RhPfalz_Juni_2023

31.05.2023 Aufrufe

2 Zeitung Juni 2023 Bundesverbandstag Geeint mit starken Forderungen Bundesverbandstag beschließt Positionen für soziale Gerechtigkeit Rund 180 Delegierte haben während des Bundesverbandstags in Berlin die sozialpolitischen Positionen des Sozialverbands VdK beschlossen. Anträge von Bundesvorstand und Präsidium sowie aus den Landesverbänden zu den Themen Rente, Pflege, Klima, Armut und Wohnen erhielten sehr große Zustimmung. Der Sozialverband VdK hat während seines 19. Ordentlichen Bundesverbandstags in Berlin die sozialpolitischen Weichen für die kommenden vier Jahre gestellt. Horst Vöge, Vorsitzender der Sozialpolitischen Kommission, stellte den Delegierten am ersten Tag des Bundestreffens die 18 sozialpolitischen Anträge von Präsidium und Bundesvorstand vor. Alle wurden einstimmig angenommen. Beim Thema Alterssicherung herrschte Konsens darüber, dass das Rentenniveau dauerhaft stabilisiert und mittelfristig auf 53 Prozent erhöht werden muss. Außerdem fordert der VdK eine Weiterentwicklung der Grundrente und erteilte den Diskussionen über die Erhöhung der Regelaltersgrenze eine klare Absage. Für diese Position lohne es sich, auf die Straße zu gehen, erklärte Horst Vöge. Erstmals befasste sich ein sozialpolitischer Antrag mit dem Thema „Klima und Umweltgerechtigkeit“. Die Delegierten folgten der Forderung, die Anpassung an den Klimawandel sozial zu gestalten. Der VdK fordert Hitzeschutzpläne Die Delegierten stimmten auf dem Bundesverbandstag in Berlin über die sozialpolitischen Anträge ab. Foto: Henning Schacht für Ältere, Pflegebedürftige und chronisch Kranke sowie eine hitzegerechte und klimafreundliche Gestaltung der Städte. Für den VdK ist aber auch klar: Alle Maßnahmen zum Klimaschutz müssen sozial ausgewogen sein. Stärkung der Pflege Einig waren sich die Delegierten auch über die Einführung einer Pflegevollversicherung und die Stärkung der häuslichen Pflege. Dafür sollen pflegende Angehörige ein Gehalt bekommen, das sich nach dem Pflegegrad richtet und nicht nach dem vorherigen Gehalt. Die Landesverbände reichten insgesamt 26 Anträge zur Abstimmung ein, die alle fast ohne Gegenstimme angenommen wurden. Darunter war der Antrag aus Bayern, die Umsatzsteuer auf Arzneimittel zu streichen oder zumindest auf sieben Prozent zu senken. Einer der Vorschläge aus Rheinland-Pfalz sah vor, Gewinnspekulationen im Gesundheitswesen zu verbieten und die Transparenz bei Leistungen, Kosten und Einnahmen sowie Ausgaben im Gesundheitswesen zu steigern. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen machte sich dafür stark, Bonusprogramme zur Vorsorge fortzuentwickeln. Baden- Württemberg hatte sich unter anderem mit einem Antrag zur Weiterentwicklung der Pflegestützpunkte eingebracht. Jörg Ciszewski KOMMENTAR Auf in die Zukunft Hinter uns liegt ein erfolgreicher VdK-Bundesverbandstag. Ich freue mich sehr, dass die Delegierten dem Präsidium und mir ihr großes Vertrauen ausgesprochen haben. Vielen Dank für so viel Rückenwind, der uns in den nächsten Jahren trägt. Die Tage in Berlin haben mich an die Atmosphäre bei großen Sport-Events erinnert. Buntes Treiben, viel Fachsimpeln, anregende Gespräche, neue Kontakte und gespannte Erwartungen auf die Entscheidungen, die vor Ort fallen. Am Ende fahren dann alle motiviert mit konkreten Ergebnissen und neuen Zielen nach Hause. Nach dem Bundesverbandstag hatten alle Delegierten das „VdK-Zielbild 2030“ als ein solches konkretes Ergebnis im Gepäck. Nein, unser Zielbild ist kein Management-Schnickschnack, sondern eine wortgewordene Vision für all das, was wir im VdK in den nächsten Jahren miteinander vorhaben. Es ist ein Gemeinschaftswerk, das wir in vielen Sitzungen der „VdK-Arbeitsgruppe Strategie“ entwickelt haben. Wir taten dies aus einer recht komfortablen Position heraus. Schließlich steht der VdK hervorragend da, in allen Landesverbänden geht es mit den Mitgliederzahlen stetig aufwärts – teils auf ohnehin schon sehr hohem Niveau. Das ist genau der richtige Zeitpunkt für die Zukunftsplanung. Verena Bentele VdK-Präsidentin Wir können besonnen nachdenken, wohin der Weg uns führen soll, und müssen nicht überstürzt das Ruder herumreißen. Alle Verbandsstufen haben mit dem Zielbild jetzt einen Leitfaden, wie sich die sozialrechtliche Beratung, die ehrenamtliche Betreuung und die sozialpolitische Interessenvertretung noch optimieren lassen, um die Erwartungen der Mitglieder zu erfüllen und weitere Mitglieder zu gewinnen. Das gerade verabschiedete Zielbild formuliert eine VdK- Selbstbeschreibung, wie wir sie gerne 2030 überall verstanden wissen wollen: „Der VdK ist die erste Anlaufstelle für die Durchsetzung, die Sicherung, den Erhalt und den Ausbau der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland.“ Ich freue mich auf den VdK im Jahr 2030 und habe schon meine Ärmel hochgekrempelt. Packen wir es gemeinsam an! „In diese Studie ist Geld, Zeit und viel Herzblut geflossen“ VdK-Präsidentin Bentele übergibt Abschlussbericht der großen Pflegestudie an Gesundheitsminister Lauterbach VdK-Präsidentin Verena Bentele hat den Abschlussbericht der umfangreichen VdK-Studie zur Nächstenpflege während des Bundesverbandstags an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach übergeben. Die Übergabe an den Minister bezeichnete Bentele als einen Höhepunkt der Nächstenpflege-Kampagne des Sozialverbands VdK, die zum Bundesverbandtag Mitte Mai in Berlin endete. Über ein Jahr lang organisierte der VdK im Rahmen dieser Kampagne zahlreiche Demonstrationen und Aktionen, um die Öffentlichkeit und vor allem die Politik auf die Situation der häuslichen Pflege aufmerksam zu machen. Die VdK-Pflegestudie ist das Herzstück und das wissenschaft- Die umfangreiche VdK-Studie zur Nächstenpflege. liche Fundament dieser großen Kampagne. Immer wieder hat der VdK im vergangenen Jahr auf die zahlreichen Studienergebnisse, wie zum Beispiel zur Armutsgefährdung von pflegenden Angehörigen oder zur unsicheren Rechtslage bei der 24-Stunden-Pflege, aufmerksam gemacht. VdK-Präsidentin Bentele betonte bei der Übergabe an Minister Lauterbach: „In diese Studie ist Geld, Zeit und viel Herzblut von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von Mitgliedern und von dem beauftragten Forschungsteam geflossen.“ Mehrfachbelastung Des Weiteren forderte sie den Minister auf, die Studie an weitere Entscheiderinnen und Entscheider in den Ministerien und der Regierung weiterzugeben. „Wir brauchen endlich eine tiefgreifende Pflegereform für die zuhause Gepflegten, dort, wo die Mehrzahl der Pflegebedürftigen versorgt werden“, forderte die wiedergewählte VdK-Präsidentin Bentele. Minister Karl Lauterbach signalisierte auf dem VdK-Verbandstag, dass er sich in den laufenden Verhandlungen in der Regierungskoalition für weitere Verbesserungen in der häuslichen Pflege einsetzen werde. Er nannte hier das sogenannte „Entlastungsbudget“, das wahrscheinlich Bestandteil der aktuellen Pflegereform sein wird. VdK-Präsidentin Verena Bentele übergibt die Pflegestudie an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Fotos: Henning Schacht Dafür hatte sich der VdK stark gemacht. Lauterbach lobte ausdrücklich die politische Lobbyarbeit des VdK: „Das Erreichte hat der VdK wesentlich mitgeprägt.“ Der endgültige Gesetzesbeschluss des Bundestags zur Pflegereform und zum Entlastungsbudget lag bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht vor. Die VdK-ZEI- TUNG wird dazu in der kommenden Ausgabe berichten. Umfangreichste Studie Bei der VdK-Pflegestudie hatte ein Forscherteam um den Pflegewissenschaftler Prof. Dr. Dr. Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück etwa 54 000 VdK-Mitglieder rund um die häus- liche Pflege befragt. Sie ist damit die bisher umfangreichste Studie in diesem Bereich. Die Ergebnisse zeigen, dass pflegende Angehörige mehrfach stark belastet sind – und häufig von der Politik im Stich gelassen werden. 37 Prozent der Pflegenden kümmern sich schon länger als fünf Jahre um ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder. 23 Prozent pflegen mindestens 40 Stunden in der Woche. Dabei haben 93 Prozent keinen Zugang zur Tagespflege gefunden. 62 Prozent nehmen noch nicht einmal einen Pflegedienst in Anspruch. Die Gründe hierfür: Passende Angebote fehlen oder die Zuzahlungen sind zu hoch. „Die Datenlage ist eindeutig: Wir wissen, wo es hakt und wer Unterstützung braucht – und dann folgt vonseiten der Politik nichts“, sagte Bentele bei der Vorstellung der Studie. 59 Prozent der pflegenden Angehörigen gaben an, über ihre selbstgewählte Aufgabe die eigene Gesundheit zu vernachlässigen. Nachts befinden sich 63 Prozent in regelmäßiger Rufbereitschaft. Besonders belastet sind der Studie zufolge die Eltern von pflegebedürftigen Kindern. 64 Prozent unterstützen ihr minderjähriges oder bereits erwachsenes Kind nachts regelmäßig. Immense Pflegeleistung Der Umfang der Pflegeleistung der Eltern ist besonders groß: Mehr als die Hälfte der betroffenen Eltern (54 Prozent) pflegt mehr als 39 Stunden pro Woche. 75 Prozent der Eltern – in der Regel die Mütter – berichten, ihre Arbeitszeit deshalb reduziert zu haben. Nur wenige Familien mit pflegebedürftigen Kindern nutzen außerhäusliche Pflegeunterstützungen. Kurzzeitpflege wird von 18 Prozent, Tages- oder Nachtpflege gerade mal von drei Prozent in Anspruch genommen.Julia Frediani Info Die komplette Studie des VdK und der Hochschule Osnabrück ist online abrufbar unter vdk.de/ vdk-pflegestudie

Bundesverbandstag Zeitung Juni 2023 3 „Der VdK ist der größte Fanclub des Sozialstaats“ Bundeskanzler Scholz und führende Vertreter der Parteien würdigen beim Bundesverbandstag die Bedeutung des VdK Am dritten Tag des Bundesverbandstags in Berlin kommen traditionell Spitzenpolitiker der Parteien und Regierungsvertreter zu Wort. Kanzler Olaf Scholz sprach per Video-Botschaft zu den Anwesenden, CDU-Generalsekretär Mario Czaja, Linken-Parteichefin Janine Wissler, die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, der sozialpolitische Sprecher der FDP, Pascal Kober, und Gesundheitsminister Karl Lauterbach folgten der Einladung des VdK und hielten ihre Reden vor Ort. Verena Bentele nutzte die Gunst der Stunde und adressierte die Forderungen des VdK an die Polit-Prominenz. Doch bevor die frisch im Amt bestätigte Präsidentin zum sozialpolitischen Teil überleitete, stellte sie sich im mit rund 300 Gästen voll besetzten Saal des Berliner Hotels „Maritim proArte“ den launigen Fragen von Sven Lorig. Der bekannte Fernsehmoderator und Journalist führte kurzweilig durch das Programm und wollte wissen, was die VdK-Bundesverbandstage 2018 und 2023 voneinander unterscheide. Bentele musste nicht lange überlegen. Damals sei es aufregend gewesen, weil sie neu ins Amt gewählt wurde. In diesem Jahr sei es spannend, da der VdK eine neue Satzung verabschieden würde: „Wir werden jünger, weiblicher und wilder“, brachte sie die Änderungen mit ihren Worten auf den Punkt – und fügte lächelnd hinzu: „Auch wenn das so natürlich nicht in der Satzung oder im Zielbild steht“. Pointiert in ihren Formulierungen und zudem gewohnt deutlich zeigte sie sich dann auch in ihrer Rede. Der VdK sei „der größte Fanclub des Sozialstaats“, so Bentele. Deshalb bewahre er sich seinen kritischen Blick darauf, was nicht funktioniert. Und da gibt es eine ganze Menge, das nicht zu übersehen ist. Corona, Krieg und Inflation hätten die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet. „Während die einen Gewinne machen, werden die anderen immer ärmer“, so die Präsidentin. Alle sollen einzahlen Bentele ging auf die Missstände ein: Endlich müssten alle in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen, um das soziale Netz zu stabilisieren, rief sie und bekam großen Applaus vom Publikum. Einen „Gruß an die Mindestlohnkommission“ verband sie mit der Forderung nach einem Mindestlohn von 14 Euro. „Wir brauchen faire Löhne, damit es gute Renten Verena Bentele nahm nach ihrer Rede zwischen Janine Wissler, Vorsitzende der Partei Die Linke, und CDU-Generalsekretär Mario Czaja Platz. Eingerahmt wurde das Trio von den Präsidiumsmitgliedern Regina Bunge (rechts) und Paul Weimann (links). Fotos: Henning Schacht (4) gibt.“ Der VdK habe aber nicht ausschließlich die Rentnerinnen und Rentner, sondern alle im Blick. Denn der Kampf gegen Armut fange bereits mit dem Tag der Geburt an. Deshalb mache sich der VdK für eine Kindergrundsicherung stark. „Wir können nicht hinnehmen, dass in diesem Land jeder fünfte Mensch unter 18 Jahren armutsgefährdet ist“, bekräftigte sie ihre Forderung an die Ampel, endlich die Parteipolitik beiseite zu lassen und zum Wohl der Kinder zu handeln. Vieles zu bürokratisch Bentele warnte vor einer „Abwertung der wichtigsten Währung. Das ist das Vertrauen in den Sozialstaat“. Vieles sei zu bürokratisch und überfordere die Menschen. Bei der Frage zur Finanzierung des Heizungsumbaus etwa müsse es eine sozial gerechte Lösung geben. Viele Menschen hätten schon heute keine Rücklagen für Ausgaben wie eine neue Heizung. „Deshalb stellen wir uns auf die Seite derer, die beim Heizungsaustausch Unterstützung brauchen. Es dürfen nicht alle die gleiche Förderung erhalten“, so ihr Appell an die Regierung, das Gesetz zu überarbeiten. Mit Blick auf die Nächstenpflege- Kampagne des VdK kritisierte Bentele, dass die häusliche Pflege nicht den angemessenen Stellenwert in der Ampel-Koalition habe. In dem Gesetzentwurf zur Pflegereform vermisse sie die Ansätze, die pflegenden Angehörigen und Pflegebedürftigen wirklich helfen würden. Konkreter wurde sie später, als sie Gesundheitsminister Lauterbach die VdK-Pflegestudie überreichte (siehe Seite 2). Bundeskanzler Olaf Scholz sprach per Video-Botschaft. Foto: VdK Bundeskanzler Olaf Scholz übermittelte in seiner Video-Botschaft seinen Dank an den VdK, der wichtiger sei denn je. „Die Einschätzungen des VdK geben uns in der Bundesregierung eine wichtige Orientierung für unsere Sozialpolitik.“ Deshalb „fließen Ihre Empfehlungen auch häufig in unsere Gesetze mit ein“, so Scholz. „Wir sind im gleichen Fanclub“, stellte CDU-Generalsekretär Mario Czaja zu Beginn seiner Rede fest und griff Benteles Worte zum Sozialstaat auf. Er sei dem VdK sehr dankbar für die Demo ohne Menschen im Rahmen der Nächstenpflege-Kampagne. Es sei wichtig, dass im Pflegeunterstützungsund Entlastungsgesetz das Entlastungsbudget wieder aufgenommen werde, weil es den pflegenden Angehörigen helfe. „Gut, dass wir in diesem Punkt an einem Strang ziehen“, sagte Czaja. Die Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, sprach sich für Nachbesserungen bei Bürgergeld und Mindestlohn aus und wies auf die „unsichtbare Säule unseres Gesundheitssystems hin: die pflegenden Angehörigen“. Bei der Finanzierung der Pflege würden Löcher gestopft. „Stattdessen brauchen wir eine Versicherung, in die alle einzahlen.“ Bereits jetzt würden sich die Leistungen von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung kaum voneinander unterscheiden. Sie wolle nicht hinnehmen, dass bei armen Menschen das Gefühl entstehe, dass Armut kein gesellschaftliches Problem sei, sondern der Grund dafür im individuellen Versagen der Betroffenen liege. „Wir müssen diese Menschen stärken, statt sie zu unterdrücken“, sagte Lang. Es sei wichtig, die Familien zu erreichen, denen das Geld für die Entwicklung ihrer Kinder fehle. „Die Kindergrundsicherung ist mehr als eine Verwaltungsreform oder ein Digitalisierungsprojekt.“ Erst soziale Frage klären Im Kampf gegen die Klimakrise, so die Grünen-Chefin, müsse bei allen Maßnahmen die soziale Frage immer als Erstes geklärt werden. Damit spielte Lang auf das Heizungsgesetz an und sprach vielen Anwesenden aus der Seele. Pascal Kober, sozialpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, würdigte den VdK als „starke Stimme in der Sozialpolitik“. Seiner Meinung nach wird soziale Gerechtigkeit zu sehr auf das zur Verfügung stehende Geld reduziert. Die Frage, welche Förderung Menschen benötigen, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln, spiele eine zu geringe Rolle. Gerechtigkeit sei „nicht nur Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch Befähigungsgerechtigkeit“. Der FDP gehe es um einen „ganzheitlichen Armutsbegriff“. Ziel müsse sein, die Potenziale der Menschen zu erkennen und zu entwickeln. Janine Wissler, Vorsitzende der Partei Die Linke, bezeichnete es als Schande für Deutschland, dass die Regierung die Armut nicht bekämpfe. Sie kritisierte die zu geringen Regelsätze beim Bürgergeld und forderte, dass die Kindergrundsicherung sofort kommen müsse. Eine klare Absage erteilte Wissler einer Erhöhung des Renteneintrittsalters. „Das ist eine Rentenkürzung für Menschen, die hart arbeiten.“ Sie warb zudem für bessere Löhne für das Pflegepersonal: „Ich habe mit einer Frau gesprochen, die 45 Jahre in der Altenpflege gearbeitet hat, aber sich im Alter keinen Pflegeheimplatz leisten konnte.“ Großes Interesse Ums Geld ging es auch bei Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Die Ausgaben in der Pflegeversicherung würden schneller wachsen als bei Sozial-, Krankenoder Rentenversicherung, sagte er und kündigte an zu prüfen, ob mehr Steuermittel genutzt werden könnten. Langfristig sei ebenfalls über eine Zusammenführung der Pflegeversicherungen zu befinden. Lauterbach warb darum, Kritik mit Augenmaß zu formulieren: „Die Qualität der Pflege ist gegeben. Lassen Sie uns nicht kaputtreden, nicht geringschätzen, was wir erreicht haben.“ Beim VdK hatte er sich zuvor für den kritischen, aber fairen Umgang bedankt. Der Gesundheitsminister kündigte an, die zuvor von Verena Bentele überreichte VdK-Pflegestudie „mit großem Interesse“ zu lesen. Dann verabschiedete er sich, um im Kabinett weiter über die Pflegereform zu verhandeln. Bentele kommentierte Lauterbachs Auftritt anschließend erfreut unter dem Applaus der Zuhörer: „Er nimmt was von uns mit in die Verhandlung. Das haben wir gut gemacht.“ Jörg Ciszewski Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Ricarda Lang: Pflegende Angehörige sind die unsichtbare Säule des Gesundheitssystems. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD): Nicht kaputtreden, was bislang in der Pflege erreicht wurde. Pascal Kober (FDP): Soziale Gerechtigkeit nicht aufs Geld reduzieren.

2 Zeitung <strong>Juni</strong> <strong>2023</strong> Bundesverbandstag<br />

Geeint mit starken Forderungen<br />

Bundesverbandstag beschließt Positionen für soziale Gerechtigkeit<br />

Rund 180 Delegierte haben während<br />

des Bundesverbandstags in<br />

Berlin die sozialpolitischen Positionen<br />

des Sozialverbands VdK beschlossen.<br />

Anträge von Bundesvorstand<br />

und Präsidium sowie aus<br />

den Landesverbänden zu den<br />

Themen Rente, Pflege, Klima, Armut<br />

und Wohnen erhielten sehr<br />

große Zustimmung.<br />

Der Sozialverband VdK hat während<br />

seines 19. Ordentlichen Bundesverbandstags<br />

in Berlin die sozialpolitischen<br />

Weichen für die<br />

kommenden vier Jahre gestellt.<br />

Horst Vöge, Vorsitzender der Sozialpolitischen<br />

Kommission, stellte<br />

den Delegierten am ersten Tag<br />

des Bundestreffens die 18 sozialpolitischen<br />

Anträge von Präsidium<br />

und Bundesvorstand vor. Alle<br />

wurden einstimmig angenommen.<br />

Beim Thema Alterssicherung<br />

herrschte Konsens darüber, dass<br />

das Rentenniveau dauerhaft stabilisiert<br />

und mittelfristig auf 53 Prozent<br />

erhöht werden muss. Außerdem<br />

fordert der VdK eine Weiterentwicklung<br />

der Grundrente und<br />

erteilte den Diskussionen über die<br />

Erhöhung der Regelaltersgrenze<br />

eine klare Absage. Für diese Position<br />

lohne es sich, auf die Straße<br />

zu gehen, erklärte Horst Vöge.<br />

Erstmals befasste sich ein sozialpolitischer<br />

Antrag mit dem Thema<br />

„Klima und Umweltgerechtigkeit“.<br />

Die Delegierten folgten der<br />

Forderung, die Anpassung an den<br />

Klimawandel sozial zu gestalten.<br />

Der VdK fordert Hitzeschutzpläne<br />

Die Delegierten stimmten auf dem Bundesverbandstag in Berlin über die<br />

sozialpolitischen Anträge ab. <br />

Foto: Henning Schacht<br />

für Ältere, Pflegebedürftige und<br />

chronisch Kranke sowie eine hitzegerechte<br />

und klimafreundliche<br />

Gestaltung der Städte. Für den<br />

VdK ist aber auch klar: Alle Maßnahmen<br />

zum Klimaschutz müssen<br />

sozial ausgewogen sein.<br />

Stärkung der Pflege<br />

Einig waren sich die Delegierten<br />

auch über die Einführung einer<br />

Pflegevollversicherung und die<br />

Stärkung der häuslichen Pflege.<br />

Dafür sollen pflegende Angehörige<br />

ein Gehalt bekommen, das sich<br />

nach dem Pflegegrad richtet und<br />

nicht nach dem vorherigen Gehalt.<br />

Die Landesverbände reichten<br />

insgesamt 26 Anträge zur Abstimmung<br />

ein, die alle fast ohne Gegenstimme<br />

angenommen wurden.<br />

Darunter war der Antrag aus Bayern,<br />

die Umsatzsteuer auf Arzneimittel<br />

zu streichen oder zumindest<br />

auf sieben Prozent zu senken.<br />

Einer der Vorschläge aus Rheinland-Pfalz<br />

sah vor, Gewinnspekulationen<br />

im Gesundheitswesen zu<br />

verbieten und die Transparenz bei<br />

Leistungen, Kosten und Einnahmen<br />

sowie Ausgaben im Gesundheitswesen<br />

zu steigern.<br />

Der Landesverband Nordrhein-Westfalen<br />

machte sich dafür<br />

stark, Bonusprogramme zur Vorsorge<br />

fortzuentwickeln. Baden-<br />

Württemberg hatte sich unter anderem<br />

mit einem Antrag zur Weiterentwicklung<br />

der Pflegestützpunkte<br />

eingebracht.<br />

Jörg Ciszewski<br />

KOMMENTAR<br />

Auf in die Zukunft<br />

Hinter uns liegt ein erfolgreicher<br />

VdK-Bundesverbandstag. Ich<br />

freue mich sehr, dass die Delegierten<br />

dem Präsidium und mir<br />

ihr großes Vertrauen ausgesprochen<br />

haben. Vielen Dank für so<br />

viel Rückenwind, der uns in den<br />

nächsten Jahren trägt.<br />

Die Tage in Berlin haben mich an<br />

die Atmosphäre bei großen<br />

Sport-Events erinnert. Buntes<br />

Treiben, viel Fachsimpeln, anregende<br />

Gespräche, neue Kontakte<br />

und gespannte Erwartungen<br />

auf die Entscheidungen, die vor<br />

Ort fallen. Am Ende fahren dann<br />

alle motiviert mit konkreten Ergebnissen<br />

und neuen Zielen<br />

nach Hause.<br />

Nach dem Bundesverbandstag<br />

hatten alle Delegierten das<br />

„VdK-Zielbild 2030“ als ein solches<br />

konkretes Ergebnis im Gepäck.<br />

Nein, unser Zielbild ist kein<br />

Management-Schnickschnack,<br />

sondern eine wortgewordene<br />

Vision für all das, was wir im VdK<br />

in den nächsten Jahren miteinander<br />

vorhaben. Es ist ein Gemeinschaftswerk,<br />

das wir in<br />

vielen Sitzungen der „VdK-Arbeitsgruppe<br />

Strategie“ entwickelt<br />

haben. Wir taten dies aus<br />

einer recht komfortablen Position<br />

heraus. Schließlich steht der VdK<br />

hervorragend da, in allen Landesverbänden<br />

geht es mit den<br />

Mitgliederzahlen stetig aufwärts<br />

– teils auf ohnehin schon sehr<br />

hohem Niveau.<br />

Das ist genau der richtige Zeitpunkt<br />

für die Zukunftsplanung.<br />

Verena Bentele<br />

VdK-Präsidentin<br />

Wir können besonnen nachdenken,<br />

wohin der Weg uns führen<br />

soll, und müssen nicht überstürzt<br />

das Ruder herumreißen. Alle<br />

Verbandsstufen haben mit dem<br />

Zielbild jetzt einen Leitfaden, wie<br />

sich die sozialrechtliche Beratung,<br />

die ehrenamtliche Betreuung<br />

und die sozialpolitische Interessenvertretung<br />

noch optimieren<br />

lassen, um die Erwartungen<br />

der Mitglieder zu erfüllen und<br />

weitere Mitglieder zu gewinnen.<br />

Das gerade verabschiedete<br />

Zielbild formuliert eine VdK-<br />

Selbstbeschreibung, wie wir sie<br />

gerne 2030 überall verstanden<br />

wissen wollen: „Der VdK ist die<br />

erste Anlaufstelle für die Durchsetzung,<br />

die Sicherung, den Erhalt<br />

und den Ausbau der sozialen<br />

Gerechtigkeit in Deutschland.“<br />

Ich freue mich auf den VdK<br />

im Jahr 2030 und habe schon<br />

meine Ärmel hochgekrempelt.<br />

Packen wir es gemeinsam an!<br />

„In diese Studie ist Geld, Zeit und viel Herzblut geflossen“<br />

VdK-Präsidentin Bentele übergibt Abschlussbericht der großen Pflegestudie an Gesundheitsminister Lauterbach<br />

VdK-Präsidentin Verena Bentele<br />

hat den Abschlussbericht der umfangreichen<br />

VdK-Studie zur<br />

Nächstenpflege während des Bundesverbandstags<br />

an Bundesgesundheitsminister<br />

Karl Lauterbach<br />

übergeben.<br />

Die Übergabe an den Minister<br />

bezeichnete Bentele als einen Höhepunkt<br />

der Nächstenpflege-Kampagne<br />

des Sozialverbands VdK, die<br />

zum Bundesverbandtag Mitte Mai<br />

in Berlin endete. Über ein Jahr<br />

lang organisierte der VdK im Rahmen<br />

dieser Kampagne zahlreiche<br />

Demonstrationen und Aktionen,<br />

um die Öffentlichkeit und vor allem<br />

die Politik auf die Situation der<br />

häuslichen Pflege aufmerksam zu<br />

machen.<br />

Die VdK-Pflegestudie ist das<br />

Herzstück und das wissenschaft-<br />

Die umfangreiche VdK-Studie zur<br />

Nächstenpflege.<br />

liche Fundament dieser großen<br />

Kampagne. Immer wieder hat der<br />

VdK im vergangenen Jahr auf die<br />

zahlreichen Studienergebnisse,<br />

wie zum Beispiel zur Armutsgefährdung<br />

von pflegenden Angehörigen<br />

oder zur unsicheren Rechtslage<br />

bei der 24-Stunden-Pflege,<br />

aufmerksam gemacht. VdK-Präsidentin<br />

Bentele betonte bei der<br />

Übergabe an Minister Lauterbach:<br />

„In diese Studie ist Geld, Zeit und<br />

viel Herzblut von ehrenamtlichen<br />

und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern, von Mitgliedern<br />

und von dem beauftragten<br />

Forschungsteam geflossen.“<br />

Mehrfachbelastung<br />

Des Weiteren forderte sie den<br />

Minister auf, die Studie an weitere<br />

Entscheiderinnen und Entscheider<br />

in den Ministerien und der Regierung<br />

weiterzugeben. „Wir brauchen<br />

endlich eine tiefgreifende<br />

Pflegereform für die zuhause Gepflegten,<br />

dort, wo die Mehrzahl<br />

der Pflegebedürftigen versorgt<br />

werden“, forderte die wiedergewählte<br />

VdK-Präsidentin Bentele.<br />

Minister Karl Lauterbach signalisierte<br />

auf dem VdK-Verbandstag,<br />

dass er sich in den laufenden Verhandlungen<br />

in der Regierungskoalition<br />

für weitere Verbesserungen<br />

in der häuslichen Pflege einsetzen<br />

werde. Er nannte hier das sogenannte<br />

„Entlastungsbudget“, das<br />

wahrscheinlich Bestandteil der<br />

aktuellen Pflegereform sein wird.<br />

VdK-Präsidentin Verena Bentele übergibt die Pflegestudie an Bundesgesundheitsminister<br />

Karl Lauterbach.<br />

Fotos: Henning Schacht<br />

Dafür hatte sich der VdK stark<br />

gemacht.<br />

Lauterbach lobte ausdrücklich<br />

die politische Lobbyarbeit des<br />

VdK: „Das Erreichte hat der VdK<br />

wesentlich mitgeprägt.“ Der endgültige<br />

Gesetzesbeschluss des<br />

Bundestags zur Pflegereform und<br />

zum Entlastungsbudget lag bei<br />

Redaktionsschluss dieser Ausgabe<br />

noch nicht vor. Die VdK-ZEI-<br />

TUNG wird dazu in der kommenden<br />

Ausgabe berichten.<br />

Umfangreichste Studie<br />

Bei der VdK-Pflegestudie hatte<br />

ein Forscherteam um den Pflegewissenschaftler<br />

Prof. Dr. Dr.<br />

Andreas Büscher von der Hochschule<br />

Osnabrück etwa 54 000<br />

VdK-Mitglieder rund um die häus-<br />

liche Pflege befragt. Sie ist damit<br />

die bisher umfangreichste Studie<br />

in diesem Bereich. Die Ergebnisse<br />

zeigen, dass pflegende Angehörige<br />

mehrfach stark belastet sind – und<br />

häufig von der Politik im Stich<br />

gelassen werden.<br />

37 Prozent der Pflegenden kümmern<br />

sich schon länger als fünf<br />

Jahre um ihre pflegebedürftigen<br />

Familienmitglieder. 23 Prozent<br />

pflegen mindestens 40 Stunden in<br />

der Woche. Dabei haben 93 Prozent<br />

keinen Zugang zur Tagespflege<br />

gefunden. 62 Prozent nehmen<br />

noch nicht einmal einen Pflegedienst<br />

in Anspruch. Die Gründe<br />

hierfür: Passende Angebote fehlen<br />

oder die Zuzahlungen sind zu<br />

hoch.<br />

„Die Datenlage ist eindeutig: Wir<br />

wissen, wo es hakt und wer Unterstützung<br />

braucht – und dann folgt<br />

vonseiten der Politik nichts“, sagte<br />

Bentele bei der Vorstellung der<br />

Studie. 59 Prozent der pflegenden<br />

Angehörigen gaben an, über ihre<br />

selbstgewählte Aufgabe die eigene<br />

Gesundheit zu vernachlässigen.<br />

Nachts befinden sich 63 Prozent in<br />

regelmäßiger Rufbereitschaft.<br />

Besonders belastet sind der Studie<br />

zufolge die Eltern von pflegebedürftigen<br />

Kindern. 64 Prozent<br />

unterstützen ihr minderjähriges<br />

oder bereits erwachsenes Kind<br />

nachts regelmäßig.<br />

Immense Pflegeleistung<br />

Der Umfang der Pflegeleistung<br />

der Eltern ist besonders groß: Mehr<br />

als die Hälfte der betroffenen Eltern<br />

(54 Prozent) pflegt mehr als<br />

39 Stunden pro Woche. 75 Prozent<br />

der Eltern – in der Regel die Mütter<br />

– berichten, ihre Arbeitszeit deshalb<br />

reduziert zu haben. Nur wenige<br />

Familien mit pflegebedürftigen<br />

Kindern nutzen außerhäusliche<br />

Pflegeunterstützungen.<br />

Kurzzeitpflege wird von 18 Prozent,<br />

Tages- oder Nachtpflege gerade<br />

mal von drei Prozent in Anspruch<br />

genommen.Julia Frediani<br />

Info<br />

Die komplette Studie des VdK<br />

und der Hochschule Osnabrück<br />

ist online abrufbar unter vdk.de/<br />

vdk-pflegestudie

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