspatienten<br />

zu isolieren – zum Beispiel durch eine<br />

Blutentnahme – und dann die computergestützt<br />

erhobenen Ziele zu verwenden,<br />

um die T-Zellen zu identifizieren, die<br />

in der Lage sind, Tumorzellen mit diesen<br />

Neoantigenen zu erkennen. Danach<br />

können diese vermehrt werden, um daraus<br />

schließlich eine große „Armee“ von<br />

Tumor-reaktiven T-Zellen zu erhalten.<br />

Diese „richtigen“ Immunzellen können<br />

dann wieder injiziert werden und bekämpfen<br />

den Tumor. „Wenn der Krebs<br />

fortschreitet, sind die T-Zellen möglicherweise<br />

nicht in der Lage, den Tumor<br />

in ausreichender Zahl zu infiltrieren oder<br />

bösartige Zellen effizient zu erkennen<br />

und anzugreifen. Deshalb kann es einerseits<br />

helfen, das Immunsystem durch<br />

eine Impfung zu ‚trainieren‘, andererseits<br />

auch, diese vorhandenen Zellen anderweitig<br />

zu vermehren. Das Ziel von Immuntherapie<br />

ist immer das gleiche: Wir<br />

wollen möglichst viele Immunzellen im<br />

Körper einer erkrankten Person, die den<br />

Tumor attackieren.“<br />

Computergestützt<br />

Grundlage dieser Arbeit sind Open-<br />

Source-Analysetools, die Francesca Finotello<br />

und ihre Arbeitsgruppe entwickelt<br />

haben und auch stetig weiterentwickeln.<br />

Die Tools nextNEOpi und Scirpy analysieren<br />

die personalisierten RNA- und DNA-<br />

Sequenzierungsdaten und sagen sowohl<br />

die Tumor-Neoantigene als auch die T-<br />

Zell-Rezeptoren voraus, die diese Antigene<br />

erkennen. Andere digitale Werkzeuge,<br />

mit denen die Forscherin arbeitet, erlauben<br />

es zum Beispiel auch, auf Basis von<br />

RNA-Sequenzdaten vorherzusagen, wie<br />

Krebs-Patient:innen auf eine Immuntherapie<br />

reagieren (EASIER). Dieselben Daten<br />

lassen sich sogar nutzen, um die Zusammensetzung<br />

und räumliche Verteilung<br />

von bestimmten Immunzellen innerhalb<br />

eines Tumors zu bestimmen (quanTIseq<br />

und spacedeconv) – wichtige Information,<br />

wenn es darum geht, einen Tumor<br />

erfolgreich anzugreifen. Derzeit steht eine<br />

besonders aggressive Krebsart im Fokus<br />

der Forscherin: „Wir arbeiten derzeit daran,<br />

Glioblastome, eine aggressive Form<br />

von Hirnkrebs, besser zu verstehen. Immuntherapien<br />

funktionieren bei Glioblastomen<br />

derzeit nämlich leider noch nicht<br />

sehr zuverlässig. Aber wir arbeiten daran,<br />

zu verstehen, wie wir die körpereigene<br />

Abwehr besser für den Kampf gegen diese<br />

Tumore ausstatten können, konkret<br />

gerade in einem gemeinsamen Projekt mit<br />

Kolleg:innen in Mailand.“ sh<br />

FRANCESCA FINOTELLO (*1985 in<br />

Venedig) promovierte 2<strong>01</strong>4 an der Universität<br />

Padua in Bioingenieurwissenschaften.<br />

Sie ist Assistenzprofessorin am Institut für<br />

Molekularbiologie und am Digital Science<br />

Center (DiSC) der Universität Inns bruck,<br />

wo sie die Gruppe Computational Biomedicine<br />

leitet. Sie verfügt über langjährige<br />

Erfahrung in der bioinformatischen<br />

Analyse von Multiomics-Daten und in der<br />

Entwicklung von Berechnungsmethoden<br />

für Präzisions- und personalisierte Medizin.<br />

Ihre Gruppe konzentriert sich insbesondere<br />

auf die Krebsimmunologie und integriert<br />

Bioinformatik, Systembiologie und<br />

Techniken des maschinellen Lernens, um<br />

die Regeln für die Interaktion zwischen Tumor-<br />

und Immunzellen aufzuklären. Durch<br />

die Charakterisierung der Landschaft der<br />

Krebsneoantigene, der Zusammensetzung<br />

des Tumorimmunkontextes und des komplizierten<br />

Zusammenspiels, das die Zell-<br />

Zell-Interaktionen in der Mikroumgebung<br />

des Tumors steuert, will sie mechanistische<br />

Grundlagen zur Verbesserung der Krebsimmuntherapie<br />

gewinnen.<br />

30 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 31


ÖKOLOGIE<br />

ÖKOLOGIE<br />

HORTE DER<br />

BIODIVERSITÄT<br />

Der Gletscherrückgang beraubt hochalpine Tierarten ihres Lebensraums, wie eine<br />

internationale Studie zeigt. Der mitwirkende Ökologe Leopold Füreder plädiert<br />

daher für die Ausweitung von Schutzzonen auf die Gletschervorfelder.<br />

„Den Kaltwasser-Arten bleibt<br />

nur eine Flucht in noch größere<br />

Höhen, so lange das überhaupt<br />

noch möglich ist.“ Leopold Füreder<br />

Schmelzende Gletscher haben massive<br />

Folgen für die Biodiversität<br />

im Alpenraum: Das demonstrierte<br />

ein internationales Forscher:innen-Team<br />

kürzlich in einer im Fachmagazin Nature<br />

Ecology&Evolution veröffentlichten<br />

Untersuchung. Am Beispiel der 15 wichtigsten<br />

alpinen wirbellosen Arten wie<br />

etwa Eintags-, Stein- oder Köcherfliegen<br />

sowie Würmern wie dem Alpenstrudelwurm<br />

wurden erstmals die Auswirkungen<br />

der Klimakrise auf die Biodiversität<br />

im gesamten europäischen Alpenraum<br />

für einen Zeitraum von 2020 bis 2100<br />

modelliert. Dazu wurden Gletscher-,<br />

Landschafts- und Biodiversitätskartierungsdaten<br />

aus den Alpen kombiniert.<br />

Leopold Füreder, Leiter der River and<br />

Conservation Research Group am Institut<br />

für Ökologie, steuerte Analysen der<br />

Entwicklung dieser Kaltwasser-Arten<br />

1 2<br />

3 4<br />

vor allem aus der Gletscherregion Rotmoostal<br />

im Hinteren Ötztal Tirols für die<br />

Modellierungen bei. Die dortigen Flussläufe<br />

untersucht der Forscher bereits seit<br />

20 Jahren genau.<br />

EINBLICK IN DIE HOCHALPINE TIERWELT: 1 Crenobia alpina: Der Alpenstrudelwurm<br />

ist typisch für Bäche ohne Gletschereinfluss. 2 Rhithrogena: Die Eintagsfliegenlarve lebt<br />

typischerweise in gletscherbeeinflussten Bächen. 3 Diamesa: Die Zuckmückenlarve ist<br />

typisch für stark vergletscherte Bäche. 4 Drusus discolor: Die Köcherfliegenlarve kommt<br />

typischerweise in Hochgebirgsbächen vor.<br />

LEOPOLD FÜREDER (*1958) studierte<br />

Zoologie mit Schwerpunkt Limnologie<br />

und Taxonomie an der Universität Innsbruck.<br />

Sein Doktorat erwarb er an den<br />

Universitäten Inns bruck und Philadelphia.<br />

2003 habilitierte er sich in den Fächern<br />

Limnologie und Zoologie. Er ist Leiter der<br />

Arbeitsgruppe River and Conservation<br />

Research am Institut für Ökologie an der<br />

Universität Inns bruck. Seit 2002 ist er<br />

Vorsitzender des Naturschutzbeirats der<br />

Tiroler Landesregierung, seit 2<strong>01</strong>5 von<br />

ISCAR (International Scientific Commission<br />

of the Alpine Region).<br />

Angepasste Kälte-Spezialisten<br />

„Die Larven von Fliegen und Würmern,<br />

wie sie in Quell- und Gletscherbächen<br />

im hochalpinen Raum vorkommen, sind<br />

hoch spezialisiert für ihren kalten Lebensraum<br />

und spielen in der Nahrungskette<br />

eine wichtige Rolle“, verdeutlicht<br />

Leopold Füreder. „Durch die Zunahme<br />

der Temperaturen schmelzen einerseits<br />

die Gletscher, andererseits erwärmt sich<br />

auch das Wasser der Bäche. Daher verschiebt<br />

sich ihr Refugium in immer höher<br />

gelegene Bereiche oder verschwindet im<br />

schlimmsten Fall komplett – mit Folgen<br />

für das gesamte alpine Ökosystem. Den<br />

Kaltwasser-Arten bleibt nur eine Flucht<br />

in noch größere Höhen, so lange das<br />

überhaupt noch möglich ist“, erklärt der<br />

Ökologe.<br />

Kurzfristig werden Gletscherflüsse<br />

aufgrund der Schmelze mehr Wasser<br />

führen, in langfristiger Perspektive allerdings<br />

wird sich die Wassermenge verringern<br />

und die Wassertemperatur noch<br />

weiter erhöhen. Darin sieht der Ökologe<br />

die Gefahr einer Kettenreaktion: „Wir<br />

haben dann fehlende Nahrung in Form<br />

von Insektenlarven zum Beispiel für Fische<br />

wie die Bachforelle, aber auch für<br />

terrestrische Tiere wie Vögel, die sich von<br />

den ausgewachsenen Wasserinsekten ernähren,<br />

bedeutet dies Einschnitte in der<br />

Nahrungsverfügbarkeit.“<br />

Schutzgebiete ausbauen<br />

Die wenigen Bereiche, die als Lebensraum<br />

für die auf Kälte spezialisierten Arten-Gemeinschaften<br />

noch bleiben, sollten<br />

daher besonders geschützt werden, wie<br />

die Autor:innen betonen. Nur etwa zwölf<br />

Prozent der bis zum Jahr 2100 laut der<br />

Modellierungen noch bestehenden Refugien<br />

befinden sich in heutigen Naturschutzgebieten.<br />

„Da sich die Lage durch<br />

die steigenden Temperaturen immer weiter<br />

verschärfen wird, müssen wir davon<br />

ausgehen, dass sich auch der Druck auf<br />

die noch verbleibenden Gletschergebiete<br />

erhöhen wird. Die Suche nach schneesicheren<br />

Skigebieten ist dabei genauso ein<br />

Thema wie der Ausbau der Wasserkraft“,<br />

so Leopold Füreder. „Gletscherschutz –<br />

und damit Schutz der Biodiversität – bedeutet<br />

daher auch, die Gletscher samt<br />

ihren Vorfeldern vermehrt zu Naturschutzgebieten<br />

zu erklären.“ mb<br />

32 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Leopold Füreder<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 33


WIRTSCHAFT<br />

WIRTSCHAFT<br />

„Alle Handlungen der<br />

EZB sind darauf<br />

ausgerichtet,<br />

ein möglichst<br />

schwankungsfreies<br />

Preisniveau in Europa<br />

zu gewährleisten.“<br />

AM PULS DER<br />

GELDPOLITIK<br />

Maximilian Breitenlechner interessiert sich für das große Ganze<br />

der europäischen und globalen Wirtschaft. In der Makroökonomie<br />

verhaftet, beschäftigt sich der Wirtschaftswissenschaftler vor allem mit<br />

Konjunkturzyklen und zieht aus enormen Datensätzen Rückschlüsse daraus,<br />

wie unser Wirtschaftssystem funktioniert – oder auch nicht.<br />

ZUKUNFT: Bei einem Blick auf Ihre <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />

stechen einige Begriffe ins Auge, die<br />

aktueller gerade nicht sein könnten: Preise,<br />

Zinsen, Inflation. Woran arbeiten Sie in diesem<br />

Bereich?<br />

MAXIMILIAN BREITENLECHNER: Wir interessieren<br />

uns in der Makroökonomie unter anderem<br />

für Konjunkturzyklen und stellen uns die Frage,<br />

was deren Entwicklung beeinflusst. Das ist<br />

natürlich ein sehr komplexes Feld, denn in die<br />

Konjunktur spielen viele ökonomische Größen<br />

hinein, wie etwa Produktion, Konsum, Preise<br />

oder Zinsen. Der Fokus meiner <strong>Forschung</strong><br />

liegt hier seit jeher in der Geldpolitik – und<br />

damit auch intensiv auf der Rolle von Zentralbanken.<br />

Ich möchte mit meinem empirischen<br />

Zugang klären und auch quantifizieren, welche<br />

Rolle Zentralbanken in der Stabilisierung<br />

von Konjunkturzyklen haben und wo und<br />

wie sich ihre Eingriffe in die Geldpolitik tatsächlich<br />

abbilden. Meine Perspektive ist dabei<br />

aber weniger auf Nationalstaaten gerichtet,<br />

sondern auf die großen Währungsräume wie<br />

die EU mit der Europäischen Zentralbank EZB<br />

oder auch die USA mit ihrem Zentralbank-<br />

System Federal Reserve.<br />

ZUKUNFT: Wie untersuchen Sie diese Fragestellungen?<br />

BREITENLECHNER: Da sind wir gleich bei einer<br />

der größten Herausforderung meiner For-<br />

schungsarbeit, nämlich der Zugang zu Daten<br />

bzw. deren Verfügbarkeit. Wir empirische Makroökonom:innen<br />

stehen immer wieder vor<br />

dem Problem, wenige Daten zu haben oder –<br />

wenn sie verfügbar sind – eher nur für kurze<br />

Zeitperioden. Wenn wir zum Beispiel in die<br />

USA blicken, so haben wir dort die Situation,<br />

dass wir riesige und frei zugängliche Datensätze<br />

haben. Ein Beispiel: In den USA kann<br />

man von jeder Bank die vierteljährlichen Bilanzdaten<br />

einsehen, und das zurück bis 1980.<br />

In meiner Dissertation habe ich diese Daten<br />

dazu verwendet, um zu zeigen, wie der Bankensektor<br />

Einfluss nimmt in die Transmission<br />

von geldpolitischen Entscheidungen auf die<br />

Wirtschaft. In Europa ist die Datenverfügbarkeit<br />

leider nicht so gut, die Lage hat sich in<br />

den letzten Jahren diesbezüglich aber verbessert,<br />

was zu immer mehr Projekten mit europäischem<br />

Schwerpunkt führt.<br />

ZUKUNFT: Und wenn Sie sich mit diesem europäischen<br />

Schwerpunkt auseinandersetzen,<br />

spielt die Europäische Nationalbank in diesem<br />

Sinne eine große Rolle.<br />

BREITENLECHNER: Ja, die EZB spielt da naturgemäß<br />

eine wesentliche Rolle, da ihre Aufgabe<br />

im Verfügen geldpolitischer Maßnahmen<br />

liegt, wie etwa der Regulierung der Zinssätze<br />

oder auch in der Überwachung des Bankensektors.<br />

Das wichtigste Mandat der Europäischen<br />

Zentralbank ist die Preisstabilität, alle<br />

Handlungen dieser Institution sind darauf<br />

ausgerichtet, ein möglichst schwankungsfreies<br />

Preisniveau in Europa zu gewährleisten.<br />

Die Entwicklungen auf nationalstaatlicher<br />

Ebene sind vom Leitzins, den die EZB vorgibt,<br />

abhängig und prägen somit die volkswirtschaftlichen<br />

Entwicklungen im Grunde<br />

auf allen Ebenen.<br />

ZUKUNFT: Da könnte man nun aber in Anbetracht<br />

allein der jüngsten Vergangenheit mit<br />

enorm gestiegenen Preisen für Waren sowie<br />

Dienstleistungen und hoher Inflation etwas<br />

zweifeln, ob das so gut funktioniert, oder?<br />

BREITENLECHNER: Werfen wir vielleicht kurz<br />

einen Blick auf die allgemeinen Zusammenhänge,<br />

warum Inflation entsteht. Preissteigerungen<br />

ergeben sich im Wesentlichen, wenn<br />

die Nachfrage nach Gütern steigt oder das<br />

Angebot sinkt. Nun hat sich durch die Kombination<br />

aus Folgen der Pandemie und dem<br />

Ausbruch des Angriffskrieges Russlands<br />

gegen die Ukraine eine besonders herausfordernde<br />

Situation für die globale Wirtschaft<br />

ergeben. Zum einen gab es nach Abflauen<br />

der Corona-Krise einen starken Drang nach<br />

Konsum, gleichzeitig wurde durch die Energieabhängigkeit<br />

von Russland und Problemen<br />

in globalen Lieferketten die Produktion viel<br />

teurer. Diese Kombination hat zu einem starken<br />

Anstieg des Preisniveaus, also zu hoher<br />

Inflation geführt und diese Entwicklung entspannt<br />

sich erst langsam. Nun ist die Frage:<br />

Was kann dagegen getan werden? Und da<br />

kommt der EZB eine zentrale Rolle zu, da sie<br />

über Zinsen Einfluss auf diese Entwicklung<br />

nehmen kann. Erhöht die EZB den Leitzins,<br />

werden Kredite teurer und Investitionen gehen<br />

zurück. Das drückt schlussendlich die<br />

Nachfrage und reduziert den Preisdruck und<br />

die Inflation. Allerdings bedeutet eine geringere<br />

Nachfrage auch einen Rückgang der<br />

Wirtschaftsleistung. Die Ausgestaltung der<br />

Geldpolitik ist also heikel und die Faktoren,<br />

die etwa die EZB zu gewissen Handlungen<br />

veranlassen, sind sehr komplex. Diese empirisch<br />

zu erfassen ist eine große Herausforderung.<br />

ZUKUNFT: Welchen Aspekt aus diesem komplexen<br />

Feld, in das Sie uns nun einen Einblick<br />

gewährt haben, bearbeiten Sie im Moment?<br />

BREITENLECHNER: Wie ich eingangs bereits erwähnt<br />

habe, hat sich die Datenlage auch im<br />

europäischen Umfeld glücklicherweise verbessert.<br />

Daher können wir nun empirisch<br />

untersuchen, wie sich die Politik der EZB über<br />

die Zeit auf Produktion und Preise im Euro-<br />

Raum auswirkt – und zwar erstmals mittels<br />

entsprechender Datenreihen in historischer<br />

Perspektive. Die Europäische Zentralbank ist<br />

mit ihrer Gründung 1998 eine verhältnismäßig<br />

junge Institution, die sich sozusagen erst<br />

den „Respekt“ im Sinne einer finanzpolitischen<br />

Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit<br />

erarbeiten musste. Das heißt: Die Wirksamkeit<br />

ihrer geldpolitischen Entscheidungen wie etwa<br />

die Gestaltung des Leitzinses hat sich über<br />

die Zeit verändert und über die Jahre – wie<br />

wir aus ersten Ergebnissen sehen können –<br />

verstärkt. Es besteht in der empirischen Makroökonomie<br />

noch enorm viel <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

und ich bin zuversichtlich, dass unsere<br />

Ergebnisse in <strong>Zukunft</strong> dazu beitragen können,<br />

die Dynamiken unseres Wirtschaftssystems<br />

besser zu verstehen. Denn daraus lässt<br />

sich dann möglicherweise auch ableiten, wie<br />

die jeweiligen Zentralbanken weltweit aufeinander<br />

einwirken und welche Effekte deren<br />

geldpolitische Maßnahmen in globaler Perspektive<br />

haben. Eine stärkere internationale<br />

Koordination könnte dazu beitragen, die Bedürfnisse<br />

kleinerer Volkswirtschaften in sogenannten<br />

Entwicklungsländern stärker zu<br />

berücksichtigen und damit der globalen Dimension<br />

von Preisentwicklungen gerecht zu<br />

werden. <br />

mb<br />

MAXIMILIAN<br />

BREITENLECHNER, PhD,<br />

forscht als Assistenzprofessor<br />

am Institut für Wirtschaftstheorie,<br />

-politik und -geschichte<br />

und im Rahmen des<br />

<strong>Forschung</strong>sschwerpunktes<br />

Economics, Politics and Society<br />

(EPoS) an der Universität<br />

Inns bruck. Seine <strong>Forschung</strong>sinteressen<br />

liegen in den Bereichen<br />

Monetäre Ökonomie,<br />

Angewandte Makroökonometrie<br />

und Internationale Makroökonomie.<br />

Breitenlechner<br />

studierte an der Uni Inns bruck<br />

und am University College<br />

Cork Wirtschaftswissenschaften<br />

und schloss 2<strong>01</strong>7 sein<br />

PhD-Studium ab. Der Ökonom<br />

ist international vernetzt,<br />

Research Affiliate an der City<br />

University Hong Kong und war<br />

beratend für die Europäische<br />

Zentralbank EZB tätig.<br />

34 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andeas Friedle<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 35


RELIGION<br />

RELIGION<br />

ZWISCHEN RELIGION<br />

UND POPKULTUR<br />

Exorzismus und Besessenheitsvorstellungen sind sowohl im römisch-katholischen Glauben<br />

als auch in der Populärkultur nach wie vor präsent. Die Religionswissenschaftlerin Nicole Bauer<br />

untersucht den Umgang mit Exorzismus in der römisch-katholischen Kirche.<br />

FAITH BRAND: Nicole Bauer hat den römisch-katholischen Exorzismus in Österreich untersucht.<br />

Satan und die Austreibung des Bösen<br />

spielen in der römisch-katholischen<br />

Kirche eine größere Rolle als gemeinhin<br />

bekannt ist. „Mein Schwerpunkt<br />

liegt in der Religionsökonomie, und vor<br />

diesem Hintergrund habe ich mich auch<br />

mit Exorzismuspraktiken in der Kirche<br />

beschäftigt. Betrachtet man die Entwicklung<br />

vom Exorzismus in der katholischen<br />

Kirche, findet man einige Analogien zu<br />

marktwirtschaftlichen Dynamiken“, erklärt<br />

die Religionswissenschaftlerin Nicole<br />

Bauer: „Zudem habe ich mir angesehen,<br />

ob es eine Überlappung zwischen<br />

religiöser Praxis und der Entwicklung im<br />

popkulturellen Feld gibt.“<br />

In der katholischen Kirche waren die<br />

Themen Besessenheit und Exorzismus<br />

immer präsent. Der katholische Exorzismus<br />

bezieht sich in seiner gegenwärtigen<br />

Umsetzung auf einen Ritualtext<br />

des frühen 17. Jahrhunderts. Das Rituale<br />

Romanum von 1614 stellt die Grundlage<br />

der weltweit durchgeführten kirchlichen<br />

Exorzismus-Praxis dar und ist auch kirchenrechtlich<br />

verankert.<br />

Popkulturelles Phänomen<br />

Mit dem Erfolg des Films Der Exorzist aus<br />

dem Jahr 1973 gelang dem Exorzismus<br />

der Sprung in die Populärkultur und verschaffte<br />

dem Thema eine Art Wiedererwachen.<br />

Zahlreiche weitere Filme, Serien<br />

und Bestseller folgten. Auch innerhalb<br />

der katholischen Kirche rückten Teufelsaustreibungen<br />

dadurch wieder etwas<br />

mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit.<br />

Innerhalb der Kirche etablierte sich der<br />

italienische Priester und Autor Gabriele<br />

Amorth mit zahlreichen auch international<br />

übersetzten Bestsellern und einer<br />

starken Medienpräsenz zum Gesicht des<br />

katholischen Exorzismus in Italien.<br />

Amorth sah es als seine göttliche<br />

Mission an, die Idee des Teufels, der<br />

dämonischen Besessenheit und damit<br />

die Notwendigkeit des Exorzismus in<br />

der gesamten katholischen Welt zu verbreiten.<br />

1999 wurde – angestoßen durch<br />

das Zweite Vatikanische Konzil – das<br />

Exorzismus-Ritual von 1614 überarbeitet;<br />

damit einher ging auch die Gründung<br />

einer internationalen Exorzisten-Vereinigung,<br />

die vom Vatikan kirchenrechtlich<br />

anerkannt wurde. Ende der 2000er-Jahre<br />

gab es zudem auch in Österreich eine<br />

Aufforderung an die österreichische Bi-<br />

schofskonferenz, in allen Diözesen einen<br />

Exorzisten zu bestellen.<br />

„Diese Aufforderung kam direkt von<br />

der Glaubenskongregation und man<br />

berief sich dabei auf das Kirchenrecht,<br />

in dem verankert ist, dass jede Diözese<br />

einen Exorzisten stellen muss“, erläutert<br />

Nicole Bauer. Die meisten österreichischen<br />

Diözesen sind dieser Aufforderung<br />

auch nachgekommen, auch wenn<br />

die Bezeichnungen für die Verantwortlichen<br />

unterschiedlich sind. Meist spricht<br />

man von Heilungs- und Befreiungsdienst<br />

oder spezieller Seelsorge. „Es gibt natürlich<br />

auch innerhalb der Kirche unterschiedliche<br />

Haltungen. Exorzismus zählt<br />

nicht zur Mainstream-Theologie, aber er<br />

existiert und war und ist Teil der römischkatholischen<br />

Ideologie“, so Nicole Bauer.<br />

„Auch wenn Exorzismen in der Realität<br />

nicht ganz so spektakulär ablaufen, wie in<br />

Filmen dargestellt, sie werden noch heute<br />

– auch in Österreich – durchgeführt.<br />

Lange Tradition<br />

Seit dem Wiederaufleben des Exorzismus<br />

in der Populärkultur entwickelte sich<br />

neben der römisch-katholischen Kirche<br />

auch ein großes Feld an „Dienstleistern“,<br />

die unabhängig vom religiösen Kontext<br />

Exorzismen, Besessenheitsheilungen und<br />

Reinigungen anbieten. „Dieses Feld umfasst<br />

Esoteriker:innen, Energetiker:innen<br />

und Geistheiler:innen, die katholische<br />

Narrative einbeziehen und sich selbst<br />

zum Teil als Exorzist:innen bezeichnen“,<br />

beschreibt Nicole Bauer.<br />

Die Religionswissenschaftlerin hat<br />

untersucht, wie sich katholischer Exorzismus<br />

auch in der Selbstdarstellung davon<br />

unterscheidet. „Marken entstehen immer<br />

durch Abgrenzung von anderen ähnlichen<br />

Anbietern. Ich habe also untersucht,<br />

wie sich der römisch-katholische Exorzismus<br />

von anderen Heilungsangeboten<br />

abgrenzt, was sozusagen sein Alleinstellungsmerkmal<br />

ist“, erklärt Bauer. Eine<br />

der wesentlichsten Storylines, welche die<br />

Religionswissenschaftlerin dabei identifiziert<br />

hat, ist die lange Tradition des katholischen<br />

Exorzismus. „Der katholische<br />

Exorzismus geht auf Jesus selbst zurück<br />

und katholische Exorzisten sehen sich<br />

als Nachfolger Jesu in einer direkten Traditionslinie.<br />

Verweise auf die Bibel und<br />

das Rituale Romanum vermitteln den Eindruck<br />

einer uralten Praxis mit bewährter<br />

Wirksamkeit“, sagt Bauer.<br />

KATHOLISCHE EXORZISTEN sehen sich als Nachfolger Jesu. Im Bild eine Dämonenaustreibung<br />

durch Jesus Christus auf einem Fastentuch im Gurker Dom aus dem Jahr 1458.<br />

NICOLE BAUER (*1980) studierte<br />

Soziologie mit dem Schwerpunkt<br />

Religionssoziologie an der Universität<br />

Graz und promovierte 2<strong>01</strong>5 am Institut<br />

für Religionswissenschaft der Universität<br />

Heidelberg, wo sie bis 2<strong>01</strong>6 als wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin tätig war. 2<strong>01</strong>7<br />

wechselte sie als wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin an die Universität Innsbruck,<br />

zuerst an das Institut für Praktische<br />

Theologie und 2022 an das Institut für<br />

Bibelwissenschaften und Historische<br />

Theologie.<br />

Gleichzeitig beruhen laut Nicole Bauer<br />

aber viele Aspekte der heutigen Exorzismus-Praxis<br />

auf modernen Ideen und Diskursen<br />

und haben keine biblische Grundlage.<br />

Hier spielt vor allem die sogenannte<br />

Medikalisierung eine große Rolle. „Was<br />

den Exorzismus der katholischen Kirche<br />

von anderen ähnlichen religiösen Heilpraktiken<br />

unterscheidet, ist die deutliche<br />

Einbeziehung psychiatrischer, medizinischer<br />

und psychologischer Fachkenntnisse“,<br />

so Bauer. Es werden bestimmte<br />

medizinische und psychologische Methoden<br />

aufgegriffen und eingebaut, wie<br />

schon die verwendeten Begrifflichkeiten<br />

wie „Diagnose“ und „Anamnese“ zeigen.<br />

2<strong>01</strong>8 wurde zudem ein Exorzismus-Kurs<br />

an der Vatikanischen Hochschule Regina<br />

Apostulorum etabliert.<br />

„Durch diesen Kurs und die Verwendung<br />

medizinischer und psychologischer<br />

Begrifflichkeiten kommt es auch zu einer<br />

Akademisierung des katholischen Exorzismus“,<br />

erläutert Nicole Bauer. Was den<br />

katholischen Exorzismus zudem deutlich<br />

von esoterischen Angeboten unterscheidet,<br />

ist die vorhandene Struktur. Es<br />

gibt klare kirchenrechtliche Rahmenbedingungen<br />

für die Durchführung eines<br />

Exorzismus. Neben der Einbindung von<br />

Mediziner:innen ist auch eine bischöfliche<br />

Genehmigung vorgesehen, bevor ein<br />

Exorzismus durchgeführt werden darf.<br />

„Genau diese Struktur ist natürlich wesentlich<br />

für das faith brand Römisch-Katholischer<br />

Exorzismus“, so Bauer.<br />

Die Religionswissenschaftlerin betont<br />

allerdings, dass auch in der katholischen<br />

Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen<br />

Konzil mehrheitlich Abschied vom Teufel<br />

genommen wurde und dieser eher als<br />

Metapher verstanden wird. „Es war nie<br />

mein Anliegen, Glaubenshaltungen zu<br />

bewerten, sondern sie als eine von vielen<br />

Wirklichkeitskonstruktionen darzustellen<br />

und zu zeigen, woran Menschen glauben.<br />

Der Glaube an Besessenheit und Exorzismus<br />

ist eben eine von vielen Optionen<br />

in einer religiösen Skala.“ sr<br />

36 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Andreas Friedle (2), commons.wikimedia.org/Johann Jaritz (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 37


WISSENSTRANSFER<br />

WISSENSTRANSFER<br />

MOBIL IM ÖTZTAL<br />

Eine klimafreundliche Mobilität im Tiroler Ötztal will ein von der<br />

Bundesregierung unterstütztes Projekt fördern.<br />

LASERSCANNING mittels Drohe ermöglicht die Digitalisierung von Umspannwerken.<br />

DER BLICK VON OBEN<br />

Mit einer Laserdrohne der Universität vermisst das Inns brucker<br />

Spin-off-Unternehmen Laserdata Infrastrukturanlagen und Massenbewegungen.<br />

Für die kleinräumige Vermessung<br />

der Erdoberfläche aus der Luft hat<br />

sich in den letzten Jahren der Einsatz<br />

von Laserscanning-Drohnen als sehr<br />

fortschrittlich erwiesen. Diese Drohnen<br />

verwenden Lasertechnologie, um präzise<br />

Vermessungsdaten zu erheben. Sie<br />

fliegen über Untersuchungsgebiete und<br />

senden Laserimpulse aus, die von der<br />

Oberfläche reflektiert werden. Die zurückkehrenden<br />

Signale werden vom<br />

Sensor auf der Drohne erfasst. Basierend<br />

auf den gewonnenen Daten können dann<br />

3D-Punktwolken und Rastermodelle erstellt<br />

werden. Auf die Verarbeitung und<br />

Auswertung solcher 3D-Punktwolken<br />

hat sich das Inns brucker Spin-off Laserdata<br />

GmbH spezialisiert.<br />

Im Rahmen einer Nutzungsvereinbarung<br />

verwendet Laserdata für Messkampagnen<br />

eine Hochleistungsdrohne<br />

der Universität Inns bruck. Im Auftrag<br />

der Austrian Power Grid AG werden mit<br />

dieser Drohne zum Beispiel Umspannwerke<br />

in Österreich aus der Luft vermessen.<br />

„Die Daten werden mit am Boden<br />

erfassten 3D-Punktwolken zusammengeführt<br />

und bilden die Grundlage für<br />

aktuelle CAD-Pläne“, erklärt Frederic<br />

Petrini-Monteferri, Geschäftsführer der<br />

Laserdata. So werden seit 2<strong>01</strong>9 jährlich<br />

circa ein Dutzend Umspannwerke in<br />

Österreich digital dokumentiert. Die Befliegungen<br />

mit der Drohne werden von<br />

speziell ausgebildetem Personal der Universität<br />

durchgeführt. „Es braucht dafür<br />

einen Piloten und einen Operateur, der<br />

den Flugplan an die Drohne übergibt, mit<br />

dem diese ein festgelegtes Gebiet lückenlos<br />

abfliegt“, erzählt Petrini-Monteferri.<br />

„Diese Zusammenarbeit bringt Synergien<br />

für beide Seiten: Die Universität kann auf<br />

eine regelmäßige Nutzung der teuren<br />

<strong>Forschung</strong>sinfrastruktur vertrauen, wir<br />

finanzieren das Betriebspersonal und<br />

können gegen fremdübliche Verrechnung<br />

kommerzielle Projekte umsetzen.“<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekte<br />

Laserdata nutzt die Drohe auch für <strong>Forschung</strong>sprojekte.<br />

So wird seit einigen<br />

Jahren die Renaturierung einer ehemaligen<br />

Kohleabbaustätte im deutschen<br />

Brandenburg aus der Luft überwacht.<br />

„Die Ufer des angelegten Cottbuser Ostsees<br />

geben seit der Flutung mit Wasser<br />

immer wieder nach“, schildert Frederic<br />

Petrini-Monteferri: „Diese Prozesse zu<br />

dokumentieren und zu quantifizieren ist<br />

unsere Aufgabe.“ Aber auch im alpinen<br />

Gelände kommt die Laserdrohne zum<br />

Einsatz. So hat das Team von Laserdata<br />

im Auftrag des Landes Tirol den Felssturz<br />

im Valser Tal 2<strong>01</strong>7 mehrfach aus der<br />

Luft dokumentiert.<br />

Um noch größere Gebiete aus der Luft<br />

zu vermessen, hat die Universität einen<br />

sogenannten Helipod für den Laserscanner<br />

erworben. So sind Befliegungen mit<br />

dem Helikopter möglich, was noch raschere<br />

und großflächigere Vermessungen<br />

erlaubt. Laserdata nutzt dieses System im<br />

Rahmen eines neuen <strong>Forschung</strong>sprojektes<br />

etwa dazu, das Abschmelzen der<br />

Gletscher zu dokumentieren. Mit den gewonnenen<br />

Daten über die Gletscherstände<br />

werden virtuelle 3D-Modelle errechnet<br />

und visualisiert. Die Ergebnisse werden<br />

im Unterricht verwendet, um Schülerinnen<br />

und Schülern, die selbst die<br />

Gletscher nicht besuchen können, mithilfe<br />

von VR-Brillen eine virtuelle Begehung<br />

der schwindenden Gletscherwelt zu ermöglichen.<br />

<br />

Das Tiroler Ötztal ist neben dem<br />

Tullnerfeld, Salzburg und Graz<br />

Umgebung eine der vier Pilotregionen,<br />

in der innovative Angebote und<br />

Maßnahmen für Alltagsmobilität, Pendeln<br />

und Tourismusmobilität entwickelt<br />

und umgesetzt werden. Innovationsbarrieren<br />

sollen in dem Projekt identifiziert<br />

und überwunden werden. „In dem Projekt<br />

ULTIMOB entwickeln und erproben<br />

wir in der Pilotregion Ötztal Lösungen,<br />

die zu einer nachhaltigen Tourismusmobilität<br />

und weniger Verkehr in der<br />

Region beitragen sollen. Mit der Ötztaler<br />

Verkehrsgesellschaft und dem VVT haben<br />

AQT ERREICHT QUANTENVOLUMEN VON 128<br />

wir hier starke lokale Partner im Projekt,<br />

die an <strong>Forschung</strong> und Umsetzung mitwirken“,<br />

erklärt Projektkoordinator Markus<br />

Mailer vom Arbeitsbereich Intelligente<br />

Verkehrssysteme der Uni Innsbruck..<br />

Eine Gepäcklogistikbörse soll zum Beispiel<br />

ein Tür-zu-Tür-Gepäckservice ermöglichen<br />

und gleichzeitig die Zustellfahrten<br />

reduzieren. Durch die Errichtung<br />

von sogenannten Mobility Hubs sollen<br />

unterschiedliche Mobilitätsangebote an<br />

den Haltestellen Gaislachkogelbahn und<br />

Postplatz in Sölden gebündelt und dadurch<br />

die Anreise mit der Bahn und die<br />

Mobilität in der Region ohne eigenes<br />

Auto erleichtert werden. An diesen Knoten<br />

finden sich beispielsweise unter der<br />

Federführung des Projektpartners VVT<br />

errichtete Fahrradboxen, die auch als Gepäckboxen<br />

genutzt werden können. Weitere<br />

Projektpartner in der Pilotregion sind<br />

die Ötztaler Verkehrsgesellschaft, die FH<br />

Oberösterreich, die <strong>Forschung</strong>sfirma netwiss<br />

und die Ride-Sharing-Plattform ummadum.<br />

Letztere möchte im Projekt nicht<br />

nur Einheimischen und Pendlern Mitfahrgelegenheiten<br />

im Ötztal vermitteln,<br />

sondern die Plattform auch für Urlaubsgäste<br />

als zusätzliches Mobilitätsangebot<br />

während ihres Aufenthalts öffnen. <br />

Mehrere Unternehmen, sowohl kommerzielle als<br />

auch akademische, arbeiten an der Realisierung<br />

von Quantencomputern und verwenden dabei<br />

sehr unterschiedliche physikalische Plattformen, was<br />

die Bewertung eines Quantencomputers zu einer<br />

Herausforderung macht: Verfügt er beispielsweise<br />

über genügend Speicher oder ist die Fehlerrate des<br />

Prozessors niedrig genug? Das Quantenvolumen ist<br />

derzeit einer der am häufigsten verwendeten Referenzwerte,<br />

der eine, auf eine Zahl reduzierte Aussage<br />

über die Gesamtfähigkeiten eines Quantensystems<br />

liefert. Das Inns brucker Quanten-Startup AQT hat im<br />

Frühjahr auf seinem 19-Zoll-Rack-Quantencomputer PINE System ein Quantenvolumen von<br />

128 demonstriert. Das Quantenvolumen ist ein Wert, der die Fähigkeiten und Fehlerraten<br />

eines Quantencomputers angibt. Das Resultat stellt einen europäischen Rekord für den in<br />

Inns bruck entwickelten und gebauten, universellen Quantencomputer dar.<br />

STUDIENAUTOR Leonhard Dobusch und<br />

Auftraggeber Georg Willi (v. l.)<br />

MIT STUDIE GEGEN TEUERUNG<br />

Zur Abfederung der teils massiven Teuerungen,<br />

vor allem im Energiebereich,<br />

wurden bereits im vergangenen Jahr mehrere<br />

Unterstützungspakete auf Bundes- und Landesebene<br />

geschnürt. Auch der Inns brucker<br />

Gemeinderat beschloss 2022 ein Hilfspaket in<br />

der Höhe von 2,7 Millionen Euro. Im Frühjahr<br />

stellte Studienautor Leonhard Dobusch die<br />

Machbarkeitsstudie „Inns bruck Aktiv gegen<br />

Teuerung“ vor. Der Inns brucker Bürgermeister<br />

Georg Willi hatte die Studie bei Leonhard<br />

Dobusch in Auftrag gegeben: „Ziel war es<br />

herauszuarbeiten, wo wir auf kommunaler<br />

Ebene in Ergänzungen zu den Hilfen von<br />

Bund und Land weitere gezielte Unterstützungsmöglichkeiten<br />

anbieten können.“<br />

Diese Prämisse war auch Ausgangspunkt<br />

der Überlegungen für die Studie: „Klar ist,<br />

Kommunen alleine können die Teuerungen<br />

nicht zur Gänze abfedern. Aber sie können<br />

zusätzliche Unterstützungen anbieten – akut<br />

wie potenziell längerfristig“, erklärt Dobusch.<br />

Neben möglichen akuten Hilfestellungen<br />

hat die Studie vor allem untersucht, welche<br />

strukturellen Maßnahmen finanzschwache<br />

Personen langfristig unterstützen und ihre<br />

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern<br />

könnten. Vorgeschlagen wird eine Innsbruck<br />

Aktiv Card, die verschiedene Ermäßigungen<br />

und Zuschüsse beinhaltet und auch bereits<br />

bestehende Aktionen und Ermäßigungen<br />

miteinschließen würde. Vorbild sind hier<br />

Städte wie Linz, Graz und Wien, die ein<br />

solches Angebot bereits etabliert haben.<br />

Konkret werden in der Studie folgende Ermäßigungen<br />

vorgeschlagen: für den Jahrestarif<br />

des Stadtrades, die Benutzung des Frauen-<br />

Nachttaxis, Eintritte in die Bäder der Stadt,<br />

die Eishalle, Theater und Museen, den Jahrestarif<br />

der Stadtbibliothek, den Jahresbeitrag<br />

von Sportvereinen, für Kurse der Volkshochschule<br />

sowie Ermäßigungen bei Druckkosten<br />

oder den Kauf von FFP2-Masken.<br />

38 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Laserdata GmbH / Frederic Petrini-Monteferri<br />

Fotos: Markus Geisler / Ötztaler (1), AQT (1), Michael Freinhofer (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 39


WISSENSTRANSFER<br />

KURZMELDUNGEN<br />

IMPULSGEBER FÜR<br />

TIROLER STARTUPS<br />

Was braucht es, um eine Idee in ein erfolgreiches Unternehmen umzuwandeln?<br />

Eine Frage, mit der sich viele Unternehmer:innen und kreative Köpfe in Tirol konfrontiert sehen.<br />

Hier kommt der InnCubator ins Spiel.<br />

INNCUBATOR-TEAM: Kathrin Schrebe, Simon Fuger, Katharina Plangger, Robert Schimpf (v.l.)<br />

Der InnCubator wurde 2<strong>01</strong>6 als<br />

Hub für Innovation und Unternehmertum<br />

von der Universität<br />

Inns bruck und der Wirtschaftskammer<br />

Tirol gegründet und spielt seitdem eine<br />

wichtige Rolle bei der Unterstützung<br />

von Innovation und Startups in Tirol.<br />

Als sogenannter Businessinkubator ist<br />

er – direkt übersetzt – ein Brutkasten für<br />

Innovationen und neue Geschäftsideen.<br />

Als Teil der Universität trägt er zur Third<br />

Mission – also dem Wissenstransfer in<br />

die Gesellschaft und Wirtschaft – bei.<br />

„Durch dieses Zusammenspiel ist es<br />

möglich, den jungen Unternehmen nicht<br />

nur Räumlichkeiten und Infrastruktur,<br />

sondern auch ein umfangreiches Netzwerk<br />

aus Expertinnen und Experten sowie<br />

ein intensives Trainingsprogramm<br />

anzubieten“, sagt der Leiter des InnCubators,<br />

Robert Schimpf. „Zudem besteht<br />

die Möglichkeit, Prototypen im hauseigenen<br />

IOT-Lab oder der modernen Prototypen-Werkstatt<br />

des WIFI Tirol umzusetzen.“<br />

Bereits über 270 Geschäftsideen bzw.<br />

Gründer:innenteams haben das sechsmonatige<br />

Trainingsprogramm im Inn-<br />

Cubator erfolgreich besucht. „Das Ziel<br />

dabei ist es, eine Idee in ein umsetzbares<br />

Konzept zu verwandeln, ein passendes<br />

Geschäftsmodell zu erstellen, einen<br />

ersten Prototyp zu entwickeln und mit<br />

ersten potenziellen Kund:innen über die<br />

Idee zu sprechen“, sagt Simon Fuger, der<br />

auch von Beginn an dabei ist.<br />

Wichtig: Es geht in diesem Programm<br />

nicht ausschließlich um die Geschäftsidee,<br />

sondern vielmehr um die Personen<br />

und deren Entwicklung als Unternehmer:innen.<br />

Das Angebot ist nicht exklusiv<br />

für Studierende oder Forscher:innen<br />

der Universität, sondern offen für alle,<br />

die innovative Geschäftsideen haben.<br />

Unterstützt wird dieses Programm auch<br />

von Startup.tirol. Über die Jahre ist so<br />

eine Community entstanden, die sich<br />

bei dem Ziel, Innovation zu etablieren,<br />

unterstützt – mit Feedback oder einfach<br />

nur mit motivierenden Worten.<br />

Neben den Aufgaben als Startup-Berater:innen<br />

arbeiten die Mitarbeiter:innen<br />

des InnCubators auch aktiv in der Lehre<br />

an der Universität Inns bruck mit: im<br />

Erweiterungsstudium Entrepreneurship<br />

gemeinsam mit der <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Innovation und Entrepreneurship. Als Teil<br />

des DIH West erweiterte der InnCubator<br />

seine Zielgruppe und öffnete die entwickelte<br />

Methodenkiste zur Ideen- und Geschäftsmodellgenerierung<br />

für kleine und<br />

mittlere Unternehmen.<br />

Ähnlich den Kund:innen des InnCubators<br />

strebt der Innovationshub eine<br />

ständige Weiterentwicklung an. „Konkret<br />

bedeutet dies: Aufbau zusätzlicher<br />

Netzwerke und Expertise, Ausbau von<br />

Räumlichkeiten und Labs, zusätzliche<br />

Angebote in den Bezirken Tirols und<br />

kundenzentrierte neue Services“, sagt<br />

Robert Schimpf. Dies inkludiert Überlegungen<br />

zu weiter spezialisierten Inkubationsprogrammen<br />

und Lehrgängen zu<br />

zukunftsrelevanten Themen.<br />

„Wir – das InnCubator Team – sehen<br />

das Potenzial, die großen Probleme unserer<br />

Gesellschaft durch Innovationen und<br />

Startups anzugehen“, ist Schimpf überzeugt.<br />

„Die Universität stellt hierbei die<br />

Quelle von Wissen, Technologie und Talent.<br />

Der InnCubator ist die dazugehörige<br />

Spielwiese, sich auszuprobieren und<br />

Innovation zu lernen.“<br />

INNCUBATOR<br />

www.inncubator.at<br />

info@inncubator.at<br />

+43-590-905-7800<br />

Egger-Lienz-Straße 116, Inns bruck<br />

ALARMIERENDE<br />

STUDIE<br />

Alpine Gewässer erwärmen sich schneller als erwartet und<br />

besonders in den Wintermonaten.<br />

Bislang ging man davon aus, dass<br />

die Erwärmung von Gebirgsflüssen<br />

aufgrund des Kaltwassereintrags<br />

durch Schnee oder Eis gedämpft<br />

wird. Die Lufttemperaturen in Gebirgsregionen<br />

steigen jedoch schneller als im<br />

globalen Durchschnitt, sodass Erwärmungseffekte<br />

auch für kalte Flussökosysteme<br />

zu erwarten sind. Georg Niedrist,<br />

Wissenschaftler in der von Leopold Füreder<br />

geleiteten <strong>Forschung</strong>sgruppe Fließgewässerökologie<br />

und Naturschutz, analysierte<br />

Langzeit-Messdaten des Hydrologischen<br />

Dienstes des Landes Tirol zur Wassertemperatur<br />

der Tiroler Gebirgsflüsse Inn und<br />

Großache. Die Wassertemperatur in den<br />

beiden Flüssen stieg um +0,24 und +0,44<br />

°C pro Jahrzehnt. Auch die jährlichen<br />

Höchst- und Tiefsttemperaturen stiegen<br />

KLIMAKRISE MACHT AMEISEN AGGRESSIVER<br />

im Beobachtungszeitraum signifikant<br />

und die warmen Perioden wurden deutlich<br />

länger. „Neu ist eine generelle und<br />

erhebliche Erwärmung beider Gewässer<br />

in den Wintermonaten. So steigen die<br />

winterlichen Temperaturen zumindest<br />

ähnlich schnell wie jene im Sommer“, erläutert<br />

der Ökologe. Dabei zeigt besonders<br />

das letzte Jahrzehnt einen starken<br />

Anstieg der niedrigsten und höchsten<br />

Wassertemperaturen pro Jahr, welcher<br />

mit dem Anstieg der lokalen Lufttemperaturen<br />

korreliert. „Vor allem aufgrund<br />

der neu aufgezeigten Erwärmung der Gewässer<br />

im Winter müssen wir von drastischen<br />

Auswirkungen auf die winterliche<br />

Entwicklung von Kaltwasserorganismen<br />

wie beispielsweise der Bachforelle ausgehen“,<br />

sagt der Ökologe.<br />

Feindselig durch Hitze: Durch die Klimakrise hervorgerufene Effekte wie höhere Temperaturen<br />

und mehr Stickstoff im Boden führen zu stärkerer Aggressivität unter Ameisen-Kolonien.<br />

Das zeigt ein Team um die Inns brucker Ökolog:innen Patrick Krapf, Birgit C.<br />

Schlick-Steiner und Florian M. Steiner von der <strong>Forschung</strong>sgruppe Molekulare Ökologie am<br />

Beispiel der weit verbreiteten Ameise Tetramorium alpestre an acht hochalpinen Standorten<br />

in Österreich, Italien, Frankreich und der Schweiz. „Neben der erhöhten Lufttemperatur<br />

beobachten wir auch einen Zusammenhang zwischen Stickstoffgehalt in den Arbeiterinnen<br />

und im Boden und der Feindseligkeit. Die Stickstoffverfügbarkeit ist vermutlich auch<br />

aufgrund des ökologischen Wandels durch die Klimakrise in Böden erhöht“, schildert Krapf.<br />

„Da Ameisen sehr wichtige Ökosystemdienstleister sind, ist ein besseres Verständnis der<br />

Folgen des globalen Wandels von großer Bedeutung.“<br />

LUFTGÜTE: LEHRMEINUNG<br />

MUSS REVIDIERT WERDEN<br />

Ein internationales Team um Thomas Karl<br />

(im Bild) vom Institut für Atmosphärenund<br />

Kryosphärenwissenschaften hat die<br />

Chemie von Ozon, Stickstoffmonoxid und<br />

Stickstoffdioxid im urbanen Raum detailliert<br />

analysiert. Dieser chemische Zyklus wurde<br />

vor über 60 Jahren im ersten Lehrbuch zur<br />

Luftverschmutzung von Philip Leighton mathematisch<br />

beschrieben und wird seither als<br />

Leighton-Beziehung bezeichnet. Computermodelle<br />

der Atmosphärenchemie nutzen die<br />

Leighton-Beziehung, um die Komplexität zu<br />

minimieren, indem sie die Konzentration von<br />

Ozon, Stickstoffmonoxid und Stickstoffdioxid<br />

aus der Konzentration der jeweils beiden<br />

anderen ableiten. In der Praxis dient dies<br />

zum Beispiel dazu, die Ozonkonzentration<br />

in Gebieten abzuleiten, die durch Stickoxide<br />

verschmutzt sind. Die Daten der Inns brucker<br />

Atmosphärenforscher zeigen nun, dass bei<br />

Vorhandensein von hohen Stickstoffmonoxid-<br />

Emissionen rechnerische Vereinfachungen,<br />

die Leighton vorgenommen hat, zu falschen<br />

Ergebnissen führen. „In Städten mit hohen<br />

Stickstoffmonoxid-Emissionen wird dieses<br />

Verhältnis um bis zu 50 Prozent überschätzt“,<br />

warnt Thomas Karl. „Dies führt dazu, dass<br />

Modellrechnungen die Konzentration von<br />

bodennahem Ozon im urbanen Raum<br />

überschätzen. Dies spiegelt sich auch in den<br />

Luftgütevorhersagen wider.“<br />

40 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: InnCubator<br />

Fotos: Georg Niedrist (1), Uni Inns bruck (1), Petra Thurner (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 41


SPRACHWISSENSCHAFT<br />

SPRACHWISSENSCHAFT<br />

TRUHEN, SPOREN UND DIE<br />

GOLDENE GEISSEL<br />

Anhand von Inventarlisten machen sich Forscher:innen der Universität Inns bruck daran,<br />

das Alltagsleben im Mittelalter zu entschlüsseln und sichtbar zu machen.<br />

Zu den sichtbarsten Spuren, die das<br />

Mittelalter hinterlassen hat, gehören<br />

Burgen. An vielen Orten Europas<br />

prägen sie das Stadt- oder Landschaftsbild,<br />

mal als kaum erkennbare Ruine, mal<br />

als vollkommen restaurierter Prachtbau.<br />

Wie so viele Orte aus der Vergangenheit<br />

laden sie zum Tagträumen ein. Wie sah es<br />

hier wohl vor genau 500 Jahren aus? Was<br />

haben die Menschen gedacht, die sich<br />

durch diese Räume und Gänge bewegt<br />

haben, wie haben sie gelebt?<br />

Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese<br />

Frage schwer zu beantworten, weil die<br />

damaligen Chronisten sich hauptsächlich<br />

für das Leben und Wirken von Männern<br />

interessiert haben. Außerdem schrieben<br />

sie eher über Ritter und den Adel und<br />

nicht unbedingt über das Leben der einfachen<br />

Leute, schon gar nicht auf Burgen.<br />

Das Bild von kämpfenden Rittern als<br />

Inbegriff des Mittelalters hat sich durch<br />

Filme, Romane, Kinderbücher und nicht<br />

zuletzt Spielzeug in der Popkultur festgesetzt.<br />

Eine <strong>Forschung</strong>skooperation der<br />

Universität Salzburg und der Universität<br />

Inns bruck versucht nun auf sehr originellem<br />

Weg, dieses Bild zu hinterfragen. Dafür<br />

analysieren die Wissenschaftler:innen<br />

Dokumente, die nicht weiter entfernt sein<br />

könnten von einer verklärten Mittelalterromantik.<br />

Nämlich Inventare.<br />

Sichtbare Beziehungen<br />

Burginventare sind, wie der Name bereits<br />

vermuten lässt, Listen, die alle vorhandenen<br />

Möbel und Gerätschaften auf Burgen<br />

dokumentieren. Im Tiroler Landesarchiv<br />

sind rund 240 solcher Inventare aus dem<br />

Mittelalter erhalten geblieben. Diese Listen<br />

sind aber mehr als eine bloße Aufzählung<br />

von Objekten. Denn sie liefern auch<br />

Information über Beziehungen, über Besitzverhältnisse<br />

und die Menschen, denen<br />

die Objekte gehörten oder die sie nutzten.<br />

Um dieses komplizierte Geflecht übersichtlich<br />

und analysierbar zu machen,<br />

bedarf es zunächst einer fachkundigen<br />

Aufbereitung der Daten aus den Tiroler<br />

Burgen. Diese Aufgabe fällt einem Team<br />

der Universität Inns bruck zu, unter der<br />

Leitung von Claudia Posch und Gerhard<br />

Rampl vom Institut für Sprachwissenschaft<br />

und Gerald Hiebel vom Institut<br />

für Archäologie und dem Digital Science<br />

Center. Diese haben gemeinsam schon<br />

mehrere interdisziplinäre Digital-Humanities-Projekte<br />

erfolgreich abgeschlossen<br />

und forschen zu linguistischen und semantischen<br />

Verfahren der Textaufbereitung<br />

und -analyse.<br />

„In den Inventaren finden sich oft<br />

Handlungen, die mit Dingen in Verbindung<br />

stehen“, erzählt Posch. „Zum Beispiel,<br />

dass ein bestimmter Gegenstand<br />

von einer Person an eine andere verschenkt<br />

wurde. Dann kann darüber eine<br />

Beziehung eingesehen werden. Oder ein<br />

Werkzeug, dass gerade nicht da ist, weil<br />

es jemand auf die Alm mitgenommen<br />

oder der Schmied es gebraucht hat. Wenn<br />

man den Fokus auf solche Details legt,<br />

kann man das Alltagsleben auf der Burg<br />

gut rekonstruieren.“<br />

Als erster Schritt steht hierbei die Transkription<br />

der mittelalterlichen Dokumente<br />

an. Dafür wird unter anderem die an<br />

der Universität Inns bruck mitentwickelte<br />

Software Transkribus verwendet, die<br />

durch künstliche Intelligenz Handschriften<br />

erkennen und digitalisieren kann.<br />

„Anschließend werden die digitalen Texte<br />

als Daten weiterverarbeitet“, erklärt<br />

Posch. „Dazu weisen wir den Textbausteinen<br />

semantische Informationen zu –<br />

zum Beispiel, ob etwas eine Person, ein<br />

Gegenstand, ein Tier oder eine Handlung<br />

ist. Dann können diese Begriffe mit Mindmaps<br />

visualisiert und miteinander in Beziehung<br />

gesetzt werden. Wenn ich dann<br />

anfrage, wo es auf einer Burg überall Truhen<br />

gab, kann mir ein Diagramm zeigen,<br />

in welchem Raum Truhen standen und<br />

wer mit ihnen zu tun hatte. Anschließend<br />

könnte ich mich zu jeder Person weiterklicken<br />

und ihr eigenes Beziehungsgeflecht<br />

einsehen.“<br />

Der Himmel sorgt für Verwirrung<br />

Zu der Textverarbeitung gehört auch<br />

die Erstellung eines sogenannten Thesaurus,<br />

einer Datenbank, in der einzelne<br />

Begriffe definiert werden – zum Beispiel<br />

der Gegenstand „Truhe“. Alle anderen<br />

Truhen, seien sie anders geschrieben<br />

DER ALLTAG auf Tiroler Burgen, wie<br />

Burg Ehrenberg bei Reutte (Bild links)<br />

stehen im Fokus der Arbeit von Claudia<br />

Posch und Christina Antenhofer<br />

(Bild rechts, v. r.). Sie untersuchen dafür<br />

Burginventare (Bild Mitte, Auszug eines<br />

Inventars der Burg Rattenberg).<br />

oder spezieller definiert, werden diesem<br />

„Überbegriff“ zugewiesen, sodass bei der<br />

Suche nach „Truhe“ auch wirklich alle<br />

gefunden werden können. Die dafür notwendige<br />

Vereinheitlichung ist mitunter<br />

sehr kompliziert. Die Projektleiterin an<br />

der Universität Salzburg, Christina Antenhofer,<br />

verweist dabei gerne auf den in<br />

den Inventaren häufiger vorkommenden<br />

Begriff „Himmel“. Gemeint ist damit ein<br />

Baldachin, wie er oft über Betten aufgespannt<br />

wurde. „Neben dem Betthimmel<br />

gab es allerdings auch einen Himmel für<br />

Tische und einen für Altäre, der während<br />

Prozessionen genutzt wurde. Um was<br />

für einen Himmel es sich also tatsächlich<br />

handelt, muss erst aus dem Kontext<br />

herausgearbeitet werden. Das hat uns oft<br />

verrückt gemacht“, sagt Antenhofer und<br />

muss lachen.<br />

Zu Antenhofers und Poschs besonderem<br />

Interesse zählt vor allem das Alltagsleben<br />

von Frauen auf der Burg, über<br />

das nicht viel überliefert ist. Obwohl das<br />

Projekt erst im Oktober 2022 startete, hat<br />

die Vorarbeit dazu bereits interessante Erkenntnisse<br />

zutage gefördert.<br />

„Zunächst kann man mit der Vorstellung<br />

aufräumen, dass es bestimmte Objekte<br />

gibt, die sich klar Frauen zuordnen<br />

lassen“, erklärt Antenhofer. „Dadurch<br />

wurden früher Räume oft falsch bestimmt<br />

und als exklusive Frauenräume definiert,<br />

weil sie zum Beispiel Kochgeschirr enthielten.<br />

Das ist absurd, weil auch Männer<br />

gekocht haben. Ein anderes Beispiel sind<br />

Reitersporen, die in der <strong>Forschung</strong> nur<br />

Männern zugewiesen werden. Wir konnten<br />

aber über Inventare nachweisen, dass<br />

auch Frauen Sporen besessen haben und<br />

diese so wie Männer zum Reiten benutzt<br />

haben. Generell muss man verstehen,<br />

dass Frauen im Mittelalter nicht abgeschlossen<br />

von der Männerwelt existierten,<br />

sondern viele Tätigkeiten sich mit denen<br />

von Männern überschnitten. Es gibt natürlich<br />

auch Frauen, die selbst Burgherrinnen<br />

waren, wenn ihnen Burgen etwa<br />

als Mitgift überschrieben wurden.“<br />

Aus dem Projekt sollen noch viel mehr<br />

Anwendungen entstehen, die auch für die<br />

Öffentlichkeit interessant und zugänglich<br />

sind. Dazu gehört eine 3D-Visualisierung<br />

ausgewählter Burgen unter der Leitung<br />

von Ingrid Matschinegg am Institut für<br />

Realienkunde des Mittelalters und der<br />

frühen Neuzeit der Universität Salzburg.<br />

In diese 3D-Burgenmodelle werden die<br />

Daten aus der Inventarforschung eingearbeitet<br />

und beleben damit das Innere der<br />

Burg.<br />

Auch der bereits erwähnte Thesaurus<br />

ist Teil eines viel größeren Vorhabens<br />

namens CIDOC CRM. Dieses Vorhaben<br />

der Digital Humanities wird von vielen<br />

verschiedenen <strong>Forschung</strong>sgruppen weltweit<br />

betreut und soll zu einem Thesaurus<br />

wachsen, der die gesamte Welt erfasst –<br />

nicht nur alle Dinge, die existieren, sondern<br />

alle Dinge, die jemals existiert haben,<br />

versehen mit einer eindeutigen ID, die unabhängig<br />

von Sprachen funktioniert. Eine<br />

Truhe aus einer englischen Burg könnte<br />

somit sofort auf eine Truhe in einer Tiroler<br />

Burg verweisen.<br />

Noch ein Nachtrag zu Truhen: Dass diese<br />

so oft in Inventaren erwähnt werden,<br />

liegt daran, dass Truhen im Mittelalter das<br />

Multifunktionsobjekt schlechthin waren.<br />

Sie wurden als Reisekoffer, Schrank, Tisch<br />

und Sitzgelegenheit genutzt. Hin und wieder<br />

tauchen in den Listen aber auch deutlich<br />

ausgefallenere Gegenstände auf.<br />

„Im Brautschatzinventar einer Fürstin<br />

habe ich einmal eine Geißel gefunden, die<br />

aus Silber und Gold bestand und mit Perlen<br />

besetzt war“, sagt Antenhofer. „Da<br />

frage ich mich immer noch, was genau<br />

damit gemacht wurde.“<br />

fo<br />

CLAUDIA POSCH forscht am Institut<br />

für Sprachwissenschaft der Universität<br />

Inns bruck. Ihre Schwerpunkte liegen in<br />

der digitalen Linguistik, Korpuslinguistik<br />

und feministischen Diskursanalyse. Sie<br />

ist Sprecherin der <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Language and Gender und Mitglied des<br />

<strong>Forschung</strong>szentrums Digital Humanities.<br />

42 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Claudia Posch (1), Tiroler Landesarchiv (1), Andreas Friedle (2)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 43


BERUFUNG<br />

GEFUNDEN.<br />

DREI VON FÜNF<br />

PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

Die Universität Inns bruck ist in drei von fünf österreichischen<br />

Exzellenzclustern vertreten. Mit dem von Gregor Weihs koordinierten<br />

Exzellenzcluster für Quantenwissenschaften entsteht ein neues<br />

österreichweites Quantenphysik-Zentrum mit internationaler Strahlkraft.<br />

Gundula Ludwig<br />

Martin Hellbert<br />

Gemeinsam sind<br />

wir Uni!<br />

GUNDULA LUDWIG IST PROFESSORIN FÜR SOZIALWISSENSCHAFT-<br />

LICHE THEORIEN DER GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE UND LEITET DIE<br />

FORSCHUNGSPLATTFORM CENTER INTERDISZIPLINÄRE GESCHLECH-<br />

TERFORSCHUNG INNSBRUCK (CGI)<br />

Nicht nur als Professorin, sondern auch als Leiterin<br />

der <strong>Forschung</strong>splattform Center Interdisziplinäre<br />

Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) hat Gundula<br />

Ludwig alle Hände voll zu tun.<br />

Die Mit-Herausgeberin der einzigen feministischen<br />

politikwissenschaftlichen Zeitschrift im deutschsprachigen<br />

Raum verfolgt auch feministische, queere<br />

und antirassistische Aktivismen rund um den Globus<br />

aufmerksam: „Politischen Aktivismus und Formen<br />

gelebter Solidarität und Utopien finde ich beeindruckend<br />

und bestärkend – gerade in Zeiten, in denen<br />

sich die vielen Krisen dramatisch zuspitzen.“<br />

Wir denken weiter.<br />

Seit 1669<br />

MARTIN HELLBERT ARBEITET AM INSTITUT FÜR EXPERIMENTAL-<br />

PHYSIK. ALS LABORANT IST ER FÜR VORLESUNGSVORBEREITUNGEN<br />

UND PRAKTIKA ZUSTÄNDIG.<br />

Fragt man Martin Hellbert nach seiner Tätigkeit am<br />

Campus Technik, antwortet er bescheiden. „Eigentlich<br />

bin ich so richtig unscheinbar“, glaubt er, wobei er<br />

sich allerdings täuscht. Denn es gibt wohl kaum einen<br />

Physikstudierenden in Innsbruck, der ihn nicht zumindest<br />

vom Sehen kennt. Immerhin sind die von ihm<br />

vorbereiteten und teilweise selbst gebauten Physik-<br />

Versuche fixer Bestandteil ihres Studiums.<br />

Wissenschaftliches Interesse begleitet Martin Hellbert<br />

sein Leben lang. „Das hat eigentlich schon in der Kindheit<br />

angefangen“, erzählt er. „Der Grundstein ist wohl<br />

mit einem Chemiebaukasten gelegt worden – und von<br />

da an hat sich das entwickelt.“<br />

/uniinnsbruck<br />

www.uibk.ac.at/karriere<br />

Die Erwartungen an die neuen Exzellenzcluster<br />

sind hoch: Sie sollen langfristig<br />

<strong>Forschung</strong>sthemen auf internationalem<br />

Spitzenniveau in Österreich verankern<br />

und in der Entwicklung und Erweiterung<br />

ihres <strong>Forschung</strong>sfeldes international eine<br />

führende Rolle übernehmen. „Die Universität<br />

Inns bruck hat sich im hart umkämpften Wettbewerb<br />

um die neuen Exzellenzcluster hervorragend<br />

geschlagen“, freut sich Rektorin<br />

Veronika Sexl. „Unsere breite Beteiligung an<br />

den nun bewilligten Exzellenzclustern unterstreicht<br />

unsere führende Rolle als <strong>Forschung</strong>suniversität<br />

in Österreich.“<br />

Foto: FWF / Daniel Novotny<br />

Quantenwissenschaftszentrum<br />

Quantum Science Austria, der neue Exzellenzcluster<br />

für Quantenwissenschaften, wird vom<br />

Experimentalphysiker Gregor Weihs koordiniert:<br />

„Österreich hat sich in den vergangenen<br />

drei Jahrzehnten zu einem weltweit führenden<br />

Zentrum der Quantenphysik entwickelt.<br />

Das unterstreicht der Nobelpreis für Anton<br />

Zeilinger. Diese Entwicklung verdanken wir<br />

auch der immer schon sehr engen Zusammenarbeit<br />

der <strong>Forschung</strong>sgruppen in Österreich.<br />

Mit dem neuen Exzellenzcluster können<br />

wir diese Kooperationen weiter intensivieren<br />

und ein international sichtbares Zentrum der<br />

Quantenwissenschaften in Österreich etablieren,<br />

das die besten Köpfe nach Österreich<br />

locken wird“, sagt Gregor Weihs, Vizerektor<br />

für <strong>Forschung</strong>.<br />

Ein weiterer Exzellenzcluster widmet sich<br />

dem kulturellen Erbe Eurasiens. Von Mitteleuropa<br />

bis nach Asien entwickelte sich über<br />

drei Jahrtausende das „Eurasische Wunder“<br />

(Jack Goody), historische Transformationsprozesse,<br />

die bis in die moderne Zeit hineinwirken.<br />

Wachstum und Verfall von Imperien,<br />

Umweltveränderungen sowie Mobilität und<br />

Migration hatten Folgen für wirtschaftliche<br />

Entwicklungen und wurden bewältigt durch<br />

neue Identitätsdiskurse und Ausgrenzungsstrategien,<br />

auch religiöser Art. Die historischen<br />

Quellen aus dieser Zeit sind in einer<br />

Vielzahl von Sprachen und Schriften erhalten.<br />

Das kulturelle Erbe dieser Großregion harrt<br />

vielfach noch der Aufarbeitung und Analyse.<br />

Sechs Forschende der Universität Inns bruck<br />

um Robert Rollinger widmen sich gemeinsam<br />

mit den nationalen und internationalen Partnern<br />

diesen Themen.<br />

Julia Kunze-Liebhäuser ist Teil des Exzellenzclusters<br />

zu Materialien für Energiekonversion<br />

und Speicherung, in dem neue Technologien<br />

für effiziente Energieumwandlung<br />

und Energiespeicherung gesucht werden, um<br />

den Weg zu einer Gesellschaft ohne fossile<br />

Brennstoffe zu ebnen.<br />

DAS BOARD DES neuen<br />

Exzellenzclusters für Quantenwissenschaften<br />

(v. l.): Armando<br />

Rastelli (Uni Linz), Hannes-Jörg<br />

Schmiedmayer (TU Wien),<br />

Francesca Ferlaino (Uni Innsbruck/IQQOI),<br />

Gregor Weihs<br />

(Uni Inns bruck), Oriol Romero-<br />

Isart (Uni Inns bruck/IQOQI)<br />

und Markus Aspelmeyer (Uni<br />

Wien/IQOQI); nicht im Bild:<br />

Johannes Fink (IST)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 45


PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

PREISE & AUSZEICHNUNGEN<br />

BESTE ARBEIT<br />

Die Professorin für<br />

klinische Pharmazie,<br />

Anita E. Weidmann,<br />

wurde vom International<br />

Journal of<br />

Clinical Pharmacy für<br />

das beste Paper des<br />

Jahres 2022 ausgezeichnet.<br />

In der Publikation analysiert Anita<br />

Weidmann vom Institut für Pharmazie, wie<br />

die Kompetenzen von klinischen Pharmazeutinnen<br />

und Pharmazeuten gestärkt werden<br />

können, die Allgemeinärztinnen und<br />

-ärzte unterstützen.<br />

WILHELM-BESSEL-FORSCHUNGSPREIS<br />

Der Informatiker<br />

Adam Jatowt erhielt<br />

von der Alexandervon-Humboldt-Stiftung<br />

den renommierten<br />

Wilhelm-Bessel-<br />

<strong>Forschung</strong>spreis. Im<br />

Sommer wird Jatowt<br />

einige Monate am Karlsruher Institut für<br />

Technologie (KIT) forschen. Adam Jatowt<br />

forscht zur Wissens- und Informationsgewinnung<br />

aus unstrukturierten Textsammlungen,<br />

etwa Nachrichtenartikeln<br />

oder Social-Media-Posts. Bei der European<br />

Conference on Information Retrieval (ECIR)<br />

in Dublin wurde Adam Jatowt im April für<br />

seinen Beitrag Temporal Natural Language<br />

Inference: Evidence-Based Evaluation of<br />

Temporal Text Validity mit dem Best Paper<br />

Award ausgezeichnet.<br />

WERNER-KRAUSS-PREIS<br />

Der Deutsche Hispanistenverband<br />

zeichnet alle zwei<br />

Jahre herausragende<br />

hispanistische Dissertationen<br />

aus, die<br />

an einer Universität<br />

im deutschen Sprachraum<br />

verfasst wurden. Teresa Millesi erhielt<br />

den Werner-Krauss-Preis <strong>2023</strong> für ihre Dissertation<br />

Por la vida, por el territorio. Die<br />

filmische Verhandlung territorialer Konflikte<br />

im indigenen Dokumentarfilm Lateinamerikas,<br />

die sie am Institut für Romanistik verfasste.<br />

Betreut wurde sie von Claudia Jünke<br />

und Birgit Mertz-Baumgartner. Die Arbeit<br />

ist im Vorjahr im Verlag transcript in der<br />

Reihe Postcolonial Studies unter dem Titel<br />

Filmischer Widerstand erschienen.<br />

DIE PREISTRÄGER:INNEN: Jannis Harjus, Christian Roos, Robert Rollinger, Thomas<br />

Magauer und Gina Moseley (v.l.)<br />

SÜDTIROLER<br />

FORSCHUNGSPREISE<br />

Der Wissenschaftspreis der Stiftung Südtiroler Sparkasse ging in<br />

diesem Jahr an Robert Rollinger. Vier weitere Forschende erhielten<br />

einen <strong>Forschung</strong>spreis der Stiftung.<br />

Robert Rollinger ist seit 2005 Professor<br />

für Alte Geschichte und<br />

Altorientalistik an der Universität<br />

Inns bruck und erhielt den Preis der<br />

Stiftung Südtiroler Sparkasse für sein<br />

wissenschaftliches Gesamtwerk. Der<br />

gebürtige Vorarlberger lehrt zu Kulturbeziehungen<br />

und Kulturkontakten zwischen<br />

den Kulturen des Alten Orients<br />

und des mediterranen Raumes und weist<br />

ein breit gefächertes Repertoire an <strong>Forschung</strong>sschwerpunkten<br />

auf. Diese liegen<br />

in den Kontakten zwischen Griechenland<br />

und dem Alten Orient, Altorientalischer<br />

Geschichte des 1. Jahrtausends v. Chr.,<br />

Geschichtsdenken, <strong>Forschung</strong>s- und<br />

Rezeptionsgeschichte, Antiker Historiografie,<br />

der Provinzialgeschichte Rätiens<br />

in der Spätantike, Antiker Ethnografie,<br />

den Achaimeniden, Imperiengeschichte<br />

sowie der Landschaftsgeschichte und<br />

Raumwahrnehmung. Rollinger ist Mitglied<br />

in zahlreichen internationalen Organisationen,<br />

<strong>Forschung</strong>sprojekten und<br />

Gremien, darunter der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften. Mit seiner<br />

Heimat Vorarlberg ist Rollinger auch<br />

wissenschaftlich stets verbunden geblieben.<br />

So wurde er 2<strong>01</strong>0 mit dem Wissenschaftspreis<br />

des Landes Vorarlberg ausgezeichnet<br />

und gehört unter anderem<br />

der wissenschaftlichen Jury des „Montafoner<br />

Wissenschaftspreises“ an.<br />

Den „Wissenschaftspreis für außergewöhnliche<br />

<strong>Forschung</strong>sleistung der Stiftung<br />

Südtiroler Sparkasse“ verleiht die<br />

Universität Inns bruck seit dem Jahr<br />

2008 im Namen der Stiftung Südtiroler<br />

Sparkasse. Weitere <strong>Forschung</strong>spreise<br />

gingen in diesem Jahr an den Chemiker<br />

Thomas Magauer, die Geologin Gina<br />

Moseley, den Experimentalphysiker<br />

Christian Roos und den Romanisten<br />

Jannis Harjus. <br />

LIECHTENSTEIN-PREIS<br />

Der Preis des Fürstentums Liechtenstein für wissenschaftliche<br />

<strong>Forschung</strong> an den beiden Inns brucker Universitäten wurde in<br />

diesem Jahr in Inns bruck verliehen.<br />

LIECHTENSTEINPREIS: Vizerektor Gregor Weihs, Regierungsrätin Dominique Hasler,<br />

die Preisträger:innen Gertraud Medicus, Matthias Neuner und Julian Schwärzler sowie<br />

Vizerektorin Christine Bandtlow (v. l., Preisträger Jonathan Singerton war verhindert).<br />

In diesem Jahr ging der Preis des<br />

Fürstentums Liechtenstein an Bauingenieurin<br />

Gertraud Medicus, den<br />

Techniker Matthias Neuner und den<br />

Historiker Jonathan Singerton von der<br />

Universität Inns bruck sowie den Mediziner<br />

Julian Schwärzler von der Medizinischen<br />

Universität. Die Urkunden<br />

überreichte Regierungsrätin Dominique<br />

Hasler in feierlichem Rahmen in der<br />

Claudiana in der Inns brucker Altstadt:<br />

„Als Bildungsministerin Liechtensteins<br />

ist die Verleihung dieses Preises für<br />

mich nicht nur eine Selbstverständlichkeit,<br />

sondern eine Herzensangelegenheit.<br />

Und ich sage Ihnen auch gerne,<br />

warum: Es ist die Wissenschaft, die an<br />

vorderster Front darum besorgt ist, dass<br />

sich unsere Gesellschaft immerzu weiterentwickelt.<br />

Es ist die Wissenschaft,<br />

die unter größtem Einsatz Antworten<br />

auf die vielen Herausforderungen der<br />

Gegenwart und <strong>Zukunft</strong> sucht und<br />

findet. Es ist die Wissenschaft, auf die<br />

die Menschheit letztlich auf eine ganz<br />

tiefgreifende, die Grundfesten ihrer<br />

Existenz betreffende Art und Weise angewiesen<br />

ist. Mit Preisvergaben wie der<br />

heutigen können wir dieser enormen<br />

Bedeutung Rechnung tragen und die<br />

Verdienste jener Menschen, die es als<br />

ihre Aufgabe verstehen, sich als Forscherinnen<br />

und Forscher in den Dienst<br />

aller zu stellen, angemessen würdigen“,<br />

betonte die Regierungsrätin. Der mit<br />

insgesamt 14. 000 Euro dotierte Preis<br />

wurde zu gleichen Teilen an die Ausgezeichneten<br />

übergeben.<br />

Der Vizerektor für <strong>Forschung</strong> der Universität<br />

Inns bruck, Gregor Weihs, hob<br />

bei der Verleihung die große Relevanz<br />

des Preises für die Inns brucker Forscherinnen<br />

und Forscher hervor: „Der Preis<br />

des Fürstentums Liechtenstein für wissenschaftliche<br />

<strong>Forschung</strong> motiviert unsere<br />

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />

zu weiteren Spitzenleistungen<br />

– er ist eine wertvolle Unterstützung<br />

wissenschaftlicher Karrieren, dafür danken<br />

wir dem Fürstentum Liechtenstein<br />

herzlich. Seit nunmehr 40 Jahren ist der<br />

prestigeträchtige Preis des Fürstentums<br />

Ausdruck großer Anerkennung für die<br />

<strong>Forschung</strong> an unserer Universität.“<br />

TOURISMUS-PREIS<br />

Der DGT-ITB Wissenschaftspreis<br />

für die<br />

beste Nachwuchsarbeit<br />

in der Kategorie<br />

Masterarbeit hat in<br />

diesem Jahr Mirjam<br />

Mischi von der Universität<br />

Inns bruck erhalten.<br />

In der ausgezeichneten Abschlussarbeit<br />

befasste sich die Preisträgerin mit den Auswirkungen<br />

der COVID-19-Krise auf die Familienstrukturen<br />

von Familienunternehmen.<br />

Sie untersuchte, wie das Virus zu Veränderungen<br />

in den Betrieben geführt hat. Die<br />

Ergebnisse zeigen, dass die Auswirkungen<br />

von COVID-19 auf das Familiensystem mit<br />

den Auswirkungen auf das Geschäftssystem<br />

zusammenhängen. Darüber hinaus betont<br />

die Arbeit die wichtige Rolle des Erhalts des<br />

sozialen Kapitals, der familiären Bindung und<br />

der Beziehung zu externen Stakeholdern. Betreut<br />

wurde die Arbeit von Birgit Pikkemaat<br />

vom Institut für Strategisches Management,<br />

Marketing und Tourismus.<br />

GORDON-MEMORIAL-SPEAKER<br />

Die Experimentalphysikerin<br />

Tracy<br />

Northup wurde im<br />

Mai als Gordon Memorial<br />

Speaker zur<br />

Conference on Lasers<br />

and Electro-Optics<br />

(CLEO) nach San Jose<br />

eingeladen. Die Einladung erinnert an den<br />

US-amerikanischen Quantenoptiker James<br />

Power Gordon, einen der Entwickler der<br />

ersten Mikrowellen-Laser. Vor Northup kam<br />

diese Ehre so bekannten Physikern wie Jeff<br />

Kimble, Mikhail Lukin und Paul Kwiat zu.<br />

THIRRING-PREIS<br />

Der Theoretische Physiker<br />

Hannes Pichler<br />

wurde mit dem diesjährigen<br />

Hans-und-<br />

Walter-Thirring-Preis<br />

gewürdigt. Er wurde<br />

für seine hervorragenden<br />

Arbeiten auf dem<br />

Gebiet der Quantenphysik geehrt. Die Auszeichnung<br />

wird von der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften verliehen<br />

und ist mit 4. 000 Euro dotiert. Pichler entwickelt<br />

neue Ansätze zur Realisierung von<br />

Quantencomputern und Quantensimulatoren.<br />

46 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Fotos: Uni Inns bruck (1), Gaio Photography (1), Privat (1), Deutscher Hispanistenverband (1)<br />

Fotos: Uni Inns bruck (1), privat (1), Diana Nöbl (1), M. R. Knabl (1)<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 47


ZWISCHENSTOPP INNS BRUCK<br />

SPRUNGBRETT INNS BRUCK<br />

WASSER VERSTEHEN<br />

RÜCKKEHR NACH INNS BRUCK<br />

Der Erziehungswissenschaftler Andreas Wernet beschäftigt sich gemeinsam mit Kolleg:innen<br />

an der Universität Inns bruck mit Fragen der universitären Lehrkultur.<br />

Andreas Wernet steht seit Längerem<br />

in wissenschaftlichem Austausch<br />

mit Kolleginnen und Kollegen des<br />

Instituts für Psychosoziale Intervention<br />

und Kommunikationsforschung. Nun<br />

war er zwei Monate als Gastprofessor in<br />

Inns bruck, um diese Zusammenarbeit<br />

zu vertiefen und eine dauerhafte Kooperation<br />

der Universitäten von Inns bruck<br />

und Hannover zu etablieren. Mit Tirol<br />

verbindet der Erziehungswissenschaftler<br />

aber auch Kindheitserinnerungen: „Aus<br />

Bergurlauben in meiner Kindheit habe ich<br />

die Stadt in lebhafter und eindrücklicher<br />

Erinnerung“, erzählt Wernet. „Ich kann<br />

mich auch noch daran erinnern, dass wir<br />

damals, Ende der 60er-Jahre, zur Europabrücke<br />

gefahren sind, um dieses Bauwerk<br />

zu bestaunen. Das Wort ‚Brenner‘ hat sich<br />

mir als Kind geradezu eingebrannt.“<br />

Universitäre Lehrkultur<br />

Wissenschaftlich beschäftigt sich Andreas<br />

Wernet mit Fragen der pädagogischen<br />

Professionalität, <strong>Forschung</strong>en zur<br />

unterrichtlichen Interaktion und Arbeiten<br />

zur Theorie und Praxis einer fallbasierten<br />

wissenschaftlichen Lehrer:innenbildung.<br />

Er interessiert sich auch für „unwahrscheinliche“<br />

Bildungsaufstiege,<br />

also für Fälle von Bildungserfolg, die<br />

unter sozial statistischer Perspektive<br />

nicht erwartbar, nicht selbstverständlich,<br />

nicht „in die Wiege gelegt“ sind. In Innsbruck<br />

hat Wernet zusammen mit Claudia<br />

Scheid und ihrem <strong>Forschung</strong>steam ein<br />

deutsch-österreichisches <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />

konzipiert, das sich mit der Frage<br />

der universitären Lehrkultur beschäftigt.<br />

Dabei geht es vor allem um subjektive<br />

Deutungsmuster und Habituskonstellationen<br />

von Lehrenden in Bezug auf die<br />

Verbindung von <strong>Forschung</strong> und Lehre.<br />

„Daneben bin ich hier in Inns bruck meinem<br />

Interesse für Bildungsaufstiege und<br />

ihrem familialen Hintergrund nachgegangen“,<br />

erzählt Andreas Wernet. „Dazu<br />

habe ich zusammen mit Franziska Lessky,<br />

die über große <strong>Forschung</strong>serfahrungen<br />

im Kontext ‚First-in-Family‘ verfügt,<br />

bildungsbiografische Interviews mit Studierenden<br />

geführt und ausgewertet.“<br />

ANDREAS WERNET (*1960) ist einer<br />

der renommiertesten zeitgenössischen<br />

Forscher im Bereich der fallrekonstruktiven<br />

Bildungsforschung. Er ist seit 2007<br />

Professor für Schulpädagogik mit dem<br />

Schwerpunkt Schul- und Professionsforschung<br />

an der Leibniz-Universität-<br />

Hannover und war im März und April<br />

Gastprofessor am Institut für Psychosoziale<br />

Intervention und Kommunikationsforschung<br />

der Universität Inns bruck.<br />

Methodische Vertiefungen<br />

Die Studierenden profitierten von der<br />

großen Erfahrung des profilierten Wissenschaftlers<br />

in der fallrekonstruktiven<br />

Bildungsforschung. In einem Seminar<br />

zu qualitativen <strong>Forschung</strong>smethoden<br />

vermittelte Andreas Wernet den Studierenden<br />

grundlegende methodische<br />

Kenntnisse und machte die erkenntnislogische<br />

und forschungspraktische Differenzierung<br />

verschiedener methodischer<br />

Ansätze verständlich. Im Kontext einer<br />

bildungsbiografischen Fragestellung<br />

konnten die Studierenden selbst Interviews<br />

führen und einzelne Sequenzen<br />

transkribieren, die dann im Seminar mithilfe<br />

der Methode der Objektiven Hermeneutik<br />

gemeinsam interpretiert wurden.<br />

„Dieser konkrete <strong>Forschung</strong>sbezug ist<br />

mir in der Lehre deshalb wichtig, weil er<br />

einerseits die ‚faszinierende‘ Erfahrung<br />

von Erkenntnismomenten ermöglicht,<br />

andererseits aber auch die ‚frustrierende‘<br />

Limitiertheit empirisch begründeter<br />

Aussagen vor Augen führt“, sagt Andreas<br />

Wernet. „Wenn ich den Studierenden<br />

beides vermittelt konnte, bin ich sehr zufrieden.“<br />

„Für mich stellte die Gastprofessur in<br />

Inns bruck eine großartige Möglichkeit<br />

dar, meinen wissenschaftlichen Horizont<br />

zu erweitern, bestehende <strong>Forschung</strong>skontakte<br />

zu vertiefen und neue Kontakte<br />

zu knüpfen“, resümiert Andreas Wernet:<br />

„Das LFUI Guest Professorship Programm<br />

bot dafür eine außerordentliche Gelegenheit.“<br />

<br />

cf<br />

Die Physikerin Katrin Amann-Winkel hat zehn Jahre in Inns bruck die Eigenschaften von Wasser<br />

erforscht. Seit Kurzem ist sie Junior-Professorin an der Universität Mainz.<br />

Viele Eigenschaften von Wasser sind<br />

noch immer nicht verstanden, und<br />

es gibt sogar immer wieder neue<br />

Überraschungen, wie zum Beispiel die<br />

Entdeckung neuer, bisher unbekannter<br />

Eisformen. „Wasser spielt eine zentrale<br />

Rolle in Biologie, Meteorologie oder der<br />

Astrophysik“, sagt Katrin Amann-Winkel.<br />

„Grundlagenforschung in diesem<br />

Bereich ist wichtig, um alle Prozesse<br />

besser verstehen zu können.“ An der<br />

Universität Inns bruck hat die Wissenschaftlerin<br />

in den Arbeitsgruppen von<br />

Erwin Mayer und Thomas Loerting am<br />

Institut für Physikalische Chemie den<br />

Grundstein für ihre weitere <strong>Forschung</strong><br />

gelegt. Die Physikerin beschäftigte sich<br />

mit amorphem Eis, das sie mit speziellen<br />

experimentellen Methoden und unter<br />

Einsatz von hohem Druck und sehr niedrigen<br />

Temperaturen herstellte. So konnte<br />

sie zur weiteren Aufklärung der sehr<br />

unterschiedlichen Materiezustände von<br />

Wasser beitragen.<br />

Zwei Flüssigkeiten<br />

Mit dem Umzug an die Universität<br />

Stockholm im Jahr 2<strong>01</strong>4 verlagerte sich<br />

ihr <strong>Forschung</strong>sschwerpunkt auf ultraschnelle<br />

Röntgenmessungen. „Dadurch<br />

haben sich für mich ganz neue experimentelle<br />

Möglichkeiten eröffnet“, erzählt<br />

die gebürtige Deutsche. „Diese<br />

Technologie steckte damals gerade erst<br />

in den Kinderschuhen. Es ist ein großes<br />

Privileg, diese Entwicklung miterleben<br />

zu dürfen.“ Die Experimente in Stockholm<br />

haben es ihr mithilfe ultraschneller<br />

Laser- und Röntgenpulse erlaubt, flüssiges<br />

Wasser in einem Temperaturbereich<br />

zu untersuchen, wo normalerweise nur<br />

kristallines Eis existiert. „Unsere Ergebnisse<br />

sind konsistent mit der Hypothese,<br />

dass Wasser aus zwei Flüssigkeiten besteht.<br />

Auch Thomas Loertings Gruppe<br />

hat neue Erkenntnisse über den Glasübergang<br />

im amorphen Eis gewinnen<br />

können. Gemeinsam mit neuartigen<br />

Computersimulationen von Gruppen<br />

aus Amerika und Italien deuten all diese<br />

Ergebnisse drauf hin, dass die Hypothese<br />

von den zwei Flüssigkeiten zutrifft,<br />

und könnten somit die Anomalien des<br />

Wassers erklären“, ist Katrin Amann-<br />

Winkel zuversichtlich.<br />

Sehnsucht nach den Bergen<br />

Mit der Inns brucker Arbeitsgruppe um<br />

Thomas Loerting steht die erfolgreiche<br />

Forscherin noch heute in regem Austausch.<br />

„Derzeit planen wir gemeinsame<br />

Messungen am DESY und dem European<br />

XFEL in Hamburg“, erzählt Katrin<br />

Amann-Winkel. Überhaupt erinnert sie<br />

sich gerne an ihre Zeit in Inns bruck zurück:<br />

„Ich vermisse die Berge und die<br />

schöne Aussicht aus meinem Büro auf<br />

die Nordkette.“<br />

cf<br />

KATRIN AMANN-WINKEL (*1977) hat<br />

an der Technischen Universität Darmstadt<br />

Physik studiert. 2004 kam sie an die<br />

Universität Inns bruck, um ihre Arbeit an<br />

Phasenübergängen in amorphem Eis fortzuführen.<br />

2009 promovierte sie in Chemie<br />

und blieb noch bis 2<strong>01</strong>4 als Inhaberin einer<br />

FWF-Hertha-Firnberg-Stelle in Inns bruck.<br />

Ihre Arbeiten hier wurden mehrfach ausgezeichnet,<br />

u.a. mit dem Fritz-Kohlrausch-<br />

Preis der ÖPG 2<strong>01</strong>4. Ende 2<strong>01</strong>4 zog sie<br />

mit ihrer Familie nach Schweden, um an<br />

der Universität Stockholm zu forschen und<br />

leitete dort ab 2<strong>01</strong>8 eine eigenständige<br />

<strong>Forschung</strong>sgruppe. 2021 wurde sie als<br />

Junior-Professorin an die Johannes-Gutenberg-Universität<br />

Mainz berufen, gefördert<br />

von der Carl-Zeiss-Stiftung. Seitdem ist sie<br />

als Gruppenleiterin auch am Max-Planck-<br />

Institut für Polymerforschung tätig.<br />

48 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: privat<br />

Foto: C. Costard<br />

zukunft forschung <strong>01</strong>/23 49


ESSAY<br />

DAS „UNCANNY VALLEY“ DER<br />

MITTELALTERREZEPTION<br />

Was kann man aus vermeintlich realistischen Computerspielen über das<br />

Mittelalter lernen und was nicht? Dieser Frage widmet sich Franziska Ascher.<br />

„Eine Simulation<br />

spiegelt den<br />

Wissensstand und<br />

damit auch die<br />

Weltsicht derer wider,<br />

die sie erschaffen<br />

haben.“<br />

FRANZISKA ASCHER (*1988<br />

in Landshut, Deutschland)<br />

studierte Germanistische<br />

Mediävistik, Neuere Deutsche<br />

Literatur und Psychologie<br />

an der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität München. Ihr<br />

Doktoratsstudium, das sie<br />

an der Goethe-Universität<br />

Frankfurt und der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München<br />

absolvierte, schloss Ascher<br />

2020 ab. Seit 2021 forscht<br />

sie als Postdoc am Institut für<br />

Germanistik der Universität<br />

Inns bruck. Außerdem ist sie<br />

Herausgeberin von PAIDIA –<br />

Zeitschrift für Computerspielforschung<br />

und Mitbegründerin<br />

der Inns brucker <strong>Forschung</strong>sgruppe<br />

Game Studies.<br />

Im Jahre 2<strong>01</strong>8 kam mit ‚Kingdom Come<br />

Deliverance‘ (KCD) ein Computerspiel auf<br />

den Markt, dessen größtes Feature die Abwesenheit<br />

eines Features war: keine Drachen<br />

oder Elfen! Stattdessen: beinharter Realismus.<br />

So zumindest wurde es beworben: „Ein realistisches<br />

First-Person RPG, das dich ins mittelalterliche<br />

Europa entführt.“<br />

KCD ist somit zwar kein Simulator, wie<br />

etwa der jährlich neu aufgelegte ‚Landwirtschafts-Simulator‘,<br />

hat aber den durchaus<br />

simulatorischen Anspruch, ein authentisches<br />

Bild des Mittelalters zu zeichnen. Eine Mittelalter-Simulation<br />

sozusagen. Doch kann KCD<br />

– oder irgendein Spiel – diesem Anspruch gerecht<br />

werden?<br />

Nüchtern betrachtet: Gemessen an der Realität<br />

muss eine Simulation immer defizitär erscheinen,<br />

denn Simulationen simulieren nicht<br />

ganzheitlich Realität, sondern bestimmte Aspekte<br />

davon. Doch ist das ein Makel?<br />

Stellen wir uns einen Flugsimulator vor,<br />

in dem es gelegentlich vorkommt, dass Spieler:innen<br />

mit ihrem Flugzeug ins Meer stürzen.<br />

Ist das Spiel deswegen in der Pflicht,<br />

ein komplettes Unterwasser-Ökosystem zu<br />

simulieren? Nein, denn es handelt sich ja um<br />

einen Flugsimulator. Es geht dem Spiel nicht<br />

um Korallenriffe, Meeresströmungen oder<br />

Fischschwärme – und eigentlich nicht einmal<br />

ums Abstürzen. Es geht darum, Spieler:innen<br />

einen möglichst realistischen Eindruck davon<br />

zu vermitteln, wie sich ein Flugzeug steuert.<br />

Die Zielsetzung bestimmt die Simulation.<br />

Außerdem spiegelt eine Simulation den<br />

Wissensstand (und das bedeutet auch die<br />

Weltsicht) derer wider, die sie erschaffen haben.<br />

Das lässt sich gut anhand von Spielen illustrieren,<br />

welche den Klimawandel thematisieren,<br />

denn sie können den Klimawandel maximal<br />

so weit simulieren, wie die <strong>Forschung</strong><br />

ihn versteht.<br />

Nun reden wir aber nicht von Simulation<br />

zu <strong>Forschung</strong>szwecken, sondern von Serious<br />

Games, die zwar Wissen vermitteln wollen,<br />

aber auch als Spiele attraktiv genug sein müssen,<br />

um Spieler:innen bei der Stange zu halten.<br />

Realismus kann der Tod des Spielspaßes sein,<br />

von daher ist Simulation in diesem Kontext<br />

vor allem ein Versprechen. Und zwar das Versprechen,<br />

man könne spielerisch – was auch für<br />

‚leicht‘ und/oder ‚lustvoll‘ steht – Erkenntnis<br />

über die ‚echte‘ Welt erlangen.<br />

Kann man also durch KDC etwas über das<br />

Mittelalter lernen? Etwas bestimmt. Es gelten<br />

jedoch die oben genannten Einschränkungen<br />

und so lernen wir vor allem etwas über das<br />

Mittelalterbild seiner Entwickler:innen. Allzu<br />

oft verbergen sich die ‚Ismen‘ der Gegenwart<br />

hinter einem vermeintlichen Authentizitätsanspruch,<br />

und gerade die mittelalterliche Mentalität<br />

– die zugegebenermaßen schwieriger als<br />

ein Paar Sandalen zu rekonstruieren ist – wird<br />

häufig vernachlässigt.<br />

Mittelhochdeutsche Epen haben wenig Beweiskraft,<br />

was die Lebensrealität mittelalterlicher<br />

Menschen angeht. Doch sie sagen uns<br />

viel über die Ideale und Träume der Menschen<br />

von damals. Und die können Befremden auslösen,<br />

wenn man in das Uncanny Valley der<br />

Mittelalterrezeption fällt: Auf den ersten Blick<br />

scheint alles vertraut und gar nicht so anders<br />

als heute. Liebe, Hass, Familie, Freundschaft<br />

– das sind universelle Konzepte, die man zu<br />

kennen glaubt. Doch in dem Moment, da der<br />

mittelalterliche Text eine fremde Mentalität<br />

offenbart und einem klar wird, dass das, was<br />

man für eine anthropologische Konstante gehalten<br />

hat, vor nicht einmal 1. 000 Jahren noch<br />

anders aussah, ist der Schock nur umso größer.<br />

Die eigene Kultur erscheint plötzlich wie<br />

eine fremde.<br />

Das Mittelalter, wie es uns aus mittelalterlichen<br />

Texten entgegentritt, überrascht einen<br />

immer wieder – mal im positiven, mal im<br />

negativen Sinne. Es ist, bei aller Vertrautheit,<br />

anders. Nicht nur anders als die Gegenwart,<br />

sondern vor allem anders als unsere populären<br />

Imaginationen des Mittelalters.<br />

Was viele ‚Mittelalter-Simulationen‘ aktuell<br />

nicht leisten, ist, diese Andersartigkeit erfahrbar<br />

zu machen. Und dafür ist es völlig zweitrangig,<br />

ob in einem Spiel Drachen vorkommen<br />

oder nicht.<br />

50 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Thomas Mauer<br />

SOS-Kinderdorf dankt KULTIG für die kostenlose Einschaltung!


WISSENSCHAFT<br />

BRAUCHT RAUM<br />

Mit seiner inspirierenden Architektur, der<br />

Wandlungsfähigkeit und der State-of-the-<br />

Art-Technik eröffnet Congress Innsbruck<br />

neue Freiräume für Wissenschaft und <strong>Forschung</strong>.<br />

Das Haus bietet Platz für bis zu<br />

2.500 Teilnehmer:innen. Es befindet sich<br />

inmitten der Universitäts- und Wissensstadt<br />

Innsbruck, die sich durch ihr alpin-urbanes<br />

Flair auszeichnet.<br />

ALPIN. URBAN.<br />

INSPIRIEREND.<br />

cmi.at<br />

52 zukunft forschung <strong>01</strong>/23<br />

Foto: Andreas Friedle

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