RhPfalz_Mai_2023
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Reportage Zeitung <strong>Mai</strong> <strong>2023</strong> 3<br />
Mit der Sonnenblume die Augen öffnen<br />
Am Flughafen Berlin-Brandenburg können Menschen mit einer Blume auf ihre nicht sichtbare Behinderung hinweisen<br />
Der Flughafen Berlin-Brandenburg<br />
(BER) hilft Gehörlosen sowie Menschen<br />
mit einer Demenz oder einem<br />
Schlaganfall seit kurzem dabei,<br />
besser auf sich aufmerksam machen.<br />
Menschen mit nicht sichtbaren<br />
Behinderungen können freiwillig<br />
ein Sonnenblumen-Umhängeband<br />
tragen, das anderen<br />
Fluggästen und dem BER-Personal<br />
signalisiert: Ich könnte in Stresssituationen<br />
etwas mehr Zeit oder<br />
Hilfe benötigen.<br />
Am BER herrscht zu Ferienbeginn<br />
großes Gewimmel: Familien<br />
hasten mit schwerem Gepäck zum<br />
Check-In, an der Sicherheitskontrolle<br />
bilden sich lange Schlangen,<br />
und Durchsagen erschallen gleichzeitig<br />
aus mehreren Lautsprechern.<br />
Für Janine Malik ist so eine Situation<br />
der blanke Horror. Wenn<br />
es der reisefreudigen 41-Jährigen<br />
zu stressig wird, bekommt sie Panik.<br />
Sie kann sich im Extremfall<br />
nicht mehr mitteilen. „Ich mache<br />
dann dicht“, sagt die Berlinerin.<br />
Hilfe in der Hektik<br />
Zwei Tage nach Ostern kommt<br />
sie ganz entspannt zum Info-Schalter<br />
in Terminal 1 zum Interview<br />
mit der VdK-ZEITUNG. Die Reisewelle<br />
ist abgeebbt, der Flughafen<br />
Die Sonnenblume ist das Symbol<br />
für nicht sichtbare Behinderungen.<br />
Janine Malik (re.) erhält von Sandra Zillmer das Sonnenblumen-Band. <br />
wirkt verschlafen. Janine Malik<br />
hat das, was man eine nicht sichtbare<br />
Behinderung nennt. Sie sieht<br />
kerngesund aus. Doch wegen einer<br />
Multiplen Sklerose ist sie gehbehindert<br />
und kann nicht lange stehen.<br />
Sie muss wegen einer Blasenfunktionsschwäche<br />
häufiger zur<br />
Toilette. Unvorhergesehene Situationen<br />
sind ihr deshalb ein Gräuel.<br />
Wenn es hektisch wird, braucht sie<br />
Hilfe, erzählt sie.<br />
Bisher hat sie sich vor Reisen<br />
beim Mobility Service, der Mobilitätshilfe<br />
des Flughafens, angemeldet.<br />
Das war umständlich, manchmal<br />
auch unangenehm. „Die Mitarbeiter<br />
wussten nicht, wie sie mit<br />
mir umgehen sollen, weil meine<br />
Behinderung nicht sichtbar ist. Ich<br />
musste mich sogar schon dafür<br />
rechtfertigen, dass ich Hilfe brauche“,<br />
erzählt Malik. Situationen<br />
wie diese sollen am BER der Vergangenheit<br />
angehören.<br />
Der Flughafen hat als erster<br />
deutscher Airport das Sonnenblumen-Umhängeband<br />
eingeführt.<br />
Mit dem Tragen des Bandes signalisieren<br />
Fluggäste, dass sie eine<br />
nicht sichtbare Beeinträchtigung<br />
haben und nach Bedarf Unterstützung,<br />
etwas mehr Zeit oder ein<br />
wenig Geduld oder Orientierungshilfe<br />
während ihres Aufenthalts<br />
am BER benötigen. Die Sonnenblume<br />
ist ein internationales Symbol<br />
für nicht sichtbare Beeinträchtigungen.<br />
Sie wird mittlerweile an<br />
192 Flughäfen weltweit anerkannt.<br />
Gute Nachfrage<br />
Seit der Einführung im Februar<br />
<strong>2023</strong> hat der BER schon mehr als<br />
500 Bänder auf Nachfrage ausgegeben,<br />
berichtet Sandra Zillmer,<br />
die am BER für das Sonnenblumen-Projekt<br />
verantwortlich ist.<br />
22 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
werden nach und nach<br />
geschult. „Sie sollen auf die besonderen<br />
Bedürfnisse der Menschen,<br />
die dieses Band tragen, eingehen<br />
Fotos: VdK/Jörg Ciszewski<br />
können. Dazu gehört, dass sie geduldig<br />
und respektvoll mit den<br />
Fluggästen umgehen, um herauszufinden,<br />
wo im Ernstfall das<br />
Problem liegt. So können sie entscheiden,<br />
welche Hilfe in der jeweiligen<br />
Situation angemessen ist“,<br />
erklärt Zillmer.<br />
Janine Malik hat erlebt, wie das<br />
Reisen mit der Sonnenblume sein<br />
kann, als sie im vergangenen November<br />
in London war. Sie berichtete<br />
einem Mitarbeiter von ihrer<br />
Beeinträchtigung. Der habe dafür<br />
gesorgt, dass sie weder bei der Sicherheitskontrolle<br />
noch beim<br />
Boarding warten musste. London<br />
ist Vorreiter bei dem Sonnenblumen-Projekt,<br />
der Flughafen Gatwick<br />
war der erste, der 2016 das<br />
Sonnenblumen-Band etablierte.<br />
Mit der Einführung in Deutschland<br />
verbindet auch Mirjam Müller<br />
große Erwartungen. Die 44-Jährige<br />
aus Hessen war bis vor zehn<br />
Jahren Flugbegleiterin und erlitt<br />
dann einen schweren Schlaganfall.<br />
Ihre linke Körperhälfte war zunächst<br />
gelähmt, und sie konnte<br />
nicht mehr sprechen. Heute hat das<br />
VdK-Mitglied in Stresssituationen<br />
manchmal noch Wortfindungsstörungen<br />
– am Flughafen zum Beispiel,<br />
wenn Müller sich ärgert, weil<br />
beispielsweise in der Sicherheitsschleuse<br />
gedrückt und gedrängelt<br />
wird oder sie bei der Passkontrolle<br />
aufgeregt ist. „Es kann sein, dass ich<br />
in diesen Momenten auf Ansprache<br />
nicht sofort reagieren kann. Dann<br />
ist das Tragen des Sonnenblumenbands<br />
Gold wert, weil das Personal<br />
entsprechend handeln und das Verhalten<br />
besser einschätzen kann.“<br />
Aus ihrer Zeit als Flugbegleiterin<br />
weiß sie, dass es manchmal für das<br />
Personal schwierig zu erkennen ist,<br />
ob jemand etwa wegen einer<br />
Schwerhörigkeit einer Bitte nicht<br />
nachkommt oder weil zum Beispiel<br />
Alkohol im Spiel ist.<br />
Vor Ort, ohne Nachweis<br />
Jeder kann das Sonnenblumen-Band<br />
ohne Voranmeldung<br />
oder einen Nachweis über eine<br />
Behinderung direkt am Flughafen<br />
erhalten, betont Sandra Zillmer.<br />
„Ob jemand eine chronische<br />
Krankheit, eine kognitive Einschränkung<br />
oder eine Angststörung<br />
hat, spielt keine Rolle. Wer<br />
sich mit dem Sonnenblumen-Band<br />
auf dem Flughafengelände sicherer<br />
fühlt, soll es nutzen können.“<br />
Info<br />
Das Sonnenblumen-Band ist im<br />
Flughafen BER an den Fluggastinformationen<br />
in den Terminals 1<br />
und 2 sowie beim Mobility Service<br />
erhältlich. Fluggäste und<br />
Interessierte können dort nach<br />
dem Band fragen. Es ist kostenfrei.<br />
Für den Erhalt ist kein Nachweis<br />
erforderlich.<br />
„Es vergeht kaum ein Tag ohne Diskriminierung“<br />
Bloggerin Sabrina Lorenz kämpft für die Bedürfnisse von Menschen mit chronischen Erkrankungen<br />
Sabrina Lorenz hat eine unheilbare<br />
chronische Herzerkrankung, die<br />
angeboren ist und sich auf den<br />
gesamten Körper auswirkt. Man<br />
sieht der 24-Jährigen nicht an,<br />
dass sie durch die Krankheit beeinträchtigt<br />
ist und ständig<br />
Schmerzen hat. Das führt im Alltag<br />
zu Irritationen.<br />
An guten Tagen verlässt Sabrina<br />
Lorenz ohne Rollstuhl und mobiles<br />
Sauerstoffgerät das Haus. Ihren<br />
Mitmenschen bleibt dann verborgen,<br />
dass sie eine Behinderung hat<br />
und nicht lange stehen oder laufen<br />
kann. Daraus entstehen im Alltag<br />
oft unangenehme Situationen. „Ich<br />
werde manchmal ungefragt belehrt,<br />
oder mein Verhalten wird<br />
kommentiert, weil die Menschen<br />
denken, dass ich nicht behindert<br />
bin“, erzählt die Studentin, die mit<br />
ihrem Blog bei Instagram (fragments_of_living)<br />
rund 22 000 Follower<br />
erreicht. Sie berichtet dort<br />
von ihrem Alltag und ihren Erfahrungen<br />
als Inklusionsaktivistin.<br />
Die Bloggerin spricht für viele.<br />
Jeden Tag erhalte sie von Followern<br />
hundert Zuschriften und<br />
mehr, vielfach von jungen Menschen,<br />
die sich in einer vergleichbaren<br />
Situation befinden wie sie.<br />
„Es vergeht eigentlich kaum ein<br />
Tag ohne eine Diskriminierung“,<br />
sagt Lorenz. Sie wurde im Bus<br />
schon von Älteren aufgefordert,<br />
vom Sitzplatz für Menschen mit<br />
Behinderung aufzustehen. Sie sei<br />
doch eine „junge gesunde Frau“,<br />
heißt es dann. Ähnliches erlebte<br />
sie, wenn sie ihr Auto auf einem<br />
Behindertenparkplatz abstellt.<br />
In Bewerbungsgesprächen kam<br />
es zu Irritationen. Sie wurde automatisch<br />
als 40-Stunden-Kraft angesehen.<br />
Als sie von ihrer Behinderung<br />
berichtete, hieß es: „Dann<br />
brauchen wir Sie nicht.“<br />
Starre Diagnosen<br />
Sehr aufwendig sind die Auseinandersetzungen<br />
mit der Krankenkasse.<br />
Die chronische Erkrankung<br />
führe dazu, dass sich ihre Symptome<br />
ständig verändern und dadurch<br />
auch die Behandlung angepasst<br />
werden muss. „Der Bedarf an<br />
Sabrina Lorenz<br />
Foto: privat<br />
Hilfsmitteln wird über die Diagnostik<br />
ermittelt. Doch die starre<br />
Diagnose sagt oft nichts darüber<br />
aus, was ich wirklich benötige.“<br />
Auf den Ämtern versteht das Personal<br />
oft nicht, dass die Behandlung<br />
nicht darauf abzielen kann,<br />
sie zu heilen, sondern lediglich<br />
darauf, ihren aktuellen Gesundheitszustand<br />
aufrechtzuerhalten.<br />
Sie habe häufig den Eindruck, dass<br />
ihr letztlich abgesprochen wird,<br />
ihre Bedürfnisse selbst am besten<br />
zu kennen. Das sei frustrierend<br />
und koste sie viel Kraft.<br />
Lorenz kämpft dafür, ein größeres<br />
Bewusstsein für die Vielfalt an<br />
nicht sichtbaren Behinderungen<br />
und chronischen Krankheiten zu<br />
schaffen, damit die Bedürfnisse der<br />
Betroffenen besser nachvollziehbar<br />
werden. „Es sollte klar sein: Wir<br />
wollen nicht mehr haben als andere<br />
oder jemandem etwas wegnehmen.<br />
Es geht um Nachteilsausgleiche,<br />
um am gesellschaftlichen Leben<br />
teilhaben zu können.“<br />
Ein Projekt, das ihre ganze Aufmerksamkeit<br />
in Anspruch nimmt,<br />
ist das „Kämpferherzen-Treffen“.<br />
Eine Großveranstaltung mit bis zu<br />
800 Mitgliedern, die am 22. Juli in<br />
der Stadthalle Kassel organisiert<br />
wird. Sie richtet sich an Menschen<br />
mit chronischen Krankheiten oder<br />
Behinderungen und bietet Vorträge,<br />
Workshops und Ausstellungen<br />
an. Unter den Ausstellern ist auch<br />
der VdK Hessen-Thüringen. Interessierte<br />
können sich auf der Webseite<br />
informieren. Jörg Ciszewski<br />
www.kaempferherzen.de<br />
Protesttag für mehr<br />
Barrierefreiheit<br />
Der Europäische Protesttag zur<br />
Gleichstellung von Menschen mit<br />
Behinderung am 5. <strong>Mai</strong> steht unter<br />
dem Motto „Zukunft barrierefrei<br />
gestalten“. Der VdK ruft zur Teilnahme<br />
an der zentralen Demonstration<br />
in Berlin auf.<br />
Auch 15 Jahre nach Inkrafttreten<br />
der UN-Behindertenrechtskonvention<br />
und vieler nationaler<br />
Gesetze sind Menschen mit Behinderung<br />
von Teilen des gesellschaftlichen<br />
Lebens noch immer ausgeschlossen.<br />
VdK-Präsidentin Verena<br />
Bentele ermutigt zum Protest gegen<br />
die bestehenden Hindernisse:<br />
„Ohne Barrierefreiheit gibt es<br />
keine Teilhabe. Es lohnt sich, für<br />
ein Leben ohne Barrieren zu demonstrieren.“<br />
Der VdK ruft dazu<br />
auf, sich am 5. <strong>Mai</strong> um 14 Uhr dem<br />
Demonstrationszug vom Brandenburger<br />
Tor zum Roten Rathaus<br />
anzuschließen. Um 14.45 Uhr ist<br />
eine Kundgebung am Roten Rathaus<br />
geplant. Weitere Informationen<br />
finden Sie auf der Webseite der<br />
„Aktion Mensch“. <br />
cis<br />
www.aktion-mensch.de/was<br />
du-tun-kannst/protesttag-5-mai