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TRAVEL<br />
Wecker schellen, Kaffeetassen klimpern,<br />
elektrische Zahnbürsten surren<br />
und Motorengeräusche erklingen – im<br />
Engadin beginnt ein neuer Tag. Nur<br />
einer bekommt davon wenig mit.<br />
Daniel Blättler ist vor zwei Stunden von Maloja bergwärts<br />
losmarschiert. Wenige Minuten vor Ankunft<br />
an seinem Ziel, dem Lägh dal Lunghin, präsentiert<br />
sich ihm ein Bild, das bereits Lohn genug für die<br />
morgendliche Aktivität wäre. Mystisch ziehen<br />
Nebelschwaden über die weit unten liegende Seenplatte,<br />
erste Sonnenstrahlen berühren die hochaufragenden<br />
Berge, und neben Blättler wedelt Hündin<br />
Nelly glücklich mit ihrem Schwanz. Vor allem aber<br />
herrscht hier oben eine wohltuende Stille.<br />
Der frühe Morgen ist Daniel Blättlers bevorzugte<br />
Zeit, seine Rute einzupacken und angeln zu gehen.<br />
Er geniesse die Ruhe, sagt er, und: «Je länger, je mehr<br />
ist mir die Welt zu laut.» Er sei gerne unter Menschen,<br />
gleichzeitig brauche er diese Alltagsfluchten.<br />
Dafür bieten sich dem Engadiner in seiner Heimat<br />
unzählige Plätze. «Es ist meine Art, die Hektik und<br />
den Alltag für kurze Zeit hinter mir zu lassen.» In<br />
diesem Moment taucht der Lägh dal Lunghin auf,<br />
eine glatte Fläche, in der sich die karge Gebirgslandschaft<br />
spiegelt. Die Welt hier oben ist nicht nur<br />
akustisch still. Doch still heisst nicht geräuschlos.<br />
Wer in die Ruhe eintaucht, dessen Sinne schärfen<br />
sich. Leise säuselt der noch sanfte Morgenwind<br />
durch die Gehörgänge, ein Rauschen des Wassers<br />
vom Seeabfluss ist zu vernehmen, und dann ertönt<br />
ein leises, rhythmisches Schwingen in der Luft. Sein<br />
Ursprung ist eine 27 Meter lange Angelschnur, die<br />
Daniel Blättler schwungvoll über dem See tanzen<br />
lässt. Spätestens seit 1992 der Film «Aus der Mitte<br />
entspringt ein Fluss» mit Brad Pitt als Paul Maclean<br />
über die Kinoleinwände flimmerte, kennt man das<br />
idyllische Bild des Fliegenfischers.<br />
FISCHE MÜSSEN ÜBERLISTET WERDEN<br />
Doch weshalb schwingt man beim Fliegenfischen<br />
eigentlich eine Schnur übers Wasser? Blättler klärt<br />
auf. Beim Fliegenfischen imitiere man Insekten, die<br />
Nahrung der Fische. Beispielsweise Trockenfliegen,<br />
die sich auf der Wasseroberfläche bewegen. Als<br />
Fliegenfischer sei es das Ziel, die imitierte Nahrung<br />
so nahe wie möglich zum Fisch hin zu werfen. Doch<br />
am Ziel dürfe die Fliege nicht untergehen, sondern<br />
sie soll für den Fisch sichtbar an der Wasseroberfläche<br />
bleiben. Daher könne man als Gewicht, um<br />
die Schnur weit raus in den See zu werfen, kein Blei<br />
verwenden. Stattdessen verwende man eine Schnur,<br />
die etwas dicker, daher schwerer sei, und befördere<br />
die Fliege mit dieser raus auf den See.<br />
Daniel Blättler ist ein stiller Jäger. Er schwingt seine<br />
Rute nicht auf gut Glück, sondern studiert die Umgebung.<br />
So sieht er anhand der Blautöne, wo sich unter<br />
der Wasseroberfläche Strukturen befinden. Denn<br />
Fische halten sich gerne an den Kanten abfallender<br />
Ränder oder hinter Steinen auf.<br />
Auch bei der Wahl der Köder gilt es, die Natur zu<br />
kennen – je nach Jahreszeit setzt man eine Larve,<br />
Nymphe oder eine Fliege ein und sollte wissen,<br />
welche Fische nach welcher Beute schnappen. «Der<br />
Jäger muss sich der Natur anpassen», sagt Blättler.<br />
Dieses Überlisten des Fisches fasziniert ihn. Eine<br />
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SEESICHT 2/23<br />
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