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Helge Klausener<br />
EINE<br />
CHRONIKMaria<br />
<strong>Callas</strong><br />
Tag für Tag – Jahr für Jahr<br />
Mit einem Geleitwort von Jürgen Kesting
Maria <strong>Callas</strong><br />
Tag für Tag – Jahr für Jahr
Helge Klausener<br />
Maria <strong>Callas</strong><br />
Tag für Tag – Jahr für Jahr<br />
Eine Chronik<br />
Mit einem Geleitwort von Jürgen Kesting
Helge Klausener: Maria <strong>Callas</strong>. Tag für Tag – Jahr für Jahr. Eine Chronik.<br />
Mit einem Geleitwort von Jürgen Kesting. Hollitzer Verlag, Wien 2023<br />
Coverabbildung:<br />
Maria <strong>Callas</strong>, Ankunft in Berlin Tempelhof, Berlin, 1955. Foto von Harry Croner.<br />
(Inv.-Nr.: SM 2013-3094, © Stiftung Stadtmuseum Berlin)<br />
Cover und Satz: Nikola Stevanović<br />
Hergestellt in der EU<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99094-065-5
Inhaltsverzeichnis<br />
Zum Geleit – Jürgen Kesting 7<br />
Vorwort 9<br />
1923–1937 Kindheit und Jugend in New York 13<br />
1937–1945 Die Zeit in Athen 19<br />
1945–1947 Rückkehr nach New York 39<br />
1947–1948 Karrierestart in Italien 45<br />
Das Jahr 1949 55<br />
Das Jahr 1950 67<br />
Das Jahr 1951 79<br />
Das Jahr 1952 89<br />
Das Jahr 1953 101<br />
Das Jahr 1954 115<br />
Das Jahr 1955 129<br />
Das Jahr 1956 145<br />
Das Jahr 1957 161<br />
Das Jahr 1958 183<br />
Das Jahr 1959 209<br />
Das Jahr 1960 227<br />
Das Jahr 1961 237<br />
Das Jahr 1962 243<br />
Das Jahr 1963 249<br />
Das Jahr 1964 257<br />
Das Jahr 1965 265<br />
Das Jahr 1966 277<br />
Das Jahr 1967 279<br />
Das Jahr 1968 281<br />
Das Jahr 1969 285
Das Jahr 1970 293<br />
Das Jahr 1971 301<br />
Das Jahr 1972 305<br />
Das Jahr 1973 307<br />
Das Jahr 1974 315<br />
Das Jahr 1975 327<br />
Das Jahr 1976 331<br />
Das Jahr 1977 bis zu Maria <strong>Callas</strong>’ Tod 333<br />
16.9.1977 bis heute: Erinnerungen, Würdigungen, Portraits 337<br />
Nachwort 395<br />
Anmerkungen 397<br />
Quellenverzeichnis 449<br />
Personenregister 459
xxxxx<br />
ZUM GELEIT<br />
Größe heißt: Richtung-geben. Kein Strom ist durch sich selber groß und<br />
reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das<br />
macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Größen des Geistes. Nur darauf<br />
kommt es an, dass Einer die Richtung angibt, welcher dann so viele Zuflüsse<br />
folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.<br />
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches<br />
Denn Menschenruhm und Schmach wächst mit dem Stande.<br />
William Shakespeare: Lucrezia<br />
Wie kam es, dass Maria <strong>Callas</strong> zur größten Sängerin wurde, zur Primadonna assoluta,<br />
zur Divina? Dass sie als elektrisierend und großartig und herzbewegend<br />
und brillant und atemberaubend und kapriziös und streitsüchtig berühmt und<br />
berüchtigt war? Ihr Rang als künstlerische Epochenfigur steht im Mittelpunkt<br />
einiger Biographien und Monographien. Die meisten Versuche, „the woman<br />
behind the legend“ zu finden, sind nicht über eine Kehrichtsammlung von<br />
Fakten und Fakes hinausgekommen. Für die Bewunderer finden sich jene von<br />
Verdi geforderten „erfundenen Wahrheiten“, die man nach dem Motto aus dem<br />
Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ hinnimmt: „Print the legend.“<br />
Kann es wirklich noch etwas Neues geben über „die größte Künstlerin der<br />
Welt“? Dem Faszinosum der Sängerin, die Lanfranco Rasponi in seinen Gesprächen<br />
mit „The Last Prima Donnas“ als „The One and the Only“ führt – diesem<br />
mythisierten Wesen spürt Helge Klausener auf den 440 Seiten einer Akte nach,<br />
die sich an eine Maxime des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein hält: „Sagen,<br />
was ist.“ Es ist das Ergebnis einer gründlichen Recherche: eine minuziös protokollierte<br />
Sammlung von biographischen Daten, von Erinnerungen, von Dokumenten<br />
über ihre Ausbildung, über ihre ersten Aufführungen und Konzerte,<br />
über den Beginn ihrer Karriere, über den Aufstieg zur Primadonna, über den<br />
Seiltanz auf dem Hochseil des Ruhms, über den Absturz in die Berühmtheit.<br />
Diese Sammlung von Fakten wird kontrastiert oder auch konterkariert durch<br />
Berichte oder Kritiken, durch die sich ihr künstlerischer Weg erschließt. Es finden<br />
sich lange (und nicht geschönt zitierte) Passagen aus Kritiken nach wichtigen<br />
Premieren und Gastspielen, aus denen nicht zuletzt die Parameter abzulesen<br />
sind, nach denen sie beurteilt wurde. Hier wird offenbar, wie sich die Maßstäbe<br />
der Einschätzung im Verlauf der Jahre änderten. Weiter finden sich Auszüge<br />
aus den wichtigsten Essays und Würdigungen bedeutender Connaisseurs, aus<br />
Erinnerungen von Dirigenten und fellow artists, endlich aus der wirklich legendären<br />
„<strong>Callas</strong> Debate“ von Fedele D’Amico, Rodolfo Celletti, Eugenio Gara,<br />
7
Zum Geleit<br />
Luchino Visconti und Gianandrea Gavazzeni. Vieles davon mag wohlbekannt<br />
sein, aber es ist überraschend, oft verblüffend, wie sich aus Kontrasten der hier<br />
auch chronologisch geordneten Fakten die Konturen des Bildes, eines womöglich<br />
imaginären Bildes, ändern.<br />
Eine Feststellung, die in den Büchern über Maria <strong>Callas</strong> leitmotivisch wiederkehrt,<br />
sagt, dass sie zu den drei Sängerinnen und Sängern des 20. Jahrhunderts<br />
gehört, deren Kunst richtungweisend gewesen ist. Wie war das möglich bei<br />
einer Sängerin, die, von Puccinis Turandot abgesehen, nur Musik gesungen<br />
hat, die vor ihrer Geburt geschrieben worden war? Die beiden anderen, Enrico<br />
Caruso und sein Jahrgangsgenosse Fjodor Schaljapin, haben in einer Zeit des<br />
musikalischen Wandels gesungen und haben ihn befördert. Der Italiener hat, den<br />
Belcanto vollendend, der Musik seiner Epoche, der von veristischen Komponisten<br />
wie Leoncavallo, Mascagni und Puccini, Geltung und Wirkung verschafft;<br />
der Russe hat, insbesondere in der Titelpartie von Modest Mussorgskys Boris<br />
Godunow, dem Sänger-Darsteller zum Durchbruch verholfen. Beide gehörten<br />
zu den Pionieren der Schallplatte, und beide entsprachen einem spezifischen<br />
Gesetz des neuen Mediums: der Forderung, dem Chronos der Realzeit zu<br />
gehorchen. Hingegen hatte der alte Belcanto das tempo rubato erlaubt, das Stehlen<br />
der Zeit für Verzierungen und Dehnungen. Ende der vierziger Jahre des<br />
vorigen Jahrhunderts hatte sich auf den italienischen Bühnen weitgehend<br />
die maniera verista durchgesetzt. Und da das Formelwesen des Belcanto keine<br />
Geltung mehr hatte, gab es nur noch wenige Sängerinnen für den canto fiorito.<br />
Mit Maria <strong>Callas</strong> betrat eine Sängerin die Bühne, die den Weg in die Zukunft<br />
in der Vergangenheit fand – in der Rückkehr zur klassischen und romantischen<br />
italienischen Oper, aber durch die Verbindung einer Technik, mit der sie das gesamte<br />
Repertoire beherrschte, mit singulärer Darstellungskunst. Wir erfahren<br />
in Klauseners Protokoll, welche Irritationen ihr Singen auslöste, aber auch von<br />
der Faszination, die sie auf Musiker wie Leonard Bernstein (leidenschaftlich:<br />
„die größte Künstlerin der Welt“) ausübte wie auf einen Regisseur wie Luchino<br />
Visconti, der sie als „das disziplinierteste und professionellste Material, mit<br />
dem ich jemals arbeiten konnte“, bezeichnete – nur scheinbar kühl, aber voll<br />
heißer Bewunderung. All die Formen der Bewunderung finden sich im zweiten<br />
Teil. Er dokumentiert Zeitungs- und Magazin-Artikel, Rundfunksendungen,<br />
Erinnerungen von Kolleginnen und Kollegen, die in den mehr als vier Jahrzehnten<br />
nach dem Tod von Maria <strong>Callas</strong> entstanden sind. Eine eindringlichere<br />
Würdigung als diese labour of love zum 100. Geburtstag der „One and Only“<br />
kann es nicht geben.<br />
Jürgen Kesting<br />
Journalist, Musikkritiker und Autor<br />
der Monographie Maria <strong>Callas</strong> (1990)<br />
8
Vorwort<br />
VORWORT<br />
Ich tat es für sie allein, nicht für mich. Ich tat es, um <strong>Callas</strong> zu dienen,<br />
denn einer <strong>Callas</strong> muss man dienen.<br />
Luchino Visconti, 1955<br />
Ich bin nicht vom Fach. In meinem beruflichen Leben habe ich mit Gesang,<br />
Oper, Musik nichts zu tun gehabt. Ich bin 1950 in der Nähe von Düsseldorf<br />
geboren, habe dort Abitur gemacht und später Sprachen studiert; 1977 habe ich<br />
das Übersetzer-Diplom für Spanisch und Italienisch an der Universität Mainz<br />
erworben. Anschließend war ich zunächst als freier Übersetzer tätig. Von 1978<br />
bis 2015 war ich Mitarbeiter der Bundesanstalt – heute Bundesagentur – für<br />
Arbeit (BA) mit dem Schwerpunkt Beratung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber,<br />
überwiegend in Hessen. Aus den hier gewonnenen Erfahrungen resultierte<br />
2004 die Herausgabe des Buches Berufe für Philosophen bei der Wissenschaftlichen<br />
Buchgesellschaft in Darmstadt, das Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer<br />
zu Erfolg versprechenden Selbstvermarktungsstrategien ermutigen sollte.<br />
In den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit lag mein Aufgabenschwerpunkt<br />
in der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern der BA und in der Beratung<br />
des Vorstands der Regionaldirektion Hessen in der Zusammenarbeit mit der<br />
Landespolitik.<br />
Und jetzt, als Rentner, ein Buch über Maria <strong>Callas</strong>?<br />
Dass meine Eltern eine Vorliebe für Theater und Oper hatten, signalisiert<br />
schon mein Vorname. Meine Mutter bewunderte den dänischen Tenor Helge<br />
Rosvaenge, den sie in Berlin oft erlebt hatte. Für mich kam die erste direkte<br />
Berührung mit der Welt der Oper im Alter von 13 Jahren, als die Eltern, sie<br />
hatten ein Jahresabonnement für die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf,<br />
mich in die Operette Gasparone von Carl Millöcker mitnahmen, sicher ein dem<br />
Alter angemessener Einstieg. Darauf folgte sehr bald Verdis Otello, damals noch<br />
deutsch gesungen – Hans Kaart in der Titelrolle hat mich sehr beeindruckt.<br />
Mein acht Jahre älterer Bruder spielte mir – er sah, dass ich auf die Musik ansprach<br />
– regelmäßig seine – wenigen – Schallplatten vor; ich erinnere mich an<br />
eine 25cm-Langspielplatte mit acht Tenören, die jeweils eine Arie sangen. So<br />
kam ich erstmals mit Namen wie Enrico Caruso, Beniamino Gigli, Richard<br />
Tucker, Jussi Bjoerling und anderen in Berührung, und noch im selben Jahr<br />
kaufte ich mir meine erste Opern-Gesamtaufnahme: Turandot von Giacomo<br />
Puccini mit Birgit Nilsson, Jussi Bjoerling und Renata Tebaldi. Die drei Schallplatten<br />
kosteten beim alteingesessenen und in Düsseldorf führenden Musikgeschäft<br />
Radio Sülz in der Altstadt 63 Mark, was für mich als Schüler damals viele<br />
Monate des Sparens bedeutete. Die zweite Opern-Schallplatte, die ich erwarb,<br />
9
Vorwort<br />
war dann eine Aufnahme von Verdis Aida mit Mario Del Monaco und wiederum<br />
Renata Tebaldi. Und ich bemerkte begeistert, dass der Dirigent dieser<br />
Einspielung, Alberto Erede, in der Düsseldorfer Oper leibhaftig zu erleben war.<br />
Ich hatte Blut geleckt, und so stand ich dann an den Sonntagen um 8 Uhr vor<br />
der Kasse der Düsseldorfer Oper in der Schlange, um bei Kassenöffnung um 10<br />
Uhr zu denen zu gehören, die die billigsten Karten im dritten Rang zu 2,30<br />
Mark ergattern konnten. Ein- bis zweimal die Woche hörte und sah ich alles,<br />
was das Opernhaus anbot.<br />
Im Folgejahr passierte dann etwas Entscheidendes. Ich hörte – und kaufte –<br />
die Aufnahme der Donizetti-Oper Lucia di Lammermoor mit Maria <strong>Callas</strong>. Ihre<br />
Stimme jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken – das hat<br />
sich bis heute nicht geändert. Ich hörte die Aufnahme fast täglich, und bei einer<br />
Fahrradtour mit den Eltern die Mosel entlang hatte ich einen kleinen Kassettenrecorder<br />
dabei, auf dem ich mir die Oper am Abend nochmal anhören konnte.<br />
Die Stimme von Maria <strong>Callas</strong> begeisterte mich so sehr, dass ich beschloss, alle<br />
Aufnahmen von ihr anzuhören, derer ich habhaft werden konnte. Es traf sich<br />
gut, dass bei Radio Sülz mehrere schallgeschützte Kabinen zur Verfügung standen,<br />
in denen ich Stunden verbrachte, um mir Maria <strong>Callas</strong> anzuhören – dank<br />
der Nachsichtigkeit der Verkäuferinnen, die den jungen Fan gewähren ließen.<br />
Ja, eine von ihnen – sie war eine glühende Mozart-Verehrerin, ungemein sachkundig<br />
und einfühlsam, ich verließ mich fast blind auf ihre Ratschläge – gab<br />
mir manchmal, wenn es bei Sülz zu voll war und man „meine“ Kabine benötigte,<br />
die Platten leihweise mit nach Hause, am nächsten Tag musste ich sie dann<br />
schweren Herzens wieder zurückbringen. Heute wäre das sicher unvorstellbar,<br />
aber so bindet man Kunden.<br />
Es war die Zeit, in der der gute alte deutsche Schlager von der aufkommenden<br />
Welle wilder Musik aus England weggefegt wurde, Beatles und Rolling Stones<br />
atomisierten die bisherigen Grenzen der Unterhaltungsmusik. Als „Opernliebhaber“<br />
wurde ich in meiner Klasse einerseits als ewig Gestriger ein wenig<br />
belächelt, andererseits hatten meine Klassenkameraden wohl das Gefühl, dass<br />
etwas dran sein musste, wenn einer mit solcher Beharrlichkeit unbeirrt an<br />
seinem Freizeitvergnügen festhielt. Durch meine Begeisterung kamen einige<br />
Zweifler auf den Geschmack, und ich habe den einen oder anderen für die Oper,<br />
vielleicht auch für die Klassische Musik überhaupt, gewinnen können. Da ich<br />
aber in der Klasse der einzige war, der regelmäßig ins Theater ging, neben der<br />
Oper auch in das damals hochgelobte Düsseldorfer Schauspielhaus, und der die<br />
altgriechischen und lateinischen Gedichte, die wir lernen mussten, mit ihren<br />
wechselnden Versmaßen mit traumwandlerischer Sicherheit rezitieren konnte<br />
– Oper ist dafür eine unschätzbare Schulung –, ergab es sich ganz von selbst,<br />
dass ich für die im Abiturvorjahr geplante Schüleraufführung von Molières Die<br />
Schelmenstreiche des Scapin als Regisseur auserkoren wurde. So lernte ich langsam<br />
die Rahmenbedingungen und Usancen des Theaterbetriebs kennen.<br />
10
Vorwort<br />
Im Studium konnte ich diese Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern. Ein sehr<br />
engagierter Professor im Fachbereich Hispanistik ließ in einem Gruppenseminar<br />
Stücke moderner spanischer Autoren übersetzen, die dann in Studentenaufführungen<br />
auf die Bühne gebracht wurden; mir fielen dabei einige Rollen und,<br />
ebenso wichtig, die Verantwortung für Bühnenausstattung und Technik zu. Ich<br />
bekam ein Gefühl dafür, welchem Stress Darsteller wie alle anderen Beteiligten<br />
an einer Bühne ausgesetzt sind. Im Studium lernte ich auch meine Frau kennen,<br />
noch im Examensjahr 1977 haben wir geheiratet. Dass ihre Sprachkombination<br />
Englisch-Französisch uns gemeinsam in fast ganz Europa sprachfähig machen<br />
würde, war mir damals schon bewusst. Dass aber ihre Sprachkompetenz Jahre<br />
später eine Rückversicherung für meine Übersetzungen der von mir gesammelten<br />
französisch- und englischsprachigen <strong>Callas</strong>-Literatur würde, konnte ich<br />
damals nicht ahnen. Das Jahr 1977 war im Übrigen für alle <strong>Callas</strong>-Verehrer ein<br />
sehr trauriges. Uns erreichte die Nachricht von ihrem Tod im Urlaub in Griechenland,<br />
wir saßen in einem urigen Lokal am Strand, ich holte neuen Wein<br />
an der Theke, als dort Bilder über den Fernseher liefen, die mich erschütterten:<br />
Maria <strong>Callas</strong> war gestorben, „kaputt“ sagte der Wirt.<br />
Wir reisten viel, die vier Wochen Urlaub, die damals üblich waren, verbrachten<br />
wir nie zuhause. Wir waren viel in Städten unterwegs, London, Paris, Rom,<br />
Venedig, und wo immer wir waren, nutzte ich die Gelegenheit und durchstöberte<br />
die Schallplattenläden, Buchgeschäfte, Flohmärkte und Antiquariate, um<br />
Platten von oder Literatur über Maria <strong>Callas</strong> zu ergattern. Je mehr Material zusammenkam,<br />
desto mehr ärgerte mich, dass in vielen Publikationen über Maria<br />
<strong>Callas</strong> die Künstlerin eher am Rande vorkam, die Jet-Set-Figur aber umso mehr<br />
und nicht immer bewundert im Fokus stand. Ich fand diese Schieflage unangemessen<br />
und ungerecht, und so entwickelte ich sehr früh die anfangs noch vage<br />
Vorstellung, eines Tages ein Buch über Maria <strong>Callas</strong> zu schreiben, in dem ihre<br />
Kunst, ihr Einfluss auf die Oper und ihre herausragende Stellung in der Musikgeschichte<br />
nicht durch den manchmal wahren, oft aber schamlos reißerischen<br />
Klatsch über ihre private Lebensführung übertüncht, ja verunglimpft wird.<br />
Mir war klar, dass ein solches Projekt kaum parallel zu meiner beruflichen Tätigkeit<br />
umzusetzen war, und dass es vor allem weiterer umfangreicher Recherchen<br />
bedurfte. So sammelte ich zur Vorbereitung hinfort alle Informationen,<br />
die ich bekommen konnte, durchforstete Zeitungen und Musikzeitschriften,<br />
schnitt Sendungen über Maria <strong>Callas</strong> in Rundfunk und Fernsehen mit, tauschte<br />
Material mit anderen Sammlern. Lange hatte ich keinen konkreten Plan, wie<br />
ein solches Buch gestaltet und strukturiert, geschweige denn am Markt platziert<br />
werden könnte. Schließlich, bei der Sichtung der in meinem Archiv vorhandenen<br />
<strong>Callas</strong>-Portraits, tauchte eine Sendereihe von Bernd Loebe auf, damals<br />
Musikredakteur im Hessischen Rundfunk, heute und seit über 20 Jahren erfolgreicher<br />
und vielfach ausgezeichneter Chef des Frankfurter Opernhauses. Er<br />
brachte 1987/88 eine 15-teilige Dokumentation über Maria <strong>Callas</strong>, beginnend<br />
11
Vorwort<br />
mit ihren Anfängen und dann pro Sendung ein Jahr ihrer Karriere beschreibend.<br />
Das schien mir die Lösung, eine vergleichbare Struktur wollte ich meinem<br />
Buch auch geben. Den Grundstock sollte eine Chronik ihrer Lebensdaten mit<br />
all ihren Aufführungen und Schallplatteneinspielungen in bislang nicht vorliegender<br />
Ausführlichkeit und Präzision liefern; ihre Kolleginnen und Kollegen,<br />
ihre Kritiker, ihre Freunde und Gegner sollten zu Wort kommen. So, stellte<br />
ich mir vor, würde aus den Zeugnissen ihrer Zeit ein realitätsnahes und für<br />
heutige Leser authentisches Bild der Künstlerin Maria <strong>Callas</strong> entstehen. Dabei<br />
wird angesichts der Vielfalt der angeführten Quellen schnell deutlich werden,<br />
dass es das <strong>Callas</strong>-Bild nicht geben kann: Dazu sind die Meinungen über sie zu<br />
unterschiedlich, die Kritiken zu gegensätzlich, dazu ist ihr eigenes Selbstbild<br />
zu widersprüchlich. So kann dieses Buch Orientierungshilfe sein für den Leser,<br />
der tiefer einsteigen möchte, einen Überblick über die internationale Rezeption<br />
von Maria <strong>Callas</strong> geben, und es kann, unterfüttert mit gesicherten Daten und<br />
Fakten, auf meine persönliche Wertung als „Autor“ verzichten.<br />
Dieses Buch liegt nun vor ihnen.<br />
Helge Klausener, im Februar 2023<br />
12
1923–1937 Kindheit und Jugend in New York<br />
1923–1937 KINDHEIT UND JUGEND<br />
IN NEW YORK<br />
3.12.1923<br />
New York, Flower Hospital<br />
Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou, griechisch Μαρία Καλογεροπούλου,<br />
kommt im Flower Hospital zur Welt.<br />
• Als Geburtsdatum steht in ihrem Pass der 2.12.1923, ihre Mutter beharrte<br />
auf dem 4.12.1923. 1<br />
• Der <strong>Callas</strong>-Biograf Friedrich Herzfeld weist darauf hin, dass nur ein Geburtsdatum<br />
3.12.1923 ihrem Horoskop entspräche: „Nur wenn sie nämlich<br />
am 3. Dezember geboren ist, ergibt sich eine Mars-Saturn-Konjunktion im<br />
zwölften Haus und Ende Waage, die für unberechenbare und selbstherrliche<br />
Laune sorgt. Weil nun ein von Pluto und Uranus geschlossenes Dreieck<br />
den aufsteigenden Skorpion umschließt, ist sie die Primadonna assoluta, die<br />
erste Sängerin der Welt, geworden.“ 2<br />
• Der Vater, Georgios Kalogeropoulos, geboren 1886 in Meligala auf dem<br />
Peloponnes, hatte an der Athener Universität Pharmazie studiert und dort<br />
seine Ehefrau Evangelia Dimitriadis, geboren 1898, kennengelernt. Die<br />
beiden heirateten 1916; 1917 wurde die erste Tochter Yacinthy (Jackie) geboren,<br />
1920 der Sohn Vasily, der aber bereits 1923 an Typhus starb. Nach<br />
Vasilys Tod wanderte die Familie in die Vereinigten Staaten aus, wo Georgios<br />
mit seinen Ersparnissen ein kleines Haus auf Long Island kaufte; er<br />
fand dort eine Anstellung in einer Apotheke. Wenig später wurde Maria<br />
geboren. 1929 ließ Georgios Kalogeropoulos seinen Namen aus praktischen<br />
Erwägungen in <strong>Callas</strong> ändern.<br />
• 1929 konnte George <strong>Callas</strong> einen eigenen Drugstore eröffnen. In der Wirtschaftskrise<br />
war der Laden nach einem Jahr pleite. 3<br />
26.2.1926<br />
New York, Manhattan<br />
• Die Taufe findet – etwas verspätet – in der griechisch-orthodoxen Kathedrale<br />
zur Heiligen Dreifaltigkeit durch den Priester Methodios Kourkoulis<br />
statt. Der in das offizielle Geburtsregister der Stadt New York eingetragene<br />
Geburtsname war Sophie Cecelia Kalos. Erst bei der Taufe setzte die Mutter<br />
Evangelia vor den Geburtsnamen noch Maria Anna, die Basis für die später<br />
verwendeten Vornamen Mariann, Mary und Maria. 4<br />
13
1923–1937 Kindheit und Jugend in New York<br />
Juli 1928<br />
New York<br />
• Maria wird auf der Straße von einem Auto angefahren und einige Meter<br />
mitgeschleift. Die Vierjährige hatte sich von der Mutter losgerissen, weil<br />
sie auf der anderen Straßenseite ihre Schwester gesehen hatte. Im Saint<br />
Elizabeth’s Hospital wurde sie gesund gepflegt – gesundheitliche Folgen<br />
hatte der Unfall offensichtlich nicht. 5<br />
Sommer 1929<br />
Florida<br />
• Maria und Yacinthy verbringen den Sommer bei einer Cousine ihrer Mutter,<br />
Hariklia Kritikou, in Tarpon Springs. Es war die erste große Reise von<br />
Maria. 6<br />
1931<br />
New York<br />
• Maria beginnt, Klavierunterricht zu nehmen. Ihre Lehrerin ist eine Italienerin,<br />
Sandrina. 7<br />
• Später wird Maria <strong>Callas</strong> in der Lage sein, ihre Rollen am Klavier ohne<br />
Hilfe eines Korrepetitors einzustudieren. 8<br />
1934<br />
New York<br />
• Maria nimmt an einer Radiosendung teil, rezitiert ein Gedicht und singt „La<br />
Paloma“. Als Preis erhält sie vom Moderator Jack Benny eine Boulowa-Uhr. 9<br />
7.4.1935<br />
New York<br />
Radiosendung Major Bowes Amateur Hour Broadcast<br />
Giacomo Puccini, Madama Butterfly: „Un bel dì vedremo“ (gekürzt)<br />
Nina Foresti alias Maria <strong>Callas</strong><br />
Audio<br />
• Ob es sich bei „Nina Foresti“ tatsächlich um Maria <strong>Callas</strong> handelt, die immer<br />
abgestritten hat, jemals unter anderem Namen aufgetreten zu sein, ist<br />
umstritten. Ihre Mutter soll den Auftritt ohne Wissen des Vaters arrangiert<br />
haben, da der angeblich nichts von ihrer angestrebten Gesangskarriere hielt.<br />
Ihre Biografin Nadia Stancioff behauptete später, <strong>Callas</strong> habe ihr gegenüber<br />
zugegeben, dass sie in der Sendung aufgetreten sei; John Ardoin wies darauf<br />
hin, dass zwar die Sprechstimme in der kurzen Gesprächssequenz vor der<br />
14
1923–1937 Kindheit und Jugend in New York<br />
Arie der von <strong>Callas</strong> ähnelte, aus dem sehr dünnen gesanglichen Beitrag aber<br />
kaum geschlossen werden könne, dass es sich um <strong>Callas</strong> gehandelt habe.<br />
• Stancioff berichtete auch von einem Gespräch, dass sie mit Maria <strong>Callas</strong>’<br />
Schwester geführt habe; Jackie habe heftig widersprochen, dass Marias Vater<br />
gegen ihre Gesangsübungen und gegen Auftritte in der Öffentlichkeit gewesen<br />
sei. Stancioff datiert die Major-Bowes-Sendung auf den 28.3.1935. 10<br />
• Die Aufnahme tauchte zunächst in den 60er Jahren auf zwei Piratenpressungen<br />
auf; man vermutete, dass es sich um <strong>Callas</strong> handeln könnte. EMI<br />
übernahm dann 1997 die Aufnahme in das offizielle Programm (Maria <strong>Callas</strong><br />
Live in Concert) und trug so dazu bei, die Vermutung zu zementieren.<br />
Gewissheit gibt es darüber allerdings bis heute nicht.<br />
• Auch Norman Ross zweifelte an, dass es sich um eine Aufnahme von Maria<br />
<strong>Callas</strong> handelt: „Im November 1966 wurde eine Schallplatte mit einer Aufnahme<br />
aus der Major Bowes Stunde der Amateure vom 7. April 1935 veröffentlicht.<br />
Darauf ist ein kurzes Interview von Bowes mit einer Sopranistin, die<br />
sich Nina Foresti nennt. Sie singt dann eine gekürzte Fassung von ‚Un bel<br />
dì‘. Es wird behauptet, dass dies <strong>Callas</strong> sei. Aber wir stimmen Ardoin zu,<br />
der in seinem Buch The <strong>Callas</strong> Legacy auf Seite 2 darlegt, dass Forestis ‚Singstimme<br />
schwach ist und keine Ähnlichkeit mit irgendeiner Aufnahme von<br />
<strong>Callas</strong> hat‘. Eine Stimme ist so einmalig wie ein Fingerabdruck, sie mag sich<br />
entwickeln, aber sie verändert ihren Grundcharakter genauso wenig wie ein<br />
Leopard seine Punkte auf dem Fell.“ 11<br />
• Robert Evans, einer der für das Londoner Magazin Opera schreibenden Kritiker,<br />
behauptete, es sei nicht <strong>Callas</strong>. Er habe Maria <strong>Callas</strong> 1962 in London interviewt,<br />
und sie habe diese Aufnahme nicht erwähnt. Er vermutet, dass diese<br />
Aufnahme eher von einer 23-jährigen als einer 12-jährigen Sängerin stammt. 12<br />
1935<br />
New York<br />
• Angeblich fand sich nach dem Tod von Maria <strong>Callas</strong> in ihrer Wohnung ein<br />
weiteres Tondokument aus diesem Jahr, „O mio babbino caro“ aus Puccinis<br />
Oper Gianni Schicchi. Vasso Devetzi und Bruno Tosi hielten dieses Dokument<br />
für echt, Jackie <strong>Callas</strong> bestritt dies. 13<br />
28.1.1937<br />
New York<br />
• Maria <strong>Callas</strong> schließt die Grundschule mit guten Noten ab. Bei der Abschlussfeier<br />
trägt sie Stücke aus Gilbert & Sullivans HMS Pinafore vor und<br />
erhält großen Applaus. 14<br />
• Im Januar und Februar findet sie für einige Wochen eine Anstellung in einer<br />
Musikalienhandlung. Der Besitzer des Ladens mokiert sich über ihre Ambi-<br />
15
1923–1937 Kindheit und Jugend in New York<br />
tionen, eine große Sängerin zu werden, was sie aber nicht stört. Sie genießt<br />
es sehr, zum ersten Mal in ihrem Leben Opernlibretti lesen zu können, zu<br />
denen sie jetzt Zugang hat. 15<br />
15.2.1937<br />
New York<br />
• Das Staatsministerium stellt ihr einen amerikanischen Pass aus, er lautet<br />
auf Sophia Cecelia Kalos, entsprechend ihrer Geburtsurkunde, wohnhaft<br />
18. Straße, Nr. 520, Schülerin, Größe 1,70 m, braune Augen und Haare. 16<br />
20.2.1937<br />
New York<br />
• Evangelia <strong>Callas</strong> verlässt mit ihrer Tochter Maria auf der Saturnia den Hafen<br />
von New York. Maria kann während der Überfahrt die Gäste der ersten<br />
Klasse gelegentlich mit Gesangsauftritten unterhalten. 17<br />
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