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ABENTEUER & REPORTAGE<br />
Fotos: slawik.com (3), IMAGO/ Frank Sorge (1)<br />
oder Unsicherheit auch von Stress, Schmerzen,<br />
Überforderung, Bewegungsmangel<br />
oder schlechten Erfahrungen herrühren.<br />
Der Begriff allein führt schnell in die Irre,<br />
denn würden Sie ein Pferd wirklich als<br />
unge horsam bezeichnen, wenn es aufgrund<br />
starker Rückenschmerzen Abwehrreaktionen<br />
zeigt? In diesem Artikel wollen wir uns<br />
vor allem mit der Angst näher beschäftigen,<br />
die ein häufiger Auslöser für unerwünschtes<br />
Verhalten ist. Doch viele Reiter haben Probleme,<br />
Angst und Furcht richtig zu interpretieren.<br />
Werfen wir deshalb zunächst<br />
einen genaueren Blick auf die Biologie und<br />
das Gehirn des Pferdes.<br />
Lebensnotwendiges Alarmsystem<br />
Es gibt furchtlose Menschen, die sich in gefährliche<br />
Situationen begeben, ohne dabei<br />
wirklich Angst zu verspüren. Pferde, vor allem<br />
in freier Wildbahn, wären ohne Angst<br />
schnell dem Tode geweiht. Sie ist ein Wunder<br />
der Evolution und ein komplizierter Mechanismus,<br />
der über Jahrtausende erprobt ist.<br />
Ohne Angst würden sich Pferde Abhänge<br />
hinunterstürzen, bei Gefahr nicht fliehen,<br />
möglicherweise in fahrende Autos oder<br />
durch Zäune rennen. Sie erfüllt also durchaus<br />
wichtige Aufgaben. Dabei ist Angst auch<br />
wegweisend für die Entwicklung und das<br />
Lernen des Pferdes. Sozusagen als Alarmanlage<br />
entscheidet sie mit über Flucht oder<br />
Angriff. In bedrohlichen Situationen bleibt<br />
keine Zeit, neue Strategien zu entwickeln.<br />
Dann sind Mensch und Tier auf Empfindungen<br />
wie Angst, Furcht, aber auch Stress<br />
angewiesen. Im Gegensatz zum Pferd kann<br />
der Mensch lernen, dieses Alarmsystem zu<br />
umgehen und das Gefühl einfach zu verdrängen.<br />
Ist es jedoch einmal angesprungen,<br />
dann nehmen eine ganze Reihe chemischer<br />
Vorgänge ihren Lauf. So werden zum Beispiel<br />
Botenstoffe wie Adrenalin ausgeschüttet.<br />
Angst löst also eine Stressreaktion aus,<br />
die im Normalfall mit einer bewältigenden<br />
Handlung endet. Stresssymptome bauen<br />
sich ab, und die Angst verfliegt. Kommt es<br />
jedoch zu chronischem Stress oder gerät das<br />
ausgewogene Verhältnis von Wohlbefinden,<br />
Alarmbereitschaft und Stressreaktion aus<br />
dem Gleichgewicht, dann beginnt ein Kreislauf,<br />
aus dem das Pferd nicht mehr selbstständig<br />
ausbrechen kann.<br />
Von Geräuschen und Gerüchen<br />
In unbekannten oder potenziell gefährlichen<br />
Situationen ist Flucht die bevorzugte<br />
Strategie des Pferdes. Dazu erhöhen<br />
Stressreaktionen die Aufmerksamkeit und<br />
mobilisieren alle vorhandenen Kräfte. Der<br />
Körper des Pferdes ist für diese Überlebensstrategie<br />
optimal ausgestattet. Neben dem<br />
Herz-Kreislauf-System und der Atmung<br />
helfen auch die Sinnesorgane dem Vierbeiner,<br />
schnell auf Bedrohungen zu reagieren.<br />
50 www.mein-pferd.de <strong>04</strong>/<strong>2019</strong><br />
STRESS BEEINFLUSST DAS LERNEN<br />
Akuter Stress vermindert die Lernleistung,<br />
schränkt die Wahrnehmung ein<br />
und verringert das Schmerzempfinden.<br />
Jedoch kann sich ein gewisser positiver,<br />
moderater Stress auch förderlich auf das<br />
Lernen auswirken. Sinnvoll aufgebautes<br />
Training über positive Verstärkung ist als<br />
Als Reiter sollten Sie wissen, dass nicht nur<br />
visuelle Reize, sondern auch ungewohnte<br />
Gerüche oder andere unbekannte Sinneseindrücke<br />
eine plötzliche Flucht auslösen<br />
können. Oftmals nehmen wir selbst diese<br />
Reize gar nicht wahr. Zudem hat jedes Pferd<br />
eine gewisse Individualdistanz. Während<br />
manche Vierbeiner schon in die Luft gehen,<br />
wenn sie aus weiter Ferne ein Geräusch<br />
hören oder ein Flatterband sehen, wittern<br />
andere die Gefahr erst, wenn sie direkt vor<br />
ihr stehen. Einige Pferde stellen ihre Besitzer<br />
hingegen immer wieder vor neue Fragen<br />
und Herausforderungen. Sie erschrecken<br />
sich mal vor Pfützen, mal vor den Artgenossen<br />
auf der Weide neben dem Reitplatz.<br />
In vielen Fällen kann gar kein Auslöser<br />
ausgemacht werden.<br />
Angst niemals bestrafen<br />
Eine entspannte Trainingsatmosphäre<br />
erleichtert<br />
dem Pferd das Lernen und<br />
fördert die Losgelassenheit<br />
solch moderater Stress anzusehen, durch<br />
den die Lernleistung gesteigert wird.<br />
Bei dauerhaftem oder zu starkem Stress<br />
treten hingegen die meisten Probleme<br />
auf. Erlebnisse können sich regelrecht in<br />
das Gehirn einbrennen, beispielsweise<br />
bei einem Trauma.<br />
Verhaltensweisen wie Drohen, Schlagen,<br />
Beißen oder Steigen werden meist erst mal<br />
nicht mit Angst in Verbindung gebracht.<br />
Dann steigt die Frustration des Besitzers<br />
und auch der Leidensdruck. Schnell kann<br />
es zu unangenehmen Folgen für beide Seiten<br />
kommen: Das Pferd versucht innerhalb<br />
seiner Möglichkeiten, auf die beängstigende<br />
Situ ation zu reagieren, und für den Reiter<br />
wird es gefährlich. Wer sich allerdings eingehender<br />
mit der Angst und den Strategien<br />
des Fluchttieres beschäftigt, der wird ein<br />
neues Verständnis, einen besseren Blick und<br />
ein besseres Einfühlungsvermögen entwickeln.<br />
Dabei gibt es zwei wichtige Regeln,<br />
die Sie sich merken sollten: Zum einen hat<br />
ein Pferd im Fluchtmodus immer Angst.<br />
Zum anderen darf diese unter keinen Umständen<br />
bestraft werden. Strafe verstärkt die<br />
Angst und bricht das Vertrauen zum Menschen.<br />
Sie kann bis hin zu einer erlernten<br />
Hilflosigkeit führen. Und noch etwas Wichtiges:<br />
Nur weil ein Pferd in einer bestimmten<br />
Situation nicht sofort flieht, bedeutet das<br />
noch nicht, dass Angst als zugrundeliegende<br />
Emotion ausgeschlossen werden kann. So<br />
können beispielsweise gewisse Haltungsbedingungen<br />
das Pferd daran hindern, das<br />
arteigene Fluchtverhalten auszuleben. Häufig<br />
kommt es dann zu Ersatzhandlungen,<br />
die auf den ersten Blick nicht zur Kategorie<br />
Fluchtverhalten gezählt werden.<br />
Stimmungsübertragung aufs Pferd<br />
Denken Sie noch einmal an die Anfangssituation<br />
in der Reithalle: Das Pferd scheut, die<br />
Reiterin reagiert angespannt, und die Lage<br />
eskaliert. Durch ihre Muskelspannung und<br />
die eigene Unruhe schlagen die Alarmglocken<br />
des Wallachs noch lauter. Für ihn ist<br />
klar: Es droht Gefahr. Gleichzeitig verstärkt<br />
sich seine Angst durch die harte Hilfengebung,<br />
die er als Strafe einordnet. Der Trainer<br />
reagiert richtig, indem er versucht, Ruhe in<br />
die Situation zu bringen. Pferde sind Herdentiere<br />
und darauf angewiesen, die Stimmung<br />
ihrer Artgenossen, aber auch die des<br />
Sozialpartners Mensch zu deuten. In diesem<br />
Zusammenhang wird klar, warum manche<br />
Pferde scheuen oder durchgehen, wenn ihre<br />
Kumpels auf der Weide mit erhobenem Kopf,<br />
angespannter Halsmuskulatur und entsprechender<br />
Mimik Fluchtbereitschaft signalisieren<br />
oder losstürmen. Die Stimmungsübertragung<br />
kann sich der Mensch aber in<br />
der Ausbildung auch zunutze machen, zum