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frings. Das Misereor-Magazin 1/2023: Wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Wofür es sich zu kämpfen lohnt: Ein Heft über Demokratie und Menschenrechte. www.misereor.de/magazin

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Ein Heft über Demokratie und Menschenrechte.
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Uganda<br />

Kampf gegen<br />

Vertreibung<br />

Menschenpflichten<br />

Eine Hausordnung<br />

in 19 Artikeln<br />

Runter vom Sofa<br />

Für das, was wir<br />

schützen wollen<br />

<strong>Wofür</strong><br />

<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong><br />

Ein Heft<br />

über Demokratie<br />

und Menschenrechte


EDITORIAL<br />

INHALT<br />

Menschenrechte fungieren als<br />

kritische Instanz gegen dehumanisierende<br />

Tendenzen in G<strong>es</strong>ellschaften.<br />

Sie geben dem R<strong>es</strong>pekt<br />

vor der Würde d<strong>es</strong> Menschen<br />

Rückendeckung und sind<br />

stets auf Freiheit bezogen. Di<strong>es</strong><br />

gilt nicht nur für bürgerliche und politische Rechte (Religionsfreiheit,<br />

Meinungsfreiheit usw.), sondern ebenso für<br />

wirtschaftliche und soziale Rechte (auf Bildung, Nahrung,<br />

Arbeit usw.). Es geht niemals nur um Versorgungsansprüche,<br />

sondern immer um den ganzheitlichen Menschen.<br />

So lässt <strong>sich</strong> das Recht auf Nahrung <strong>zu</strong>m Beispiel<br />

kein<strong>es</strong>wegs auf die Versorgung mit Kalorien und Proteinen<br />

reduzieren, sondern sieht den Menschen als Verantwortungssubjekt.<br />

Er soll nicht bloß „gefüttert“ werden,<br />

sondern <strong>sich</strong> nach seinen Vorstellungen ernähren und<br />

die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung verantwortlich<br />

mitg<strong>es</strong>talten.<br />

Menschenrechte sind Fundament jeder demokratischen<br />

G<strong>es</strong>ellschaft. Sie reagieren auf Erfahrungen himmelschreienden<br />

Unrechts. Weltweit und akut sehen wir eine Vielzahl<br />

an Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen: Kriege, Unterdrückung,<br />

Machtmissbrauch, Gefährdungen durch Klimawandel.<br />

Ebenso finden <strong>sich</strong> Menschen und Gruppen, die entschlossen<br />

<strong>zu</strong>gunsten der Menschenrechte agieren: Ugandische<br />

Aktivist*innen gegen die längste beheizte Öl-Pipeline<br />

der Welt, Frauen in Bolivien mit Radiobeiträgen gegen<br />

sexualisierte Gewalt und Landwirte weltweit mit Ideen<br />

<strong>zu</strong>r Eindämmung d<strong>es</strong> Klimawandels.<br />

Wir alle sind gefordert! Freiheit und Demokratie sind<br />

nicht selbstverständlich <strong>zu</strong> erhalten.<br />

Herzlich Ihr<br />

Pirmin Spiegel<br />

<strong>Misereor</strong><br />

Foto: Klaus Mellenthin<br />

LIEBE LESERINNEN<br />

UND LESER!<br />

GESICHTER DIESER AUSGABE<br />

Seite 2<br />

SCHWERPUNKT:<br />

WOFÜR ES SICH<br />

ZU KÄMPFEN LOHNT<br />

FOTOSTRECKE<br />

Vom Aufstehen, Einstehen<br />

und auf die Knie gehen<br />

Seite 4<br />

REPORTAGE UGANDA<br />

Widerstand gegen<br />

eine beheizte Öl-Pipeline<br />

Seite 10<br />

MEINUNG<br />

Wir brauchen einen Weltgerichtshof<br />

für Menschenrechte<br />

Seite 19<br />

INFOGRAFIK<br />

Gefährdete Freiheit<br />

Seite 20<br />

BOLIVIEN<br />

Lokalreporterin aus Überzeugung<br />

Seite 22<br />

PHILIPPINEN<br />

Maria R<strong>es</strong>sa verteidigt<br />

die Demokratie im Internet<br />

Seite 25<br />

GUT ZU WISSEN<br />

Die Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenpflichten<br />

Seite 28


LANDWIRTSCHAFT<br />

Vom Traum der Nachhaltigkeit<br />

Seite 30<br />

DAS GLOBALE ABENDMAHL<br />

„Alle mal an einen Tisch“<br />

Seite 34<br />

THEMEN<br />

PHILIPPINEN<br />

Göttliche Früchte<br />

für menschliche Rechte<br />

Seite 38<br />

Foto: Eduardo Soteras<br />

10<br />

In Uganda gehen Aktivist*innen<br />

für Menschenrechte<br />

auf die Straße –<br />

und ins Gefängnis<br />

MISEREOR IM GESPRÄCH<br />

„Wir wollen die Dinge verändern“<br />

Seite 40<br />

BILDBAND<br />

Über Tyrannei.<br />

20 Lektionen für den Widerstand<br />

Seite 42<br />

MISEREOR IN AKTION<br />

Da ist Musik drin!<br />

Seite 44<br />

Foto: dpa picture-alliance<br />

25<br />

Die philippinische<br />

Friedensnobelpreisträgerin<br />

Maria R<strong>es</strong>sa verteidigt<br />

die Demokratie<br />

KOLUMNE<br />

Runter vom Sofa<br />

Seite 46<br />

RÄTSEL<br />

Wer hat’s g<strong>es</strong>agt?<br />

Seite 48<br />

IMPRESSUM<br />

Seite 49<br />

Titel: Artikel 1, Grundg<strong>es</strong>etz<br />

Die Würde d<strong>es</strong> Menschen ist unantastbar.<br />

Sie <strong>zu</strong> achten und <strong>zu</strong> schützen ist Verpflichtung<br />

aller staatlichen Gewalt.<br />

Foto: Benedikt Bösel<br />

32<br />

Benedikt Bösel geht<br />

in Brandenburg neue<br />

Wege für eine nachhaltige<br />

Landwirtschaft<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

1


Reportage Uganda auf Seite 10 Bericht auf Seite 22<br />

EDUARDO SOTERAS JALIL<br />

SIMONE SCHLINDWEIN<br />

FLORIAN KOPP<br />

Fotos (v. l. n. r.): Eduardo Soteras , Isaac Kasamani, Sandra Weiss, Britta Knäbel, Klaus J.A. Mellenthin, Marco Rose<br />

2<br />

ist als Kind liban<strong>es</strong>ischer Migranten in<br />

Argentinien geboren, lebt mit seiner<br />

Frau und seinen zwei Kindern in Nairobi.<br />

Er hat als Dokumentarfotograf Lateinamerika,<br />

Afrika und den Nahen<br />

Osten b<strong>es</strong>ucht. In Uganda war er <strong>zu</strong>m<br />

ersten Mal.<br />

„Schockierend war für<br />

mich der gewaltige Unterschied<br />

zwischen der<br />

schlechten Situation der<br />

Menschen auf dem Land,<br />

wo die Pipeline entlangläuft,<br />

und der monströsen<br />

Infrastruktur, die <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>gunsten<br />

der Öl-Industrie<br />

entwickelt.“<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

lebt und arbeitet als freie Korr<strong>es</strong>pondentin<br />

seit 2008 in der Region der<br />

Großen Seen, vor allem in Uganda,<br />

Ruanda und der Demokratischen Republik<br />

Kongo. Sie schreibt vor allem<br />

für die tag<strong>es</strong>zeitung in Berlin und produziert<br />

Reportagen für deutsche und<br />

österreichische Radiosender.<br />

„Als ich 2010 <strong>zu</strong>letzt am<br />

Albert-See war, waren die<br />

ersten Ölverträge gerade<br />

unterzeichnet worden. Damals<br />

war di<strong>es</strong> noch eine<br />

unberührte Landschaft mit<br />

gewaltigen Rinderherden.<br />

Jetzt sieht <strong>es</strong> aus wie ein<br />

Industriegebiet.“<br />

Nach seinem Geografie-Studium und<br />

mehreren Hilfseinsätzen in Zentralasien<br />

begann er vor fast 20 Jahren,<br />

mit seiner Kamera die Welt <strong>zu</strong> bereisen<br />

und für Hilfsorganisationen und<br />

sozial engagierte Medien das Leben<br />

der Menschen und Projekte <strong>zu</strong> dokumentieren.<br />

„Auf der Reise <strong>zu</strong> <strong>Misereor</strong>-Projekten<br />

in Bolivien<br />

haben mich b<strong>es</strong>onders<br />

die starken Frauen in Tarija<br />

beeindruckt, die <strong>sich</strong> mit<br />

einfachsten Mitteln gegen<br />

Missbrauch und Unterdrückung<br />

einsetzen.“


Bericht auf Seite 30 Interview auf Seite 38 Rezension auf Seite 42<br />

ANNETTE JENSEN<br />

ist Journalistin, Buchautorin und ehrenamtliche<br />

Sprecherin d<strong>es</strong> Ernährungsrats<br />

Berlin. Ihre Schwerpunkte<br />

sind Ökologie, Wirtschaft und Transformation.<br />

„Menschen wie Ibrahim<br />

Abouleish erwärmen mein<br />

Herz. Er hatte den Mut<br />

etwas <strong>zu</strong> wagen, obwohl<br />

alle sagten, <strong>es</strong> könne nicht<br />

funktionieren. Und heute<br />

sprießt Gemüse in der<br />

Wüste!“<br />

KLAUS MELLENTHIN<br />

Neben seiner angewandten Fotografie<br />

entwickelt Klaus Mellenthin kontinuierlich<br />

ein künstlerisch<strong>es</strong> Werk, in dem<br />

er <strong>sich</strong> mit der Positionierung d<strong>es</strong><br />

Menschen in der G<strong>es</strong>ellschaft auseinandersetzt.<br />

„<strong>Wofür</strong> <strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong> <strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong>? Die vielfältigen Freiheiten,<br />

die das Leben in<br />

Europa bietet, <strong>zu</strong> bewahren<br />

und daran <strong>zu</strong> arbeiten,<br />

dass di<strong>es</strong>e möglichst vielen<br />

Menschen <strong>zu</strong>gänglich<br />

werden, ist für mich eine<br />

der wichtigsten Herausforderungen<br />

unserer Zeit.“<br />

MELE BRINK<br />

arbeitet als freiberufliche Illustratorin<br />

in Aachen. Nach einem Studium der<br />

Architektur b<strong>es</strong>chloss sie, lieber vom<br />

Zeichnen <strong>zu</strong> leben. Angefangen mit<br />

Cartoons ist das Portfolio inzwischen<br />

um einig<strong>es</strong> gewachsen. Sie zeichnet<br />

für Verlage, Behörden, Firmen und<br />

auch Privatleute und illustriert Kinderbücher.<br />

Seit 2000 bebildert sie auch<br />

die Kinderfastenaktion von <strong>Misereor</strong>.<br />

„Nora Krug illustriert<br />

den ohnehin erhellend<br />

bedrückenden Inhalt<br />

so eindrücklich, dass<br />

man <strong>sich</strong> als L<strong>es</strong>erin<br />

direkt bei der eigenen<br />

Verantwortung gepackt<br />

fühlt.“<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

3


FOTOSTRECKE<br />

<strong>Wofür</strong><br />

<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong><br />

FÜR GLEICHE RECHTE<br />

Foto: dpa picture-alliance<br />

Der amerikanische Footballspieler Eric Reid (links) und<br />

sein Mannschaftskollege Colin Kaepernick knien im Herbst<br />

2016 während der Nationalhymne vor einem Wettkampf<br />

gegen die Los Angel<strong>es</strong> Rams in Santa Clara, Kalifornien.<br />

Sie wenden <strong>sich</strong> damit gegen Polizeibrutalität, Rassenungerechtigkeit<br />

und soziale Ungleichheit. Hintergrund ihr<strong>es</strong><br />

Prot<strong>es</strong>ts ist die Ermordung ein<strong>es</strong> Schwarzen durch Polizeibeamte.<br />

Die beiden sind nicht die ersten Sportler*innen,<br />

die ihre Prominenz für politische Anliegen nutzen.<br />

Der Box-Champion Muhammad Ali verweigerte 1965<br />

den Kriegsdienst, trat in die militante Sekte Black Muslims<br />

ein, änderte seinen Namen von Cassius Clay in Muhammad<br />

Ali und wurde so <strong>zu</strong>r Symbolfigur der Prot<strong>es</strong>tbewegung<br />

gegen die Rassendiskriminierung.<br />

4<br />

EINS<strong>2023</strong>


<strong>Wofür</strong><br />

<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong><br />

FÜR NATÜRLICHE RESSOURCEN<br />

Die Quelccaya-Eiskappe in Cusco, Peru, bildet den<br />

zweitgrößten tropischen Gletscher der Welt. Wegen<br />

d<strong>es</strong> Klimawandels schrumpft er Jährlich um etwa<br />

60 Meter, sodass er im Laufe der nächsten 30 Jahre<br />

verschwunden sein wird, wenn der weltweite<br />

Ausstoß von Treibhausgasen nicht reduziert wird.<br />

Die Qechua-Gemeinschaft, die an den Hängen d<strong>es</strong><br />

Gletschers wohnt, ist unmittelbar betroffen. Sie<br />

hat <strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>m Ziel g<strong>es</strong>etzt, die Welt auf den Verlust<br />

d<strong>es</strong> Eis<strong>es</strong> und die Auswirkungen d<strong>es</strong> Klimawandels<br />

aufmerksam <strong>zu</strong> machen. Mit Hilfe ihr<strong>es</strong><br />

Wissens und traditioneller Anden-Rituale versuchen<br />

sie ihre schneebedeckten Berge <strong>zu</strong> schützen.<br />

Die Bilderserie der Fotografin Angela Ponce ist auf<br />

der Shortlist der World Pr<strong>es</strong>s Photo Awards <strong>2023</strong>.<br />

Foto: Angela Ponce<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

5


6<br />

EINS<strong>2023</strong>


<strong>Wofür</strong><br />

<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong><br />

FÜR EINE MÜNDIGE JUSTIZ<br />

Gemeinsam gegen die geplante Justizreform auf<br />

der Straße: Allein in Tel Aviv demonstrieren rund<br />

100.000 Menschen und schwenken die weiß-blaue<br />

israelische Flagge. In Haifa sind <strong>es</strong> rund 50.000.<br />

Auch in Jerusalem, Beerscheba, Eilat und etlichen<br />

anderen Städten gibt <strong>es</strong> Kundgebungen. Nach Angaben<br />

der Organisatoren prot<strong>es</strong>tierten im ganzen<br />

Land insg<strong>es</strong>amt eine halbe Million Menschen. Nach<br />

Plänen der Regierung soll <strong>es</strong> dem Parlament künftig<br />

möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen<br />

d<strong>es</strong> Höchsten Gerichts auf<strong>zu</strong>heben. Außerdem<br />

sollen Politiker bei der Ernennung von Richtern<br />

mehr Einfluss erhalten. W<strong>es</strong>tliche Politiker hatten<br />

<strong>sich</strong> d<strong>es</strong>wegen b<strong>es</strong>orgt geäußert, weil die Reform<br />

Israels demokratische Grundlagen untergrabe.<br />

Foto: Anadalu/Getty imag<strong>es</strong><br />

EINS<strong>2023</strong><br />

7


FÜR BEDROHTE KULTUREN<br />

<strong>Wofür</strong><br />

<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong><br />

Foto: Florian Kopp<br />

Pablo Samon und Pedro Miranda aus der Indigenen-Gemeinde<br />

Oñedí in der Provinz Formosa, Argentinien,<br />

haben ein Schild aufg<strong>es</strong>tellt, das ihre Forderung an die<br />

Regierung auf den Punkt bringt: Artikel 75, Abschnitt 17<br />

der argentinischen Verfassung, lautet „Die ethnische und<br />

kulturelle Präexistenz der indigenen Völker wird anerkannt.“<br />

Die Realität sieht anders aus. Den indigenen Kulturen<br />

ist <strong>es</strong> weder möglich, ihre traditionelle Sammlerund<br />

Jägerg<strong>es</strong>ellschaft aufrecht<strong>zu</strong>erhalten, noch haben<br />

sie Zugang <strong>zu</strong>r bäuerlichen Lebensweise. Ohne jede <strong>sich</strong>ere<br />

Einkommensquelle leben sie am Rande d<strong>es</strong> Existenzminimums.<br />

Die wirtschaftliche und politische Macht<br />

konzentriert <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>m größten Teil in den Händen der<br />

weißen Einwohner.<br />

8<br />

EINS<strong>2023</strong>


<strong>Wofür</strong><br />

<strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong><br />

<strong>lohnt</strong><br />

Foto: dpa picture-alliance<br />

FÜR FRAUEN, LEBEN, FREIHEIT<br />

Ohne das von der Regierung in Teheran vorg<strong>es</strong>chriebene<br />

Kopftuch nimmt die iranische Klettermeisterin Elnas Rekabi<br />

am Final-Wettbewerb der Asienmeisterschaften in Seoul<br />

teil. Ihr Verstoß gegen die Hidschab-Pflicht wird weltweit<br />

als Zeichen der Solidarität mit der Frauenbewegung im<br />

Iran gewertet, die <strong>sich</strong> unter anderem dagegen wehrt,<br />

dass die weibliche Bevölkerung d<strong>es</strong> Land<strong>es</strong> in der Öffentlichkeit<br />

ihre Haare verschleiern muss. Später entschuldigt<br />

die Sportlerin <strong>sich</strong> für ihr Verhalten. Internationale Beobachter*innen<br />

deuten di<strong>es</strong> allerdings als erzwungene Stellungnahme.<br />

Nach dem Tod einer 22-jährigen Frau, die<br />

während ihr<strong>es</strong> Arr<strong>es</strong>t<strong>es</strong> bei der Sittenpolizei <strong>zu</strong> Tode kam,<br />

<strong>kämpfen</strong> Frauen im Iran gegen die Unterdrückung durch<br />

das Regime der Mullahs.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

9


UGANDA<br />

Im W<strong>es</strong>ten Ugandas haben Geologen 2006 Öl entdeckt,<br />

seitdem plant die ugandische Regierung den Bau<br />

der ostafrikanischen Rohölpipeline, von Raffinerien und Flughäfen.<br />

Die Folgen für die Anwohnerinnen und Anwohner<br />

sind schon jetzt verheerend. Doch <strong>es</strong> regt <strong>sich</strong> Widerstand.<br />

Text von Simone Schlindwein<br />

Fotos von Eduardo Soteras Jalil<br />

10<br />

EINS<strong>2023</strong>


Es war eine Holzlatte mit einer grauen Markierung, die<br />

Bauer Leodinus Tutyatembas Leben und das seiner<br />

Großfamilie von einem Tag auf den anderen veränderte.<br />

Sie wurde von Regierungsvertretern 2015 in seinen<br />

Ackerboden gerammt – zwischen Maisstengeln, dort wo<br />

seine Ziegen grasen.<br />

„Sie sagten, sie werden hier die Pipeline verlegen“, nickt<br />

der 50-jährige Ugander und guckt etwas betrübt auf den<br />

fruchtbaren Boden, wo er bislang seinen Mais angebaut hat.<br />

Rund 30 Quadratmeter sein<strong>es</strong> Grundstücks musste er für<br />

den Bau der Röhre hergeben. „Ich habe wirklich Angst“,<br />

sagt Tutyatemba: „Was ist, wenn die Pipeline leckt?“,<br />

fragt er. „Ich fürchte, dass wir dadurch sterben können.“<br />

Leodinus Tutyatembas Gemüseacker liegt in dem<br />

kleinen Dorf Kyakatemba im W<strong>es</strong>ten Ugandas, nahe<br />

dem Albertsee, der Uganda vom Kongo trennt. In di<strong>es</strong>er<br />

einst unerschlossenen Region entlang d<strong>es</strong> ostafrikanischen<br />

Grabenbruchs haben Geologen im Jahr<br />

2006 Öl entdeckt. Internationale Firmen kamen<br />

und bohrten tiefe Löcher in den Boden. In der 200<br />

Kilometer entfernten Hauptstadt Kampala wurden<br />

große Infrastrukturprojekte geplant: Industriepark,<br />

Raffinerie sowie ein Flughafen. <strong>Das</strong><br />

größte, teuerste und kompliziert<strong>es</strong>te Projekt<br />

ist jedoch die Pipeline EACOP (Ostafrikanische<br />

Rohölpipeline), die bis <strong>zu</strong>m tansanischen<br />

Hafen Tanga führen wird. Ende Januar hat<br />

Ugandas Regierung den Startschuss für die<br />

Bauarbeiten gegeben.<br />

In Tutyatembas kleinem Dorf Kyakatemba<br />

ist außer der Markierung noch nichts<br />

davon <strong>zu</strong> sehen. Doch dem Bauer wurde<br />

erklärt: Hier sollen <strong>sich</strong> gleich zwei<br />

Röhren kreuzen. Eine Zulieferpipeline,<br />

die vom 50 Kilometer entfernten Ölfeld<br />

Kingfisher <strong>zu</strong>r Raffinerie führen<br />

soll, sowie die EACOP, die das verarbeitete<br />

Öl von der Raffinerie auf<br />

den Weltmarkt pumpen soll. Der<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

11


In Kyakatemba kreuzen<br />

<strong>sich</strong> zwei Pipelin<strong>es</strong>:<br />

Die Häuser mit dem<br />

roten Kreuz werden<br />

abgerissen<br />

„Ich habe wirklich<br />

Angst. Was ist, wenn<br />

die Pipeline leckt?“<br />

Karte: Wikipedia<br />

Bauer hatte Glück: „Ich habe noch immer genug Land übrig,<br />

damit <strong>es</strong> für meine Familie <strong>zu</strong>m Leben reicht“, sagt er und<br />

zeigt auf seine Frau, seine ält<strong>es</strong>te Tochter und die beiden Enkelkinder,<br />

die vor seiner Hütte Kartoffeln schälen.<br />

Immerhin: Für das markierte Land habe er im Jahr 2020<br />

Entschädigung erhalten. Dafür habe ihm die Regierung ein<br />

Bankkonto eröffnet, wo die Summe einbezahlt wurde, berichtet<br />

er. Wie viel <strong>es</strong> war, will er nicht sagen. „Ich war<br />

glücklich, dass ich überhaupt etwas bekommen habe“, sagt<br />

er. Von dem Geld habe er seinem ält<strong>es</strong>ten Sohn woanders<br />

ein Stück Land gekauft. „Er lebt<br />

jetzt mit den Enkeln weit weg“,<br />

sagt Tutyatemba traurig. <strong>Das</strong><br />

Pipelineprojekt habe seine Familie<br />

und seine Gemeinde auseinandergerissen.<br />

Der Mann mit dem karierten<br />

Hemd zeigt mit dem ausg<strong>es</strong>treckten<br />

Zeigefinger auf ein<br />

unverputzt<strong>es</strong> Haus auf dem<br />

Grundstück nebenan. An d<strong>es</strong>sen<br />

Holztür prangt ein Kreuz, g<strong>es</strong>prüht mit roter Farbe. Die<br />

Markierung, dass <strong>es</strong> abgerissen werden soll: „Fast alle meine<br />

Nachbarn mussten wegziehen“, berichtet Tutyatemba betrübt.<br />

Es werde nun einsam hier in der Gegend. Nur die Gräber<br />

der toten Angehörigen, die in den Gärten beerdigt wurden,<br />

seien noch übrig.<br />

So wie Tutyatembas Nachbar*innen ging <strong>es</strong> vielen Leuten<br />

in der Gegend. Nur wenige Kilometer entfernt stehen Schaufelbagger<br />

am Wegrand. Planierraupen ebnen eine Schneise<br />

durch die hügelige Landschaft: Hier entsteht eine neue<br />

Schnellstraße, die von der Stadt Hoima mit den Bürogebäuden,<br />

Hotels und Konferenzsälen bis <strong>zu</strong>m neu geplanten, 40<br />

Kilometer w<strong>es</strong>tlich gelegenen Industriepark mit dem Flughafen<br />

führen soll. 30 Quadratkilometer Land hat die Regierung<br />

hierfür bereitstellen müssen, 13 Dörfer mit über 7.000<br />

Einwohner*innen mussten dafür weichen. Sie wurden vor<br />

die Wahl g<strong>es</strong>tellt: entweder Entschädigungszahlungen auf<br />

ein Konto oder ein neu<strong>es</strong> Haus mit einem Acker woanders.<br />

„Es war keine leichte Entscheidung“, erinnert <strong>sich</strong> Innocent<br />

Tumwebaze an das Jahr 2013, als die Regierungsvertreter<br />

in Begleitung von fünf bewaffneten Polizisten auch in<br />

seinem Dorf Nyahaira aufg<strong>es</strong>chlagen waren. Sie begutachteten<br />

jed<strong>es</strong> Haus, jeden Acker, jeden Ziegenstall. Die Zahlen<br />

der Bäume, der Hühner, der Maisstängel wurden aufgelistet.<br />

All das sollte entschädigt werden – denn all<strong>es</strong> musste weg.<br />

Wo damals noch Tumwebaz<strong>es</strong> Elternhaus stand, wird<br />

heute die über drei Kilometer lange Landebahn asphaltiert.<br />

„Von Anfang an machten Gerüchte den Umlauf, dass sie uns<br />

nach Karamoja umsiedeln“, erzählt der heute 30-jährige<br />

Mann, der als einer der wenigen aus seinem Dorf einen Studienabschluss<br />

hat. Die Bäuerinnen und Bauern hätten<br />

Angst bekommen, denn die wüstenartige karge Region Karamoja<br />

im äußersten Nordosten ist berüchtigt für Dürre, Hunger<br />

und Konflikte. „D<strong>es</strong>wegen haben <strong>sich</strong> viele für die Bargeldzahlungen<br />

entschieden“, berichtet Tumwebaze.<br />

Er selbst hatte <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>nächst auch für Geld entschieden.<br />

„Doch als die Regierungsvertreter mir im Dokument zeigten,<br />

was als Entschädigungssumme errechnet wurde, war<br />

ich entsetzt“, sagt er. Er habe sein Haus für umgerechnet<br />

rund 200 Euro gebaut, doch sie wollten nur rund 70 Euro<br />

dafür ausbezahlen. „Da habe ich meine Entscheidung geändert“,<br />

sagt er. Zur selben Zeit begannen Nichtregierungsorganisationen<br />

wie die Caritas mit ihrer lokalen Entwicklungsorganisation<br />

HOCADEO (Hoima Caritas Entwicklungsorganisation),<br />

die auch aus Deutschland gefördert wird, die<br />

Leute in den betroffenen Gebieten über ihre Rechte auf<strong>zu</strong>klären<br />

– auch darüber, wie sie die Entscheidungen vor Gericht<br />

anfechten können.<br />

12<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

Die neue Straße <strong>zu</strong>m<br />

Kabaale International Airport<br />

reißt tiefe Furchen<br />

in die Landschaft


Leonidus Tutyatemba<br />

zeigt auf seinem Acker die<br />

Markierung, wo die Pipeline<br />

verlaufen soll<br />

die Gemeinde<br />

auseinandergerissen<br />

Di<strong>es</strong> hat den damals 24-jährigen Studenten Tumwebaze ermutigt,<br />

im Jahr 2014 den Betroffenenverband ORRAUG (Verband<br />

der Anwohner der Öl-Raffinerie) <strong>zu</strong> gründen. Gemeinsam<br />

zogen sie 2014 gegen Ugandas Regierung vor Gericht,<br />

um die Zahlungen an<strong>zu</strong>fechten. Bis heute zieht <strong>sich</strong> das Verfahren<br />

hin. Mitte Februar wurde der Proz<strong>es</strong>s erneut vertagt,<br />

der Richter war nicht anw<strong>es</strong>end.<br />

„Von Anfang an hat <strong>sich</strong> all<strong>es</strong> verzögert“, erinnert <strong>sich</strong><br />

Tumwebaze. Während er von 2014 an auf das Umsiedelungsprogramm<br />

wartete, bekamen<br />

seine Nachbarn und Familie bereits<br />

ihr Geld auf das Konto.<br />

<strong>Das</strong> Pipeline- „Von da an begannen die Konflikte“,<br />

erinnert er <strong>sich</strong>. Da die<br />

projekt hat<br />

Konten in der Regel auf den<br />

Mann registriert wurden, machten<br />

<strong>sich</strong> viele Ehemänner mit dem Geld aus dem Staub oder<br />

inv<strong>es</strong>tierten <strong>es</strong> falsch“, erklärt er als Beispiel. Viele Familien<br />

zogen weg. Plötzlich saßen nur noch wenige Kinder im Klassenzimmer.<br />

„D<strong>es</strong>wegen machte die Schule irgendwann<br />

dicht, auch die G<strong>es</strong>undheitsstation.“ Von da an lungerten<br />

die Kinder tatenlos in den Dörfern herum. Die Folge, so<br />

Tumwebaze: Viele Mädchen wurden schwanger, die Jungs<br />

begannen <strong>zu</strong> trinken oder kriminell <strong>zu</strong> werden.<br />

Heute sitzt der junge Mann im blauen Polo-Shirt mit<br />

dem Logo sein<strong>es</strong> Verband<strong>es</strong> auf der Brust im Büro seiner Organisation<br />

in einem kleinen, schmucken Haus in der Siedlung<br />

Kyakabooga, 70 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt.<br />

Wie eine künstliche Reihenhaussiedlung inmitten<br />

einer kargen Landschaft wirkt der Ort, am Ende ein<strong>es</strong> holprigen,<br />

schmalen Trampelpfad<strong>es</strong>. Die rund 50 Häuser, die<br />

alle gleich aussehen, stehen dicht an dicht. Rund 1.000 Men-<br />

EINS<strong>2023</strong> 13


Die Pipeline<br />

Es ist die längste beheizte Öl-Pipeline der Welt mit<br />

rund 1.400 Kilometern: Sie soll von den Ölfeldern am<br />

Albert-See im W<strong>es</strong>ten Ugandas bis an den tansanischen<br />

Hafen Tanga am Indischen Ozean führen.<br />

<strong>Das</strong> in W<strong>es</strong>tuganda entdeckte Rohöl ist extrem zähflüssig.<br />

Damit <strong>es</strong> durch die Pipeline fließt, muss die<br />

Röhre ständig auf 50 Grad Celsius erhitzt werden.<br />

Ugandas Regierung hat in den vergangenen Jahren in<br />

zahlreiche Staudammprojekte am Nil inv<strong>es</strong>tiert, um<br />

mehr Energie <strong>zu</strong> erzeugen. Viele Dörfer entlang der<br />

Pipeline haben noch immer keinen Zugang <strong>zu</strong> Strom,<br />

während die Pipeline nun die Energier<strong>es</strong>erven weiter<br />

dezimiert.<br />

G<strong>es</strong>peist wird die Pipeline von zwei großen Öl-Feldern<br />

am Albert-See: <strong>Das</strong> Kingfisher Ölfeld, das von der chin<strong>es</strong>ischen<br />

Staatsfirma CNOOC erkundet wird, sowie<br />

das Tilenga Ölfeld, teilweise im Murchison-Falls-Nationalpark,<br />

das von der französischen Firma Total Energi<strong>es</strong><br />

erkundet wird. Über 400 Bohrtürme sollen dort<br />

errichtet werden, 130 davon im Naturschutzgebiet. Die<br />

G<strong>es</strong>amtkosten belaufen <strong>sich</strong> nach aktuellen Schät<strong>zu</strong>ngen<br />

auf rund vier bis fünf Milliarden US-Dollar.<br />

schen wurden 2018 hierher umg<strong>es</strong>iedelt, sie leben nun<br />

dicht gedrängt. Die Außentoiletten sind direkt neben den<br />

Außenküchen. Fliegen summen umher. Dazwischen spielen<br />

unzählige Kinder im Unrat. Es<br />

wächst kein einziger Baum und<br />

kaum ein Grashalm.<br />

Vier Jahre haben die meisten<br />

gewartet, bis sie 2018 endlich<br />

hier einziehen konnten. „Als<br />

wir hier ankamen, waren wir<br />

alle g<strong>es</strong>chockt“, berichtet er.<br />

„Damals gab <strong>es</strong> keine Schule,<br />

keine Kirche, keinen Gemeind<strong>es</strong>aal,<br />

keine G<strong>es</strong>undheitsstation,<br />

ja nicht einmal einen Brunnen“, erinnert er <strong>sich</strong>.<br />

„Auch die Häuser waren nicht alle fertig“, sagt Tumwebaze<br />

und zeigt aus dem Fenster. „Der Boden ist<br />

nicht sehr fruchtbar, die Äcker liegen weit entfernt<br />

und <strong>zu</strong>r nächsten Wasserquelle müssen wir über<br />

eine Stunde laufen“, seufzt der junge Mann. Tumwebaze<br />

ist einer von zwölf Klägern, die Total Energi<strong>es</strong><br />

13 Dörfer mit über<br />

7.000 Menschen<br />

mussten weichen<br />

Innocent Tumwembaze<br />

hat den Verband der von<br />

der Ölraffinerie Betroffenen,<br />

ORAUG, mitbegründet<br />

in Paris vor Gericht verklagt<br />

haben: wegen Nichteinhaltung<br />

der Sozial-<br />

„Wir sind mit<br />

standards und Verzögerung<br />

der Kompensations-<br />

unseren Problemen<br />

zahlungen. Die Klage wurde<br />

Ende Februar abgewie-<br />

nicht alleine.“<br />

sen. Von Anfang an habe<br />

<strong>es</strong> unter den neuen Nachbarn<br />

Konflikte gegeben. Bis heute gebe <strong>es</strong> viele Diebstähle,<br />

sexuelle Übergriffe, Gewalt. Immerhin: Im vergangenen<br />

Jahr erhielten die Anwohner*innen ihre Grundbücher, sie<br />

sind nun legale Eigentümer*innen. Doch von den ursprünglich<br />

1.000 Menschen seien bereits viele wieder weggezogen.<br />

Auch er habe seine Tochter <strong>zu</strong> Verwandten nach Hoima<br />

g<strong>es</strong>chickt, wo sie nun <strong>zu</strong>r Schule gehe, berichtet er. Doch er<br />

selbst habe hier einen Grund gefunden, wofür <strong>es</strong> <strong>sich</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>kämpfen</strong> <strong>lohnt</strong>, so sagt er und erzählt vom B<strong>es</strong>uch einer Delegation<br />

aus Nigeria im vergangenen Jahr, deren Heimatdörfer<br />

durch die Öl-Projekte im berüchtigten Nigerdelta verseucht<br />

und dadurch unbewohnbar wurden. „Wir müssen<br />

d<strong>es</strong>wegen dafür <strong>kämpfen</strong>, dass <strong>es</strong> hier nicht so weit<br />

kommt“, nickt er und berichtet von seinem B<strong>es</strong>uch im November<br />

2022 auf der globalen UN-Klimakonferenz in Ägypten.<br />

Dort habe er <strong>sich</strong> mit anderen Aktivisten aus aller Welt<br />

ausgetauscht. „Di<strong>es</strong> hat mich ermutigt, weiter <strong>zu</strong> <strong>kämpfen</strong>“,<br />

sagt er: „Denn ich habe g<strong>es</strong>ehen, dass wir mit unseren Problemen<br />

nicht alleine sind.“<br />

Inmitten einer kargen<br />

Landschaft gebaut:<br />

Kinder spielen in der<br />

neuen Siedlung von<br />

Kyakabooga<br />

14<br />

EINS<strong>2023</strong>


INTERVIEW<br />

„Die Regeln sind klar,<br />

sie werden nur nicht<br />

von allen beachtet“<br />

Wie wichtig vernetzt<strong>es</strong> Wissen ist im Kampf für selbstb<strong>es</strong>timmt<strong>es</strong> Handeln,<br />

weiß Dickens Amanya, Direktor d<strong>es</strong> Ugandischen Netzwerks BAPENECO<br />

(Bunyoro Albertine Petroleum Network on Environmental Conservation).<br />

Simone Schlindwein hat mit ihm g<strong>es</strong>prochen.<br />

Wie ist das Netzwerk entstanden?<br />

Wir haben uns 2010 gegründet, um<br />

die Herausforderungen durch das Öl<br />

b<strong>es</strong>ser <strong>zu</strong> verstehen. Als 2006 in Uganda<br />

<strong>zu</strong>m ersten Mal Öl entdeckt wurde,<br />

hatten die meisten Ugander*innen von<br />

dem ganzen Sektor keine Ahnung. Es<br />

gab fast gar keine öffentlichen Informationen,<br />

und wenn doch, dann<br />

waren sie komplex. Unser Ziel war<br />

<strong>zu</strong>nächst, alle Nichtregierungsorganisationen<br />

(NGOs) in dem Bereich <strong>zu</strong> vernetzen<br />

und eine gemeinsame Bibliothek<br />

ein<strong>zu</strong>richten, auch online, um<br />

Zugang <strong>zu</strong> relevanten Informationen<br />

überhaupt möglich <strong>zu</strong> machen. Wir<br />

reden in Anbetracht all der Verträge<br />

und Verordnungen von über 5.000 Seiten<br />

komplexem Material. Es gibt nur<br />

wenige Menschen, die überhaupt verstehen,<br />

was da g<strong>es</strong>chrieben steht. Und<br />

<strong>es</strong> ist unsere Rolle als NGOs, di<strong>es</strong>e<br />

Infos nun so <strong>zu</strong> übersetzen und den<br />

Bäuerinnen und Bauern in den Dörfern<br />

so <strong>zu</strong> erläutern, dass di<strong>es</strong>e selbstb<strong>es</strong>timmt<br />

handeln und entscheiden<br />

können.<br />

Ist di<strong>es</strong>er Mangel an Informationen<br />

das fundamentale Problem?<br />

Absolut, das rührt daher, dass Uganda<br />

in nur kurzer Zeit den Ölsektor aufgebaut<br />

hat. Als 2006 Öl entdeckt wurde,<br />

wurden die ersten Ugander*innen ins<br />

Ausland g<strong>es</strong>chickt, um öl- und gasrelevante<br />

Studiengänge <strong>zu</strong> absolvieren. 2008<br />

wurde bereits das erste G<strong>es</strong>etz verabschiedet,<br />

das den Sektor bis heute reguliert<br />

und mit dem Ugandas nationale<br />

Ölfirma ins Leben gerufen wurde. Damals<br />

hieß <strong>es</strong>, 2016 schon werde das<br />

erste Öl fließen. Aber dann verzögerte<br />

<strong>sich</strong> all<strong>es</strong>, weil noch gar nicht alle relevanten<br />

G<strong>es</strong>etze verabschiedet waren.<br />

Erst 2019 kam das Umweltg<strong>es</strong>etz ins<br />

Parlament, das auch die Sozialstandards<br />

regelt, nach welchen die betroffenen<br />

Menschen entschädigt werden sollten.<br />

2021 erst wurde eine Verordnung<br />

herausgebracht, wie Öl-Lecks verhindert<br />

und behandelt werden sollen. Seitdem<br />

sehen wir einen positiven Trend,<br />

denn all di<strong>es</strong>e G<strong>es</strong>etze geben klare Regeln<br />

vor, und unsere Rolle ist <strong>es</strong>, <strong>zu</strong> prüfen,<br />

ob sie auch eingehalten werden –<br />

und auch hier sehen wir seitdem deutliche<br />

Verb<strong>es</strong>serungen, sowohl bei den<br />

Firmen als auch bei der Regierung.<br />

Aber die betroffenen Gemeinden<br />

fühlen <strong>sich</strong> dennoch als Opfer, warum?<br />

Von 2019 bis 2021 hatten wir die weltweite<br />

Corona-Pandemie. In Uganda gab<br />

<strong>es</strong> monatelang einen radikalen Lockdown.<br />

Niemand durfte das Haus verlassen,<br />

auch die Behördenmitarbeiter*innen<br />

nicht. Die Regierung hat quasi<br />

alle Bearbeitungsproz<strong>es</strong>se für die Kompensationszahlungen<br />

eing<strong>es</strong>tellt. <strong>Das</strong><br />

hat letztlich <strong>zu</strong> der Verzögerung geführt,<br />

die nun alle beklagen.<br />

Dennoch geht die Regierung gegen<br />

alle vor, die das Projekt kritisieren.<br />

Es ist nicht die Regierung an <strong>sich</strong>, sondern<br />

einige Individuen in verschiedenen<br />

Behörden, die gegen uns vorgehen.<br />

Unsere Spendengelder aus dem<br />

Ausland wurden g<strong>es</strong>toppt, die Polizei<br />

kam mehrfach in unsere Büros g<strong>es</strong>türmt,<br />

auch ich wurde f<strong>es</strong>tgenommen.<br />

Doch dann zeigten wir ihnen das<br />

NGO-G<strong>es</strong>etz von 2016, das klar sagt,<br />

dass nur die NGO-Behörde uns die Lizenz<br />

entziehen kann – nicht die Polizei.<br />

Die Regeln sind klar, sie werden<br />

nur nicht von allen beachtet.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

15


UGANDA<br />

Ugandas kleine aber aufsteigende Klimabewegung<br />

macht mobil gegen den Bau der längsten Öl-Pipeline<br />

der Welt. Simone Schlindwein und Eduardo Soteras<br />

haben Aktivisten aus der jungen, gebildeten<br />

Elite in der Hauptstadt Kampala getroffen.<br />

16<br />

EINS<strong>2023</strong>


Aktivist John Hillary<br />

zeigt im katholischen<br />

Jugendzentrum in Kampala<br />

den Film „The Letter“<br />

Als John Hillary den Startknopf an seinem Computer<br />

drückt und der Vorspann d<strong>es</strong> Films anläuft, wirkt er<br />

etwas enttäuscht. Über 50 Aktivist*innen, Mitglieder<br />

von Umweltorganisationen und Student*innen hat er <strong>zu</strong>r Vorführung<br />

ins katholische Jugendzentrum in Ugandas Hauptstadt<br />

Kampala eingeladen. Doch nicht einmal eine Handvoll<br />

Leute sind an di<strong>es</strong>em Samstagvormittag erschienen.<br />

Der 28-jährige Hillary ist der ugandische Vorsitzende der<br />

Laudato-Si-Bewegung, einer katholischen, internationalen<br />

Umweltorganisation, die <strong>sich</strong> weltweit für Klimagerechtigkeit<br />

einsetzt. Im vergangenen Jahr hat Laudato Si den Film<br />

„The Letter“ (Der Brief) mit Papst Franziskus produziert, der<br />

in einem Schreiben alle Menschen der Erde da<strong>zu</strong> aufruft,<br />

die Umwelt <strong>zu</strong><br />

schützen. Der 90-<br />

minütige Dokumentarfilm<br />

begleitet Ak-<br />

Demonstrant*innen<br />

tivist*innen auf verschiedenen<br />

Konti-<br />

wurden mit Tränengas<br />

b<strong>es</strong>prüht, vernenten<br />

und schildert<br />

ihre täglichen<br />

Herausforderungen.<br />

haftet und angeklagt<br />

„Ziel der Filmvorführung ist <strong>es</strong>, dass wir uns auch in Uganda<br />

b<strong>es</strong>ser untereinander austauschen und vernetzen“, erklärt<br />

der IT-Student Hillary die Idee der Filmvorführung. Danach<br />

soll noch eine Diskussionsrunde stattfinden.<br />

Ugandas junge, aber aufsteigende Szene der Umweltaktivist*innen<br />

kämpft derzeit mit großen Herausforderungen.<br />

Im Januar hat Ugandas Präsident Yoweri Museveni den<br />

Startschuss für die Ölförderung sowie den Bau der längsten<br />

beheizten Rohöl-Pipeline der Welt gegeben. Dagegen haben<br />

im vergangenen Jahr land<strong>es</strong>weit immer wieder einzelne,<br />

kleine Aktivistengruppen demonstriert. Doch die Polizei<br />

ging brutal gegen sie vor. Mehrfach wurden Demonstranten<br />

mit Tränengas b<strong>es</strong>prüht, verhaftet und angeklagt, sie kamen<br />

nur auf Bewährung wieder frei. Büros von Umwelt- und<br />

Menschenrechtsorganisationen wurden vom Geheimdienst<br />

g<strong>es</strong>türmt, Computer und Akten konfisziert. Einige Nichtregierungsorganisationen<br />

wurden sogar ganz g<strong>es</strong>chlossen.<br />

Die Botschaft d<strong>es</strong> Regim<strong>es</strong> ist klar: Jegliche Kritik an<br />

Ugandas gigantischen Ölförderplänen wird als Opposition<br />

<strong>zu</strong> Präsident Museveni interpretiert, der seit 37 Jahren an<br />

der Macht ist. Die Ölprojekte sind Grundpfeiler seiner Zukunftsvision,<br />

das (arme) ostafrikanische Land <strong>zu</strong> industriali-<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

17


Immer droht die Verhaftung:<br />

Aktivisten<br />

kleben im Uganda<br />

Museum Plakate<br />

gegen die Öl-Pipeline<br />

sieren und damit Arbeitsplätze und Wohlstand für die nächsten<br />

Generationen <strong>zu</strong> fördern. <strong>Das</strong>s nun ausgerechnet die<br />

junge, gebildete Elite, die eigentlich in Musevenis Denken<br />

von di<strong>es</strong>en Jobs profitieren sollte, dagegen aufschreit,<br />

kommt quasi einer Maj<strong>es</strong>tätsbeleidung gleich.<br />

Als Ugandas Ölverträge mit internationalen Konzernen<br />

wie Total unterzeichnet wurden, gab <strong>es</strong> noch keine Fridays<br />

for Future Bewegung.<br />

Doch mittlerweile ist die Aktivistin Van<strong>es</strong>sa Nakate, die<br />

2019 noch freitags alleine mit einem Schild auf der Hauptstraße<br />

in Kampala stand, <strong>zu</strong> einer der engsten Mitstreiterinnen<br />

Greta Thunbergs in der Fridays for Future-Bewegung geworden.<br />

Und auch die Deutsche Luisa Neubauer hat <strong>sich</strong><br />

den Kampf gegen die EACOP-Pipeline in Ostafrika auf die<br />

Fahnen g<strong>es</strong>chrieben.<br />

<strong>Das</strong>s nun weltweit junge Aktivist*innen gegen die ugandischen<br />

Pipeline-Pläne mobil machen, wird vom Regime in<br />

Uganda als Kampfansage betrachtet. Und die ugandischen<br />

Aktivist*innen fürchten jetzt die Brutalität der Geheimdienste.<br />

In den letzten Jahren wurden Oppositionelle mehrfach<br />

gefoltert und misshandelt. Eine EU-R<strong>es</strong>olution hat im September<br />

2022 auf die Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen in Uganda<br />

im Zusammenhang mit den Ölprojekten hingewi<strong>es</strong>en,<br />

auch auf den brutalen Umgang<br />

mit Kritiker*innen.<br />

Ugandas Klimabewegung ist<br />

vor<strong>sich</strong>tiger geworden. Ihre Protagonist*innen<br />

kommunizieren<br />

nun vor allem abhör<strong>sich</strong>er und<br />

verschlüsselt, treffen <strong>sich</strong> nur<br />

an geheimen Orten. Doch die<br />

meisten agieren in kleinen<br />

Gruppen, wissen voneinander<br />

In den letzten Jahren<br />

wurden Oppositionelle<br />

gefoltert<br />

und misshandelt<br />

Breiter Prot<strong>es</strong>t:<br />

Ugandas Klimaaktivist*innen<br />

machen Front gegen<br />

ihre Regierung<br />

nur wenig. Mit der Filmvorführung wollte Hillary<br />

die verschiedenen Einzelkämpfer*innen in<br />

einem Saal <strong>zu</strong>sammenbringen, wie er sagt: „Damit<br />

wir uns austauschen und vernetzen können,<br />

um in Zukunft mit einer Stimme <strong>zu</strong> sprechen.“<br />

Immerhin, während der Film läuft, füllt <strong>sich</strong><br />

allmählich der Gemeind<strong>es</strong>aal. Studierende der<br />

Fakultät für Forstwirtschaft trudeln verschlafen<br />

ein, Musikerinnen, Künstler, junge Medizinstudent*innen<br />

rücken auf Plastikstühlen <strong>zu</strong>sammen.<br />

Als der Abspann läuft, wird in dem mittlerweile<br />

fast vollen Saal laut geklatscht. Schauspieler Cosmas<br />

Sserubogo steht ganz berührt auf. Er hat Tränen in den<br />

Augen. „Danke, dass ihr uns di<strong>es</strong>en Film gezeigt habt“, sagt<br />

er in die Runde. „<strong>Das</strong> inspiriert mich sehr, die Botschaft für<br />

mehr Umweltschutz nun auch in meine Theaterstücke und<br />

Musiktexte ein<strong>zu</strong>bringen“, nickt er und wischt <strong>sich</strong> die Tränen<br />

weg. Dafür erntet er ermutigenden<br />

Applaus.<br />

Viele der hier Anw<strong>es</strong>enden<br />

waren noch im Herbst<br />

„Wir müssen <strong>zu</strong>- vergangenen Jahr<strong>es</strong> auf die<br />

Straße gegangen. Sie zeigen<br />

auf ihren Handys Fotos<br />

sammenkommen<br />

und gemeinsam<br />

von vergangenen Prot<strong>es</strong>taktionen.<br />

„Menschen statt Profit“,<br />

steht auf den Plakaten<br />

<strong>kämpfen</strong>.“<br />

g<strong>es</strong>chrieben. „Hört auf, die<br />

Klimakrise <strong>zu</strong> fördern!“,<br />

verlangen sie. Doch in Anbetracht<br />

der Polizeigewalt traut <strong>sich</strong> mittlerweile niemand<br />

der Aktivist*innen mehr auf die Straße. Sie suchen nun<br />

nach alternativen Wegen, auf das Problem aufmerksam <strong>zu</strong><br />

machen.<br />

„Der Klimawandel ist schon voll im Gange!“, hat der 32-<br />

jährige Aktivist Chrispus Mwemaho vergangen<strong>es</strong> Jahr noch<br />

auf sein Poster gemalt. Er unterstützt in W<strong>es</strong>tuganda diejenigen<br />

Menschen, die 2021 vor Fluten und Erdrutschen aus<br />

ihren zerstörten Häusern fliehen mussten und jetzt in<br />

einem Lager ohne genügend Verpflegung leben. „Der Film<br />

verbreitet eine wunderbare Botschaft“, stellt er nach der<br />

Vorführung in der Diskussionsrunde klar: „Wir können als<br />

Einzelpersonen die Probleme d<strong>es</strong> Klimawandels nicht<br />

lösen“, betont er. „Wir müssen <strong>zu</strong>sammenkommen und gemeinsam<br />

<strong>kämpfen</strong>.“<br />

18<br />

EINS<strong>2023</strong>


MEINUNG<br />

Von Manfred Nowak<br />

Foto (o.): iStock.com<br />

W<br />

ir stehen an einer Zeitenwende.<br />

Der russische Angriffskrieg<br />

auf die Ukraine führt<br />

nicht nur <strong>zu</strong> schwersten Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen,<br />

sondern er stellt<br />

die g<strong>es</strong>amte Weltordnung in Frage, die<br />

1945 auf den Trümmern d<strong>es</strong> 2. Weltkriegs<br />

und nach dem Holocaust errichtet<br />

wurde. Sie basiert auf drei eng miteinander<br />

verbundenen Säulen: Friede,<br />

Entwicklung und Menschenrechte.<br />

Wenn <strong>es</strong> der internationalen Gemeinschaft<br />

unter Führung der Vereinten<br />

Nationen gelingt, di<strong>es</strong>en brutalen<br />

Krieg <strong>zu</strong> beenden, dann könnte uns im<br />

Jahr <strong>2023</strong> ein entscheidender Schritt<br />

<strong>zu</strong>r Verwirklichung einer auf den Menschenrechten<br />

basierenden neuen Weltordnung<br />

gelingen.<br />

Heuer jährt <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>m 75. Mal die<br />

Universelle Erklärung der Menschenrechte<br />

und <strong>zu</strong>m 30. Mal die Wiener Erklärung<br />

der Menschenrechte. Zur Zeit<br />

d<strong>es</strong> Kalten Kriegs hat <strong>sich</strong> der internationale<br />

Schutz der Menschenrechte als<br />

der einzig universell anerkannten normativen<br />

Grundlage für Sicherheit und<br />

Prosperität kontinuierlich weiter entwickelt:<br />

Dekolonisierung und Bekämpfung<br />

von Armut in Afrika und Asien,<br />

bindende Menschenrechtsverträge im<br />

Rahmen der Vereinten Nationen und<br />

regionaler Organisationen wie dem Europarat,<br />

der Organisation Amerikanischer<br />

Staaten und der Afrikanischen<br />

Union, der Kampf gegen Rassendiskriminierung<br />

und Apartheid, die Rechte<br />

von Frauen und Kindern, die Überwindung<br />

von Militärdiktaturen in Lateinamerika,<br />

Einparteienregimen in Afrika<br />

und kommunistischen Diktaturen in<br />

Europa sind nur die wichtigsten Beispiele<br />

di<strong>es</strong><strong>es</strong> Fortschritts.<br />

Mit dem Ende d<strong>es</strong> Kalten Kriegs<br />

eröffnete <strong>sich</strong> eine historische Chance,<br />

das friedliche Zusammenleben der Völker<br />

auf der Basis von Rechtsstaat, Demokratie<br />

und Menschenrechten Wirklichkeit<br />

werden <strong>zu</strong> lassen. Die Wiener<br />

Weltkonferenz bekräftigte 1993 die Universalität<br />

und Unteilbarkeit aller Menschenrechte<br />

und schuf ein Hochkommissariat<br />

für Menschenrechte als treibende<br />

Kraft der Weltgemeinschaft. Die<br />

Hauptverantwortlichen für die Völkermorde<br />

in Bosnien und Ruanda wurden<br />

vor speziell eingerichteten Strafgerichten<br />

<strong>zu</strong>r Verantwortung gezogen, was<br />

den Weg für ein generell<strong>es</strong> Weltstrafgericht<br />

in Den Haag ebnete. Und regionale<br />

Menschenrechtsgerichte in Europa,<br />

Amerika und Afrika bieten Tausenden<br />

von Menschen die Möglichkeit,<br />

Verlet<strong>zu</strong>ngen ihrer Menschenrechte<br />

gegen ihre Regierungen ein<strong>zu</strong>klagen<br />

und deren Urteile durch<strong>zu</strong>setzen. D<strong>es</strong>wegen<br />

ist <strong>es</strong> höchste Zeit, dass auch<br />

die Vereinten Nationen einen Weltgerichtshof<br />

für Menschenrechte einrichten,<br />

der allen Menschen di<strong>es</strong>er Welt<br />

die Möglichkeit gibt, ihre Menschenrechte<br />

gegen ihre eigenen Regierungen,<br />

transnationale Konzerne und andere<br />

Machtträger wirksam durch<strong>zu</strong>setzen.<br />

Denn Gerichte sprechen nicht<br />

nur Recht im Einzelfall, sondern sie erfüllen<br />

die Menschenrechte auch mit<br />

Leben und entwickeln sie weiter, wie<br />

wir in jüngster Zeit gerade bei den<br />

großen Herausforderungen der Gegenwart<br />

wie bei der Digitalisierung und<br />

beim Klimawandel g<strong>es</strong>ehen haben.<br />

Manfred Nowak ist Jurist,<br />

Prof<strong>es</strong>sor für Menschenrechte<br />

und Menschenrechtsanwalt<br />

in Wien und Generalsekretär<br />

d<strong>es</strong> Global Campus<br />

of Human Rights in Venedig.<br />

Von 2004 bis 2010<br />

war er als Sonderberichterstatter<br />

der Vereinten Nationen über Folter tätig.<br />

Nowak setzt <strong>sich</strong> für Menschenrechte in verschiedenen<br />

Ländern ein, in denen Menschen gefoltert<br />

und misshandelt werden.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

19


INFOGRAFIK<br />

Anzahl der Länder mit einer<br />

demokratischen Regierungsform 2022<br />

24 Länder sind<br />

vollständige Demokratien<br />

48 Länder sind<br />

unvollständige Demokratien<br />

36 Länder sind<br />

Hybridregime<br />

59 Länder sind<br />

autoritäre Regime<br />

36,9 %<br />

Prozent der<br />

Weltbevölkerung<br />

8,0 %<br />

37,2 %<br />

Quelle: EIU<br />

17,9 %<br />

Grafik: Infotext Berlin<br />

Verfahren am Europäischen Gerichtshof<br />

für Menschenrechte 2022<br />

72.750<br />

Verfahren insg<strong>es</strong>amt anhängig<br />

17.550 Verfahren anhängig gegen Russland<br />

17.200 Verfahren anhängig gegen die Türkei<br />

11.400 Verfahren anhängig gegen die Ukraine<br />

Quelle: Statista<br />

Umfrage<br />

Menschenrechte<br />

<strong>Das</strong> Recht auf Meinungsfreiheit<br />

ist das bekannt<strong>es</strong>te der durch die Vereinten Nationen<br />

definierten Menschenrechte.<br />

Es wurde von 58 Prozent der Befragten<br />

in einer weltweiten Umfrage genannt.<br />

Sechs Prozent der Befragten waren der Meinung,<br />

dass das Waffenrecht durch die UN<br />

als Menschenrecht definiert sei.<br />

Nur 43 Prozent der Befragten (vier von zehn)<br />

sind der Meinung, dass jede*r in ihrem Land<br />

die gleichen grundlegenden Menschenrechte genießt.<br />

20<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

Quelle: IPSOS Studie <strong>zu</strong>m Thema<br />

Menschenrechte im Jahr 2018


Quelle: Europäische Kommission,<br />

Umfrage Sommer 2022<br />

Umfrage 2022 <strong>zu</strong>r Demokratie<strong>zu</strong>friedenheit<br />

in Deutschland<br />

Sind Sie mit der Art und Weise,<br />

wie die Demokratie in Deutschland<br />

funktioniert, all<strong>es</strong> in allem g<strong>es</strong>ehen<br />

<strong>zu</strong>frieden?<br />

22 %<br />

sehr <strong>zu</strong>frieden<br />

ziemlich <strong>zu</strong>frieden<br />

nicht sehr <strong>zu</strong>frieden<br />

überhaupt nicht <strong>zu</strong>frieden<br />

weiß nicht<br />

1 %<br />

6 %<br />

12 %<br />

59 %<br />

Moderne Sklaverei<br />

49,6 Millionen<br />

Menschen lebten 2021 weltweit in moderner Sklaverei –<br />

davon 27,6 Millionen<br />

als Arbeitssklav*innen,<br />

weitere 22 Millionen<br />

in erzwungenen Ehen.<br />

Moderne Sklaverei gibt <strong>es</strong><br />

in jedem Land der Welt, am höchsten<br />

ist ihr Wert im Asien-Pazifik-Raum mit<br />

29,3 Millionen Menschen.<br />

+ 10 Mio.<br />

Im Vergleich <strong>zu</strong> 2016 ist die Anzahl<br />

um zehn Millionen g<strong>es</strong>tiegen.<br />

Quelle:<br />

International Labour Organisation<br />

29,3 Mio.<br />

Zwölf Prozent aller von Zwangsarbeit betroffenen Personen sind Kinder.<br />

World Happin<strong>es</strong>s<br />

Report<br />

Die 20 Länder<br />

mit den<br />

glücklichsten Menschen<br />

sind Demokratien.<br />

23 von 25 Ländern<br />

mit der<br />

höchsten Lebenserwartung<br />

sind Demokratien.<br />

Die ersten 32 Länder<br />

in der Rangliste<br />

der Pr<strong>es</strong>sefreiheit<br />

sind Demokratien.<br />

Morde an Journalist*innen<br />

nehmen <strong>zu</strong><br />

Der steile Anstieg getöteter<br />

Journalist*innen zeige Risse<br />

im Rechtsstaatlichkeitssystem,<br />

warnt die UNESCO.<br />

Staaten versagten beim<br />

Schutz von Journalist*innen<br />

und bei der Strafverfolgung,<br />

wenn di<strong>es</strong>e angegriffen werden.<br />

Die gefährlichsten Länder<br />

für Journalist*innen<br />

Haiti<br />

9 Tötungen<br />

Ukraine<br />

10 Tötungen<br />

58<br />

2019 – 2021<br />

86<br />

Mexiko<br />

19 Tötungen<br />

2022<br />

Quelle: UNESCO<br />

Quelle: World Happin<strong>es</strong>s Report,<br />

Tim<strong>es</strong> Higher Education Ranking<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

21


Blick auf das Stadtviertel<br />

Barrìo 12 de Abril:<br />

Der Alltag ist hier von<br />

Mangel und Entbehrung<br />

gekennzeichnet<br />

BOLIVIEN<br />

Text von Constanze Bandowski<br />

Fotos von Florian Kopp<br />

Die Bolivianerin Inés Rodriguez engagiert <strong>sich</strong> beim Bürger*innensender<br />

„Mi Barrio Observa“ in Tarija. Ihr Ziel: Mehr Gerechtigkeit<br />

und b<strong>es</strong>sere Lebensbedingungen für benachteiligte Menschen<br />

in ihrem Stadtviertel.<br />

Inés Rodríguez hat eine Mission. Die 50-jährige Bolivianerin<br />

will die Missstände in ihrer Heimatstadt Tarija aufdecken<br />

und das Leben der Menschen verb<strong>es</strong>sern. „Bei<br />

uns gibt <strong>es</strong> <strong>zu</strong> viel Ungerechtigkeit“, sagt die Bewohnerin<br />

d<strong>es</strong> Stadtrandviertels Barrio 12 de Abril. In Jeans, Sneakern<br />

und warmer Fleecejacke steht die kleine, charismatische<br />

Frau auf einer unbef<strong>es</strong>tigten Schotterpiste an den Ausläufern<br />

der Anden. Der Regen hat tiefe Furchen in die Erde g<strong>es</strong>pült,<br />

der Wind wirbelt Staub auf. Herrenlose Hunde streunen<br />

durch die baumlose Ödnis. Aus den unverputzten Häusern<br />

ragt Bewehrungsstahl in die Luft. Die meisten Menschen<br />

in Barrio 12 de Abril verdienen ihr Geld als Tagelöhner,<br />

Straßenhändlerinnen, Putzkräfte oder Gelegenheitsarbeitende.<br />

Im Stadtteil gibt <strong>es</strong> große Probleme mit Alkohol,<br />

Gewalt und Drogen. Junge Männer driften leicht in die Kriminalität<br />

ab, aber der Staat hält <strong>sich</strong> fern.<br />

„In Barrio 12 de Abril gibt <strong>es</strong> keine Kanalisation, kein<br />

Trinkwassersystem, keine Abfallentsorgung. Es gibt kaum<br />

öffentliche Transportmittel und auf die Polizei ist auch<br />

kein Verlass“, sagt Inés Rodríguez. Immerhin bietet eine<br />

Straßenbeleuchtung den Bürgerinnen und Bürgern inzwischen<br />

etwas mehr Sicherheit im Dunkeln. Die Installierung<br />

ist unter anderem ein Verdienst von Doña Inés. Neben<br />

ihrem Vollzeitjob als Reinigungskraft berichtet sie für den<br />

Bürger*innensender „Mi Barrio Observa“ – „Mein Stadtviertel<br />

berichtet“ – aus den Problemzonen der Stadt. Mit Auf-<br />

22<br />

EINS<strong>2023</strong>


„Ich bin stolz,<br />

als Journalistin<br />

<strong>zu</strong> arbeiten und<br />

Dinge in Bewegung<br />

<strong>zu</strong> setzen.“<br />

nahmegerät und Smartphone interviewt<br />

die Amateurreporterin regelmäßig<br />

Betroffene und holt<br />

auch Gemeindevorsitzende,<br />

Polizisten, Krankenschw<strong>es</strong>tern<br />

oder Politikerinnen vor ihr Mikrofon.<br />

„Unser Programm hat einen großen Einfluss<br />

auf die öffentliche Wahrnehmung“, sagt Elena<br />

Peña von <strong>Misereor</strong>s Partnerorganisation ECAM.<br />

„Die Behörden merken, dass <strong>sich</strong> die Menschen<br />

für ihre Stadtviertel engagieren. Dadurch<br />

können sie <strong>es</strong> <strong>sich</strong> nicht mehr leisten,<br />

weg<strong>zu</strong>schauen und die Entwicklung<br />

<strong>zu</strong> vernachlässigen.“ Die Medienexpertin<br />

unterstützt ehrenamtliche Reporterinnen<br />

wie Inés Rodríguez bei<br />

ihren samstäglichen Live-Sendungen<br />

im Radio und auf Facebook. Doña<br />

Inés gehört <strong>zu</strong> den engagiert<strong>es</strong>ten<br />

Köpfen im Team. Pro Monat übernimmt<br />

sie mind<strong>es</strong>tens zwei Themen,<br />

egal, ob <strong>es</strong> <strong>sich</strong> dabei um fehlende<br />

Sickergruben handelt, um häusliche<br />

Gewalt, Probleme mit den Männern<br />

oder Schulbusse für die Kinder. „Früher<br />

war ich viel <strong>zu</strong> schüchtern, um andere<br />

Menschen an<strong>zu</strong>sprechen“, sagt Doña Inés.<br />

„Heute muss ich mich zwar nach wie vor überwinden,<br />

aber ich bin stolz, als Journalistin <strong>zu</strong> arbeiten<br />

und Dinge in Bewegung <strong>zu</strong> setzen.“<br />

Der Weg <strong>zu</strong>r Radioreporterin war lang, aber<br />

Inés Rodríguez hat ihn trotz aller Widerstände<br />

g<strong>es</strong>chafft. Sie hat keinen Schulabschluss, keine<br />

Ausbildung und kein Studium. „Ich kann nicht<br />

einmal schreiben“, sagt die ruhige Frau mit<br />

stramm <strong>zu</strong>rückgebundenem Haarzopf und<br />

schmalen Lippen. Mit acht Jahren schickten<br />

ihre Eltern sie als Hausmädchen fort.<br />

Im 800 Kilometer entfernten Cochabamba<br />

schuftete die kleine Inés in Privathaushalten,<br />

schlief auf Küchenfußböden<br />

und wurde g<strong>es</strong>chlagen.<br />

Mit 19 zog sie <strong>zu</strong>rück nach Tarija,<br />

heiratete einen Metallbauer und<br />

bekam zwei Söhne. Ihr Mann war Alko-<br />

Inés Rodríguez<br />

produziert ein Interview<br />

für ihre samstäglichen Live-<br />

Sendungen im Radio<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

23


ECAM –<br />

der Stolz bolivianischer Frauen<br />

Die <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation ECAM (Equipo de<br />

Comunicacíon Alternativa con Mujer<strong>es</strong> – Team für alternative<br />

Kommunikation mit Frauen) ist seit 1993<br />

aktiv für Demokratie und G<strong>es</strong>chlechtergerechtigkeit.<br />

Die <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation engagiert <strong>sich</strong> für<br />

die politische Teilhabe und Selbstwirksamkeit von<br />

Frauen sowie die B<strong>es</strong>eitigung sexualisierter Gewalt.<br />

Mehr Informationen und Spendenmöglichkeit unter<br />

misereor.de/bolivien-kolumbien-frauenrechte<br />

Die Direktorin<br />

von ECAM, Peky Rubín<br />

de Celis, plant im Team die<br />

nächsten Projekte<br />

holiker. Und wenn er trank, schlug er <strong>zu</strong>. „Als Frau bist du<br />

hier nichts wert“, sagt Doña Inés. Bolivien ist ein Land d<strong>es</strong><br />

Machismo. Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigungen in der<br />

Ehe oder wirtschaftliche Unterdrückung gelten gemeinhin<br />

als Kavaliersdelikte. Die hübsche Kolonialstadt Tarija im<br />

Süden Boliviens hat land<strong>es</strong>weit die höchste Rate an Gewalt<br />

gegen Frauen. Jeden Tag melden zehn Frauen und Mädchen<br />

einen Übergriff an die <strong>zu</strong>ständigen Behörden. Die meisten<br />

Straftaten bleiben jedoch ungeahndet, die Dunkelziffer<br />

liegt deutlich höher. Meist kennen die Opfer ihre Täter, oft<br />

sind <strong>es</strong> ihre Lehrer, Onkel, Nachbarn, Väter oder Ehemänner.<br />

Gerade in den ärmeren Vierteln wie Barrio 12 de Abril<br />

leiden viele Frauen und Kinder unter häuslicher Gewalt.<br />

D<strong>es</strong>halb setzt <strong>sich</strong> ECAM seit 1993 für die Rechte der Frauen<br />

in Tarija und ganz Bolivien ein, für ihre g<strong>es</strong>ellschaftliche<br />

Teilhabe und für G<strong>es</strong>chlechtergerechtigkeit.<br />

Jeden Tag melden<br />

zehn Frauen und<br />

Mädchen einen<br />

Übergriff an die<br />

Behörden<br />

„ECAM war für mich wie eine Offenbarung“, sagt Inés Rodríguez<br />

unter dem Wellblechdach ihrer Veranda. Nach Jahren<br />

der Gewalt und Demütigung b<strong>es</strong>chloss sie im Alter von 35<br />

Jahren, <strong>sich</strong> scheiden <strong>zu</strong> lassen. „Ich hielt die Brutalität mein<strong>es</strong><br />

Mann<strong>es</strong> nicht mehr aus.“ ECAM war in der Nachbarschaft<br />

bekannt und so traute <strong>sich</strong> die verschüchterte Inés<br />

Rodríguez, die kostenfreie Rechtsberatung in Anspruch <strong>zu</strong><br />

nehmen. „Bei ECAM erfuhr ich <strong>zu</strong>m ersten Mal in meinem<br />

Leben: Ich darf mich wehren!“ Inés Rodríguez traf Frauen<br />

mit ähnlichen Schicksalen, Frauen, die über ihre Traumata<br />

sprechen wollten, die <strong>sich</strong><br />

wehren und für ihre Gleichberechtigung<br />

<strong>kämpfen</strong> wollten.<br />

Sie b<strong>es</strong>uchte Workshops,<br />

lernte ihre Rechte kennen,<br />

entwickelte Selbstbewusstsein<br />

und Lebensfreude.<br />

Die Scheidung reichte<br />

sie <strong>zu</strong>nächst nicht ein, aber<br />

sie wi<strong>es</strong> ihren Ehemann in<br />

die Schranken und erzog<br />

ihre Söhne <strong>zu</strong> r<strong>es</strong>pektvollen<br />

jungen Männern. Bei ECAM<br />

lernte sie auch, Radiobeiträge für „Mi Barrio Observa“ <strong>zu</strong><br />

produzieren. Themen gibt <strong>es</strong> reichlich: Wenn sie in ihrem<br />

Stadtviertel unterwegs ist, bietet das, was sie hört und sieht,<br />

viel Stoff für journalistische Recherchen.<br />

Durch ECAM führt Inés Rodríguez heute ein selbstb<strong>es</strong>timmt<strong>es</strong><br />

Leben. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Reinigungskraft.<br />

In ihrer Freizeit engagiert sie <strong>sich</strong> bei „Mi Barrio<br />

Observa“. Ihr Mann lebt noch im gemeinsamen Haus,<br />

hat hier ein Zimmer und seine Werkstatt, aber nichts mehr<br />

<strong>zu</strong> sagen. „Unsere Männer müssen <strong>sich</strong> verändern“, sagt<br />

Doña Inés mit Nachdruck. Auf ihrem dunklen T-Shirt von<br />

ECAM prangen klare Forderungen in Weiß auf Schwarz: „Sexuelle<br />

Gewalt ist ein Verbrechen“ und „Schluss mit der<br />

Straffreiheit“. Bis di<strong>es</strong>e Ziele erreicht sein werden, kämpft<br />

Inés Rodríguez weiter mit Zivilcourage, Aufnahmegerät und<br />

am liebsten auch mit Block und Stift. „Ich bin Journalistin“,<br />

sagt sie mit aufrechter Haltung. „Ich will schreiben können.“<br />

Ihre Chancen stehen nicht schlecht. ECAM ist in der<br />

Stadt gut vernetzt und kann ihr den Zugang <strong>zu</strong> kostenfreien<br />

Alphabetisierungskursen verschaffen.<br />

Florian Kopp: siehe Seite 3<br />

Constanze Bandowski hätte Doña Inés und ihre<br />

kämpferischen Mitstreiterinnen gerne selbst kennengelernt.<br />

Auf ihren Recherchereisen hat sie schon viele<br />

Frauenrechtlerinnen begleitet. Für di<strong>es</strong><strong>es</strong> Porträt mussten<br />

jedoch G<strong>es</strong>präche, Fotos und Videos reichen.<br />

Di<strong>es</strong>e waren aber so lebendig, dass <strong>sich</strong> die Autorin<br />

fast fühlte, als sei sie selbst vor Ort gew<strong>es</strong>en.<br />

24<br />

EINS<strong>2023</strong>


PHILIPPINEN<br />

Die philippinische<br />

Friedensnobelpreisträgerin<br />

Maria R<strong>es</strong>sa verteidigt<br />

die Demokratie im Internet<br />

und streitet für Plattformen,<br />

die nicht spalten, sondern<br />

verbinden. Dafür drohen ihr<br />

100 Jahre Haft.<br />

Text von Elisa Rheinheimer<br />

Foto: dpa picture-alliance<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

25


Die philippinische Inv<strong>es</strong>tigativ-Journalistin Maria R<strong>es</strong>sa<br />

wurde immer wieder Zielscheibe von Hass und Gewaltandrohungen,<br />

sowohl von staatlicher Seite als<br />

auch im Netz. Sie hat miterlebt, wie der Ex-Regierungschef<br />

Rodrigo Duterte in seinem „Kampf gegen die Drogen“ Zehntausende<br />

Menschen ermorden ließ. Sie war in Kriegsgebieten<br />

Südostasiens als Reporterin unterwegs, hat Nächte auf<br />

harten Stühlen in Polizeigewahrsam verbracht, Wellen von<br />

Gewalt durchs Internet rollen sehen, die <strong>sich</strong> dann im echten<br />

Leben entluden, und mit al-Qaida-nahen Extremisten<br />

Fotos: dpa picture-alliance<br />

Verhandlungen geführt. Die 59-Jährige verlässt ihr Haus nur<br />

noch mit kugel<strong>sich</strong>erer W<strong>es</strong>te, Dutzende Haftbefehle wurden<br />

aufgrund ihrer Arbeit gegen sie erlassen. Ihren Glauben<br />

an das Gute im Menschen hat sie dennoch nicht verloren:<br />

„<strong>Das</strong> Vertrauen auf das Gute im Menschen ist integraler B<strong>es</strong>tandteil<br />

meiner Welt<strong>sich</strong>t“, schreibt sie in ihrer aktuell auf<br />

Deutsch erschienenen Biografie „Wie man <strong>sich</strong> gegen einen<br />

Diktator <strong>zu</strong>r Wehr setzt“.<br />

26 EINS<strong>2023</strong><br />

Lohn d<strong>es</strong> Engagements<br />

für die Wahrheit:<br />

Maria R<strong>es</strong>sa hält die Haftbefehle<br />

in die Kameras<br />

Die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit<br />

stehen für sie an erster Stelle. Auch ihr Glaube<br />

hat sie geprägt, wenngleich sie hier<strong>zu</strong> nicht<br />

viele Worte verliert. Während ihr<strong>es</strong> Studiums<br />

an einer US-amerikanischen Elite-Uni brachte<br />

ihre Mutter ihr einst eine ri<strong>es</strong>ige Marien-Statue<br />

mit, die fortan auf ihrer Kommode thronte.<br />

Aber erst viel später, als sie nach einer<br />

Sturzflut auf den Philippinen <strong>zu</strong>sah, wie<br />

mehr als 600 Leichen in einem Massengrab in<br />

Ormoc verscharrt wurden, das Wehklagen der<br />

Familien hörte und umgeben war vom G<strong>es</strong>tank<br />

verw<strong>es</strong>enden Fleisch<strong>es</strong>, „in di<strong>es</strong>em Moment“,<br />

so schreibt sie, „b<strong>es</strong>chloss ich, an Gott<br />

<strong>zu</strong> glauben.“ Di<strong>es</strong>er schnörkellose Pragmatismus<br />

zieht <strong>sich</strong> durch ihre Biografie.<br />

Ihr Lebensthema ist jedoch der Kampf<br />

gegen die Übermacht der Technologiekonzerne,<br />

die die sozialen Medien kontrollieren.<br />

Deren Algorithmen, das wird sie nicht müde <strong>zu</strong> beweisen,<br />

belohnen Hass und Gewalt und bereiten so die Saat für den<br />

Aufstieg von Scharfmachern und Kriegstreibern. Als die sozialen<br />

Netzwerke der breiten Mehrheit noch als willkommene<br />

Kommunikationsmittel galten, warnte sie bereits davor,<br />

welch zerstörerisch<strong>es</strong> Potenzial Facebook und Co. innewohnt.<br />

Wie ein Lauffeuer verbreiten <strong>sich</strong> dort Lügen, was<br />

autoritäre Regime g<strong>es</strong>chickt für <strong>sich</strong> nutzen – Rodrigo Du-


Buchhinweis<br />

Maria R<strong>es</strong>sa:<br />

How to stand up<br />

to a Dictator<br />

Der Kampf<br />

um unsere Zukunft<br />

terte und <strong>zu</strong>letzt der Diktatorensohn und jetzige Präsident<br />

Ferdinand Marcos Junior machten das vor. Was heute auf<br />

den Philippinen passiert, g<strong>es</strong>chieht morgen anderswo, so<br />

ihre Überzeugung.<br />

Fakten zählen nicht mehr – di<strong>es</strong>e Erfahrung machte<br />

R<strong>es</strong>sa, die jahrelang für CNN in Indon<strong>es</strong>ien und den Philippinen<br />

tätig war und das preisgekrönte Online-Nachrichtenportal<br />

Rappler gründete, lange vor dem Aufstieg der<br />

Trumps di<strong>es</strong>er Welt. Die ehemals begeisterte Facebook-Nutzerin<br />

suchte das G<strong>es</strong>präch mit Gründer Mark Zuckerberg<br />

und warnte vor den Folgen der unregulierten Flut an Fake<br />

News für die Demokratie. Erst 2021, als sie für die Verteidigung<br />

der Pr<strong>es</strong>sefreiheit den Friedensnobelpreis bekam, begann<br />

die Welt ihr <strong>zu</strong><strong>zu</strong>hören. „Die Technologieplattformen<br />

haben Regeln eingeführt, die digitalen Populisten und autoritären<br />

Herrschern das Äquivalent einer Atombombe in die<br />

Hand gaben, mit dem sie die G<strong>es</strong>ellschaften und Demokratien<br />

überall auf der Welt<br />

auf den Kopf stellen<br />

können“, berichtet sie.<br />

Fakten zählen nicht<br />

mehr – di<strong>es</strong>e Erfahrung<br />

machte die<br />

Journalistin Maria<br />

R<strong>es</strong>sa lange vor<br />

dem Aufstieg der<br />

Trumps di<strong>es</strong>er Welt<br />

Quadriga Verlag,<br />

Köln 2022,<br />

352 Seiten<br />

Gemeinsam auf der<br />

Straße: Demonstration<br />

für Pr<strong>es</strong>sefreiheit und<br />

Rechtsstaatlichkeit<br />

Davor <strong>zu</strong> warnen wird<br />

sie nicht müde.<br />

R<strong>es</strong>sa ist nicht nur<br />

Heldin, sondern auch<br />

eine Getriebene. Sie<br />

kann nicht mehr tagsüber<br />

ihrer Arbeit nachgehen<br />

und abends Zeit mit der<br />

Familie verbringen. Sie weiß<br />

<strong>zu</strong> viel. Von den Zusammenhängen<br />

zwischen Algorithmen und Autokratien. Von den<br />

Gefahren, die <strong>es</strong> mit <strong>sich</strong> bringt, wenn seriöser Journalismus<br />

nicht mehr zählt und <strong>sich</strong> eine G<strong>es</strong>ellschaft nicht auf<br />

unumstößliche Fakten einigen kann.<br />

Doch sie weigert <strong>sich</strong>, <strong>sich</strong> mit einer solchen Welt ab<strong>zu</strong>finden.<br />

Und fordert eine b<strong>es</strong>sere. Wie die aussehen könnte?<br />

Zunächst gelte <strong>es</strong>, „die Rechtsstaatlichkeit in der virtuellen<br />

Welt wiederher(<strong>zu</strong>)stellen –<br />

damit eine Vision ein<strong>es</strong> Internets<br />

entsteht, das uns nicht<br />

Erst 2021, als sie für<br />

die Verteidigung der<br />

Pr<strong>es</strong>sefreiheit den<br />

Friedensnobelpreis<br />

bekam, begann die<br />

Welt ihr <strong>zu</strong><strong>zu</strong>hören<br />

spaltet, sondern verbindet.“ Verbundenheit<br />

und Zusammenarbeit<br />

sind für sie unabdingbar.<br />

Daher stellte sie ihr Nachrichtenportal<br />

Rappler so auf, dass<br />

<strong>es</strong> nicht nur im Inter<strong>es</strong>se der eigenen<br />

Firma agiert, sondern gelernte<br />

Lektionen teilt, auch mit<br />

Mitbewerbern. Die von ihr mit<br />

ins Leben gerufene Datenbank<br />

Sharktank ist heute für wissenschaftliche<br />

Einrichtungen und<br />

Forscher <strong>zu</strong>gänglich, die verstehen wollen, „wie der Umgang<br />

mit b<strong>es</strong>timmten Informationen eine stabile Demokratie<br />

in ein autoritär<strong>es</strong> Herrschaftssystem verwandeln kann.“<br />

Sie setzt auf bürgerschaftlich<strong>es</strong> Engagement und erlebte<br />

<strong>es</strong> selbst, als Wildfremde in einen Fonds einzahlten, sodass<br />

Maria R<strong>es</strong>sa und Rappler die Anwaltskosten begleichen<br />

konnten, die aufgrund der staatlichen Repr<strong>es</strong>sionen immer<br />

wieder anfallen. „Ich bin selten enttäuscht worden. <strong>Das</strong> ist<br />

für mich Stärke und der Grund, warum ich an das Gute in<br />

der menschlichen Natur glaube.“ Ihrer Erfahrung nach entstehen<br />

dort, wo <strong>es</strong> Verletzlichkeit gibt, die stärksten Bindungen<br />

und inspirierende Möglichkeiten.<br />

Elisa Rheinheimer ist freie Journalistin, unter anderem<br />

für die Frankfurter Rundschau, welt-<strong>sich</strong>ten, Qantara<br />

und den Evangelischen Pr<strong>es</strong>sedienst. Am liebsten<br />

ist sie unterwegs – ob auf Recherche in Ägypten<br />

oder Taiwan, Banglad<strong>es</strong>ch oder dem Gazastreifen. Ehrenamtlich<br />

engagiert sie <strong>sich</strong> im Vorstand d<strong>es</strong> Vereins<br />

„journalists network“.<br />

EINS<strong>2023</strong> 27


Artikel<br />

1<br />

Jede Person,<br />

gleich welchen G<strong>es</strong>chlechts,<br />

welcher ethnischen<br />

Herkunft, welchen sozialen Status,<br />

welcher politischer Überzeugung,<br />

welcher Sprache, welchen Alters,<br />

welcher Nationalität oder Religion,<br />

hat die Pflicht, alle Menschen<br />

menschlich <strong>zu</strong> behandeln.<br />

Die „Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenpflichten“ –<br />

eine Hausordnung für alle<br />

<strong>Das</strong>s <strong>es</strong> Menschenrechte gibt, hat <strong>sich</strong> inzwischen<br />

herumg<strong>es</strong>prochen, dass <strong>es</strong> aber auch eine „Allgemeine<br />

Erklärung der Menschenpflichten“ gibt, weiß kaum<br />

jemand. <strong>Das</strong> Dokument wurde 1997 von dem InterAction<br />

Council den Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit<br />

<strong>zu</strong>r Diskussion vorgelegt. Unterzeichnet wurde <strong>es</strong><br />

von hochrangigen Staats- und Regierungschefs,<br />

unter ihnen Helmut Schmidt.<br />

In den 19 Artikeln <strong>zu</strong>m Thema Menschenpflichten<br />

geht <strong>es</strong> um Grundregeln für einen r<strong>es</strong>pektvollen Umgang<br />

miteinander und der Welt, die uns umgibt.<br />

Also: wie gemacht für Zeiten wie di<strong>es</strong>e.<br />

Illustrationen von<br />

Mehrdad Zaeri<br />

Artikel<br />

Keine Person,<br />

keine Gruppe oder<br />

Organisation, kein Staat, keine<br />

Armee oder Polizei steht jenseits von<br />

Gut und Böse; sie alle unterstehen<br />

moralischen Maßstäben. Jeder<br />

Mensch hat die Pflicht,<br />

unter allen Umständen<br />

Gut<strong>es</strong> <strong>zu</strong> fördern<br />

und Bös<strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />

meiden.<br />

3<br />

28<br />

EINS<strong>2023</strong>


Artikel<br />

5<br />

Jede Person<br />

hat die Pflicht, Leben<br />

<strong>zu</strong> achten. Niemand hat das<br />

Recht, eine andere menschliche<br />

Person <strong>zu</strong> verletzen, <strong>zu</strong> foltern oder<br />

<strong>zu</strong> töten. Di<strong>es</strong> schließt das Recht<br />

auf gerechtfertigte Selbstverteidigung<br />

von Individuen<br />

und Gemeinschaften<br />

nicht aus.<br />

Artikel<br />

7<br />

Jede Person<br />

ist unendlich kostbar<br />

und muss unbedingt<br />

g<strong>es</strong>chützt werden. Schutz verlangen<br />

auch die Tiere und die natürliche<br />

Umwelt. Alle Menschen haben<br />

die Pflicht, Luft, Wasser und Boden<br />

um der gegenwärtigen Bewohner<br />

und der <strong>zu</strong>künftiger Generationen<br />

willen <strong>zu</strong><br />

schützen.<br />

Artikel<br />

9<br />

Alle Menschen,<br />

denen die notwendigen<br />

Mittel gegeben sind, haben die<br />

Pflicht, ernsthafte Anstrengungen <strong>zu</strong><br />

unternehmen, um Armut, Unterernährung,<br />

Unwissenheit und Ungleichheit <strong>zu</strong> überwinden.<br />

Sie sollen überall auf der<br />

Welt eine nachhaltige Entwicklung<br />

fördern, um für alle Menschen<br />

Würde, Freiheit, Sicherheit und<br />

Gerechtigkeit <strong>zu</strong><br />

gewährleisten.<br />

Zum<br />

Nachl<strong>es</strong>en!<br />

Mehrdad Zaeri wurde in Isfahan/Iran geboren. Im Alter<br />

von vierzehn Jahren floh er mit seiner Familie über<br />

die Türkei nach Deutschland. Seit 2006 ist er als Buchillustrator,<br />

Live-Performance-Zeichner und G<strong>es</strong>chichtenerzähler<br />

im deutschsprachigen Raum tätig. 2016<br />

gründete er mit Christina Laube das „Duo Sourati“, um<br />

großformatige Zeichnungen an Fassaden <strong>zu</strong> sprühen.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

29


LANDWIRTSCHAFT<br />

Text von<br />

Annette Jensen<br />

Eine Landwirtschaft, die <strong>zu</strong>r Eindämmung d<strong>es</strong> Klimawandels beiträgt,<br />

die Fairn<strong>es</strong>s und das Wohlergehen der Landwirte fördert und<br />

erschwingliche, nachhaltige und g<strong>es</strong>unde Lebensmittel hervorbringt.<br />

Di<strong>es</strong>en Traum wahr werden <strong>zu</strong> lassen, daran arbeiten Helmy Abouleish<br />

in Ägypten und Benedikt Bösel in Brandenburg.<br />

Beispiel Ägypten<br />

Die Wüste <strong>zu</strong>m Blühen bringen<br />

Vor einem halben Jahrhundert war hier all<strong>es</strong> Wüste.<br />

Jetzt grünt, blüht und duftet <strong>es</strong> 60 Kilometer nördlich<br />

von Kairo. Menschen ernten Kamille, Fenchel,<br />

Zucchini und Paprika, andere bauen Saatgut an oder nähen<br />

Strampler aus Bio-Baumwolle. Weiße Häuser mit g<strong>es</strong>chwungenen<br />

Formen beherbergen Produktionsstätten, Konzertsäle<br />

und Klassenzimmer. 2.000 Menschen arbeiten auf dem<br />

200 Hektar großen Gelände von Sekem. Viele b<strong>es</strong>chreiben<br />

die Entwicklung als Wunder. Auch Markus Wolter, Referent<br />

für Landwirtschaft und Welternährung<br />

bei <strong>Misereor</strong>, war schwer<br />

beeindruckt, als er vor Kurzem<br />

Bis 2057 soll<br />

die Landwirtschaft<br />

in Ägypten nachhaltig<br />

sein<br />

die Partnerorganisation b<strong>es</strong>ucht<br />

hat. „<strong>Das</strong> all<strong>es</strong> ist kein Hexenwerk,<br />

sondern zeigt, was mit<br />

einem ganzheitlichen Ansatz von<br />

Bio-Landwirtschaft, Bildung und<br />

Kultur all<strong>es</strong> möglich ist.“<br />

1977 brach Ibrahim Abouleish seine Karriere als Leiter einer<br />

pharmazeutischen Forschungsabteilung in Graz ab. Zusammen<br />

mit seiner Familie kehrte er nach über 20 Jahren in<br />

seine Heimat Ägypten <strong>zu</strong>rück. Im Gepäck hatte er eine Vision,<br />

die seine Freunde und die neuen Nachbarn für völlig<br />

verrückt hielten: Mit Hilfe von Kuhdung und Kompost wollte<br />

er toten Sandboden in fruchtbare Erde verwandeln. Und<br />

er wollte noch mehr. Die dort B<strong>es</strong>chäftigten sollten ein Drittel<br />

ihrer Arbeitszeit mit Bildung, Gemeinschaftsaktivitäten<br />

30<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

Wo einst toter Sandboden<br />

war, wächst nun<br />

duftende Kamille für Kräuterte<strong>es</strong><br />

– und viel<strong>es</strong> mehr


Die einst für verrückt<br />

gehaltene Vision gibt mittlerweile<br />

2.000 Menschen<br />

Arbeit und Bildung<br />

Bei Sekem („Lebenskraft“)<br />

gehören Unterricht,<br />

Gemeinschaft und Kreativität<br />

<strong>zu</strong>r Arbeitszeit<br />

Nichts ist überzeugender,<br />

als<br />

eine Vision,<br />

die wahr wird<br />

Fotos: Sekem (3), dpa picture-alliance (1)<br />

und Kreativität verbringen. „Sekem“ nannte er sein Projekt ̶<br />

das altägyptische Wort für Lebenskraft.<br />

Nach und nach entstanden die ersten Äcker, der Humusgehalt<br />

nahm <strong>zu</strong>, die Produktivität wuchs. „Weil bei uns Milliarden<br />

von Mikroorganismen in jedem Teelöffel Boden<br />

leben, kommen wir mit 20 bis 40 Prozent weniger Wasser<br />

aus als andere Betriebe“, berichtet Helmy Abouleish, der<br />

nach dem Tod sein<strong>es</strong> Vaters d<strong>es</strong>sen Lebenswerk weiterführt.<br />

Inzwischen gibt <strong>es</strong> auf dem Gelände vier Produktionsstätten.<br />

Sekem beliefert auch<br />

Deutschland: <strong>Das</strong> Fair Handelshaus<br />

GEPA, <strong>zu</strong> deren G<strong>es</strong>ellschaftern<br />

auch <strong>Misereor</strong> zählt,<br />

mit Zutaten für Kräuterte<strong>es</strong><br />

und den Saatgutproduzenten<br />

„Bingenheimer Saatgut“ mit<br />

Radi<strong>es</strong>chen. Doch 80 Prozent<br />

Helmy Abouleish glaubt<br />

an eine nachhaltige und<br />

wassersparende Landwirtschaft<br />

für Ägypten<br />

der Ernte verbleiben in Ägypten. Und das gute Beispiel<br />

strahlt aus ins Land. Schon 1.500 heimische Biobauern und<br />

-bäuerinnen arbeiten mit dem Betrieb <strong>zu</strong>sammen und beliefern<br />

Sekem. 40.000 weitere möchten Lieferanten werden.<br />

1991 konnte Ibrahim Abouleish die ägyptische Regierung<br />

überzeugen, auf den flächendeckenden Einsatz von P<strong>es</strong>tizien<br />

im Baumwollanbau <strong>zu</strong> verzichten.<br />

Nachdem er starb, bildete die Gemeinschaft einen generationenübergreifenden<br />

Zukunftsrat. Der arbeitete ein Jahr<br />

lang an der Vision für die nächsten 40 Jahre. Einfach irgendwann<br />

die Zahl der Teebeutel von 800 Millionen auf acht Milliarden<br />

<strong>zu</strong> steigern, fand die Gruppe nicht spannend, berichtet<br />

Helmy Abouleish. Stattd<strong>es</strong>sen setzte sie <strong>sich</strong> ein Ziel,<br />

das heute genauso unrealistisch erscheint wie einst der<br />

Plan sein<strong>es</strong> Vaters:<br />

Bis 2057 soll die g<strong>es</strong>amte Landwirtschaft in Ägypten<br />

nachhaltig sein. „Wir sind <strong>sich</strong>er, dass das der Fall sein<br />

wird“, sagt der 61-Jährige Abouleish während ein<strong>es</strong> Vortrags<br />

und lächelt. Agrochemie würde immer teurer, die Reduzierung<br />

d<strong>es</strong> Wasserverbrauchs sei in Zeiten der Erderhit<strong>zu</strong>ng<br />

unabdingbar. Nichts ist überzeugender, als eine Vision, die<br />

wahr wird. Sekem zeigt, wie <strong>es</strong> geht.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

31


Angus- und Salers-<br />

Rinder sorgen auf dem Hof<br />

von Benedikt Bösel für reichlich<br />

Humus in den Böden<br />

Beispiel Deutschland<br />

Für eine fruchtbare Zukunft<br />

32 EINS<strong>2023</strong><br />

„W<br />

enn <strong>es</strong> an di<strong>es</strong>em Standort funktioniert, kann <strong>es</strong><br />

überall funktionieren”, sagt Benedikt Bösel frohgemut.<br />

Die 1.000 Hektar Acker und 2.000 Hektar<br />

Wald in Alt Madlitz in Ostbrandenburg sind sandig und weisen<br />

durchschnittlich 30 Bodenpunkte auf. <strong>Das</strong> ist sehr mager.<br />

Hin<strong>zu</strong> kommt, dass <strong>es</strong> in der Region schon immer wenig<br />

regnet – in den vergangenen Jahren hat <strong>sich</strong> die Situation<br />

durch die Klimaerwärmung noch einmal spürbar verschärft.<br />

Trotzdem ist der 38-Jährige voller Optimismus. Zusammen<br />

mit seinen 30 Mitarbeiter*innen, einer Kuhherde und<br />

mehreren Wissenschaftler*innen arbeitet er seit ein paar<br />

Jahren systematisch und lustvoll an der Verb<strong>es</strong>serung von<br />

Böden und Mikroklima. Ziel aller Anstrengungen ist <strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />

verstehen, wie g<strong>es</strong>unde und widerstandsfähige Ökosysteme<br />

durch landwirtschaftliche Nut<strong>zu</strong>ng aufgebaut werden können.<br />

Nur wenn das gelingt, kann <strong>es</strong> in Zukunft genug Essen<br />

für alle geben, ist Bösel überzeugt. Und nicht nur das: Der<br />

studierte Agrarökonom möchte die ausgeräumte Landschaft<br />

südöstlich von Berlin wieder <strong>zu</strong> einem Lebensraum<br />

für viele verschiedene Pflanzen- und Tierarten machen.<br />

„Beyond Farming“ nennt er seinen ganzheitlichen Ansatz,<br />

bei dem Landnut<strong>zu</strong>ng mehr ist als nur Landwirtschaft. Es<br />

geht auch um G<strong>es</strong>undheit, Natur, G<strong>es</strong>ellschaft – das ganze<br />

Leben eben.<br />

Humusaufbau und das Halten von Feuchtigkeit im Boden<br />

sind die entscheidenden Hebel. D<strong>es</strong>halb gehören Mulchen,<br />

schonende Bearbeitung, Fruchtwechsel und der Anbau<br />

von stickstoffbindenden Leguminosen selbstverständlich<br />

da<strong>zu</strong>. Doch Bösel will mehr als die bewährten Methoden<br />

d<strong>es</strong> Bioanbaus anwenden. Gezielt sucht er kundige und<br />

experimentierfreudige Menschen, die seine Vision teilen.<br />

Zusammen probieren sie verschiedene Formen der regenerativen,<br />

multifunktiona-<br />

Die ausgeräumte<br />

Landschaft wieder<br />

<strong>zu</strong> einem Lebensraum<br />

für viele<br />

Pflanzen- und<br />

Tierarten machen<br />

len Landwirtschaft aus.<br />

<strong>Das</strong> reicht von ganzheitlichem<br />

Weidemanagement<br />

über Agroforst mit eigener<br />

Baumschule bis hin<br />

<strong>zu</strong> neuer Software und<br />

Technik. Die von ihm ge-


Rosanna Gahler baut<br />

auf Gut Madlitz Agroforstsysteme<br />

auf, eine traditionelle<br />

Art von Landbau<br />

Aus Simbabwe<br />

lernte er, wie Weidetiere<br />

das Leben<br />

auf ausgemergelten<br />

Flächen wieder<br />

in Gang bringen<br />

Diversität im Boden wieder auf<strong>zu</strong>bauen“, erzählt der Mann,<br />

der im Internet ebenso <strong>zu</strong> Hause ist wie in Brandenburg. Er<br />

begann <strong>zu</strong> recherchieren und traf auf den in Simbabwe geborenen<br />

Allan Savory. Von ihm lernte er, wie Weidetiere das<br />

Leben auf ausgemergelten Flächen wieder in Gang bringen<br />

können. Bösel schaffte Angus- und Salers-Rinder an, die das<br />

ganze Jahr draußen leben und nun beim Humusaufbau helfen.<br />

Mehrfach am Tag werden die Zäune in Alt Madlitz umg<strong>es</strong>teckt,<br />

damit die 150-köpfige Herde ständig anderswo<br />

rupft, trampelt und kackt. „Die Kuhfladen ziehen Insekten,<br />

Würmer und Kleinstlebew<strong>es</strong>en an – und die locken Vögel<br />

an. <strong>Das</strong> ist eine ganze Biodiversitäts-Kaskade“, schwärmt er.<br />

Fotos: Benedikt Bösel<br />

gründete Stiftung arbeitet mit Prof<strong>es</strong>sor*innen<br />

von der Hochschule für Nachhaltige<br />

Entwicklung in Eberswalde und<br />

der Berliner Humboldt-Uni <strong>zu</strong>sammen.<br />

Ständig bevölkern auch mehrere Praktikant*innen<br />

das Gelände, das 30 Kilometer<br />

von der polnischen Grenze entfernt liegt.<br />

Mittags treffen <strong>sich</strong> alle <strong>zu</strong>m Essen, die gerade<br />

da sind. Da<strong>zu</strong> gehören auch Bösels<br />

kleine Tochter und seine Partnerin sowie seine Eltern und<br />

zwei Schw<strong>es</strong>tern mit ihren Familien. Gemeinschaft wird<br />

großg<strong>es</strong>chrieben auf Gut Madlitz.<br />

Wo der Schlüssel für eine <strong>zu</strong>kunftsfähige Landwirtschaft<br />

liegt, hatte Benedikt Bösel im extrem niederschlagsarmen<br />

Sommer 2018 verstanden – zwei Jahre, nachdem er den Biohof<br />

von seinen Eltern übernommen hatte. Bis dahin hatte<br />

er die notwendigen Innovationen vor allem auf technischer<br />

Ebene g<strong>es</strong>ucht. Doch allein auf einem staubtrockenen Acker<br />

spürte er plötzlich, dass all<strong>es</strong> unter ihm tot war. Seither<br />

steht für ihn f<strong>es</strong>t, dass er <strong>sich</strong> für eine fruchtbare Zukunft<br />

vor allem um die Regeneration d<strong>es</strong> Bodens kümmern muss.<br />

„Ich habe mich gefragt, was <strong>es</strong> für Methoden gibt, um die<br />

Mit regenerativer Landnut<strong>zu</strong>ng<br />

schafft das Team<br />

um Bösel g<strong>es</strong>unde, widerstandsfähige<br />

Ökosysteme<br />

„Landwirtschaft ist der größte Hebel, um die großen Probleme<br />

unserer Zeit <strong>zu</strong> lösen!“ ist er <strong>sich</strong> <strong>sich</strong>er. Dabei hatte<br />

Bösel nach der Schule <strong>zu</strong>nächst einen ganz anderen Weg<br />

eing<strong>es</strong>chlagen. Er studierte Busin<strong>es</strong>s Finance und arbeitete<br />

zehn Jahre lang als Inv<strong>es</strong>tmentbanker. Nach einem Studium<br />

der Agrarökonomie kehrte er 2016 nach Alt Madlitz <strong>zu</strong>rück<br />

– dorthin, wo die Familie sein<strong>es</strong> Stiefgroßvaters schon 300<br />

Jahre lang Felder b<strong>es</strong>tellt und Wälder gepflegt hatte. 2022<br />

kürte „agrarheute“ ihn <strong>zu</strong>m Landwirt d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> und begründete<br />

das so: „Benedikt Bösel folgt seinem Herzen, geht<br />

Risiken ein und mit seinen Überzeugungen voran.“ Bund<strong>es</strong>landwirtschaftsminister<br />

Cem Özdemir gehörte <strong>zu</strong> den ersten<br />

Gratulanten.<br />

Annette Jensen siehe Seite 3<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

33


INTERVIEW<br />

34<br />

EINS<strong>2023</strong>


Die Künstlerin Lilli Muller will mit einem „Globalen Abendmahl“<br />

für mehr Mitmenschlichkeit in schwierigen Zeiten werben.<br />

Im Mai ist ihre Installation im Rahmen d<strong>es</strong> Karlspreis<strong>es</strong> in Aachen <strong>zu</strong> sehen.<br />

<strong>Das</strong> G<strong>es</strong>präch führte Birgit-Sara Fabianek<br />

rufe ich symbolisch alle Länder der<br />

Welt auf, <strong>sich</strong> <strong>zu</strong>sammen an einen<br />

Tisch <strong>zu</strong> setzen – und eine gemeinsame<br />

Vision für ein gut<strong>es</strong> und nachhaltig<strong>es</strong><br />

Zusammenleben für alle <strong>zu</strong> entwickeln.<br />

Fotos: Lilli Muller (li.), Robert Poorten (re.)<br />

Mehrere lange Tische,<br />

mit Tischdecken aus<br />

lilafarbenem Samt<br />

bedeckt, setzen di<strong>es</strong><strong>es</strong><br />

außerordentliche<br />

Abendmahl in Szene<br />

Lilli Mullers<br />

Installation im Kreuzgang<br />

d<strong>es</strong> Aachener Doms ist<br />

ein Symbol für den Frieden<br />

<strong>Das</strong> Motto für Ihre Installation<br />

heißt „We are Humanity!“<br />

Was verstehen Sie darunter?<br />

Die Art und Weise, wie wir miteinander<br />

umgehen. Wir leben in einer Zeit<br />

d<strong>es</strong> Umbruchs, wir müssen lernen, als<br />

Menschheit <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>stehen, um<br />

uns durch den selbst verursachten Klimawandel<br />

nicht selbst aus der Schöpfung<br />

<strong>zu</strong> katapultieren. Da<strong>zu</strong> erleben<br />

wir weltweit Kriege, Flüchtlingskrisen,<br />

Hunger und wachsende Angriffe auf<br />

Demokratie und Freiheit. Mit meiner<br />

Installation „<strong>Das</strong> Globale Abendmahl“<br />

Es geht Ihnen um Austausch<br />

und Dialog?<br />

Es geht um Mitmenschlichkeit. Und<br />

die beginnt damit, dass ich den anderen<br />

wahrnehme und ihm <strong>zu</strong>höre. Aus<br />

di<strong>es</strong>em Grund bin ich auch während<br />

der g<strong>es</strong>amten Zeit anw<strong>es</strong>end, in der<br />

das „Globale Abendmahl“ in Aachen<br />

<strong>zu</strong> sehen ist. Denn das G<strong>es</strong>präch der<br />

B<strong>es</strong>ucherinnen und B<strong>es</strong>ucher untereinander,<br />

aber auch mit mir ist ein Teil<br />

der Performance, das Feedback der<br />

Gäste ist Teil der Kunst.<br />

Was charakterisiert Ihre Kunst?<br />

Ich möchte Menschen mit meiner<br />

Kunst ein Modell anbieten, mit dem<br />

sie <strong>sich</strong> identifizieren können, das ist<br />

auch beim „Global Supper“ so, <strong>es</strong> ist<br />

ein interaktiv<strong>es</strong> Konzept: Die B<strong>es</strong>ucher<br />

sehen einen f<strong>es</strong>tlich gedeckten Tisch<br />

mit 199 individuellen Gedecken, gehen<br />

daran entlang und stellen <strong>sich</strong> vor, wie<br />

<strong>es</strong> wäre, wenn dort tatsächlich 199 Regierungsvertreter<br />

Platz nehmen würden,<br />

um gemeinsam <strong>zu</strong> <strong>es</strong>sen und <strong>zu</strong><br />

trinken – und <strong>sich</strong> auf Augenhöhe <strong>zu</strong><br />

begegnen. Daraus entstehen Bilder im<br />

Kopf, die Denkweisen verändern und<br />

neue Möglichkeiten eröffnen könnten.<br />

Di<strong>es</strong>e teilnehmende Erfahrung bewegt<br />

etwas in den Menschen.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

35


Die Installation „<strong>Das</strong> Globale Abendmahl“ für 199 Länder ist vom 8.<br />

bis 18. Mai <strong>2023</strong> im Rahmenprogramm d<strong>es</strong> Internationalen Karlspreis<strong>es</strong><br />

im Kreuzgang d<strong>es</strong> Aachener Doms <strong>zu</strong> sehen (freier Eintritt). Die<br />

Künstlerin ist in di<strong>es</strong>er Zeit anw<strong>es</strong>end. Am 15. Mai wird begleitend<br />

erstmals eine Folge d<strong>es</strong> <strong>Misereor</strong>-Podcasts „Mit Menschen“ vor Publikum<br />

aufgenommen. WDR2-Moderator Jan Malte Andr<strong>es</strong>en erwartet ab<br />

19.00 Uhr in der Aachener Domsingschule spannende Gäste.<br />

<strong>Misereor</strong> bietet dort mit einer eigens entwickelten mobilen Mini-Küche<br />

„Micro-Meals“ an, um auf den Hunger in der Welt aufmerksam <strong>zu</strong> machen.<br />

Jede di<strong>es</strong>er Mini-Mahlzeiten enthält 380 Kalorien – so viele, wie<br />

ein unterernährt<strong>es</strong> afrikanisch<strong>es</strong> Kind täglich <strong>zu</strong>r Verfügung hat.<br />

Jed<strong>es</strong> Land der<br />

Welt hat seinen<br />

Platz am Tisch und<br />

ist mit einem eigenen<br />

Gedeck vertreten.<br />

Zurzeit sind insg<strong>es</strong>amt<br />

199 Länder<br />

der Welt am Tisch<br />

versammelt.<br />

jede erreichbar, weil sie öffentlich <strong>zu</strong>gänglich<br />

ist. Sie setzt auch kein Vorwissen<br />

voraus, nur die Bereitschaft,<br />

<strong>sich</strong> ein<strong>zu</strong>lassen. Kunst ist Selbstentwicklung.<br />

Eine Katharsis.<br />

Lilli Muller ist eine deutsche Künstlerin,<br />

die in Los Angel<strong>es</strong> lebt und arbeitet. Sie<br />

wurde mehrfach mit internationalen Preisen<br />

ausgezeichnet. In ihren Projekten<br />

b<strong>es</strong>chäftigt sie <strong>sich</strong> immer wieder mit sozialen<br />

und globalen Themen.<br />

Jed<strong>es</strong> Gedeck b<strong>es</strong>teht<br />

aus einem Teller, der<br />

jeweils mit einem<br />

Olivenzweig als universalem<br />

Symbol d<strong>es</strong><br />

Friedens handbemalt<br />

ist, und einem „gefüllten“<br />

Rotweinglas,<br />

d<strong>es</strong>sen Füllmenge<br />

den aktuellen Stand<br />

d<strong>es</strong> Bruttosozialprodukts<br />

d<strong>es</strong> jeweiligen<br />

Land<strong>es</strong> darstellt<br />

Wie haben denn die Menschen<br />

während der Biennale in Venedig auf<br />

Ihre Installation reagiert?<br />

Einige B<strong>es</strong>ucher fragten, wi<strong>es</strong>o ich<br />

denn auch für Russland einen Platz gedeckt<br />

habe. Genau darum geht <strong>es</strong> ja:<br />

Alle gehören an di<strong>es</strong>en Tisch, niemand<br />

wird ausgegrenzt. Beim letzten Abendmahl<br />

war auch Judas dabei, obwohl<br />

klar war, dass er J<strong>es</strong>us verraten hat.<br />

Die B<strong>es</strong>ucher in Venedig haben ganz<br />

anders reagiert, als ich erwartet habe:<br />

Ich dachte, sie würden <strong>sich</strong> drei, vier<br />

Plätze ansehen und dann wieder gehen:<br />

Sieht ja doch irgendwie all<strong>es</strong> gleich<br />

aus. Aber die meisten Menschen sind<br />

den ganzen Tisch abg<strong>es</strong>chritten, sind<br />

immer wieder stehen geblieben, viele<br />

waren berührt, manche haben geweint,<br />

ein paar haben mir persönliche<br />

G<strong>es</strong>chichten erzählt, die der Rundgang<br />

bei ihnen ausgelöst hat.<br />

Wen wollen Sie<br />

mit Ihrer Kunst ansprechen?<br />

Meine Kunst wendet <strong>sich</strong> nicht speziell<br />

an die „Kunst-Elite“, die <strong>sich</strong> den<br />

Zugang <strong>zu</strong> Kunst und Kultur selbstverständlich<br />

leisten kann. <strong>Das</strong> ist eine<br />

Hürde, vor allem in Amerika, wo ich<br />

lebe. Meine Kunst ist für jeden und<br />

<strong>Das</strong> „Globale Abendmahl“ knüpft<br />

an das Werk d<strong>es</strong> italienischen Renaissancemalers<br />

Jacopo Tintoretto an,<br />

der mit seiner Darstellung d<strong>es</strong> biblischen<br />

Abendmahls viele der damals<br />

geltenden Regeln gebrochen hat.<br />

Welche Bezüge möchten Sie damit<br />

herstellen?<br />

Tintorettos Werk ist kein fromm<strong>es</strong> Andachtsbild,<br />

sein Abendmahl ist eine<br />

Darstellung im Diagonalformat. Die<br />

Leute wenden <strong>sich</strong> einander <strong>zu</strong> oder<br />

voneinander ab, J<strong>es</strong>us bedient <strong>sich</strong><br />

selbst – <strong>es</strong> ist eine sehr lebendige und<br />

chaotische Tischszene, die zeigt, wie<br />

auch vor mehr als 400 Jahren, als di<strong>es</strong><strong>es</strong><br />

Bild entstand, die Welt ins Wanken<br />

geriet und im Umbruch war. <strong>Das</strong> ist<br />

dem, was wir gerade erleben, nicht<br />

unähnlich. Der Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Tintoretto<br />

war mit dem „Global Supper“ in Venedig<br />

allerdings viel lokaler.<br />

Und das heißt?<br />

Tintoretto hat sein „Abendmahl“ für<br />

die Kirche „San Giorgio Maggiore“ in<br />

Venedig gemalt, dort sind auch die<br />

größten seiner Wandgemälde <strong>zu</strong> sehen.<br />

Meine Installation in Venedig habe ich<br />

in dem Kreuzgang aufgebaut, der <strong>zu</strong><br />

di<strong>es</strong>er Kirche gehört, in der Tintoretto<br />

auch begraben ist.<br />

Foto: Lilli Muller<br />

36<br />

EINS<strong>2023</strong>


Dieter Rehfeld hat Lilli<br />

Mullers „Global Supper“ mit<br />

seiner Frau in Venedig g<strong>es</strong>ehen<br />

und nach Aachen geholt<br />

Zu Ihrer Installation gehören auch<br />

G<strong>es</strong>ichtsmasken, die über den Teller<br />

g<strong>es</strong>pannt sind. Di<strong>es</strong>e Masken erinnern<br />

an die <strong>zu</strong>rückliegende Coronazeit. Sind<br />

sie noch passend im Mai, nachdem die<br />

Pandemie endlich hinter uns liegt?<br />

Ich hatte überlegt, das Konzept <strong>zu</strong> verändern,<br />

aber di<strong>es</strong>e Masken haben noch<br />

weitere w<strong>es</strong>entliche Bedeutungen. Etwa<br />

die, nicht <strong>es</strong>sen <strong>zu</strong> können oder<br />

kein Essen <strong>zu</strong> haben, die Bedeutung<br />

Eine an jedem Gedeck<br />

platzierte Tischkarte<br />

soll die Unterschiede<br />

der Länder in Be<strong>zu</strong>g<br />

auf Einwohnerzahl,<br />

Lebenserwartung,<br />

Hunger und andere<br />

Fakten unterstreichen<br />

frei sprechen <strong>zu</strong> können oder di<strong>es</strong>e<br />

Freiheit eben nicht <strong>zu</strong> haben. Aus der<br />

Entfernung sehen sie aus wie kleine<br />

Mahlzeitenhügel, b<strong>es</strong>tickt mit einem<br />

Begriff für Mitmenschlichkeit. Ich mag<br />

die Bedeutung, damit eine Portion<br />

Menschlichkeit <strong>zu</strong> servieren.<br />

Eine Kritik an Ihrer Kunst lautet,<br />

sie sei eindimensional, eine Kunst<br />

für Gutmenschen.<br />

Was sagen Sie da<strong>zu</strong>?<br />

Ich möchte mit meiner Kunst niemanden<br />

brüskieren und vor den Kopf<br />

stoßen. Meine Kunst ist einladend und<br />

eingängig. Sie möchte Menschen ermuntern,<br />

<strong>sich</strong> heran<strong>zu</strong>wagen und Teil<br />

d<strong>es</strong> Kunstwerks <strong>zu</strong> werden, indem sie<br />

<strong>sich</strong> damit auseinandersetzen und auf<br />

di<strong>es</strong>em Weg etwas über <strong>sich</strong> erfahren.<br />

Wenn jemand das eindimensional findet,<br />

ist das auch in Ordnung.<br />

Woran glauben Sie?<br />

Ich glaube an das Gute im Menschen,<br />

das <strong>sich</strong> wie ein moralischer Code<br />

durch alle Kulturen und Religionen<br />

zieht. Da bin und bleibe ich Optimistin.<br />

<strong>Das</strong> „Global Supper“ sollte eigentlich<br />

schon 2021 in Venedig gezeigt werden.<br />

<strong>Das</strong> ging wegen Covid nicht. Wie haben<br />

Sie die Zeit der Pandemie erlebt?<br />

Fundraising in Covidzeiten war der<br />

Hammer, <strong>es</strong> war unglaublich schwer,<br />

auf <strong>sich</strong> aufmerksam <strong>zu</strong> machen. Installationen<br />

wie das „Global Supper“<br />

sind Großprojekte, die sind sehr aufwändig,<br />

dafür benötige ich Unterstüt<strong>zu</strong>ng.<br />

Es war ein Glück, dass ich etliche<br />

Sammler und Philanthropen kannte,<br />

sodass ich mich direkt an sie wenden<br />

konnte, ebenso wie an Stiftungen, die<br />

Stipendien für Projekte ausschreiben<br />

und <strong>zu</strong> denen ich Kontakte hatte.<br />

EINS<strong>2023</strong> 37


PHILIPPINEN<br />

Foto: Raffy Lerma<br />

Der bis <strong>zu</strong> hundert Jahre alt werdende Mangobaum<br />

steht für Kraft und Stärke. Mit seiner Hilfe verteidigen<br />

Fair-Trade-Bauern auf den Philippinen ihr Land.<br />

D<strong>es</strong>halb brauchen sie mehr davon.<br />

Text von Emmalyn Liwag Kotte<br />

Foto: Nana Buxani<br />

Die typische Behausung der Aetas im Dorf Aglao in der<br />

Provinz Zambal<strong>es</strong> auf den Philippinen b<strong>es</strong>teht aus<br />

Bambus und Palmenblättern. <strong>Das</strong> Haus von Robert de<br />

la Cruz ist aus Zement und Hohlblocksteinen gebaut und<br />

hat ein Eisendach. Es ist noch nicht vollständig fertig, aber<br />

Elektro- und Wasserinstallationen sind schon vorhanden.<br />

De la Cruz‘ Familie geht <strong>es</strong> gut, drei seiner vier Kinder<br />

gehen <strong>zu</strong>r Schule an der San Marcelino National High-<br />

School. Seit sechs Jahren ist de la Cruz Mitglied der lokalen<br />

Vereinigung indigener Mangobauern.<br />

„Der Mangoanbau hat uns ermöglicht,<br />

der Armut <strong>zu</strong> entkommen. Auch wenn<br />

wir nur einmal im Jahr ernten können“,<br />

sagt de la Cruz.<br />

<strong>Das</strong> Geheimnis hinter den b<strong>es</strong>seren<br />

Zukunftsperspektiven der Aetas, die <strong>zu</strong><br />

den indigenen Völkern auf der Hauptinsel<br />

Luzon gehören, ist der Faire Handel<br />

und die langjährige Zusammenarbeit<br />

mit PREDA-Fairtrade. Die Handelsorganisation<br />

wurde von dem irischen Pater Shay Cullen gegründet<br />

und stützt <strong>sich</strong> auf ethische Regeln d<strong>es</strong> Fairen Handels.<br />

Zu einem existenz<strong>sich</strong>ernden Preis kauft sie den Kleinbäuerinnen<br />

und -bauern ihre Mangofrüchte ab, lässt sie <strong>zu</strong><br />

Bio-Mango-Püree und getrockneten Mangos verarbeiten und<br />

verkauft sie an Weltläden in Deutschland und anderen europäischen<br />

Ländern. <strong>Das</strong> Projekt hilft, das Einkommen der<br />

Kleinbauern <strong>zu</strong> erhöhen und die Lebenssituation der Aeta-<br />

Gemeinschaften in den Bergdörfern Aglao und Buhawen <strong>zu</strong><br />

verb<strong>es</strong>sern. Die Zusammenarbeit von PRE-<br />

DA mit indigenen Völkern in Zambal<strong>es</strong><br />

trägt aber noch mehr Früchte: Sie stärkt<br />

das Wissen um den Anspruch der Aeta-Gemeinschaft<br />

auf ihr ang<strong>es</strong>tammt<strong>es</strong> Land,<br />

Robert de la Cruz pflanzt<br />

Mangobäume, damit kein<br />

Konzern das Land der<br />

Aetas rauben kann<br />

38<br />

EINS<strong>2023</strong>


„Es gibt nur eine Welt.<br />

Die Verantwortung endet<br />

nicht vor der eigenen<br />

Haustür. <strong>Das</strong> fängt im<br />

Kleinen bei mir selbst an:<br />

dem eigenen bewussten<br />

Einkauf. Machen wir Ernst<br />

mit der Idee der fairen<br />

Weltgemeinschaft. Ich<br />

bin auf jeden Fall dabei.“<br />

Dietmar Bär<br />

PREDA-Gründer Pater<br />

Shay Cullen und Tatort-<br />

Schauspieler Dietmar Bär b<strong>es</strong>uchen<br />

Mangobäuerinnen<br />

Fotos Mangos: iStock.com<br />

10.000 Mangobäume in einem Jahr<br />

Als langjährige Partner von PREDA in Deutschland<br />

haben der Kölner Verein Tatort – Straßen der Welt<br />

und <strong>Misereor</strong> eine Aktion g<strong>es</strong>tartet, um 10.000<br />

Mangobaum-Setzlinge innerhalb ein<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> <strong>zu</strong><br />

finanzieren. Für eine Spende in Höhe von zehn<br />

Euro b<strong>es</strong>chafft PREDA einen Setzling und lässt ihn<br />

in der Region der Aetas in Zambal<strong>es</strong> pflanzen.<br />

Mehr <strong>zu</strong> der Mangobaum-Aktion unter:<br />

www.misereor.de/mangotango<br />

die Grundstücke, die sie von ihren Vorfahren geerbt haben.<br />

Die Setzlinge werden bei einer gemeinsamen Pflanzaktion<br />

auf di<strong>es</strong>em Land verteilt, <strong>zu</strong>sätzlich können die Aetas an Seminaren<br />

über Themen wie Kinderrechte, Gewalt gegen Frauen<br />

und das G<strong>es</strong>etz Indigenous Peopl<strong>es</strong> Rights Act (IPRA) teilnehmen.<br />

Di<strong>es</strong><strong>es</strong> G<strong>es</strong>etz enthält wichtige B<strong>es</strong>timmungen<br />

über die Rechte indigener Völker auf ihr ang<strong>es</strong>tammt<strong>es</strong> Gebiet,<br />

ihr Recht auf Selbstverwaltung und Selbstb<strong>es</strong>timmung.<br />

Denn viele ang<strong>es</strong>tammte Gebiete, in denen die Aetas leben,<br />

sind reich an Bodenschätzen wie Kupfer, Silber und Gold.<br />

Nach philippinischem Recht dürfen di<strong>es</strong>e Gebiete ausschließlich<br />

von den indigenen Gemeinschaften genutzt und<br />

bewohnt werden. Mächtige Wirtschaftskonzerne sind jedoch<br />

in der Lage, das G<strong>es</strong>etz <strong>zu</strong> umgehen und <strong>sich</strong> Zugang<br />

<strong>zu</strong> di<strong>es</strong>en Gebieten <strong>zu</strong> verschaffen. Um einen starken Anspruch<br />

auf das Land <strong>zu</strong> erheben, ist <strong>es</strong> wichtig, dass die<br />

Aetas <strong>es</strong> bewirtschaften und Bäume pflanzen.<br />

Auch Robert de la Cruz nimmt an den Baumpflanzaktionen<br />

von PREDA in seinem Dorf Aglao teil. De la Cruz ist hier<br />

der offizielle Vertreter seiner indigenen Aeta-Gemeinschaft<br />

im Gemeinderat. „<strong>Das</strong> ang<strong>es</strong>tammte Gebiet unserer Gemeinschaft<br />

kann g<strong>es</strong>tohlen werden, wenn die jungen Leute<br />

nicht gebildet sind und lernen, <strong>sich</strong> gegen eindringende<br />

Konzerne <strong>zu</strong> wehren“, sagt de la Cruz.<br />

<strong>Das</strong> Mangobaum-Projekt erweist <strong>sich</strong> als wirksam<strong>es</strong> Mittel<br />

<strong>zu</strong>r Wiederaufforstung von Flächen, die <strong>zu</strong>vor von<br />

großen Bergbauunternehmen und Holzfällern verwüstet<br />

wurden. Auch im Umgang mit dem Klimawandel bietet <strong>es</strong><br />

große Chancen. Unwetter, die jetzt auch außerhalb der Regenzeit<br />

kommen, zerstören die Mangoblüte. In manchen<br />

Jahren ist <strong>es</strong> <strong>zu</strong> heiß und die Bäume tragen nur wenige<br />

Früchte. Die Wiederaufforstung in den Bergen trägt auch<br />

<strong>zu</strong>r Bekämpfung di<strong>es</strong>er Probleme bei. Die Berge werden grüner,<br />

und das ist gut für alle.<br />

Emmalyn Liwag Kotte ist Journalistin und arbeitet als<br />

Bildungsreferentin beim Kölner Verein Tatort – Straßen<br />

der Welt. Sie lebt in Bochum und b<strong>es</strong>chäftigt <strong>sich</strong> mit<br />

entwicklungspolitischen Fragen, die ihr Herkunftsland<br />

Philippinen und Deutschland betreffen. Die Aeta-Gemeinschaft<br />

in Zambal<strong>es</strong> hat sie bereits mehrfach b<strong>es</strong>ucht<br />

und die Veränderungen dokumentiert.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

39


INTERVIEW<br />

<strong>Misereor</strong>-G<strong>es</strong>chäftsführer Thomas Antkowiak<br />

im G<strong>es</strong>präch mit WDR-Moderatorin Steffi Neu<br />

über Fairen Handel, Freiwilligendienst und<br />

die Arbeit in der katholischen Kirche<br />

Foto von Klaus Mellenthin<br />

Steffi Neu: Was erzählen Sie,<br />

wenn Sie jemand fragt: Was machen<br />

Sie eigentlich beruflich?<br />

Thomas Antkowiak: <strong>Das</strong>s ich für <strong>Misereor</strong><br />

arbeite, dass wir als größt<strong>es</strong> katholisch<strong>es</strong><br />

Entwicklungshilfswerk Menschen<br />

unterstützen, die in Armut leben und<br />

uns dafür einsetzen, dass sie ihre Rechte<br />

einfordern und ihre eigenen Ideen<br />

umsetzen können.<br />

Und was sagen Sie, wenn dann<br />

der Vorwurf kommt: „Ihr steckt ja all<strong>es</strong><br />

in die Verwaltung“?<br />

Ich erkläre dann, wie <strong>sich</strong> unsere Kosten<br />

für Verwaltung und Werbung <strong>zu</strong>sammensetzen:<br />

Sie wollen eine Spendenquittung<br />

haben. Wer schreibt die?<br />

Wer verschickt sie? Wer bezahlt das<br />

Porto? Möglicherweise haben Sie Inter<strong>es</strong>se,<br />

Informationen über das Projekt<br />

Wir merken,<br />

wie sehr wir die<br />

Ideen von jungen<br />

Erwachsenen<br />

brauchen<br />

<strong>zu</strong> bekommen, das Sie zweckgebunden<br />

unterstützen? Sie möchten einen<br />

Rechenschaftsbericht? All<strong>es</strong> das kostet<br />

Geld. Der Anteil an Verwaltungs- und<br />

Werbekosten liegt bei uns etwa bei<br />

sechs Prozent. Für das DZI, das in<br />

Deutschland den Einsatz von Spendengeldern<br />

überprüft und das „Spendensiegel“<br />

vergibt, liegen wir mit di<strong>es</strong>em<br />

Prozentsatz im niedrigen Bereich.<br />

Sie verantworten ein Finanzvolumen<br />

von fast 250 Millionen Euro mit.<br />

Woher kommt das Geld?<br />

Wir erhalten den größten Anteil über<br />

die Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe,<br />

ungefähr 200 Millionen<br />

Euro. Di<strong>es</strong>e Zentralstelle bekommt das<br />

Geld wiederum aus staatlichen Mitteln<br />

für Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit.<br />

Di<strong>es</strong>e Mittel können wir entsprechend<br />

den BMZ-Richtlinien in eigener Verantwortung<br />

ausgeben. Di<strong>es</strong> ist seit über<br />

60 Jahren eine bewährte Form der Zusammenarbeit<br />

mit dem Staat. Die staatlichen<br />

Institutionen vertrauen bis heute<br />

darauf, dass die weltweit präsenten<br />

Kirchen um die Probleme vor Ort B<strong>es</strong>cheid<br />

wissen. Der übrige Anteil unser<strong>es</strong><br />

Finanzvolumens stammt <strong>zu</strong>m<br />

größten Teil aus Spendengeldern<br />

sowie aus kirchlichen Mitteln.<br />

40<br />

EINS<strong>2023</strong>


Die R<strong>es</strong>sourcen der Welt sind<br />

ungerecht verteilt: <strong>Das</strong> ist eine der<br />

Kernaussagen von <strong>Misereor</strong>.<br />

Kriegen wir das jemals in den Griff?<br />

Ich hoffe <strong>es</strong>. Auch wenn ich mir unter<br />

den gegenwärtigen Bedingungen nur<br />

schwer vorstellen kann, dass wir in absehbarer<br />

Zeit sagen werden: Unser Job<br />

ist erledigt und wir können den Laden<br />

<strong>zu</strong>machen.<br />

Aber ist der Faire Handel nicht<br />

eine „Schraube“, mit der <strong>sich</strong> daran<br />

etwas drehen lässt?<br />

Ja, das ist eine w<strong>es</strong>entliche Stellschraube.<br />

D<strong>es</strong>halb ist <strong>es</strong> so wichtig, dass das<br />

Fair-Handelshaus GEPA, <strong>zu</strong> deren G<strong>es</strong>ellschaftern<br />

auch <strong>Misereor</strong> zählt, seine<br />

Produkte wie Tee, Kaffee oder Schokolade<br />

in den Einzelhandel bringt. Damit<br />

klar wird, dass Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit<br />

nichts Abstrakt<strong>es</strong> ist, sondern<br />

<strong>zu</strong> einer Erfahrung wird, die man<br />

beim Essen und Trinken macht, und<br />

die für jeden offensteht. Wenn <strong>es</strong><br />

selbstverständlicher wird, bei der Herstellung<br />

von Produkten darauf <strong>zu</strong> achten,<br />

dass <strong>es</strong> <strong>zu</strong>m Beispiel keine Kinderarbeit<br />

gibt und die Leute gerechte<br />

Löhne bekommen – dann ändert <strong>sich</strong><br />

etwas an der ungerechten Verteilung.<br />

Ändern Freiwilligendienste<br />

auch etwas am Blick auf globale<br />

Gerechtigkeit?<br />

Definitiv. D<strong>es</strong>halb war <strong>Misereor</strong> von<br />

Anfang an dabei. Gemeinsam mit anderen<br />

Organisationen haben wir am<br />

Konzept d<strong>es</strong> weltwärts-Programms mitgewirkt<br />

und <strong>es</strong> weiterentwickelt. Ich<br />

sehe darin eine Gelegenheit, jungen<br />

Menschen unabhängig von den finanziellen<br />

Möglichkeiten ihrer Eltern<br />

Lernerfahrungen <strong>zu</strong> ermöglichen, die<br />

ihren Blick auf die Welt und ihre Rolle<br />

darin verändern können. Sie reisen als<br />

Jugendliche aus und kommen als Erwachsene<br />

mit einem ganz anderen<br />

Hintergrund <strong>zu</strong>rück.<br />

Wie wichtig sind denn umgekehrt<br />

die jungen Freiwilligen für <strong>Misereor</strong>?<br />

Extrem wichtig, weil wir merken,<br />

wie sehr wir die Ideen von jungen<br />

Erwachsenen brauchen. Beim Freiwilligendienst<br />

gibt <strong>es</strong> eine intensive<br />

Arbeit mit den Rückkehrenden.<br />

Sie entwickeln oft eigene<br />

Ideen und Aktivitäten und geben<br />

Impulse. Daran an<strong>zu</strong>knüpfen<br />

sehen wir als Chance, sie<br />

auch langfristig an di<strong>es</strong>en Fragen<br />

wirklich <strong>zu</strong> beteiligen,<br />

die uns umtreiben.<br />

Thomas Antkowiak ist seit 2006 Vorstandsmitglied<br />

von <strong>Misereor</strong> und verantwortlich<br />

für Finanzen, Verwaltung und<br />

Personal sowie für die Belange d<strong>es</strong> Fairen<br />

Handels und d<strong>es</strong> Entwicklungspolitischen<br />

Freiwilligendiensts. Mitte d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong><br />

verlässt Thomas Antkowiak <strong>Misereor</strong><br />

und geht in den Ruh<strong>es</strong>tand.<br />

Steffi Neu ist Redakteurin und eine bund<strong>es</strong>weit<br />

bekannte Radiostimme als Moderatorin<br />

im WDR, wo sie regelmäßig<br />

die Sendungen W<strong>es</strong>tzeit und WDR 2 am<br />

Samstag moderiert. Sie lebt mit ihrer Familie<br />

in Uedem am Niederrhein.<br />

Die katholische Kirche ist<br />

aktuell umstritten. Wie wirkt <strong>sich</strong><br />

das auf <strong>Misereor</strong> aus?<br />

Wir merken, dass <strong>sich</strong> viele schwertun<br />

mit der Institution Kirche, mit einzelnen<br />

Verantwortlichen in der Kirche.<br />

Viele hadern mit der Kirche, weil sie<br />

sehen, dass <strong>es</strong> bei den Missbrauchsthemen,<br />

der Aufarbeitung und dem Umgang<br />

mit den Betroffenen nicht wirklich<br />

weitergeht. Ich habe für <strong>Misereor</strong><br />

am G<strong>es</strong>prächsformat d<strong>es</strong> Synodalen Weg<strong>es</strong><br />

der katholischen Kirche teilgenommen,<br />

um gemeinsam mit der Bischofskonferenz<br />

und dem Zentralkomitee der<br />

Katholiken an den Ursachen <strong>zu</strong> arbeiten:<br />

der mangelnden Beteiligung von Frauen,<br />

dem Klerikalismus, der Rolle der<br />

Pri<strong>es</strong>ter und der Verteilung von Macht.<br />

Finden Sie das Format<br />

erfolgsversprechend?<br />

Wir haben B<strong>es</strong>chlüsse gefasst, um die<br />

Dinge <strong>zu</strong> verändern. Jetzt kommt <strong>es</strong><br />

darauf an, ob die Bischöfe in Deutschland<br />

den Mut haben weiter<strong>zu</strong>machen,<br />

trotz Roter Karte aus Rom. Ich ärgere<br />

mich darüber, weil ich glaube, dass<br />

viele bis hin <strong>zu</strong>m Papst nicht verstehen,<br />

dass wir hier nicht Kirchenspaltung<br />

betreiben, sondern die Dinge <strong>zu</strong>m<br />

Positiven verändern wollen.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

41


BILDBAND<br />

Timothy Snyders Brandschrift „Über Tyrannei“ ist 2017 erschienen,<br />

aber wird heute schon als ein Klassiker in der Tradition<br />

von Hannah Arendt und George Orwell bezeichnet. Mele Brink<br />

hat <strong>sich</strong> mit der Frage b<strong>es</strong>chäftigt, ob die neue, illustrierte Ausgabe<br />

einen Mehrwert hat.<br />

42 EINS<strong>2023</strong><br />

Nora Krug hat On Tyranny (2017) von Timothy Snyder<br />

bebildert. Nein, nicht nur bebildert, sie hat aus Text<br />

und Bildern ein ganz neu<strong>es</strong> Medium gemacht. Die 20<br />

Lektionen „im Sinne einer wehrhaften Demokratie“ erhalten<br />

mit ihren Illustrationen und ihrer Seiteng<strong>es</strong>taltung eine<br />

ganz neue Dimension und sprechen mit di<strong>es</strong>er G<strong>es</strong>taltung<br />

<strong>sich</strong>erlich noch eine viel größere und vielleicht auch eine<br />

jüngere Zielgruppe an.<br />

Der Grundgedanke, aus genauer Beobachtung der G<strong>es</strong>chichte,<br />

insb<strong>es</strong>ondere der Entwicklung oder auch dem<br />

Scheitern von Demokratien Ende d<strong>es</strong> 19. bis Anfang d<strong>es</strong> 21.<br />

Jahrhunderts, Lehren für heutige Demokratien ab<strong>zu</strong>leiten,<br />

hat ein farbig<strong>es</strong>, aber nicht bunt<strong>es</strong> Kleid bekommen.<br />

Nora Krug arbeitet mit Skizzen, Fotos, Schrift, Collagen,<br />

gefundenen Grafiken und Fotos vom Flohmarkt. Auf farbigen<br />

Hintergründen komponiert sie jede Seite (gelegentlich<br />

auch Doppelseiten) <strong>zu</strong> einem eigenständigen Bild.<br />

Ihre Arbeitsweise wird schon mal als assoziativ und intuitiv<br />

bezeichnet. In ihren Collagen wird skizziert, radiert und<br />

wieder verworfen, bis <strong>sich</strong> die fertige Seite wie bei einer<br />

Skulptur herausschält. Die Spuren d<strong>es</strong> Proz<strong>es</strong>s<strong>es</strong> werden<br />

dabei nicht komplett entfernt, so wie die Spuren der G<strong>es</strong>chichte,<br />

die nicht vertuscht werden sollten. Sie versucht<br />

damit für den Betrachter, die Betrachterin, einen persönlichen<br />

Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Vergangenheit <strong>zu</strong> schaffen und hat dabei<br />

vor allen Dingen auch die Mitläufer*innen im Blick, die wir<br />

zwischen Widerstandskämpfer*innen, Opfern und Übeltäter*innen<br />

oft aus Selbigem verlieren.<br />

Die Aussagen d<strong>es</strong> Text<strong>es</strong>, die immer wieder auf Begebenheiten<br />

verweisen, die den Problemen unserer heutigen Demokratien<br />

ähneln, bekommen durch ihre G<strong>es</strong>taltung eine<br />

noch größere Direktheit und Dringlichkeit.<br />

Mit Personen und Situationen, die sie zeichnet, Sätzen,<br />

die sie in die Collagen klebt, Lebensläufen, die sie als Comic<br />

erzählt oder auch dem Text, den sie in unterschiedlichen<br />

Farben setzt, schafft sie Akzente, gibt dem in 20 Kapiteln<br />

unterteilten Text einen weiteren Rhythmus. Beim L<strong>es</strong>en<br />

schafft sie so Räume, um die Informationen sacken <strong>zu</strong> lassen,<br />

spricht über die Bilder noch eine unmittelbarere Ebene<br />

an als der Text. So unterschiedlich die eing<strong>es</strong>etzten Mittel<br />

sind – Rahmen, Fotos<br />

im Anschnitt, geklebt<strong>es</strong><br />

Papier, Fotos mit<br />

Rahmen – ihr ist das<br />

ÜBER TYRANNEI<br />

Zwanzig Lektionen<br />

für den Widerstand<br />

Thimothy Snyder<br />

Illustriert von Nora Krug<br />

Verlag C. H. Beck, 2021<br />

128 Seiten, 20,– Euro<br />

Kunststück geglückt,<br />

daraus ein durchgängig<br />

g<strong>es</strong>taltet<strong>es</strong> Buch<br />

<strong>zu</strong> machen.


Abbildungen aus dem b<strong>es</strong>prochenen Bildband, © Verlag C. H. Beck<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

43


MISEREOR IN AKTION<br />

Endlich wieder<br />

gemeinsam singen – und<br />

mit der <strong>Misereor</strong>-Aktion<br />

„Starke Töne“ Gut<strong>es</strong> tun<br />

Foto: Kathrin Harms/<strong>Misereor</strong>, Illustrationen: Kat Menschik<br />

Foto: Florian Kopp/<strong>Misereor</strong><br />

G<strong>es</strong>unde Nahrung,<br />

bereit <strong>zu</strong>r Aussaat. Robuste<br />

Sorten bringen auch im<br />

Ökolandbau gute Ernte.<br />

Für g<strong>es</strong>unde Vielfalt auf Feldern und Tellern<br />

Im brasilianischen Mato Grosso leidet die Bevölkerung seit<br />

vielen Jahren darunter, dass in der Landwirtschaft giftige<br />

Agrarchemikalien <strong>zu</strong>m Einsatz kommen. Insb<strong>es</strong>ondere die<br />

P<strong>es</strong>tizide machen die Menschen krank und b<strong>es</strong>chädigen<br />

ihren ganzen Lebensraum. Für ein entsprechend<strong>es</strong> Umlenken<br />

der Landwirtschaft setzt <strong>sich</strong> die Fachstelle für Landfragen<br />

„Comisão Pastoral da Terra“ in Mato Grosso unermüdlich<br />

ein. <strong>Misereor</strong> unterstützt sie dabei. Im vergangenen<br />

Jahr haben Mitglieder der CPT Mato Grosso zwei ganze Wochen<br />

vor dem bund<strong>es</strong>staatlichen Institut für die Agrarreform<br />

gecampt. Damit haben sie darauf aufmerksam gemacht,<br />

dass die Frage der Landtitel noch immer nicht gerecht geklärt<br />

ist – und dass eine nachhaltige, agrarökologische Nut<strong>zu</strong>ng<br />

der Flächen Menschen und Natur schützt. Dabei hatten<br />

sie eine bunte Vielfalt von Mais- und Bohnensorten im<br />

Gepäck, die auch ohne giftige P<strong>es</strong>tizide gut gedeihen.<br />

Danke, dass Sie unsere Partner dabei unterstützen!<br />

misereor.de/brasilien-amazonas<br />

Da ist Musik drin!<br />

Starke Töne für <strong>Misereor</strong>-Projekte<br />

Ob im kleinen Freund<strong>es</strong>- oder Familienkreis, mit dem<br />

Verein oder gleich mit der ganzen Gemeinde: mit unserer<br />

<strong>Misereor</strong>-Spendenaktion „Starke Töne“ g<strong>es</strong>talten<br />

Sie ein Benefizkonzert, an dem Ihre Gäste mit viel<br />

Spaß teilhaben können. Da<strong>zu</strong> brauchen Sie musikalische<br />

Unterstüt<strong>zu</strong>ng, <strong>zu</strong>m Beispiel von der Musikschule,<br />

dem Kirchenchor oder einer Nachwuchsband vor<br />

Ort. Gemeinsam stellen Sie ein Programm aus bekannten<br />

Liedern <strong>zu</strong>sammen. Die Texte machen Sie<br />

per Leinwand oder Liedheft allen <strong>zu</strong>gänglich. Dann<br />

laden Sie <strong>zu</strong>m Mitsingen ein und lassen anschließend<br />

die Spendendose für ein <strong>Misereor</strong>-Projekt Ihrer Wahl<br />

herumgehen.<br />

Weitere Infos, praktische Tipps<br />

rund um unsere musikalische<br />

<strong>Misereor</strong>-Aktion und Material<br />

<strong>zu</strong>m Download unter<br />

misereor.de/starke-toene<br />

44<br />

EINS<strong>2023</strong>


Frauen b<strong>es</strong>itzen weniger<br />

landwirtschaftliche Produktionsfläche<br />

als Männer:<br />

Weltweit liegt ihr Anteil<br />

bei nur 12,8 Prozent.<br />

Foto: Karuna Battambang<br />

Damit Kinder in liebevoller<br />

Gemeinschaft aufblühen<br />

Tola ist sechs und freut <strong>sich</strong>: Endlich kann sie <strong>sich</strong> selbst die<br />

Zähne putzen! Dabei waren die Aus<strong>sich</strong>ten bei ihrer Geburt<br />

düster. Wegen einer Behinderung haben Tolas Eltern sie im<br />

Haus behalten. Sie bekam keine Förderung oder Bildung,<br />

sie konnte keine Freundschaften schließen. So geht <strong>es</strong> in<br />

Kambodscha vielen Kindern mit Behinderungen. Aber für<br />

Tola hat <strong>sich</strong> das Blatt gewendet: Die <strong>Misereor</strong>-Partnerorganisation<br />

Karuna Battambang fördert Kinder mit Behinderung<br />

ganz individuell, <strong>zu</strong>m Beispiel mit Physio- und<br />

Sprachtherapie. Dabei bindet sie immer auch ihre Familien<br />

und das Umfeld mit ein. Damit <strong>sich</strong> auch auf g<strong>es</strong>ellschaftlicher<br />

Ebene etwas bewegt, sensibilisiert das Team von Karuna<br />

Battambang die Verantwortlichen in den Dörfern und informiert<br />

über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.<br />

So hilft eine Spende für di<strong>es</strong><strong>es</strong> Projekt Kindern und Jugendlichen<br />

in Kambodscha, ihren Platz in der Gemeinschaft <strong>zu</strong><br />

finden. Und ein Stück unabhängig <strong>zu</strong> werden – <strong>zu</strong>m Beispiel<br />

beim Zähneputzen.<br />

Ihre Spende holt Kinder mit Behinderung<br />

in die Mitte der G<strong>es</strong>ellschaft!<br />

Hier erfahren Sie mehr<br />

und können direkt spenden.<br />

Karuna Battambang<br />

hat <strong>es</strong> ermöglicht: Dank<br />

liebevoller Förderung wird<br />

Tola immer selbstständiger<br />

Foto: Klaus Mellenthin/<strong>Misereor</strong><br />

Mit Menschen. Die Siebte:<br />

G<strong>es</strong>icht zeigen für <strong>Misereor</strong><br />

Im Dezember 2020 sind sie <strong>zu</strong>m ersten Mal in ganz<br />

Deutschland aufgetaucht, die ausdrucksstarken Plakate<br />

und Anzeigen der „Mit Menschen.“-Kampagne für <strong>Misereor</strong>.<br />

Inzwischen geben sieben Frauen und Männer der<br />

<strong>Misereor</strong>-Arbeit in Afrika, Asien und Lateinamerika,<br />

aber auch hier in Deutschland, ein G<strong>es</strong>icht. Auch auf<br />

der Rückseite di<strong>es</strong><strong>es</strong> Hefts: die engagierte Lehrerin Ann-<br />

Kathrin Borchert. Sie vermittelt in ihrem Unterricht an<br />

der Liebfrauenschule in Köln mit viel Leidenschaft ein<br />

Bewusstsein für die Ungleichheiten auf der Welt.<br />

Während ihr<strong>es</strong> Studiums hat sie mit <strong>Misereor</strong> Projekte<br />

in Kenia b<strong>es</strong>ucht; eine Reise, die sie bis heute prägt. Die<br />

lebendigen Eindrücke gibt sie heute an ihre Schülerinnen<br />

und Schüler weiter, legt so Grundsteine für einen<br />

wachen Blick und solidarisch<strong>es</strong> Handeln.<br />

Ann-Kathrin Borchert<br />

teilt ihre persönlichen<br />

Erfahrungen aus <strong>Misereor</strong>-<br />

Projekten im Unterricht<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

45


KOLUMNE<br />

Im Iran glauben Menschen mit all ihrer Kraft an die Veränderung <strong>zu</strong>m B<strong>es</strong>seren.<br />

Gehen auf die Straße und riskieren viel. Autorin Anne Lemhöfer bewundert ihren Mut.<br />

Kämpft aber noch mit dem Aufstehen.<br />

Illustration von Kat Menschik<br />

Mein Mann und ich sitzen nach<br />

einem turbulenten Tag mit<br />

drei Kindern und zwei Jobs<br />

vor dem Fernseher, mal wieder schaffen<br />

wir <strong>es</strong> erst <strong>zu</strong> den Tag<strong>es</strong>themen am<br />

späteren Abend, wir seufzen, weil <strong>sich</strong><br />

unser Leben so anstrengend anfühlt.<br />

Irgendjemand müsste mal die Wäsche<br />

machen, außerdem schreibt das große<br />

Kind nächste Woche zwei Klassenarbeiten.<br />

Dann sind da plötzlich, längst<br />

nicht <strong>zu</strong>m ersten Mal, wieder di<strong>es</strong>e<br />

Frauen und Männer in Teheran, mitten<br />

in unserem unaufgeräumten Wohnzimmer,<br />

junge und alte, manche noch<br />

fast Kinder. Sie demonstrieren um ihr<br />

Leben, <strong>es</strong> geht um all<strong>es</strong>. Seit im September<br />

die 22 Jahre alte iranische Kurdin<br />

Mahsa Amini von der iranischen<br />

Sittenpolizei f<strong>es</strong>tgenommen wurde, weil<br />

sie kein Kopftuch trug, und später im<br />

Gefängnis starb, verfolgen wir die Prot<strong>es</strong>te,<br />

entsetzt und berührt.<br />

Vom Sofa aus, während ich in einer<br />

WhatsApp-Gruppe munter Vorschläge<br />

für das Geburtstagsg<strong>es</strong>chenk einer Kollegin<br />

poste und mein Mann am Tablet<br />

über die Bundeligatabelle scrollt.<br />

Heute hält er auf einmal inne und<br />

schaut mich an. „Wenn das jetzt bei<br />

uns wäre, meinst du, wir wären da<br />

dabei?“ Ich schlucke kurz. „Natürlich!<br />

Ja, oder? Was sonst?“ Ich denke an unsere<br />

Kinder, die friedlich in ihren Betten<br />

schlafen, und denen, Stand jetzt,<br />

weder Bomben noch Hunger noch Folter<br />

drohen. „Wir könnten dabei sterben.<br />

Würd<strong>es</strong>t du das wirklich riskieren?“,<br />

fragt er. Würden wir das riskieren?<br />

Auf einmal spüre ich den Luxus, solche<br />

Gedanken nach ganz weit hinten<br />

im Hirn schieben <strong>zu</strong> können, fast körperlich.<br />

Wir könnten einfach die Nachrichten<br />

ausschalten und unsere Netflix-Serie<br />

weiterschauen. Es wäre so<br />

einfach. Wirklich?<br />

Mehr als 500 Menschen im Iran<br />

sind seit Beginn der systemkritischen<br />

Kundgebungen vor fünf Monaten getötet<br />

worden. Auch sie hatten Kinder, Eltern,<br />

Freundinnen und Freunde, sie hatten<br />

Hoffnungen, waren verliebt oder<br />

mussten ältere Verwandte pflegen, und<br />

vermutlich hätten sie im Grunde auch<br />

alle lieber Fernsehen g<strong>es</strong>chaut. Und<br />

trotzdem sind sie auf die Straße gegangen,<br />

weil sie genug von Gewalt, Diktatur<br />

und Staatswillkür hatten und endlich<br />

das wollten, was wir, wie <strong>es</strong><br />

manchmal scheint, als völlig selbstverständlich<br />

hinnehmen: Menschenrechte,<br />

Frieden und Demokratie.<br />

Wie sind wir eigentlich dahin gekommen,<br />

auf di<strong>es</strong>e Couch, auf der wir<br />

lahme „Was würden wir tun?“-G<strong>es</strong>präche<br />

führen ̶ statt wirklich etwas<br />

<strong>zu</strong> tun? An Missständen b<strong>es</strong>teht schließlich<br />

kein Mangel. Doch was soll das<br />

Eingreifen von uns einzelnen Menschen<br />

in die Zumutungen einer globalisierten<br />

Welt schon bringen? Unsere<br />

persönlichen Fähigkeiten im Weltretten<br />

sind äußerst begrenzt. Wir können<br />

weder Operationen an offenliegenden<br />

Organen durchführen noch Brunnen<br />

46<br />

EINS<strong>2023</strong>


graben oder zerbombte Häuser reparieren.<br />

Und Zeit im Überfluss haben wir<br />

auch nicht. Nein? Weil die Wäsche<br />

wartet? Weil wir wegen fehlender<br />

Work-Family-Life-Balance jetzt erst mal<br />

ein Achtsamkeitsseminar belegen müssen?<br />

Stimmt, achtsam <strong>zu</strong> sein, wäre ein<br />

guter Ansatz, nämlich Achtsamkeit <strong>zu</strong><br />

zeigen für unsere Demokratie, die ganz<br />

und gar nicht selbstverständlich ist,<br />

wenn wir uns nicht um sie kümmern.<br />

Es gibt tatsächlich genug Dinge, die<br />

wir tun können, online und vor allem<br />

offline: Zuhören, den Austausch suchen<br />

und Stellung beziehen, <strong>zu</strong>m Beispiel.<br />

Wir können uns einmischen,<br />

wenn bei G<strong>es</strong>prächen am Küchentisch,<br />

beim Familienf<strong>es</strong>t oder in der Kantine<br />

rassistische oder antisemitische R<strong>es</strong>sentiments<br />

geäußert werden. Wir können<br />

einhaken, wenn Populisten Stimmung<br />

machen und differenzieren,<br />

wenn wieder einmal all<strong>es</strong> durcheinandergeworfen<br />

wird. Oder Fakten auftischen,<br />

wenn all<strong>zu</strong> einfache Erklärungen<br />

und Wahrheiten verkündet werden.<br />

Jede und jeder Einzelne ist wichtig<br />

für den öffentlichen Diskurs.<br />

Fridays for Future und Black Liv<strong>es</strong><br />

Matter haben gezeigt, wie viel Aufmerksamkeit<br />

<strong>es</strong> auch im W<strong>es</strong>ten erregt,<br />

wenn Menschen auf die Straße<br />

gehen und gemeinsam Forderungen<br />

stellen. Unser Demonstrationsrecht <strong>zu</strong><br />

nutzen, ist einer der wichtigsten Bausteine<br />

unserer Demokratie. Wir müssen<br />

uns als G<strong>es</strong>ellschaft darüber austauschen,<br />

wie wir leben wollen. Egal,<br />

ob mit der Nachbarin oder einem<br />

Wildfremden. Aber dabei darf <strong>es</strong> nicht<br />

bleiben. Schließlich hat uns nur der<br />

geografische Zufall qua Geburt nach<br />

Deutschland verschlagen und nicht in<br />

den Iran oder nach Afghanistan oder<br />

in die Ukraine. Da könnten wir schon<br />

versuchen, ein bisschen Gerechtigkeit<br />

her<strong>zu</strong>stellen, indem wir etwas von unseren<br />

Privilegien abgeben: Geld, sofern<br />

wir darüber verfügen, Zeit und Aufmerksamkeit<br />

für Geflüchtete, für die<br />

Seenotrettung, für Menschenrechte,<br />

fürs Klima. Was würden wir tun, was<br />

hätten wir getan? Auch wenn eine Antwort<br />

vielleicht auch gar nicht möglich<br />

ist: Die B<strong>es</strong>chäftigung mit der Frage,<br />

ob man im Iran, in China, in Russland<br />

oder in Deutschland während der Nazizeit<br />

mutig, vor<strong>sich</strong>tig oder feige (gew<strong>es</strong>en)<br />

wäre, ist wichtig. Denn <strong>es</strong> erinnert<br />

daran, dass Demonstrieren bei<br />

uns heute möglich ist, ohne sein<br />

Leben <strong>zu</strong> riskieren. Es ist ein gut<strong>es</strong> Gefühl,<br />

das wir schützen sollten.<br />

Kat Menschik arbeitet bereits<br />

seit 1999 als freiberufliche<br />

Illustratorin in Berlin.<br />

Die studierte Kommunikationsd<strong>es</strong>ignerin<br />

zeichnet<br />

für Zeitungen, <strong>Magazin</strong>e<br />

und Buchverlage, unter<br />

anderem für die Frankfurter<br />

Allgemeine Sonntagszeitung. Seit 2016 veröffentlicht<br />

Kat Menschik mit „Klassiker der Weltliteratur“<br />

ihre eigene Buchreihe im Berliner Galiani-Verlag.<br />

Kat Menschik illustrierte Bücher von<br />

Enn Vetemaa und Haruki Murakami.<br />

EINS<strong>2023</strong><br />

47


RÄTSEL<br />

Zu gewinnen<br />

gibt <strong>es</strong><br />

1. Preis:<br />

Edelstahl Espr<strong>es</strong>sokocher<br />

Für vier oder sechs Tassen (200 –<br />

300 ml), induktionsgeeignet und<br />

aus hochwertigem Edelstahl, ein<br />

robuster Begleiter im Alltag. Für<br />

eine r<strong>es</strong>sourcenschonende Kaffee<strong>zu</strong>bereitung,<br />

plastikfrei und eine<br />

nachhaltige Alternative <strong>zu</strong> Kapselkaffee<br />

und Padmaschinen. Eco-<br />

Royal produziert den hochwertigen<br />

Espr<strong>es</strong>sokocher ausschließlich <strong>zu</strong><br />

fairen Konditionen.<br />

„Die Technologieplattformen haben<br />

Regeln eingeführt, die digitalen<br />

Populisten und autoritären Herrschern<br />

das Äquivalent einer Atombombe in<br />

die Hand geben, mit dem sie die<br />

G<strong>es</strong>ellschaften und Demokratien<br />

überall auf der Welt auf den Kopf<br />

stellen können.“<br />

Di<strong>es</strong><strong>es</strong> Zitat* stammt von<br />

2. Preis:<br />

Bildband „Über Tyrannei“<br />

Der US-amerikanische Historiker<br />

Timothy Snyder erteilt in seinem<br />

Buch 20 Lektionen für den Widerstand. Illustriert<br />

hat <strong>es</strong> die Deutsch-Amerikanerin Nora Krug, deren<br />

Arbeiten unter anderem in der „New York Tim<strong>es</strong>“,<br />

dem „Guardian“ und „Le Monde“ erschienen sind.<br />

3. Preis:<br />

Buch „Menschenpflichten“<br />

Gehört <strong>es</strong> nicht <strong>zu</strong>r Entwicklung b<strong>es</strong>tehender Demokratien,<br />

auch Menschenpflichten ein<strong>zu</strong>klagen? Bereits<br />

im Jahr 1997 stellte man di<strong>es</strong>en Entwurf den<br />

Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit <strong>zu</strong>r<br />

Diskussion vor. Mit Illustrationen d<strong>es</strong> Künstlers Mehrdad<br />

Zaeri. Ein Appell für eine solidarische G<strong>es</strong>ellschaft!<br />

a<br />

b<br />

c<br />

Inés Rodríguez<br />

Lokalreporterin<br />

aus Bolivien<br />

Lilli Muller<br />

deutsche Künstlerin<br />

aus den USA<br />

Maria R<strong>es</strong>sa<br />

Friedensnobelpreisträgerin<br />

aus den Philippinen<br />

*Sie finden <strong>es</strong><br />

in di<strong>es</strong>er Ausgabe.<br />

Einsend<strong>es</strong>chluss ist der 15. Juli <strong>2023</strong><br />

Der Rechtsweg ist ausg<strong>es</strong>chlossen. Wir speichern Ihre<br />

Daten nur <strong>zu</strong>r Durchführung der Verlosung. Wenn<br />

Sie weitere Informationen <strong>zu</strong> <strong>Misereor</strong> erhalten wollen,<br />

vermerken Sie das unter dem Lösungswort „Ja“.<br />

Sie können die Einwilligung jederzeit widerrufen.<br />

Senden Sie die Lösung an:<br />

<strong>frings</strong>@misereor.de<br />

oder<br />

Bischöflich<strong>es</strong> Hilfswerk <strong>Misereor</strong><br />

Redaktion <strong>Magazin</strong> „<strong>frings</strong>“<br />

Mozartstraße 9, 52064 Aachen<br />

Fotos: Avocadostore, Verlag C. H. Beck, Edition Büchergilde<br />

48<br />

EINS<strong>2023</strong>


<strong>Misereor</strong> ist das katholische Werk für Entwicklungs<strong>zu</strong>sammenarbeit<br />

an der Seite von Menschen in Afrika und<br />

im Nahen Osten, in Asien und Ozeanien, Lateinamerika<br />

und in der Karibik.<br />

Es leistet seit über 60 Jahren Hilfe <strong>zu</strong>r Selbsthilfe durch<br />

gemeinsame Projekte mit einheimischen Partnerorganisationen<br />

und setzt <strong>sich</strong> mit den Menschen in Deutschland<br />

für weltweite Gerechtigkeit, Solidarität und die Bewahrung<br />

der Schöpfung ein.<br />

<strong>Misereor</strong> b<strong>es</strong>itzt mit 6 Prozent an Kosten für Verwaltung,<br />

Werbung und Öffentlichkeitsarbeit das Spendensiegel<br />

d<strong>es</strong> Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI).<br />

Spendenkonto<br />

DE75 3706 0193 0000 1010 10<br />

<strong>Das</strong> Umweltmanagement<br />

von <strong>Misereor</strong> ist nach EMAS<br />

geprüft und zertifiziert.<br />

Abo für mich!<br />

Sie möchten keine Ausgabe<br />

von <strong>frings</strong> verpassen?<br />

Über magazin@misereor.de<br />

können Sie unter dem Stichwort<br />

„Abo“ ein kostenlos<strong>es</strong> Abonnement<br />

b<strong>es</strong>tellen (und jederzeit wieder<br />

kündigen).<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber: Bischöflich<strong>es</strong> Hilfswerk <strong>Misereor</strong> e. V.; Redaktion:<br />

Beate Schneiderwind (verantw.), Michael Mondry und Birgit-Sara<br />

Fabianek (redaktionelle Koordination), Dr. Kerstin Burmeister, Lena<br />

Monshausen, Ina Thomas; Grafische G<strong>es</strong>taltung: Anja Hammers;<br />

Repro: Roland Küpper, type & image, Aachen; Druck: Evers Druck<br />

GmbH – ein Unternehmen der Eversfrank Gruppe, Ernst-Günter-<br />

Albers-Str. 13, D-25704 Meldorf; Gedruckt auf Papier aus ökonomisch,<br />

ökologisch und sozial nachhaltiger Waldbewirtschaftung;<br />

Herstellung und Vertrieb: MVG Medienproduktion und Vertriebsg<strong>es</strong>ellschaft,<br />

Aachen.<br />

Zuschriften an<br />

<strong>Misereor</strong>, Mozartstraße 9, 52064 Aachen,<br />

magazin@misereor.de


Mit Ignoranz<br />

oder mit Menschen?<br />

Mit Menschen.<br />

Foto: Klaus Mellenthin/<strong>Misereor</strong><br />

Gemeinsam mit Ihnen schafft <strong>Misereor</strong> Bewusstsein<br />

durch Bildung in Deutschland und weltweit.<br />

Mehr erfahren: misereor.de/mitmenschen

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