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Österreichische Post AG; PZ 18Z<strong>04</strong>1372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
www.dasbiber.at<br />
MIT SCHARF<br />
+<br />
APRIL<br />
20<strong>23</strong><br />
ARZT ODER<br />
ENTTÄUSCHUNG<br />
+<br />
SCHULDIG<br />
GESHOPPT<br />
+<br />
2 MONATE NACH<br />
DEM ERDBEBEN<br />
+<br />
„ABENDLAND IN<br />
MIGRANTENHAND?“<br />
WIE AUSLÄNDERHASS WIEDER SALONFÄHIG WIRD
PASST<br />
3<br />
minuten<br />
mit<br />
Qusai<br />
Oshan<br />
Taschen, Wallets und<br />
Schmuck von High-End-Marken<br />
– das ist Qusai Oshans<br />
Spezialgebiet. Der 20-jährige<br />
Vintage-Jäger mit libyschen<br />
Wurzeln erzählt über<br />
seinen Weg ins Modegeschäft<br />
und erklärt, warum er sich<br />
für die Sonntags öffnung<br />
stark macht.<br />
Interview: Selin Öztürk und Helin Kara<br />
Foto: Zoe Opratko<br />
job-apotheke.at<br />
Du suchst eine abwechslungsreiche und sinnvolle Ausbildung?<br />
Und später einen sicheren und spannenden Job, in dem du<br />
Menschen hilfst? Dann passt eine Lehre in der Apotheke zu dir.<br />
Mach den Online-Check!<br />
ZU MIR.<br />
<strong>BIBER</strong>: Wie kam es, dass du begonnen<br />
hast, dich mit Vintage-Mode zu<br />
beschäftigen?<br />
QUSAI OSHAN: Es hat alles 2017<br />
mit einem Surpreme-Shirt für 60 €<br />
begonnen, das habe ich damals noch<br />
mit Papas Kreditkarte gekauft. Letztendlich<br />
habe ich dieses Shirt für das<br />
Doppelte auf Willhaben weiterverkauft.<br />
Zwei Wochen später habe ich für einen<br />
limitierten Sneaker sogar auf der Straße<br />
gecampt. 2020 habe ich mit dem professionellen<br />
Online-Verkauf von Luxus<br />
Vintage angefangen, was so erfolgreich<br />
war, das ich für vier Monate einen Popup-Store<br />
eröffnen konnte. Momentan<br />
verkaufe ich online.<br />
Was hebt dich ab von anderen Vintage<br />
Stores?<br />
Was wir verkaufen, findet man nicht<br />
bei jedem 0815-Vintage-Reseller. Wir<br />
liegen mit unseren Produkten in der<br />
obersten Preisklasse und unterscheiden<br />
uns dadurch, dass wir so jung sind. Die<br />
Leute haben mehrere Tausend Euro bei<br />
einem 20-jährigen Araber dagelassen<br />
und nicht bei einer 60-jährigen Omi, die<br />
seit 30 Jahren ihren Store hat und nur<br />
Sachen auf Kommission nimmt.<br />
Woher bekommst du deine Ware?<br />
Ich kaufe die Ware sehr oft von<br />
Privatkund:innen ab, da gehört Recherche<br />
dazu. Kleinanzeigen, Willhaben, Etsy,<br />
Shpock, Vinted - all diese Onlineplattformen<br />
nutze ich, um an Waren ranzukommen.<br />
Es gibt auch internationale<br />
Großhändler:innen, bei denen man die<br />
Ware in Mengen einkaufen kann. Die<br />
Produkte werden online vermarktet -<br />
über unsere Website. All unsere Sachen<br />
sind auf Willhaben zu finden genauso<br />
wie bei Ebay Kleinanzeigen. Bald wird<br />
aber hoffentlich wieder ein Pop-up Store<br />
oder sogar ein fixer Laden kommen.<br />
Auf Instagram sprichst du dich sehr für<br />
Sonntagsöffnungen aus. Wieso bist du<br />
da so dahinter?<br />
Niemand würde einen Verlust durch<br />
Sonntagsöffnungen erleiden. Der Staat<br />
würde damit viel mehr Umsatzsteuer<br />
kassieren. Die Arbeitslosenquote würde<br />
sinken. Wahrscheinlich würde die<br />
Arbeiterkammer dann auch irgendwelche<br />
Zuschläge ausmachen. Die hohen<br />
Store-Mieten im ersten Bezirk würden<br />
leichter bezahlt werden können. Ich<br />
habe noch nie solide Argumente gegen<br />
die Sonntagsöffnung gehört – weil es<br />
keine gibt.<br />
Manche Shops verkaufen ja Counterfeits,<br />
also Fälschungen von Luxus-<br />
Items. Wie ist deine Position dazu?<br />
Moralisch finde ich es nicht okay, da<br />
Designer:innen ja eigentlich dafür<br />
bezahlt werden, ein Produkt zu kreieren.<br />
Manche Fakes sind so gut, dass<br />
man es nur schwer erkennen kann.<br />
Wenn man aber angibt, dass es Fakes<br />
sind, dann ist man wenigstens zu den<br />
Endkonsument:innen ehrlich – das<br />
Design ist dann aber trotzdem gestohlen.<br />
Wer ist er? Qusai Oshan<br />
Alter: 20<br />
Instagram: wintage.at<br />
Fun Fact: Liebt Katzen, hat aber eine<br />
Katzenallergie<br />
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT<br />
QUSAI OSHAN<br />
Der 20-jährige Vintage-Jäger<br />
im Schnellinterview.<br />
8 IVANAS WELT<br />
Kolumnistin Ivana Cucujkić-Panić über typische<br />
Jugo-Wertanlagen.<br />
10 KLIMA-NEWS<br />
Interessante Zahlen, Daten und Fakten rund<br />
um das Thema Umweltschutz.<br />
POLITIKA<br />
12 MEINUNGSMACHE<br />
Politische Themen kurz, komprimiert und<br />
mit scharf.<br />
13 DEAL ZWISCHEN KOSOVO<br />
UND SERBIEN?<br />
Dennis Miskić über gescheiterte<br />
Verhandlungen und bizarre Pressekonferenzen.<br />
14 RECHTSRUCK IN<br />
ÖSTERREICH<br />
Wie Ausländerhass wieder salonfähig wird.<br />
22<br />
EIN BRIEF AN HATAY<br />
Zerstörung, Schutt und<br />
Trümmer: Zwei Monate nach<br />
dem Erdbeben in der Türkei<br />
26<br />
IN HALT APRIL<br />
20<strong>23</strong><br />
„DU WIRST<br />
ARZT, ANWALT<br />
ODER EINE ENT-<br />
TÄUSCHUNG!“<br />
Für viele Migra-Eltern<br />
haben Lehrberufe<br />
keinen Wert.<br />
34 WAS IST EINE<br />
„GUTE“ TÜRKIN?<br />
Zeynep Buyraç braucht kein nationales<br />
Zugehörigkeitsgefühl, um ihre Identität zu<br />
formen.<br />
38 „ICH WILL EURE JOBS!“<br />
Özben Önal möchte sich nicht in berufliche<br />
Schubladen stecken lassen.<br />
42 HEIRATEN FÜR DIE FREIHEIT<br />
Layla Ahmed möchte selbst über ihr Leben<br />
bestimmen – ohne zu heiraten.<br />
45 MEIN RAUSGESCHMISSENES<br />
GELD<br />
Şeyda Gün erklärt wieso Finanzbildung so<br />
wichtig ist.<br />
46 DER KLARNA TEUFELSKREIS<br />
Wie „Buy now, pay later“ jungen Menschen<br />
zum Verhängnis wird.<br />
50 ANZEIGEN, ODER<br />
LIEBER DOCH NICHT?<br />
Viele Opfer von sexueller Gewalt entscheiden<br />
sich gegen den Weg zur Polizei.<br />
18 “HERR BABLER, WIE OFT<br />
WAREN SIE VERLIEBT?“<br />
Biber fragt in Worten, Bürgermeister von<br />
Traiskirchen Andreas Babler antwortet mit<br />
einer Zahl.<br />
20„WIR KÖNNEN UNSERE<br />
ARBEIT NICHT PAUSIEREN.“<br />
Asyl in Not Vorsitzende Kübra Atasoy im<br />
Interview über die Räumung ihres Büros<br />
im WUK.<br />
22 NACH DEM BEBEN<br />
Mercan Falter verfasst einen Brief an ihre<br />
zerstörte Heimat Hatay.<br />
RAMBAZAMBA<br />
26 „OHNE EIN STUDIUM<br />
BIST DU NICHTS!“<br />
Wieso Migra-Eltern ihre Kinder an die<br />
Uni drängen.<br />
14<br />
„VERLIEREN<br />
WIR NICHT<br />
UNSER WIEN!“<br />
Österreich rückt<br />
immer weiter nach<br />
rechts.<br />
46<br />
SCHULDIG GESHOPPT<br />
Wie sich junge Menschen durch<br />
Klarna verschulden.<br />
© Mercan Falter, Zoe Opratko, Cover: © Aliaa Abou Khaddour<br />
KARRIERE&KOHLE<br />
53 NEULAND FÜR<br />
ARBEITER:INNENKINDER<br />
Šemsa Salioski erklärt, warum man nicht<br />
in Normen passen muss.<br />
TECHNIK&MOBIL<br />
56 GRABENKRIEG UND<br />
HIGHTECH<br />
Adam Bezeczky sieht den Ukrainekrieg als<br />
Wettbewerb der Rüstungsfabriken.<br />
KULTURA<br />
58 KULTURA NEWS<br />
Nada El-Azar-Chekh über die<br />
ewigen Ausländer.<br />
62 QUOTEN-ALMANCI<br />
Kolumnistin Özben Önal über die Zukunft ihrer<br />
Heimatprovinz Hatay.
103x270 biber<br />
Liebe Leser:innen,<br />
der Rechtsruck in Österreich ist nicht mehr zu übersehen. Das „blaue<br />
Wahl-Wunder“ in Niederösterreich, Pläne über Deutschpflicht am<br />
Schulhof, Menschenrechte nur für Staatsbürger:innen – Rassismus und<br />
Ausländerfeindlichkeit werden in Österreich immer salonfähiger. Während<br />
Politiker:innen mit ihren Aussagen und Taten scheinbar ungeschoren<br />
davonkommen, haben Menschen mit Migrationsbackground immer<br />
mehr Angst um ihre Zukunft in diesem Land. Lest die Coverstory ab<br />
Seite 14.<br />
Doch nicht alle Politiker:innen in Österreich sind so gesinnt: So wünscht<br />
sich Andreas Babler, Bürgermeister von Traiskirchen und Kandidat für<br />
die SPÖ-Führung 70.000 Zuwander:innen pro Jahr in Österreich. Wir<br />
haben Babler außerdem gefragt, wie oft er in der HTL durchgeflogen ist<br />
und wie viele Politiker:innen in der SPÖ ihm auf die Nerven gehen. Seite<br />
18.<br />
IMPRESSUM<br />
MEDIENINHABER:<br />
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />
HERAUSGEBER:<br />
Simon Kravagna<br />
CHEFREDAKTEURIN:<br />
Aleksandra Tulej<br />
KULTUR & LEITUNG AKADEMIE:<br />
Nada El-Azar-Chekh<br />
FOTOCHEFIN:<br />
Zoe Opratko<br />
ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />
KOLUMNIST:INNEN:<br />
Ivana Cucujkić-Panić, Dennis Miskić, Özben Önal<br />
LEKTORAT: Florian Haderer<br />
REDAKTION, FOTOGRAFIE & ILLUSTRATION:<br />
Maria Lovrić-Anušić, Adam Bezeczky, Šemsa Salioski, Dennis<br />
Miskić, Emilija Ilić, Anna Lumaca, Selin Özürk, Helin Kara, Aliaa<br />
Abou Khaddour, Anna Lumaca, Christoph Liebentritt, Ina Aydogan,<br />
Mercan Falter<br />
VERLAGSLEITUNG :<br />
Aida Durić<br />
MARKETING & ABO:<br />
Şeyda Gün<br />
REDAKTIONSHUND:<br />
Casper<br />
BUSINESS DEVELOPMENT:<br />
Andreas Wiesmüller<br />
DIE CARD HAT’S IN SICH<br />
Freier Eintritt<br />
zu rund<br />
350 Ausflugszielen<br />
„<br />
„Das kannst du machen, wenn<br />
du verheiratet bist.“ – Diesen<br />
Satz kennen viele junge Frauen<br />
aus Migra-Familien. Die mutige<br />
Autorin Layla Ahmed schreibt<br />
ab Seite 42 darüber, wie sie<br />
„Du wirst Arzt, Anwalt, oder eine Enttäuschung!“<br />
– dieser Spruch ist längst zu<br />
einem Meme geworden. Viele Migra-<br />
Kids kennen ihn aber von ihren eigenen<br />
Eltern, die ihren Nachwuchs an die Uni<br />
drängen. Warum ein Uni-Abschluss<br />
aber nicht automatisch eine bessere<br />
Zukunft bedeutet, lest ihr ab Seite 26.<br />
GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />
Wilfried Wiesinger<br />
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />
E-1.4, 1070 Wien<br />
Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />
WEBSITE: www.dasbiber.at<br />
ihre Eltern umstimmen konnte,<br />
ohne dabei die Beziehung zu<br />
ihrer Familie aufs Spiel zu<br />
setzen. Klare Leseempfehlung!<br />
Aleksandra “ Tulej,<br />
Chefredakteurin<br />
Apropos Migra-Eltern: Auch wenn sie<br />
es mit uns gut meinen, haben sie nicht<br />
immer recht. Zum Beispiel, wenn es<br />
darum geht, dass Heirat ein Ticket für<br />
die eigene Freiheit wäre, meint Autorin<br />
Layla Ahmed. Neben Layla schreiben<br />
auch Özben Önal und Zeynep Buyraç<br />
im Rahmen unseres Empowerment-<br />
Specials darüber, wie sie sich ihre<br />
eigene Freiheit erkämpft haben. Ab<br />
Seite 32.<br />
Wir wünschen euch viel Spaß beim<br />
Lesen,<br />
eure biber-Redaktion<br />
BYE,BYE, LIEBE DELNA!<br />
Unsere Nr. 1 Ansprechpartnerin für<br />
Ayurveda-Tipps aka ehemalige Co-<br />
Herausgeberin und Chefredakteurin<br />
Delna Antia-Tatić hat nach 11 Jahren<br />
biber zur Süddeutschen Zeitung<br />
gewechselt! Delna hat in ihrer Zeit<br />
bei <strong>BIBER</strong> das Magazin mit neuen<br />
Ideen und Projekten immer ein<br />
Stück cooler gemacht und uns alle<br />
gut auf unsere jetzigen Rollen vorbereitet.<br />
Ab jetzt ist die langjährige<br />
und mehrfach preisgekrönte <strong>BIBER</strong>-<br />
Journalistin und unsere geschätzte<br />
Kollegica als freie Autorin für das<br />
Österreich-Ressort der SZ tätig.<br />
Liebe Delna, wir wünschen dir sve<br />
najbolje und nicht vergessen – im<br />
Herzen immer „mit scharf“ bleiben<br />
& vergiss die Sahne nicht!<br />
© Zoe Opratko<br />
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 1. HJ 2022:<br />
Druckauflage 85.000 Stück<br />
Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />
www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />
DRUCK: Mediaprint<br />
Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />
jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />
der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.<br />
Viele spannende Erlebnisse in und<br />
um Niederösterreich um nur € 65,–<br />
von 1.4.20<strong>23</strong> bis 31.3.2024<br />
NIEDERÖSTERREICH-CARD.AT<br />
16 neue<br />
Ausflugsziele!<br />
6 / MIT SCHARF /
BEZAHLTE ANZEIGE<br />
In „Ivanas Welt“ berichtet die biber-Kolumnistin Ivana Cucujkić-Panić<br />
über ihr Leben - Glamour zwischen Balkan und Baby<br />
IVANAS WELT<br />
STEUERERKLÄRUNG? ERKLÄRT.<br />
BETON, DUKATEN & KREDITI<br />
Meine Eltern haben früh investiert. In Immobilien. Viele<br />
Eltern investierten in den 80ern und 90ern in Immobilien.<br />
Es sind sichere Wertanlagen. Langfristig und strategisch.<br />
Eines Tages bestimmt profitabel, weil ja wertsteigernd<br />
mit den Jahren. Wenn die Lage halbwegs passt,<br />
in eine stabile Infrastruktur gebettet ist und beim Bauen<br />
auf die Energieeffizienz geachtet wurde.<br />
Oder eben nicht. Ich könnte jetzt zu den Rich Kids, die<br />
was Geiles zum Erben haben, gehören. Hätten meine<br />
Eltern vor dreißig Jahren in Wien ein, zwei kleine, feine<br />
Garconnieren gekauft – sie, ich und ihre Enkel könnten<br />
heute von den explodierenden Mieten leben. Ich könnte<br />
mich chillig auf meine Karriere als Irgendwas-Influencerin<br />
konzentrieren und den Hobbies höherer Töchter<br />
nachgehen: ETFs kaufen, Kunst und Taschen sammeln.<br />
JUGO-VILLA STATT HYGGE<br />
Meine und die vielen anderen Eltern haben darauf nicht<br />
geachtet. Statt am noblen Bauernmarkt in 1010 Wien<br />
stand die neue Wertanlage am ungepflasterten Bauernfeld<br />
im Jugodorf, so groß wie der 1. Bezirk, nur ohne<br />
Postleitzahl. Zentral gelegen waren diese Beton-Ungetüme<br />
höchstens am unmittelbaren Hühnerstall. Wohnoase<br />
oder Residenzperle hieße sie im Zentrum Wiens. Die<br />
Gastarbeiter-Villa im Osten Serbiens hatte nie etwas von<br />
Hygge. (Anm.: Dänischer Einrichtungsstil, der Gemütlichkeit,<br />
Entspannung und Heimeligkeit vermittelt.)<br />
Was sie hatte, war Fläche. Viele Zimmer. Und das Hauptzimmer<br />
mit der Ledergarnitur aus dem Lutz, mit dem<br />
langen Esstisch. Wenn alle kommen, einmal im Jahr.<br />
Manchmal sind da auch Gipslöwen und Wasserfontänen<br />
im Vorhof. Einmal im Jahr kamen wir dann alle. Der Vorhof<br />
war voll mit Gipstieren und den „majstori“. (dt. Bauarbeiter)<br />
Unsere Sommerferien verbrachten wir also mit<br />
den Großeltern und Männern, die das Haus reparierten.<br />
Es war immer was zu tun.<br />
cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt<br />
Financial Management à la Balkan<br />
NOSTALGIE AUF PUMP<br />
Das Urlaubsgeld ging für die Hochzeitsgarderobe und<br />
die Instandhaltungskosten drauf. Diese Wertanlage war<br />
nie profitabel. Wert hatte sie auch nie. Außer den emotionalen.<br />
Dieser überbot den überteuerten Konsumkredit<br />
bei Weitem. Merke dir: Für Auslands immobilien bekommst<br />
du in Österreich keine Wohnfinanzierung. Wie<br />
gut, dass die Verwandtschaft mit Nullzinskrediten einspringt<br />
und bei Rückzahlungsausfällen kein Inkasso rufen<br />
kann. Ein klassischer Impulskauf, auf den viele Eltern<br />
damals einstiegen.<br />
Einige Eltern haben den Exit geschafft, mit viel Verlust<br />
und Wehmut. Beim Betongold bewiesen sie kein „sicheres<br />
Händchen“. Das echte Edelmetall jedoch kennt<br />
jede Balkan-Familie seit Generationen als einzig wahre,<br />
sichere Kapitalanlage: Dukati. Golddukaten gehören in<br />
jedes gute Jugo-Investment-Portfolio.<br />
DUKATI VOR INKASSO<br />
Sie sind gern gesehenes Wertgeschenk bei Hochzeiten,<br />
Geburten, Taufen. Lassen sich in jeder Sockenschublade<br />
verstecken und bezahlen deine verschwitzte Klarna-<br />
Rechnung, wenn mal wirklich alle finanziellen Stricke<br />
reißen. Mit jeder Familienfeier stocken wir unsere Kapitalanlage<br />
auf und bunkern sie zwischen den Wänden der<br />
finanzierten Eigentumswohnung. Weit weg von Rich Kid,<br />
vom 1. Bezirk. Weit weg vom Jugodorf. Aber mit ganz<br />
viel Hygge. ●<br />
PODCAST-TIPP: Ivanas Gedanken<br />
gibt es jetzt auch fürs Ohr: In ihrem<br />
neuen Podcast „Mutti ist kaputti“<br />
hört ihr Survival-Tipps für erschöpfte<br />
Eltern und Allerhand über den<br />
schönen, anstrengenden, süßen<br />
und harten Alltag mit Kindern.<br />
Unbedingt reinhören!<br />
© Zoe Opratko<br />
Alle Jahre wieder kommt die Arbeitnehmerveranlagung. Egal, ob<br />
Berufseinsteiger:in, Student:in, (allein erzie hende:r) Elternteil oder<br />
Pendler:in – oft zahlen wir mehr Steuern, als es notwendig ist. Eine<br />
Steuererklärung zu machen gestaltet sich für viele jedoch schwerer, als<br />
es ist. Wie kann ich Homeoffice abschreiben? Wie gibt man den Kauf<br />
eines Laptops oder Handys in der Arbeitnehmerveranlagung richtig an?<br />
Kann man Dinge wie Spendenbeträge oder einen neuen Schreibtisch<br />
absetzen? Und welche sonstigen Werbungskosten kann man bei der<br />
Steuererklärung geltend machen? Wie schön wäre es, wenn man eine<br />
Schritt-für-Schritt-Erklärung für Finanzonline hätte.<br />
Um im Finanzdschungel den Überblick nicht zu verlieren, findet man bei<br />
der Arbeiterkammer Wien jetzt nützliche Steuertipps und Broschüren,<br />
mit denen auch der größte Finanzmuffel zum Steuerexperten wird.<br />
DIE AK ZEIGT,<br />
WIE MAN SICH<br />
STEUERGELD<br />
ZURÜCKHOLEN<br />
KANN!<br />
Hier geht’s zu den Tipps und<br />
einer Schritt-für-Schritt Anleitung<br />
www.arbeiterkammer.at/10-steuertipps<br />
?<br />
?<br />
?<br />
©Drazen - Adobe Stock<br />
8 / MIT SCHARF /<br />
WIEN.ARBEITERKAMMER.AT
KLIMANEWS<br />
Von Helin Kara und Selin Öztürk<br />
Langsam reicht es doch mit dem ganzen Klimading, oder? Nein, eben leider nicht.<br />
Wir liefern dir Tipps, wie auch du deinen Alltag nachhaltiger gestalten kannst.<br />
Abgesehen davon gibt‘s auch ein paar Lichtblicke in unsere dunkle Zukunft. Denn<br />
die Klimakrise geht uns alle etwas an.<br />
BIDEN UNTERZEICH-<br />
NET UMSTRITTENES<br />
„WILLOW-PROJECT“<br />
Das so umstrittene wie riesige Ölprojekt<br />
in Alaska wurde offiziell am 13.<br />
März vom US-Amerikanischen Präsidenten<br />
Biden genehmigt. Damit<br />
öffnete er dem Ölkonzern „Conoco-<br />
Phillips“ die Tür zu drei Bohrfeldern, in<br />
denen zirka 219 Bohrungen stattfinden<br />
sollen. Anders betrachtet: Mit diesem<br />
Projekt würden insgesamt etwa 260<br />
Millionen Tonnen Treibhausgase in<br />
die Atmosphäre geblasen. Das ist das<br />
3,5-Fache von dem, was Österreich<br />
jährlich emittiert. Die Genehmigung ist<br />
aber nicht nur ein Schlag ins Gesicht<br />
für alle jungen Menschen und zukünftigen<br />
Generationen, sondern auch ein<br />
Bruch eines von Bidens Wahlversprechen.<br />
IPCC-BERICHT<br />
20<strong>23</strong><br />
Am 20. März erschien der sechste<br />
IPCC-Bericht (Intergovernmental Panel<br />
on Climate Change) des Weltklimarats.<br />
Es haben sich etwa 780 Fachleute aus<br />
90 Ländern zusammengesetzt und<br />
die Ursachen, Folgen und Risiken der<br />
Klimakrise in einem großen Bericht<br />
zusammengefasst.<br />
Ein paar Hard Facts aus dem<br />
Bericht:<br />
Die globale Temperatur war in<br />
den Jahren 2011–2020 um 1,1 0<br />
Celsius höher als in den Jahren 1850–<br />
1900.<br />
Die Natur konnte innerhalb von<br />
10 Jahren nur etwa 54 % der menschengemachten<br />
Treibhausgasemissionen<br />
aufnehmen.<br />
Das letzte Jahrzehnt ist das<br />
wärmste seit 125.000 Jahren gewesen.<br />
Bis 2030 müssen weltweit<br />
alle Emissionen um die Hälfte gesenkt<br />
werden, um die Erderwärmung auf 1,5<br />
0 Celsius im Vergleich zur vorindustriellen<br />
Zeit zu begrenzen.<br />
Schnelles Handeln ist<br />
gefragt: Sollte es keinen Wandel in<br />
der Umwelt- und Klimapolitik in naher<br />
Zukunft geben, könnte die Klimakrise<br />
eskalieren.<br />
ZAHLEN,<br />
BITTE!<br />
Die aktuellen CO2-<br />
Werte sind die<br />
höchsten seit<br />
2 Millionen<br />
Jahren.<br />
In 70 Jahren wird die<br />
Heimat von<br />
200<br />
Millionen<br />
Menschen im Meer<br />
versunken sein.<br />
In Somalia sind im<br />
Jahr 2022 mutmaßlich<br />
43.000<br />
Menschen<br />
an Dürre gestorben.<br />
SCHON GEWUSST?<br />
Wenn der Rest der<br />
Menschheit so leben<br />
würde wie wir in<br />
Österreich, bräuchte<br />
die Menschheit<br />
fast vier Erden, um<br />
dem Ressourcenverbrauch<br />
gerecht<br />
zu werden.<br />
© Science Photo Library / picturedesk.com, Patrick Semansky / AP / picturedesk.com<br />
© Annkathrin Schön @aennislife auf Instagram, unsplash.com/Nathan Dumlao, pexels.com/Jiří Mikoláš, Science Photo Library / picturedesk.com, Screenshot @dr.vegan auf Instagram<br />
SAISONALES GEMÜSE<br />
Die Entscheidung, welche Lebensmittel ihr<br />
wann kauft, ist für die Umwelt sehr wichtig.<br />
Hier ein kleiner Überblick über das<br />
saisonale Gemüse im Monat April.<br />
Steht dieses Jahr EL NIÑO bevor?<br />
Als „El-Niño“ wird ein Klimaphänomen bezeichnet,<br />
das alle zwei bis sieben Jahre im Pazifik auftritt – mit<br />
besonders schweren Folgen: Durch Änderungen der<br />
Luft- und Meeresströmungen kommt es weltweit zu<br />
Hitzewellen, Waldbränden, Überschwemmungen und<br />
Dürren. Während eines ‚El Niño‘-Jahres kommt es zu<br />
sintflutartigen Regenfällen an den Küsten Ostafrikas<br />
und an der Westküste Südamerikas. Im Süden Afrikas<br />
muss hingegen mit Trockenheit und Hungersnöten<br />
gerechnet werden. Peru wird umgerechnet 1,06<br />
Milliarden Dollar investieren, um Schäden im Zusammenhang<br />
mit El Niño einzudämmen. Zuletzt kam es<br />
im Jahr 2017 dazu, rund 300.000 Menschen mussten<br />
aufgrund der Folgen umgesiedelt werden.<br />
MÜNCHEN WIRD<br />
COOLER<br />
Eine gesamte Stadt ohne Klimaanlage<br />
kühlen? Das ist mithilfe<br />
von „Fernkälte“ möglich.<br />
Die Stadt München arbeitet<br />
derzeit an einem innovativen<br />
System, das ab Mitte 2024 die<br />
Innenstadt mithilfe von Geothermie<br />
cool halten soll. Bei diesem<br />
Projekt wird Kälte aus dem<br />
Grundwasser und Stadtbächen<br />
genutzt und mit großen Rohren<br />
rund um die Stadt gepumpt.<br />
Dadurch sollen ganze 25.000<br />
Tonnen CO2 pro Jahr eingespart<br />
werden. Auch in Wien gibt es<br />
ein vergleichbares Projekt, das<br />
etwa 180 Gebäude mit Fernkälte<br />
versorgt.<br />
NACHGEKOCHT<br />
Veganes Lahmacun (türkische<br />
Pizza) von Ahmad Noori<br />
@dr.vegan auf Instagram<br />
WERDE PATE MIT<br />
CORALGARDENERS.ORG<br />
Wolltest du schon immer Pate<br />
einer Koralle werden? Dann ist<br />
‚Coral Gardeners‘ genau das<br />
Richtige für dich. Für zirka 27<br />
Euro kannst du hier eine Koralle<br />
adoptieren. Nach etwas mehr als<br />
einem Jahr wird deine ausgewachsene<br />
Koralle in das natürliche<br />
Riff eingepflanzt, um das<br />
Leben und die Artenvielfalt im<br />
Meer wiederherzustellen.<br />
Du hast also nicht nur dem Meer<br />
und dementsprechend dem<br />
Klima geholfen,<br />
sondern besitzt<br />
auch eine kleine<br />
Koralle draußen<br />
im Südpazifik.<br />
Zutaten:<br />
TEIG<br />
● 3 Tassen Allzweckmehl<br />
● 1 Tasse lauwarmes Wasser<br />
● 1 Esslöffel getrocknete<br />
oder 10 Gramm frische<br />
Hefe<br />
● 1 Esslöffel Salz<br />
● 1–2 Esslöffel Olivenöl<br />
TOPPING<br />
● 300 Gramm Tofu<br />
● 1 Zwiebel<br />
● 2 mittelgroße Tomaten<br />
● 2 Bibers (Peperoni)<br />
● 1 rote Paprika<br />
● 3 Knoblauchzehen<br />
● eine Handvoll Petersilie<br />
● 2 Esslöffel Tomatenpaste<br />
● 2 Esslöffel süße, rote<br />
Paprikaflocken<br />
● Salz und Pfeffer<br />
● 3 Esslöffel Olivenöl<br />
10 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 11
MEINUNGSMACHE MIT SCHARF Aktuelle politische Themen im Überblick: komprimiert, kurz und mit scharf.<br />
RUSSLAND/ÖSTERREICH<br />
ÖSTERREICH<br />
WAS GIBT’S NEUES AM BALKAN?<br />
Von Dennis Miskić<br />
ZWISCHEN<br />
KRIEG<br />
UND KITSCH<br />
In Russland wird am<br />
9. Mai zum „Tag des<br />
Sieges“ das Ende<br />
des 2. Weltkrieges gefeiert. Jahr für Jahr<br />
gehen Bilder von der großen Moskauer<br />
Militärparade über den Roten Platz um<br />
die Welt, so auch vergangenes Jahr 2022<br />
trotz tobenden Ukrainekriegs – Kritiker der<br />
Parade sehen schon lange eine sowjetkitschige<br />
Zurschaustellung militärischer<br />
Stärke. Zu Zeiten der Sowjetunion galt er<br />
eher als stiller Gedenktag, Paraden gab es<br />
nur zu Jubiläen alle fünf Jahre. Seit der<br />
Annexion der Krim 2014 und insbesondere<br />
nach Beginn der Invasion Russlands in die<br />
Ukraine muss der 9. Mai ideologisch für das<br />
aktuelle Vorgehen russischer Streitkräfte in<br />
der Ukraine herhalten, und Präsident Putin<br />
zieht bekanntlich wahnwitzige Parallelen<br />
zwischen dem einstigen Kampf gegen den<br />
Nationalsozialismus und der angeblichen<br />
„Entnazifizierung“ der Ukraine: „Wie 1945<br />
wird dieser Sieg unser sein“, so Putin bei<br />
seiner Rede 2022.<br />
Der Bürgermeister von Riga ließ direkt<br />
am 10. Mai prompt alle Blumen mit einem<br />
Bagger abräumen. Wer in der aktuellen<br />
Situation Blumen an ein Sowjetdenkmal<br />
niederlegt, befürworte den Krieg gegen die<br />
Ukraine, so die Logik. Auch in diesem Jahr<br />
gibt es hitzige Debatten um den Umgang<br />
mit diesem umstrittenen Feiertag. Auch in<br />
Wien versammeln sich jährlich beim „Heldendenkmal<br />
der Roten Armee“ Menschen<br />
am 9. Mai – viele von ihnen Nachkommen<br />
der ex-sowjetischen Diaspora – um dort Blumen<br />
niederzulegen und ihre Vorfahren zu<br />
ehren. Vergangenes Jahr sangen Gegendemonstranten<br />
am Schwarzenbergplatz ukrainische<br />
Volkslieder – einst dienten auch ihre<br />
Landsleute in der Roten Armee. Was vor<br />
lauter Geschichtsrevisionismus am meisten<br />
in den Hintergrund rückt: Das eigentliche<br />
Gedenken an die Opfer des 2. Weltkrieges.<br />
Die Sowjetunion bedauert mit knapp 27 Millionen<br />
Opfer nämlich die meisten Verluste.<br />
Nada El-Azar-Chekh,<br />
Ressortleitung Kultur<br />
el-azar@dasbiber.at<br />
SPÖ-WAHL: LIEBES PARTEIMITGLIED,<br />
RETTEN SIE ÖSTERREICH!<br />
Was mich betrifft, ich kann mit jeder Person an der Parteispitze<br />
der SPÖ leben – immerhin bin ich ja nicht Mitglied<br />
in der Partei. Allerdings kann ich eher nicht mit jeder Person<br />
im Kanzleramt leben – ich denke da zum Beispiel an Herbert Kickl. Dafür<br />
ist mir Österreich zu wichtig. Und so gesehen ist es mir doch nicht egal, wer<br />
die Sozialdemokratie anführt. Es geht jetzt darum, wer diese historisch verdienstvolle<br />
Bewegung so positioniert, dass sie eine Zukunft hat. Dabei ist nicht<br />
die „Migrationsfrage“ spielentscheidend. Entscheidend ist vielmehr, ob die<br />
SPÖ wieder Menschen überzeugt, die sich vom Establishment unverstanden<br />
und ökonomisch abgehängt fühlen. Die Kernfrage für viele ist: Wer ist einer<br />
von „uns“ und keiner von „denen da oben“? Wer kann diese Wähler:innen<br />
für die SPÖ gewinnen, liebes Parteimitglied ? Kreuzen Sie hier an A) Pamela<br />
Rendi-Wagner B) Hans-Peter Doskozil oder C) Andreas Babler. Und bitte verlassen<br />
Sie sich bei Ihrer Wahl ausschließlich auf Ihr politisches Bauchgefühl.<br />
Ihre Parteigremien und Parteigranden haben bereits zu oft geirrt.<br />
Simon Kravagna, Herausgeber kravagna@dasbiber.at<br />
Er ist zwar schon 18 Jahre<br />
tot und seine Amtszeit<br />
zwei Päpste her, für die<br />
Polen kann es nach wie vor<br />
aber nur den einen geben:<br />
Johannes Paul II, der von<br />
1978 bis zu seinem Tod<br />
2005 im Vatikan waltete. Das ehemalige<br />
kirchliche Oberhaupt wurde<br />
jahrelang von seinen Landsleuten auf<br />
ein Podest gestellt, ja ein regelrechter<br />
Kult rund um ihn wurde aufgebaut:<br />
In jeder polnischen Stadt findet<br />
man zumindest eine Johannes Paul<br />
II-Straße, Kreuzungen, Spitäler und<br />
Schulen die nach ihm benannt wurden,<br />
jede polnische Oma trägt sein<br />
Antlitz im Geldbörserl. Anfang März<br />
diesen Jahres erhob eine Investigativ-Reportage<br />
schwere Vorwürfe<br />
gegen den Geistlichen: Demnach<br />
sollte er zu seiner Zeit als Bischof<br />
Missbrauchsfälle in der katholischen<br />
Kirche vertuscht haben und pädophile<br />
Priester geschützt haben.<br />
Bei der polnischen Linken löste<br />
dies eine Reihe an Protesten aus,<br />
JP2-Denkmäler werden mit Farbe<br />
POLEN<br />
HABEMUS REDEBEDARF<br />
Aleksandra Tulej, Chefredakteurin tulej@dasbiber.at<br />
überschüttet, Kirchenaustritte<br />
häufen sich, es wird<br />
sogar gefordert, seine<br />
Heiligsprechung rückgängig<br />
zu machen. Gleichzeitig<br />
stehen die rechte<br />
Regierung und viele seiner<br />
Landsleute weiterhin geschlossen<br />
hinter Johannes Paul II. An seinem<br />
Todestag, dem 2. April fand in Warschau<br />
der „Nationale Marsch für den<br />
Papst“ statt – man las Plakate mit der<br />
Aufschrift: „Wie ein ehrlicher Mann<br />
seine Kinder, seinen Vater und seine<br />
Mutter verteidigt, so verteidigt ganz<br />
Polen Johannes Paul II.“ Eine Trennung<br />
zwischen Staat und Kirche gibt<br />
es in Polen de facto nicht, und wie<br />
so oft spaltet genau das das Land.<br />
Das Problem: Solange die katholische<br />
Kirche sich als unantastbare Institution<br />
halten kann, wird sich nicht<br />
viel ändern. Dafür sind die Polen zu<br />
stolz und zu blind am katholischen<br />
Auge. Meine Prognose: Die Zahl der<br />
Kirchenaustritte wird steigen, genau<br />
wie die Verkaufszahlen der Papst-<br />
Bildchen fürs Geldbörserl.<br />
© Zoe Opratko<br />
„Wir haben einen Deal”, hat der EU-Außenbeauftragte<br />
Joseph Borrell nach einer Verhandlung<br />
zwischen dem serbischen Präsidenten<br />
Aleksandar Vučič und dem kosovarischen Premier<br />
Albin Kurti verkündet. Zuvor war es immer<br />
wieder zu Spannungen gekommen und die<br />
Situation war zum Symbol geworden für alles,<br />
was am Balkan schief lief. Mit dieser Vereinbarung<br />
aber, dem Deal, wurde auf einmal alles<br />
besser. Beide Seiten hielten sich natürlich an<br />
das Abkommen. Serbien erkannte den Kosovo<br />
an und an guten, nachbarschaftlichen<br />
DEAL ODER KEIN DEAL<br />
Kolumnist Dennis Miskić<br />
hat seinen Auslandsdienst<br />
in Srebrenica<br />
geleistet und engagiert<br />
sich in verschiedenen<br />
NGOs zum Thema Westbalkan<br />
und Migrationspolitik.<br />
In seiner Kolumne<br />
hält er euch über Politisches<br />
& Kulturelles vom<br />
Balkan am Laufenden.<br />
Beziehungen wird weiterhin intensiv<br />
gearbeitet. Gemeinsam möchten sie<br />
die Länder auf Vordermann bringen<br />
und für den Frieden im eigenen Land,<br />
aber auch der ganzen Region sorgen.<br />
So hätte es sein können. Oder so sollte<br />
es sein. Ganz so ist es aber nicht<br />
gekommen. Zwei Verhandlungsrunden<br />
und viele bizarre Pressekonferenzen<br />
später sind wir noch immer weit<br />
von einer idyllischen Situation entfernt.<br />
Zuerst hat man sich in Brüssel getroffen. Es war<br />
in einem, wie es schien, auf einem kleinen Tisch<br />
in einem engen Raum. Anscheinend war das<br />
Ziel, die beiden durch physische Nähe zueinander<br />
zu bringen. Geklappt hat es nicht ganz. Das<br />
Bild eines kopfschüttelnden Borrell ging viral.<br />
Die Verzweiflung war ihm auf der Stirn geschrieben.<br />
Runde zwei fand diesen März in Ohrid statt. Die<br />
nordmazedonische Stadt mit einem atemberaubenden<br />
See schien wohl der perfekte Ort.<br />
Und es wurde verhandelt. Mal wieder bis spät in<br />
die Nacht. Und wie auch davor gab es Pressekonferenzen<br />
von allen Beteiligten, die für mehr<br />
Verwirrung als Aufklärung sorgten. Hier wurde<br />
dann der große Deal, der eigentlich aber kein<br />
Deal ist, verkündet.<br />
Nun ja, dass es aber wohl noch immer nicht<br />
zu dem perfekten Abkommen gekommen ist,<br />
überrascht wenige. Vučič sagte kürzlich im<br />
serbischen Staatsfernsehen, er hätte nichts<br />
unterschrieben und so würde es auch<br />
die nächsten Jahre bleiben. Seine<br />
rechte Hand tut nämlich sehr weh,<br />
sagt er. Nur mit seiner rechten Hand<br />
kann er unterschreiben. Wie er sich<br />
bei diesen Aussagen das Lachen verkneifen<br />
kann, ist mir ein Rätsel.<br />
Auch wenn es in der Kosovo-Frage<br />
noch keine klare Antwort gibt, muss<br />
darüber geredet werden. Und das<br />
passiert in Österreich leider viel zu<br />
wenig. Wenn es passiert, dann wird dabei auch<br />
oft der falsche Diskurs im falschen Kontext<br />
benutzt. Noch immer höre ich manchen Leuten<br />
zu, wie sie über die Unabhängigkeit des Landes<br />
diskutieren wollen. Da gibt es nichts zu diskutieren.<br />
Es ist ein souveränes Land mit einer<br />
eigenen Flagge, einer Staatsgrenze und allem,<br />
was noch dazu gehört. Serbien kann es noch so<br />
sehr stören, dass die Kosovar_innen seit 2008<br />
unabhängig sind. Das ändert nichts daran, dass<br />
sie es sind und bleiben werden. ●<br />
12 / MEINUNGSMACHE MIT SCHARF / / MIT SCHARF / 13
„Abendland in<br />
Migrantenhand?“<br />
WIE ÖSTERREICH IMMER WEITER NACH RECHTS RÜCKT.<br />
© Screenshot Facebook/Die Wiener Volkspartei<br />
Nach wiederholten Rassismus-Eklats von hochrangigen<br />
Politikern und Schwarz-Blau in Niederösterreich<br />
ist klar: Ausländerfeindlichkeit<br />
wird in Österreich wieder salonfähiger. Während<br />
die Politik aber scheinbar ungeschoren davonkommt,<br />
fürchten Österreicher:innen mit Migrationshintergrund<br />
um ihre Zukunft in diesem<br />
Land. Der Versuch einer Einordnung.<br />
Von Helin Kara, Mitarbeit: Nada El-Azar-Chekh und Aleksandra Tulej<br />
Illustration: Aliaa Abou Khaddour<br />
Jetzt beginnt wieder die Phase, in denen die Rechten<br />
sich nicht mehr in ihren Häusern verstecken<br />
müssen, sondern offen ihre rassistischen Gedanken<br />
kundgeben“, zeigt Hasan sich verärgert. Der<br />
heute 63-jährige ist Anfang der 1990er-Jahre aus der Türkei<br />
nach Österreich gekommen, um als Hilfsarbeiter in einer<br />
Metallfabrik zu arbeiten. Hasan lebt im Bezirk Neunkirchen in<br />
Niederösterreich. Neunkirchen ist gleichzeitig der Geburtsort<br />
des FPÖ-Politikers Udo Landbauer, der nach der berühmten<br />
Liederbuch-Affäre von 2018 ein regelrechtes politisches<br />
Comeback erlebte – aber dazu später.<br />
„Damals, in den 90er-Jahren, wurden wir von manchen<br />
Menschen wie der letzte Dreck behandelt. Wir mussten<br />
uns ausländerfeindliche Sprüche anhören und ich hatte<br />
das Gefühl, ein Alien zu sein“, erinnert sich Hasan an seine<br />
Anfangszeit in Österreich. „Dann wurde es aber besser:<br />
Wir wurden langsam als Teil der Gesellschaft akzeptiert.<br />
Ich bekam die österreichische Staatsbürgerschaft und war<br />
dann einer von ‚ihnen‘“, hebt er hervor, um dann im gleichen<br />
Atemzug einzuschränken: „Aber jetzt sind wir wieder in der<br />
Hochphase, denn jetzt entsteht durch die neue schwarzblaue<br />
Koalition eine neue Welle des Rassismus.“<br />
„VERLIEREN WIR NICHT UNSER WIEN!“<br />
„Verlieren wir nicht unser Wien!“ – Mit diesen Worten<br />
kommentierte ÖVP-Chef Karl Mahrer Mitte März in einem<br />
Wut-Video seinen Lokalaugenschein am Wiener Brunnenmarkt.<br />
„Syrer, Afghanen und Araber“ hätten die<br />
„Macht über den Brunnenmarkt übernommen.“ Die<br />
Situation lasse sich auch auf ganz Wien übertragen,<br />
so Mahrers Tenor. Die Reaktionen auf die Sager des<br />
Wiener ÖVP-Spitzenpolitikers ließen nicht lange auf<br />
sich warten – auf Social Media hagelte es Kritik, aber<br />
auch viel Zuspruch. Es blieb nicht bei einem kontroversen<br />
Video voller Hetze und Sticheleien gegenüber<br />
marginalisierten Gruppen. Mahrer nahm den „Brennpunkt“<br />
Viktor-Adler-Markt im 10. Bezirk als Nächstes<br />
ins Visier. „Eine Gegend, wo wir uns echt Sorgen<br />
machen müssen“, so Mahrer. Im Video spricht er mit<br />
drei „zufälligen“ Anwohner:innen, von denen zwei<br />
wenig später als ÖVP-Mitglieder identifiziert werden<br />
konnten. Mahrer zeigt sich darauf wenig einsichtig.<br />
WER WÄHLT WEN?<br />
Als die ÖVP im Zuge der jüngsten Landtagswahlen in Niederösterreich<br />
eine Koalition mit der FPÖ einging, hagelte es<br />
Kritik, vor allem von Links.<br />
Eine Studie der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung kam<br />
zu dem Ergebnis, dass die Volkspartei im selben ideologischen<br />
Segment wie die FPÖ verortet ist. Dabei wurden die<br />
größten wahlwerbenden Parteien vor und während der Nationalratswahlen<br />
2017 ins Visier genommen. Das Ergebnis der<br />
Studie zeigte, dass ausgerechnet die ÖVP als Partei, die sich<br />
öffentlich als die bürgerliche Mitte darstellt, gesellschaftssowie<br />
ökonomiepolitisch Extrempositionen einnimmt. Weiter<br />
geht aus der Studie hervor, dass die ÖVP und die FPÖ diejenigen<br />
Parteien sind, die die größte ideologische Überlappung<br />
aufweisen. Nach mehreren kläglich gescheiterten schwarz<br />
(türkis)-blauen Koalitionen scheint es fast, als hätte die<br />
österreichische Bevölkerung nichts daraus gelernt.<br />
THE KIDS ARE ALL RIGHT?<br />
Die FPÖ positioniert sich seit jeher als Oppositionspartei<br />
zum politischen Establishment und profitiert von einer<br />
geschwächten ÖVP, die nach der „Korruptionsaffäre“ um<br />
mit Steuergeld finanzierte, gefälschte Umfragen an Vertrauen<br />
verlor. Eine SORA-Analyse zeigt, dass der größte Wählerstrom<br />
mit 72.000 Stimmen von der ÖVP zur FPÖ ging.<br />
Auch die SPÖ, die mit internen Kämpfen um die Parteispitze<br />
beschäftigt war, verlor am stärksten an die Freiheitliche<br />
Partei. Das zeigt sich auch bei jungen Wahlberechtigten: 29<br />
Prozent der unter 29-jährigen gaben in Niederösterreich ihre<br />
Stimme der FPÖ.<br />
Man spricht von einem „blauen Wunder“ – das zudem<br />
nach Verlust der FPÖ-Regierungsbeteiligung im Zuge der<br />
Ibiza-Affäre noch viel früher eintrat, als erwartet. Dabei ist<br />
die Liste an „rechtsextremen Einzelfällen“ innerhalb und im<br />
Umfeld der FPÖ trostlos lang. Nachhaltige Konsequenzen<br />
bekommen Politiker wie Gottfried Waldhäusl aber nicht zu<br />
spüren. Im Gegenteil – so erlebte der FPÖ-Politiker Udo<br />
Landbauer ein regelrechtes Comeback nach seinem Rücktritt<br />
im Zuge der skandalträchtigen Liederbuch-Affäre von 2018.<br />
Der 1986 im niederösterreichischen Neunkirchen geborene<br />
Landbauer – Sohn einer Iranerin – war zu dieser Zeit stell-<br />
ÖVP-Chef Karl Mahrer löste mit seinem Sager am Brunnenmarkt<br />
eine hitzige Debatte aus.<br />
14 / POLITIKA | WIEN /<br />
/ POLITIKA | WIEN / 15
vertretender Vorsitzender der Burschenschaft Germania zu<br />
Wiener Neustadt. Die Wochenzeitung „Falter“ veröffentlichte<br />
2018 einen Bericht zu einem Liederbuch mit antisemitischen<br />
Texten, die mit Strophen wie „Da trat in ihre Mitte der Jude<br />
Ben Gurion: ‚Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die<br />
siebte Million!“ im Verdacht eines Bruchs des Verbotsgesetzes<br />
standen. Das Liederbuch wurde bei einer Hausdurchsuchung<br />
bei besagter Burschenschaft gefunden. Landbauer<br />
erklärte damals, nichts von dem Liederbuch mitbekommen<br />
zu haben, suspendierte seine Mitgliedschaft bei der Burschenschaft<br />
und stellte vorübergehend all seine politischen<br />
Funktionen ruhend. Aber nur vorübergehend: Heute ist<br />
Landbauer Stellvertreter von Landeshauptfrau Johanna Mikl-<br />
Leitner.<br />
SCHRÖDINGERS AUSLÄNDER<br />
„Es macht mich wütend, dass sich ein Mensch mit politischer<br />
Gestaltungsmacht wie Karl Mahrer in einer multikulturellen<br />
Millionenstadt vor eine Kamera stellt und anderen<br />
Menschen ganz offen deren Wertigkeit und ihr Menschsein<br />
absprechen möchte“, kommentiert die Tik-Tokerin Irina alias<br />
Toxische Pommes Mahrers Brunnenmarkt-Video. Die Juristin<br />
und Comedian äußert sich regelmäßig auf den Plattformen<br />
Instagram und Tik-Tok satirisch zum politischen Geschehen<br />
in Österreich.<br />
Sie zieht in Bezug auf das Brunnenmarkt-Video einen<br />
Vergleich zum altbekannten Bild von „Schrödingers Ausländer“:<br />
„Wenn du nicht arbeitest, bist du der faule Ausländer,<br />
wenn du arbeitest, bist du der Ausländer, der den<br />
Österreicher:innen die Arbeitsplätze – oder, wie in diesem<br />
Fall, die Marktplätze – wegnimmt."<br />
Aufgewachsen ist Irina als Tochter von ex-jugoslawischen<br />
Kriegsflüchtlingen im niederösterreichschen Wiener Neustadt.<br />
„Ich kenne Niederösterreich als politisch tiefschwarzes<br />
Bundesland – Erwin Prölls Porträt neben dem riesigen hölzernen<br />
Kreuz an der Wand hat mich meine gesamte Schulzeit<br />
begleitet.“ Auch erinnert sich die Juristin an Vorfälle im Klassenzimmer,<br />
bei denen des Öfteren „zum Spaß“ Hitlergrüße<br />
gemacht und „Heil Hitler“ durch den Raum gerufen wurde.<br />
Auch der 24-jährige Christoph ist in Niederösterreich<br />
aufgewachsen – genauer gesagt in Baden, ist jüdischen<br />
Glaubens und studiert Geschichte an der Uni Wien. „Die ÖVP<br />
Die Juristin und<br />
Tik-Tokerin Irina aka<br />
„Toxische Pommes”<br />
ist als Tochter von<br />
ex-jugoslawischen<br />
Kriegsflüchtlingen<br />
in Niederösterreich<br />
aufgewachsen.<br />
hatte ganz lange in Niederösterreich die Alleinherrschaft<br />
inne. Die SPÖ in Niederösterreich ist nicht wirklich eine politische<br />
Komponente“, analysiert er.<br />
„Natürlich hat die ÖVP in Niederösterreich Rassist:innen<br />
in ihren Reihen und agiert dementsprechend. Ich glaube,<br />
dass man in diesem Wahlkampf das politisch instrumentalisierte,<br />
was vorher als unsagbar galt und es explizit an<br />
die Öffentlichkeit brachte, um mit der FPÖ um Stimmen zu<br />
konkurrieren“, ordnet er ein.<br />
Irina stößt sich daran, dass die Schuldzuweisungen bei<br />
einem Gewinn der FPÖ zu einseitig gesehen werden: „In<br />
der medialen Berichterstattung wird dann oft nach Erklärungen<br />
und Entschuldigungen für das Wahlverhalten der<br />
Wähler:innen gesucht, so auf die Art, dass die FPÖ mit<br />
ihrer rassistischen Politik die große Verführung sei und ihre<br />
Wähler:innen es einfach nicht besser gewusst hätten. Das<br />
ist nicht nur infantilisierend gegenüber den Wähler:innen,<br />
sondern verharmlost auch Rassismus. Man kann der<br />
österreichischen wahlberechtigten Bevölkerung ihre Wahlentscheidungen<br />
schon zumuten“, so die Juristin. Statt der<br />
Frage, warum die Regierung Rassismus gutheiße, sollte die<br />
Frage, warum die Bevölkerung Rassismus gutheiße, öfter<br />
gestellt werden.<br />
DAS VERLORENE WIEN DER ÖVP<br />
UND FPÖ<br />
Einen Ton wie in Mahrers Videos ist man in Österreich<br />
eigentlich aus den Reihen der FPÖ gewohnt – so hat doch<br />
kürzlich Gottfried Waldhäusl in einem TV-Auftritt angedeutet,<br />
dass Wien noch „wie Wien“ wäre, gäbe es keine Menschen<br />
mit Migrationshintergrund in der Stadt. Trotz großen Aufschreis<br />
über den Sager sitzt Waldhäusl seit Beschluss der<br />
neuesten schwarz-blauen Koalition als zweiter Präsident im<br />
Landtag von Niederösterreich.<br />
Timo Steyer, Mitglied des Landesvorstands der jungen<br />
Volkspartei Wien, sieht kein Problem in Mahrers Wortwahl.<br />
Laut ihm „stehen wir vor riesigen Herausforderungen<br />
im Integrationsbereich“ und „dürfen nicht die Menschen<br />
verteufeln, die diese Probleme ansprechen.“ Missstände<br />
anzusprechen, sei die einzige Möglichkeit, eine „erfolgreiche<br />
Stadt zu bleiben.“ Was genau diese Missstände sind, ist<br />
unklar. Ebenso unklar ist, wieso keine Maßnahmen zu den<br />
„Herausforderungen im Integrationsbereich“ unternommen<br />
wurden, wenn doch die ÖVP die letzten 10 Jahre das Integrationsressort<br />
geführt hat. Statt nach einem nachhaltigen<br />
Lösungskonzept zu suchen, wird politisches Kleingeld mit<br />
Migrant:innen gemacht. So kündigte auch Bundeskanzler<br />
Karl Nehammer (ÖVP) an, Sozialleistungen für Zuwanderer<br />
kürzen zu wollen, mit der Begründung, dass man die „Fehler<br />
der 60er- und 70er- Jahre nicht wiederholen wolle“, als<br />
die Gastarbeiter:innen nach Österreich geholt wurden und<br />
„wider Erwarten blieben, Integrationsproblem inklusive.“<br />
„Es herrschen herausfordernde Zeiten“, so Steyer. „Wir<br />
als ÖVP haben die richtigen Antworten auf die Probleme.“<br />
Das sei laut Steyer „sicher ein Grund, warum wir bei jungen<br />
Menschen gut ankommen.“<br />
„Das ist ja nicht neu, dass als politische Taktik auf die<br />
© Zoe Opratko<br />
© Weingartner-Foto / picturedesk.com<br />
Seit Ende März regiert die ÖVP in Niederösterreich in Koalition mit der FPÖ.<br />
Im Arbeitsprogramm steht u.a. eine Deutschpflicht am Schulhof.<br />
Schwächsten in unserer Gesellschaft getreten wird, damit<br />
man eine bestimmte Wählerschicht erreicht“, so Adis<br />
Serifović, Vorsitzender der Muslimischen Jugend Österreich.<br />
„Nur dass man jetzt sogar jene Gruppe beschmutzt, die<br />
unser Land Österreich wirtschaftlich dorthin gebracht hat,<br />
wo wir jetzt sind, ist unglaublich beschämend. Ich wünsche<br />
mir, dass man endlich aufhört, Politik auf dem Rücken von<br />
marginalisierten Gruppen zu machen.“<br />
NICHT NUR ÖSTERREICH<br />
WIRD RECHTER<br />
Im schwarz-blauen Koalitionsabkommen in Niederösterreich<br />
verspricht die FPÖ mitunter Rückzahlungen von Corona-<br />
Strafen aus einem 30 Millionen Euro schweren Fond,<br />
Deutschpflicht an den Schulen und eine Wirtshausprämie<br />
für traditionelle österreichische Speisen auf dem Menü. Udo<br />
Landbauer spricht im Zusammenhang mit Entschädigungen<br />
für Corona-Strafenzahler und Impfgeschädigte von einem<br />
„Weg der Wiedergutmachung und Gerechtigkeit“. Landbauer<br />
gab in einem Interview mit dem Standard an, dass der Begriff<br />
„Menschenrechte“ mittlerweile „zu schwammig sei“. Er<br />
unterscheide demnach zwischen Rechten für „Staatsbürger<br />
und Nichtstaatsbürger“.<br />
Einen deutlichen Rechtsruck und von offenem Rassismus<br />
enthemmte Debatten sehen wir aber nicht nur in Österreich:<br />
Im EU-Vergleich reicht ein Blick auf Italien, Schweden, Belgien,<br />
Ungarn, Finnland und andere Länder, in denen Rechtspopulisten<br />
deutlich an Zuwachs gewinnen.<br />
„DAHAM STATT ISLAM“ – WAS KOMMT<br />
JETZT?<br />
Dabei ist der heimische Rechtsruck ja nichts Neues, Österreich<br />
scheint nur nicht daraus gelernt zu haben. Seit Jahren<br />
und Jahrzehnten wird auf dem Rücken von Migrant:innen<br />
rassistische Politik betrieben: Kopftuchverbote an Schulen,<br />
Islam-Landkarte, die Balkanrouten-Diskussion, und nicht<br />
zu vergessen die Wahlplakate, die tief in unseren Köpfen<br />
bleiben.<br />
Wir erinnern uns noch alle an die FPÖ-Slogans „Daham<br />
statt Islam“, „Heimatliebe statt Marrokanerdiebe“, „Pummerin<br />
statt Muezzin“, die plakativ auf uns in der ganzen Stadt<br />
herunterblickten. Diese Sprüche kennen nicht nur Menschen,<br />
die damals alt genug waren, um sie zu verstehen – auch<br />
jene, die nach dieser Zeit geboren sind, haben diese Aussagen<br />
verinnerlicht, wie die 16-jährige Nadin. Nadin ist Wienerin<br />
mit ägyptischem Migrationshintergrund. „Mein Vater hat<br />
mir von diesen Plakaten und Sprüchen erzählt. Ich weiß, was<br />
sie bedeuten“, so die Schülerin. Manch einer mag jetzt den<br />
Kopf schütteln und behaupten, so etwas wäre heutzutage ja<br />
gar nicht mehr möglich. Fehlanzeige, wie die neuesten Entwicklungen<br />
zeigen: „Jugendbanden & Problemviertel“ titelt<br />
die Wiener ÖVP neuerdings auf ihren Wahlplakaten. „Gegenden,<br />
in denen migrantische Jugendbanden herrschen und<br />
durch Abschottung Parallelgesellschaften mit eigenen Regeln<br />
entstehen. Das ist nicht normal“, liest man auf den Plakaten,<br />
mit denen Wien gerade zugepflastert wird. Übrigens, für die<br />
Einordnung: Statistiken zu der Kriminalitätsrate „migrantischer<br />
Jugendbanden“ per se werden von der polizeilichen<br />
Kriminalstatistik nicht erfasst, da viele Migrant:innen die<br />
österreichische Staatsbürger:innenschaft besitzen. Es bleibt<br />
also bei der Polemik.<br />
„Dadurch, dass immer mehr Politiker:innen so hochproblematische<br />
Aussagen tätigen, glauben immer mehr<br />
Menschen, dass das ja eh okay sei, so zu denken. Aber ich<br />
frage mich dann: Werde ich in Zukunft auch trotz meines<br />
Kopftuchs einen Job finden? Wie lange werde ich von dieser<br />
Gesellschaft noch akzeptiert werden?“, so die Gedanken<br />
der Schülerin. „Wir akzeptieren die Falschen in der Gesellschaft<br />
und, anstatt nach vorne zu gehen, entwickeln wir uns<br />
zurück“, resümiert sie. ●<br />
16 / POLITIKA | WIEN /<br />
/ POLITIKA | WIEN / 17
Herr Babler, wie<br />
lange hackelten<br />
Sie am Fließband?<br />
Wie viel Prozent<br />
der Stimmen<br />
wollen Sie bei<br />
der Mitgliederbefragung<br />
der SPÖ<br />
bekommen?<br />
Wie oft haben<br />
Sie sich schon<br />
über SPÖ-Bundesgeschäftsführer<br />
Christian<br />
Deutsch<br />
geärgert?<br />
Wie viele<br />
Politiker:innen<br />
in der SPÖ<br />
gehen Ihnen auf<br />
die Nerven?<br />
Wie viele<br />
Parteien haben<br />
Sie bereits in<br />
Ihrem Leben<br />
gewählt?<br />
Auf einer Skala<br />
von 0 bis 100:<br />
Wie viele Meter<br />
links von der<br />
Mitte stehen<br />
Sie politisch?<br />
Wie viel Euro<br />
pro Monat sollte<br />
man mit einem<br />
40-Stunden-<br />
Job mindestens<br />
netto verdienen?<br />
Wie viel Euro<br />
verdienen Sie<br />
netto im Monat<br />
als Bürgermeister?*<br />
Wie viele Jahre<br />
haben Sie in<br />
ihrem Leben<br />
am Fließband<br />
gearbeitet?<br />
Interview in Zahlen: In der Politik<br />
wird schon genug geredet. Biber<br />
fragt in Worten. Andreas Babler,<br />
Bürgermeister von Traiskirchen<br />
und Kandidat für die SPÖ-Führung,<br />
antwortet mit einer Zahl.<br />
Von Simon Kravagna, Fotos: Zoe Opratko<br />
56<br />
200<br />
12<br />
2<br />
62<br />
2.400<br />
3.950<br />
*Die SPÖ-Parteisteuer<br />
ist bei dieser Summe<br />
bereits abgezogen<br />
3<br />
Andreas Babler hat in Summe drei Jahre am<br />
Fließband gearbeitet.<br />
Als Jugendlicher ist er einmal in der HTL durchgefallen.<br />
Zwei Parteien hat die linke SPÖ-Hoffnung in seinem Leben<br />
bisher gewählt.<br />
Fünfmal war Babler in seinem Leben verliebt. Mit seiner Frau<br />
hat der SPÖ-Politiker eine achtjährige Tochter.<br />
Wie oft sind<br />
Sie in der HTL<br />
durchgeflogen?<br />
Wie oft haben<br />
Sie in „Das<br />
Kapital“ von<br />
Karl Marx<br />
reingelesen?<br />
Wie oft im<br />
Jahr hören Sie<br />
einen Song<br />
von Falco?<br />
Wie oft waren<br />
Sie richtig<br />
verliebt?<br />
Wie oft haben<br />
Sie ein Spiel<br />
des FC St. Pauli<br />
besucht?<br />
Wie viele<br />
Zuwander:-<br />
innen braucht<br />
Österreich<br />
pro Jahr?<br />
Wann könnte<br />
die Ukraine<br />
frühestens der<br />
EU beitreten?<br />
Wie viele<br />
Einwohner:-<br />
innen hat<br />
Traiskirchen?<br />
Wie viele<br />
Geflüchtete<br />
leben derzeit in<br />
Traiskirchen?<br />
Wie viele<br />
Geflüchtete<br />
lebten 2015 an<br />
Spitzentagen in<br />
Traiskirchen?<br />
1<br />
20<br />
365<br />
5<br />
16<br />
70.000<br />
2028<br />
21.009<br />
769<br />
6.500<br />
18 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 19
„Angriffe auf Geflüchtete<br />
sind Angriffe auf die<br />
Arbeiterklasse.“<br />
Von Nada El-Azar-Chekh, Foto: Christoph Liebentritt<br />
Wer ist sie?<br />
Kübra Atasoy ist<br />
langjährige politische<br />
Aktivistin und<br />
Linguistin. Seit 2013<br />
ist sie bei Asyl in<br />
Not, übernahm 2018<br />
die Geschäftsführung<br />
und löste 2021<br />
Michael Genner als<br />
Vorsitzenden ab.<br />
Die Organisation Asyl in Not saß<br />
seit ihrer Gründung Mitte der<br />
80er-Jahre im Wiener WUK. Nun<br />
musste sie der Generalsanierung<br />
des Hauses weichen – ohne Aussicht<br />
auf ein Ersatzquartier oder eine<br />
Rückkehr ins WUK. Im letzten<br />
Interview aus der Basis erzählt<br />
Vorsitzende Kübra Atasoy, wie in der<br />
Politik Österreichs Grenzen längst<br />
überschritten wurden.<br />
<strong>BIBER</strong>: Wie kam es zur Räumung des<br />
Büros von Asyl in Not, das seit jeher im<br />
WUK war?<br />
KÜBRA ATASOY: Der Verein WUK, der<br />
ursprünglich eine Hausbesetzung war,<br />
hat einen Mietvertrag mit der Stadt Wien<br />
unterzeichnet, um dringende Sanierungsarbeiten<br />
durchführen zu können. Deshalb<br />
müssen alle Institutionen das Haus für<br />
eine gewisse Zeit verlassen. Dagegen<br />
spricht in erster Linie gar nichts. Allerdings<br />
haben alle anderen Institutionen<br />
vom WUK ein Ersatzquartier zugewiesen<br />
bekommen – so war es anfangs auch mit<br />
Asyl in Not geplant. Ende Jänner wurden<br />
wir jedoch informiert, dass wir doch kein<br />
Ersatzquartier bekommen, und, dass wir<br />
unsere „Arbeit pausieren mögen“.<br />
Wie sollte eine Organisation wie Asyl in<br />
Not pausieren?<br />
Genau, Asyl in Not kann die Arbeit nicht<br />
pausieren – wir vertreten Menschen vor<br />
Gericht und vor Behörden, die politisch<br />
verfolgt werden, oder denen als<br />
Geflüchtete Menschenrechte verwehrt<br />
bleiben. Es laufen aktuell Hunderte<br />
aktive Verfahren mit dem Bundesamt für<br />
Fremdenwesen und Asyl, dem Bundesverwaltungsgericht<br />
oder dem Landesverwaltungsgericht.<br />
Wenn ich meine<br />
Arbeit pausieren muss, dann müssten<br />
die betreffenden Behörden und Gerichte<br />
ebenfalls ihre Arbeit niederlegen. Wir<br />
haben innerhalb von drei Wochen Tausende<br />
Gerichtsakten digitalisiert, was wir<br />
jahrelang aufgeschoben hatten – sollte<br />
auch nur einer von ihnen beim Auszug<br />
verloren gehen, kann ich für immer<br />
zusperren.<br />
Warum sollte sich die Mehrheitsgesellschaft<br />
für die Rechte von Geflüchteten<br />
interessieren?<br />
Am Status der Geflüchteten zeigt sich<br />
der Zustand des strukturellen Rassismus<br />
in Österreich deutlich. Wir haben es mit<br />
Menschen zu tun, denen grundlegende<br />
Menschenrechte verwehrt werden,<br />
wie etwa das Recht auf Arbeit oder<br />
das Recht auf ein menschenwürdiges<br />
Zuhause. Gleichzeitig ist dieser Zustand<br />
ein guter Spielball für die Politik: Themen<br />
rund um Asyl und Flucht werden<br />
nur plakativ verwendet, um allgemeine<br />
Grundrechte abzubauen. Wer wie<br />
Bundeskanzler Nehammer davon spricht,<br />
Asylberechtigten Sozialleistungen zu<br />
kürzen, spricht davon, österreichischen<br />
StaatsbürgerInnen Sozialleistungen zu<br />
kürzen – jedoch durch die Hintertür.<br />
Welche Mythen gibt es rund um AsylwerberInnen<br />
und Geflüchtete in Österreich,<br />
die endlich geklärt werden sollten?<br />
Ich sage es so: Unsere KlientInnen sind<br />
ganz normale Angehörige der österreichischen<br />
Arbeiterklasse. Es gibt de<br />
facto keine Flüchtlinge hierzulande, die<br />
es sich leisten könnten, nicht zu arbeiten.<br />
Sie sind verantwortungsbewusste<br />
Menschen, die Familien zu versorgen<br />
haben und versuchen, sich hier etwas<br />
aufzubauen. Schon aus purem Überlebensinteresse<br />
wollen viele erst gar nicht<br />
in die Kriminalität rutschen. Ich möchte<br />
gerne darüber diskutieren, warum unter<br />
dem Begriff der ArbeiterInnenschicht in<br />
Österreich nicht nur der weiße, mittelalte<br />
Metallarbeiter verstanden werden<br />
sollte, sondern auch alle Menschen, die<br />
in der Pflege arbeiten – dokumentiert<br />
oder undokumentiert – oder auch junge<br />
Menschen, die bei Lieferdiensten arbeiten.<br />
Angriffe auf Geflüchtete sind somit<br />
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse.<br />
Diese Diskussion wird weder von links,<br />
noch von rechts geführt.<br />
Wie bewertest du die jüngsten politischen<br />
Entwicklungen in Österreich auf<br />
persönlicher Ebene?<br />
Wenn in Österreich ein Bundeskanzler<br />
öffentlich sagen kann, dass er die GastarbeiterInnen<br />
bereut, dann ist eindeutig<br />
ein Damm gebrochen. Dasselbe gilt für<br />
seine Parteikollegen, die mitten in der<br />
Stadt unverschämt gegen MigrantInnen<br />
hetzen und sich auf Social Media profilieren<br />
wollen. Auch meine Großeltern<br />
sind mit dem zweiten Zug 1964 nach<br />
Österreich gekommen und haben sich<br />
ihre Körper kaputtgeschuftet – davon<br />
profitiert Österreich bis heute. Mittlerweile<br />
berühren mich solche Aussagen aber<br />
kaum mehr, denn ich kann mir ohnehin<br />
die Namen der jeweiligen Parteichefs<br />
nicht mehr merken. Sie entfalten keinerlei<br />
politische Kraft mit dieser Stimmungsmache<br />
– für mich hat das Ganze mehr<br />
von einem Todesringen um Relevanz.<br />
Wie viele Menschen sind bei Asyl in Not<br />
tätig, und wie finanziert ihr euch?<br />
Wir sind als politische Organisation<br />
ein Rechtsberatungsbetrieb mit sechs<br />
Angestellten und einigen ehrenamtlichen<br />
JuristInnen. Außerdem bilden wir<br />
Menschen kostenlos in Sachen Asylrechtsberatung<br />
aus. Wir werden zu 95<br />
Prozent aus Spenden finanziert, vereinzelt<br />
bekommen wir projektbasierte<br />
Förderungen.<br />
Asyl in Not ist eine unabhängige<br />
Menschenrechts-NGO, die Geflüchteten<br />
in Österreich Rechtsberatung<br />
und Vertretung in Asylverfahren<br />
bietet. Mehr Infos findet ihr unter:<br />
asyl-in-not.org<br />
Professionalität<br />
liegt uns im Blut.<br />
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Pflege einfach mehr.<br />
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die wir kompetent betreuen<br />
und deren Lebensqualität uns<br />
am Herzen liegt.<br />
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wir mit unserer Expertise zur<br />
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denen wir Arbeit mit Sinn,<br />
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20 / POLITIKA | WIEN /<br />
HB_Anz_Kampagne_Herzlichk_Muttermal_Spende_207x135_RZ.indd 1 11.<strong>04</strong>.<strong>23</strong> 18:21
NACH DEM ERDBEBEN IN DER TÜRKEI:<br />
EIN BRIEF AN<br />
HATAY, MEINE<br />
HEIMATSTADT<br />
Von Mercan Falter (Text und Fotos)<br />
HATAY,<br />
Memleketim [Anm., Türkisch für „meine Heimatstadt“].<br />
Ich bin nicht auf deiner Erde geboren, aber meine Wurzeln<br />
gehen tief. Ich bin die gesamten Sommer meiner Kindheit<br />
und darüber hinaus durch deine Straßen gelaufen, habe dein<br />
Salzwasser geschmeckt, wurde in deine klimatische und<br />
menschliche Wärme gehüllt und aufgezogen. Jedes Jahr<br />
kam ich als ein anderer Mensch bei dir an, ein bisschen älter,<br />
größer und reifer. Du bist im Grunde immer gleich geblieben,<br />
eine vertraute Konstante. Letztes Jahr kam ich dann auch zu<br />
zweit, habe dir meinen Lebenspartner vorgestellt, dein Henna<br />
auf meine Hände gestrichen bekommen. Umkreist von<br />
den wärmsten, liebevollsten und aufopferndsten Menschen,<br />
die du zu bieten hast. Sie haben dich zu dem gemacht, was<br />
du für mich bist. Meine Heimat.<br />
Sechs von diesen Menschen fehlen heute. Und wie sie<br />
fehlen. Ein dunkler Schleier hat sich über die Stelle in meinem<br />
Körper gelegt, in der ich all meine leuchtenden Erinnerungen<br />
an dich gespeichert habe.<br />
Die heutige Reise zu dir ist gleich von Beginn an völlig<br />
anders. Ich fliege nicht direkt, sondern lande in der nächstgelegenen<br />
Provinz Adana und nehme den Bus zu dir. Dein<br />
Flughafen ist zerstört. Die Reise ist es aber nicht, die mich<br />
nervös macht. Zum ersten Mal in meinem Leben steige<br />
ich nicht mit Vorfreude ins Flugzeug zu dir. Ich bin traurig,<br />
nervös und habe Angst vor dem, was ich wohl sehen werde.<br />
Wochenlang habe ich Bilder und Videos von dir studiert und<br />
versucht, vertraute Gegenden zu erkennen, doch es wirkte<br />
alles wie ein surrealer Film. „Bereite dich darauf vor, was<br />
du sehen wirst“, sagt mir meine Familie. Wie bereitet man<br />
sich auf so was vor? Es wirkt doch alles immer noch wie ein<br />
Albtraum.<br />
Und so bleibt es auch, als ich das erste Mal deine zerstörten<br />
Häuser erblicke. Es sackt nicht. Ich beobachte die<br />
Zelte, die an jeder Ecke und vor jedem Haus aufgestellt sind.<br />
Ich erblicke einen Kinderspielplatz, drei Zelte sind um die<br />
bunten Klettergerüste gespannt. Jede deiner freien Flächen<br />
wird genutzt. Seit Wochen schlafen alle deine Menschen<br />
in diesen Zelten, wenn sie nicht schon in andere Provinzen<br />
geflohen sind. Die Nachbeben waren so häufig und heftig<br />
und fast alle deine noch stehenden Gebäude zu beschädigt,<br />
um in ihnen beruhigt die Augen schließen zu können. Jedes<br />
Zelt sieht anders aus: Manche sind blau mit chinesischen<br />
Schriftzeichen, auf manchen steht UK Aid, andere sind<br />
weiß mit dem AFAD-Logo. Doch viele, so viele sind selbst<br />
gemacht. Mit Planen und Paletten und Schnüren an die noch<br />
stehenden Häuser aufgebaut.<br />
Und dann stehe ich da. Dein Cay Viertel in Iskenderun,<br />
ich erkenne es nicht wieder. Kein Stein steht auf dem anderen.<br />
Was von deinen vielen Häusern hier übrig geblieben ist,<br />
ist ein einziger Haufen. Sie sind dem Boden gleich. Dazwischen<br />
ragen Kleider, Zettel, Schuhe, Spielsachen hervor.<br />
Entlang der Trümmer haben deine Menschen überall Fotos<br />
ausgebreitet, die sie aus den Trümmern gezogen haben. Ich<br />
frage mich, wie viele von all jenen, die mir aus den Familienalben<br />
herauslächeln, hier wohl ihr Leben verloren haben.<br />
Ich gehe behutsam durch die schmale Spur, die durch die<br />
Verwüstung gezogen wurde, und bin an meinem Ziel. Die<br />
Adresse, die wir hilfesuchend vier Tage lang durch alle<br />
Kanäle gejagt haben. Die Adresse des neuen Hochhauses,<br />
das meine Tante, meinen Onkel, meinen Cousin, seine Frau<br />
und ihr 10 Monate altes Baby unter sich vergraben und in<br />
den Tod gerissen hat. Statt pompöse 15 Stockwerke, finde<br />
ich vor mir einen Haufen, der keine zwei Stockwerke hoch<br />
ist. Ich verstehe jetzt, wieso wir in Wien leichter auf gute<br />
Nachrichten von dir hoffen konnten. Hier steht nichts. Die<br />
wenigen, viel zu dünnen Stahlträger leuchten wie Spaghetti<br />
ineinander geflochten rostrot aus dem Grau.<br />
Und nun kommen sie endlich, die Tränen. Ich hatte<br />
lange auf sie gewartet. Sie brechen aus mir heraus, aber der<br />
Schmerz dringt nicht durch die Taubheit. Jedes Mal, wenn<br />
ich an deinen Trümmern vorbeifahre, halte ich unbewusst<br />
den Atem an. Das Gesicht verzieht sich schmerzvoll, aber<br />
der Schmerz bleibt aus. „Wie sollst du dich nur jemals<br />
davon erholen?“, flüstere ich dir zu. Viele Wochen nach der<br />
Katastrophe hat sich eine merkwürdige Stimmung in deinen<br />
Straßen entwickelt. Eine Kombination bestehend aus akuter<br />
Krise und dem Versuch, weiterzumachen. Gegenüber eines<br />
schwer beschädigten und verlassenen Hauses suchen die<br />
Menschen Zerstreuung durch Sport und trainieren in der<br />
Auslage eines Fitnesscenters. Viele Autos fahren durch<br />
deine Straßen, es sind Menschen unterwegs, aber niemand<br />
schlendert oder spaziert gemeinsam. Deine Promenade steht<br />
unter Wasser. Die Menschen, die unterwegs sind, haben alle<br />
Gründe, warum sie da sind. Sie stehen vor ihren Trümmern,<br />
suchen nach einem funktionierenden Bankomaten, versuchen<br />
Proviant zu besorgen oder sind eine von den vielen<br />
freiwilligen Helfer:innen, die angereist sind, um in deinen<br />
Zeltstädten auszuhelfen. Ich habe innerhalb einer Woche<br />
niemanden von AFAD, Polizei oder anderen Hilfsorganisationen<br />
auf deinen Straßen gesehen. Du wurdest dir selber<br />
überlassen. Menschen stehen Schlange vor deinem ebenso<br />
schwer beschädigten Gerichtsgebäude, das im Notbetrieb zu<br />
Spielsachen, Zettel, Fotos: Viel ist nicht übrig geblieben.<br />
22 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / <strong>23</strong>
funktionieren versucht. Was für ein nahezu lachhaft plakatives<br />
Symbol für den Zustand deiner Demokratie.<br />
Ich begleite jeden Tag meinen Cousin und meine Cousine<br />
bei dem Versuch, ihre Amtswege nach dem Verlust ihrer<br />
Eltern zu begehen. Bei jeder Einleitung und Erklärung, dass<br />
ihre Eltern gestorben sind und sie sich deshalb hier jetzt um<br />
die Stromrechnung / Wasserrechnung / Kredite / Auto s/<br />
Versicherungen / usw. von ihnen kümmern müssen, kommt<br />
eine höfliche Beileidsbekundung und dann gleich zur Sache.<br />
Deine Menschen erschüttert das nicht mehr, sie begegnen<br />
jeden Tag nur noch Menschen, die alles verloren haben. Sie<br />
erzählen mir, wie sie die Nacht erlebt haben, in der sich alles<br />
für immer geändert hat. Sie konnten nichts tun, außer sich<br />
festzuhalten, zu beten und auf das Ende der ersten Entladung<br />
zu warten, um im Pyjama in die Kälte hinaus zu fliehen.<br />
Sie erzählen davon, wie tagelang keine Hilfe kam. „Wir waren<br />
auf uns alleine gestellt. Wenn du selber keine Menschen<br />
unter den Trümmern hattest, bist du zu anderen Häusern hin<br />
und hast den Angehörigen beim Graben geholfen“, erzählt<br />
mir mein Onkel. Er schläft nicht, er hat zu viele Leichen<br />
geborgen. Darunter auch die Leichen unserer Familie. Doch<br />
zumindest konnten wir sie bergen, sie deiner Erde übergeben<br />
und verabschieden. In einer deiner Wohnsiedlungen in<br />
Arsuz wurde mit den Arbeiten noch nicht mal begonnen. Es<br />
riecht nach Verwesung.<br />
Zwischen all den zerstörten Gebäuden ragen immer<br />
wieder makellose Hotels, Einkaufszentren u.Ä. heraus. Sie<br />
stechen als schmerzhafte Erinnerung an dich heraus und<br />
beklagen, dass dieses Ausmaß nicht hätte sein müssen, dass<br />
deine Häuser – ordentlich gebaut – nicht so leicht in sich<br />
zusammengefallen wären und nicht diese unvorstellbar hohe<br />
Todeszahl zur Folge gehabt hätten und: Dass Korruption<br />
tötet.<br />
Deine Menschen brauchen Hoffnung, Hatay. Sie sind<br />
resilient, stark und lehnen sich, so gut sie können, gegen ihr<br />
Schicksal auf. Doch mit jedem Schlag, jedem Unwetter, jeder<br />
weiteren Präsentation des Unwillens der Regierung, zu helfen,<br />
wächst ihre Verzweiflung. Sie sind schwer traumatisiert.<br />
Niemandem geht es gut. Die Welt hat bereits nach kurzer<br />
WIE SIEHT ES AKTUELL IN HATAY AUS?<br />
Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien am 6. Februar<br />
20<strong>23</strong> mit der Magnitude 7,8 Mw verzeichnet stand Mitte April über<br />
56.000 Todesopfer, etwa 2,5 Millionen Menschen mussten aus ihrer<br />
Heimat fliehen. Die türkische Provinz Hatay im Südosten der Türkei<br />
ist mitunter am stärksten von der Katastrophe betroffen: Helfer:innen<br />
vor Ort beklagen die Knappheit von Grundnahrungsmittel und<br />
sauberem Trinkwasser und durch das Fehlen von Sanitäranlagen<br />
bestehe auch die Sorge eines folgendem Gesundheitsproblems. Ein<br />
Teil der Betroffenen hat das Gebiet bereits verlassen. Familien und<br />
ältere Menschen, die die nötigen finanziellen Mittel dazu nicht besitzen<br />
stecken allerdings fest und hoffen nach wie vor auf Hilfe. Laut<br />
Expert:innen aus Diyarbakir sei auch das Versprechen des Präsidenten<br />
Erdoğan, alle Gebäude innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen<br />
unrealistisch. Sie sprechen von möglichen fünf Jahren.<br />
Hatay in Trümmern – kein Stein steht mehr auf dem anderen.<br />
Zeit weitergemacht, während ihre seit dem 6. Februar still<br />
steht. Ihr einziger Hoffnungsschimmer ist die Wahl im Mai.<br />
Alle wollen sie für Veränderung wählen. Bis dahin bleiben sie<br />
auf jeden Fall hier, sagen sie. „Wir sind nicht weg, wir sind<br />
da“, schreiben sie auf deine Mauern. Bis dahin machen sie<br />
weiter, existieren in den Tag und in die Nacht hinein. „Das<br />
wird sich alles an diesem Maitag weisen“, erklären sie mir.<br />
Bis dahin ist ihre Zukunft ungewiss und zu abstrakt für Pläne.<br />
„Und wenn sich nichts ändert?“, frage ich vorsichtig. Doch<br />
daran denkt niemand, sie glauben an dich, Hatay. Sie glauben<br />
daran, dass deine Identität, deine Geschichte und deine<br />
gelebten Werte der Einigkeit zu stark sind, um völlig zerstört<br />
zu sein. Inmitten des Elends kehrt der Frühling bei dir ein. Du<br />
strahlst grün und streckst dich der Sonne entgegen. Deine<br />
Zitronenbäume sind bereit für die Ernte. Der Morgen riecht<br />
nach Jasmin. Du kehrst zurück zu uns, Hatay, und wir immer<br />
wieder zu dir.<br />
In liebender Erinnerung an Cahide, Rafi, Serhan, Basak, Mahir<br />
und Nejdet. Möge euch und den vielen tausenden Opfern die<br />
Erde leicht sein. ●<br />
Mercan Falter ist Wienerin mit arabisch-alevitischen Wurzeln<br />
in der Türkei. Die 32-jährige arbeitet als Redakteurin<br />
in der Arbeiterkammer Wien und als freischaffende Fotografin.<br />
Sie studiert Digitalisierung, Politik und Kommunikation<br />
im Master und beschäftigt sich mit Themen rund um<br />
gesellschaftliche Auswirkungen von KI und Algorithmen,<br />
Antirassismus und Feminismus.<br />
BERUF(UNG)<br />
MIT ZUKUNFT<br />
Arbeitest du gerne mit Jugendlichen, bist kreativ<br />
und möchtest ein Vorbild für die Generation von<br />
morgen sein? Dann ab in die Schule mit dir!<br />
„Als Lehrer betrete ich jeden<br />
Tag Dutzende von völlig<br />
unterschiedlichen Welten –<br />
das Innenleben jeder einzelnen<br />
Schüler:in. Meine Arbeit<br />
kann nie langweilig sein, denn<br />
die Begegnung mit Kindern<br />
fordert mich ständig heraus,<br />
zu lernen, mich zu verändern<br />
und meine Meinung zu<br />
ändern. Es gibt eine Art von<br />
Geben und Nehmen beim<br />
Lehren. Letztendlich können<br />
Kinder brillant und langweilig<br />
sein. Und kreativ. Und<br />
banal, und gelangweilt und<br />
spektakulär fleißig und alles<br />
dazwischen“, so Alexander,<br />
Mittelschullehrer aus Wien.<br />
Als Pädagog:in übst du<br />
nicht nur einen abwechslungsreichen<br />
Beruf mit Sinn<br />
aus, sondern hast auch die<br />
Chance, dich aktiv im Bildungssystem<br />
einzubringen.<br />
Kein Tag ist dabei wie der<br />
andere: Als Ansprechperson<br />
für Schüler:innen machst du<br />
einen Unterschied in ihrem<br />
Leben und kannst dabei zum/<br />
zur Mentor:in oder sogar<br />
Schulleiter:in aufsteigen.<br />
Quereinstieg ins<br />
Klassenzimmer<br />
Es muss nicht immer ein<br />
Lehramtsstudium sein: Nach<br />
einem fachlich geeigneten<br />
Studium, zum Beispiel als<br />
Chemiker:in, und mit etwas<br />
Berufserfahrung und einem<br />
Eignungstest kannst du als<br />
Chemielehrer:in quer in den<br />
Lehrberuf einsteigen. Mache<br />
mehr aus deinem Know-How,<br />
indem du dein Wissen ins<br />
Klassenzimmer trägst und<br />
Jugendliche dazu motivierst,<br />
ihre Zukunft selbst in die<br />
Hand zu nehmen.<br />
Informiere dich hier über den<br />
Quereinstieg in<br />
den Lehrberuf:<br />
JETZT<br />
BEWERBEN !<br />
Vom 25. April bis<br />
05.Mai 20<strong>23</strong> kannst<br />
du dich für die Lehrtätigkeit<br />
an zB,<br />
einer Volksschule,<br />
Mittelschule,<br />
Sonderschule,<br />
Polytechnischen<br />
Schule oder<br />
privaten Pflichtschule<br />
bewerben.<br />
Dieses Special ist in Kooperation mit der Bildungsdirektion entstanden. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei biber.<br />
24 / POLITIKA /
„DU WIRST ARZT, ANWALT,<br />
ODER EINE ENTTÄUSCHUNG“<br />
WARUM MIGRA-ELTERN IHRE<br />
KINDER AN DIE UNI DRÄNGEN.<br />
Für viele Kinder aus migrantischen Familien gibt es in Sachen<br />
Ausbildung nur zwei Möglichkeiten: ein gut angesehenes Studium<br />
zu absolvieren oder zur Enttäuschung der Familie erklärt werden.<br />
Von Maria Lovrić-Anušić, Fotos: Zoe Opratko<br />
Ohne ein Studium bist du<br />
nichts“, diesen Spruch<br />
musste sich Mateo von<br />
seinen bulgarischen Eltern<br />
sein ganzes Leben lang anhören. Was<br />
genau er studieren sollte, gaben sie<br />
ihm nicht vor. Allerdings hatten sie eine<br />
Anforderung – er solle einen Studiengang<br />
mit Prestige, wie beispielsweise Medizin<br />
oder Rechtswissenschaften, wählen.<br />
Ihrer Auffassung nach würde der heute<br />
28-jährige nur so von seiner Umwelt respektiert<br />
und angesehen werden. Mateo<br />
selbst wollte nie studieren, denn Prestige<br />
und Ansehen waren für ihn immer nur<br />
nebensächlich. Die finanzielle Abhängigkeit<br />
von seinen Eltern ließ ihn allerdings<br />
einknicken. So kam es dazu, dass er vier<br />
Semester lang ohne jegliche Motivation<br />
Wirtschaftsrecht studierte. Sein Wunsch,<br />
eine Lehre zum Elektriker oder Installateur<br />
zu machen, wäre den Vorstellungen<br />
seiner Eltern sowieso nie gerecht<br />
geworden. Für sie stand immer fest, dass<br />
er auf gar keinen Fall „nur“ eine Ausbildung<br />
absolvieren dürfe. Mateo begann<br />
jedoch, sich heimlich ein eigenes Leben<br />
aufzubauen. Um auf eigenen Beinen zu<br />
stehen und sein Studium endlich abbrechen<br />
zu können, suchte er sich ohne das<br />
Wissen seiner Eltern einen Vollzeitjob in<br />
einem Büro für Projektmanagement und<br />
eine eigene Wohnung. „Natürlich war<br />
ich dann die Enttäuschung der Familie“,<br />
erzählt Mateo etwas zynisch über seinen<br />
Ausbruch aus den familiären Zwängen.<br />
Seine Eltern geben heute noch abfällige<br />
Kommentare zu seinem Abbruch<br />
ab, diese kümmern ihn allerdings nicht.<br />
„Sie sind sowieso zurück nach Bulgarien<br />
gezogen, also kann es mir eigentlich<br />
wurscht sein.“<br />
So wie Mateo ergeht es vielen Migra-<br />
Kids in Sachen Berufswahl und Ausbildung.<br />
Egal ob im engen Freundeskreis<br />
oder auf Onlineplattformen wie „Studis<br />
Online“ erzählen immer mehr junge Menschen<br />
von den strengen Forderungen<br />
ihrer Eltern. Sie berichten vom Zwang zu<br />
studieren und davon, dass Lehrberufe<br />
als absolutes No-Go angesehen werden,<br />
da man mit einem derartigen Abschluss<br />
kein vernünftiges Geld verdienen könne.<br />
Dabei haben sowohl Akademiker:innen<br />
als auch Lehrlinge im Durchschnitt die<br />
gleichen Berufschancen. Laut der Studie<br />
„Bildung auf einen Blick“ der Organisation<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung aus dem Jahr 2019 liegt<br />
die Beschäftigungsquote der 25-34-jährigen<br />
Akademiker:innen bei 85%. Dieselbe<br />
Quote gilt auch für die gleichaltrigen<br />
Absolvent:innen der Sekundarstufe,<br />
Der Druck der Familie hält viele davon ab, ihren eigenen<br />
Wünschen nachzugehen.<br />
26 / RAMBAZAMBA | WIEN / / RAMBAZAMBA | WIEN / 27
darunter fallen auch Lehrlinge. In den<br />
meisten Fällen meinen es die Eltern nur<br />
gut, da sie sich für ihre Kinder ein sorgenloses<br />
Leben wünschen. Sie merken<br />
jedoch nicht, wie stark sie ihre Kinder<br />
einschränken und unter Druck setzen.<br />
VERSTÄRKTER DRUCK AUF<br />
ZWEITE GENERATION<br />
Migrant:innen in der zweiten Generation<br />
trifft der Druck, einen akademischen<br />
Abschluss erreichen zu müssen, besonders<br />
stark, erklärt Universitätsdozent<br />
und Referent für Integrations- und<br />
Sprachenpolitik der österreichischen<br />
Arbeiterkammer Oliver Gruber. Vor allem,<br />
wenn die Eltern freiwillig ins Zielland<br />
migriert sind, spielt oft ihr Verlangen<br />
nach Verbesserung der eigenen und der<br />
Lebensbedingungen der Kinder eine Rolle.<br />
Eine Auswertung der Statistik Austria<br />
bezüglich des Bildungsstandes aus dem<br />
Jahre 2021 zeigt auf, dass 17,1% der<br />
Migrant:innen der zweiten Generation in<br />
Österreich einen Universitäts-, FH- oder<br />
Akademieabschluss besitzen. Das sind<br />
nur knappe drei Prozent weniger als bei<br />
Menschen ohne Migrationshintergrund<br />
(19,9%). Es lässt sich beobachten, dass<br />
die Ansprüche der Eltern an ihre Kinder<br />
enorm hoch sind. Die Kinder fangen oft,<br />
auch wenn ihre schulischen Leistungen<br />
es gar nicht nahelegen, ein Studium an.<br />
„In der Literatur spricht man von dem<br />
‚Aspiration – Achievement Gap‘. Vereinfacht<br />
gesagt ist dies die Kluft zwischen<br />
Für migrantische Eltern bedeutet ein<br />
Diplom ein sorgenfreies Leben.<br />
dem Anspruch und dem tatsächlich<br />
erreichten Bildungsziel“, so Gruber.<br />
SOZIALE HIERARCHIEN<br />
UND UNWISSENHEIT<br />
„Meine Eltern sahen in mir einen Ausweg<br />
aus der unteren sozialen Schicht“,<br />
erzählt Nayla. Die Eltern der 26-jährigen<br />
Kurdin wuchsen in kleinen Dörfern in der<br />
Türkei auf. Sie mussten sowohl in ihrer<br />
Heimat als auch in Österreich ständig<br />
harte Knochenjobs verrichten. Um ihrer<br />
Tochter dieses Schicksal zu ersparen,<br />
drängten sie Nayla an die Universität. So<br />
kam es dazu, dass sie ihr Lehramtstudium<br />
begann. „Dieses Phänomen nennt<br />
sich ‚Zuwanderungsoptimismus Effekt‘.<br />
Migrantische Eltern haben die Vorstellung,<br />
dass in unserer Gesellschaft der<br />
eigene Status nur durch Bildung erhöht<br />
werden kann und haben deshalb hohe<br />
idealistische Bildungsziele für ihre Kinder“,<br />
so der Universitätsdozent.<br />
Nayla hatte allerdings bereits in der<br />
Schule ständig schlechte Noten und<br />
war mit den Erwartungen ihrer Eltern<br />
überfordert. Sie sehnte sich danach,<br />
eine Lehre zu beginnen und ihr eigenes<br />
Geld zu verdienen. Für ihre Eltern<br />
ein unvorstellbares Szenario. Das sei<br />
nicht zuletzt daran gelegen, dass sie nie<br />
wirklich gewusst hätten, was Lehrberufe<br />
eigentlich waren, wie Nayla berichtet. Sie<br />
hatten das Vorurteil, dass man mit einem<br />
Lehrberuf nur körperlich stark strapazierende<br />
Berufe ausüben könne. „Es wurde<br />
schon häufig festgestellt, dass unter<br />
Migrant:innen ein Informationsdefizit darüber<br />
vorhanden ist, welche Schulwege<br />
es gibt und wie die Jobmöglichkeiten mit<br />
einer Lehre aussehen“, erklärt Gruber.<br />
Das führt dann dazu, dass der ‚Standard<br />
– Ausbildungsweg‘ - sprich Matura mit<br />
darauffolgendem Studium - angestrebt<br />
wird. Aus diesem Grund stieß Nayla<br />
auch auf taube Ohren, als sie nach vier<br />
Semestern merkte, dass ihr das Studium<br />
nicht lag. „Ist doch egal, Hauptsache du<br />
hast die Uni gemacht und dir geht es<br />
später besser“, versuchte ihr Vater sie<br />
von einem Studienabbruch abzuhalten.<br />
Sie blieb jedoch standhaft und wechselte<br />
zum Studium „Soziale Arbeit“. Das<br />
alles gegen den Willen ihrer Eltern, denn<br />
die hatten die Sorge, dass Nayla auch<br />
dieses Studium abbrechen würde. Umso<br />
glücklicher und vor allem stolz waren sie,<br />
„<br />
Manchmal frage ich<br />
mich, wie es heute<br />
wäre, wenn ich<br />
damals eine Lehre<br />
gemacht hätte.<br />
“<br />
als die 26-jährige dann ihren Abschluss<br />
in der Tasche hatte. Auch wenn dieser<br />
Moment der Bestätigung für Nayla unbeschreiblich<br />
schön war, ist ihr dennoch<br />
bewusst, wie viel sie für diesen Titel, den<br />
sie nie wirklich haben wollte, geopfert<br />
hatte. „Manchmal frage ich mich, wie es<br />
heute wäre, wenn ich damals eine Lehre<br />
gemacht hätte.“<br />
DAS GUT ANGESEHENE<br />
STUDIUM<br />
Nicht nur ob die Kinder studieren, sondern<br />
auch welches Studium sie wählen,<br />
möchten viele Eltern kontrollieren. Sara<br />
wollte zwar selbst schon immer studieren,<br />
nur eben nicht das, was sich ihre<br />
Eltern für sie vorgestellt hatten. „Was<br />
sollen wir unseren Verwandten in Ägypten<br />
erzählen, wenn sie wissen möchten,<br />
was du aus deinem Leben machst?“,<br />
fragte der Vater der 25-jährigen enttäuscht<br />
und aufgebracht. Grund für seine<br />
Aufregung war ihre Studienwahl: Soziologie.<br />
Ihre Eltern stammen aus Ägypten<br />
und zogen, was das Thema Studieren<br />
angeht, immer einen Vergleich dazu,<br />
was in ihrer Heimat als gut angesehen<br />
gilt. Sie hätten sich gewünscht, dass sie<br />
Medizin studiert, weil sie dann in ihren<br />
Augen einen guten Titel in der Tasche<br />
hätte. „Ich habe meinen Eltern zuliebe<br />
die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium<br />
geschrieben, aber ich habe extra<br />
nichts dafür gelernt, damit ich durchfalle“,<br />
erzählt Sara. Ihr war von Anfang<br />
an bewusst, dass sie auf jeden Fall das<br />
Soziologiestudium beginnen würde. Auf<br />
diese Entscheidung folgte allerdings<br />
ein Jahr voller Schuldgefühle, denn<br />
ihre Eltern ließen sie ihre Enttäuschung<br />
spüren. Sie betonten oft, dass sie extra<br />
nach Österreich gekommen wären, nur<br />
um ihren Kindern eine bessere Zukunft<br />
bieten zu können, und nun würden sie so<br />
„Was, wenn ich gar nicht studieren will?“<br />
28 / RAMBAZAMBA | WIEN / / RAMBAZAMBA | WIEN / 29
„<br />
Du bist eine Frau,<br />
du kannst da nicht<br />
mithalten!<br />
“<br />
hintergangen werden. „In dem Moment,<br />
in dem Kinder das Gefühl haben, sie<br />
müssen jene Opfer gutmachen, die ihre<br />
Eltern erbracht haben, in dem sie nach<br />
Österreich gekommen sind, um ihnen<br />
eine bessere Zukunft zu ermöglichen,<br />
spricht man in der Literatur vom ‚Immigrant<br />
Bargain‘“, so Gruber. Es findet eine<br />
Art Handel zwischen den Kindern und<br />
der älteren Generation statt.<br />
Sara musste eine Menge Überzeugungskünste<br />
an den Tag legen, um ihre<br />
Eltern endlich zu beruhigen und auf ihre<br />
Seite zu ziehen. Als sie verstanden, dass<br />
sie nach dem Studium in die Forschung<br />
gehen oder an der Uni lehren könnte,<br />
waren sie endlich stolz. Heute kann Sara<br />
über die Geschehnisse und den Stress<br />
lachen. Damals war sie allerdings von<br />
Schuldgefühlen zerfressen und das nur,<br />
weil sie ihren eigenen Wünschen nachgegangen<br />
war.<br />
POLIZEISCHULE STATT<br />
UNIVERSITÄT<br />
„Das waren die schlimmsten Jahre für<br />
mich“, erzählt Selma über ihre Zeit in der<br />
Handelsakademie. Die Wirtschaftsfächer<br />
fielen der 22-jährigen mit bosnischen<br />
Wurzeln schwer und sie spürte bis zur<br />
Matura hin, dass die HAK eine falsche<br />
Entscheidung war. Sie hatte sowieso nie<br />
vor zu studieren und erst recht nichts im<br />
Wirtschaftsbereich. Der Besuch der Handelsakademie<br />
war allerdings auch nicht<br />
ihre eigene Entscheidung, sondern die<br />
ihrer Eltern – gepaart mit der Forderung,<br />
dass sie danach auf jeden Fall auf eine<br />
Universität gehen müsse. Sie selbst hätte<br />
eigentlich gerne eine Lehre gemacht,<br />
in der sie ihrer Kreativität freien Lauf<br />
lassen kann. Ausbildungen hätten in den<br />
Augen ihrer Eltern jedoch keinen Wert<br />
und sowieso würde man nur in Bürojobs<br />
gutes Geld verdienen. Laut Gruber<br />
ist die Frage nach dem Einkommen ein<br />
wichtiger Faktor für migrantische Eltern.<br />
Aus diesem Grund werden Berufe, bei<br />
denen Berufsbild und Gehalt klar<br />
einschätzbar sind, präferiert. Nach<br />
der Matura hatte Selma von ihren<br />
Eltern genaue Vorgaben bekommen:<br />
Kein Kunststudium, nichts im kreativen<br />
Bereich und nur eine Uni in der<br />
Nähe von ihrem Zuhause. Dass die<br />
22-jährige bereits ganz andere Pläne<br />
für ihre Zukunft geschmiedet hatte,<br />
hielt sie lange geheim. Sie wollte<br />
zur Polizeischule und was Gutes für<br />
die Gesellschaft tun. Dabei war ihr<br />
von Anfang an schon bewusst, dass<br />
dieser Wunsch bei ihren Eltern nicht<br />
gut ankommen würde. „Du bist eine<br />
Frau, du kannst da nicht mithalten!“,<br />
das wollte Selmas Vater ihr zumindest<br />
einreden. Er war selbst jahrelang im<br />
Militär und konnte den Wunsch seiner<br />
Tochter nicht nachvollziehen, denn für<br />
ihn war das ein reiner Männerberuf.<br />
Es kam zu unendlichen Diskussionen<br />
und Streitereien darüber, wieso sie<br />
nicht einfach ein vernünftiges Studium<br />
beginnen würde. Zumal sie für<br />
die Ausbildung auch alleine von ihren<br />
Eltern wegziehen müsste. „Bei Söhnen<br />
wird viel öfter eine Abgrenzung von<br />
den Vorstellungen der Eltern akzeptiert<br />
und auch vollzogen“, erklärt der Universitätsdozent.<br />
Die Erwartungen der<br />
Eltern an die Töchter sind, dass sie in<br />
der elterlichen Umgebung bleiben und<br />
sich nicht von ihnen loslösen. Selma<br />
war aber klar, dass sie endlich einen<br />
Schlussstrich ziehen musste. Auch<br />
wenn sie ihre Eltern damit verletzte,<br />
zog sie eigenständig nach Wien, um<br />
sich ihren Traum zu erfüllen. Es war für<br />
sie an der Zeit, endlich für sich selbst<br />
einzustehen und ihren Eltern zu zeigen,<br />
dass sie kein Recht hätten, sich<br />
in ihr Leben einzumischen. „Hätte ich<br />
auf meine Eltern gehört, wäre ich jetzt<br />
wahrscheinlich unglücklich.“ ●<br />
Danke an die Werkstatt Holz und Stahl sowie<br />
an die Universität Wien für das Bereitstellen<br />
der Räumlichkeiten für unser Shooting!<br />
* Alle Namen von der Redaktion geändert.<br />
Die Fotos wurden nachgestellt. Es handelt sich<br />
auf den Bildern nicht um die Personen aus<br />
dem Artikel.<br />
Kommentar von Autorin<br />
Maria Lovrić-Anušić<br />
WIR MÜSSEN UNS<br />
DURCHSETZEN<br />
„Sine, wir wollen, dass du studieren gehst<br />
und mit deinem Kopf arbeitest“, das ist der<br />
Standardspruch meiner Eltern. Geld, Ansehen<br />
und ein sicheres Leben ohne Probleme<br />
würden mich durch mein Diplom erreichen<br />
und ich müsste nicht wie sie in einem prekären Arbeitsumfeld schuften.<br />
Die Realität ist allerdings nicht so, wie sie sich meine und viele<br />
weitere Migra-Eltern vorstellen. Ein Universitätsabschluss ist kein<br />
Freifahrtschein für ein sorgenloses Leben. Abgesehen davon, dass<br />
nicht jeder Mensch für das Studieren geeignet ist, sollte man sich<br />
bei seiner Berufswahl auch an seinen eigenen individuellen Fähigkeiten<br />
orientieren. Wer aus Zwang ein Studium beginnt, wird auf Dauer<br />
nicht glücklich. Darum ist es so wichtig, dass wir Kinder lernen, uns<br />
durchzusetzen und unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen<br />
nachzugehen. Auch wenn das bedeutet, dass wir gegen den Willen<br />
unserer Eltern handeln müssen. Früher oder später werden sie trotzdem<br />
stolz auf uns sein.<br />
30 / RAMBAZAMBA | WIEN / / RAMBAZAMBA | WIEN / 31
Die Autorinnen<br />
Zeynep Buyraç,<br />
Özben Önal und<br />
Layla Ahmed<br />
(v.l.n.r.)<br />
DU<br />
BESTIMMST<br />
IMMER.<br />
PUNKT.<br />
Geschlechterrollen durchbrechen, eigene Träume und Leidenschaften<br />
verfolgen, ohne sich dem Druck aus der Familie<br />
oder dem Umfeld hinzugeben: Weibliche Selbstbestimmung<br />
hat viele Gesichter und kann auf unterschiedlichen Wegen<br />
passieren. Drei starke, junge Autorinnen aus verschiedenen<br />
Communitys erzählen von ihren persönlichen Revolutionen<br />
und was sie dafür in Kauf nehmen mussten. Sie kommen in<br />
diesem Empowerment-Special selbst zu Wort. Mit Beiträgen<br />
von Zeynep Buyraç, Özben Önal und Layla Ahmed.<br />
© Zoe Opratko<br />
Das Projekt „Du bestimmst IMMER. Punkt!“ findet im Rahmen des Aufrufs „Maßnahmen<br />
zur Stärkung von Frauen und Mädchen im Kontext von Integration“ des Österreichischen<br />
Integrationsfonds statt. Dieses Projekt wird durch den Österreichischen Integrationsfonds<br />
(ÖIF) finanziert. Die redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber.<br />
32 / EMPOWERMENT SPECIAL /<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 33
Jahrelang musste sie sich anhören, dass auf österreichischen Theaterbühnen<br />
kein Platz für sie als Migrantin ist. Heute ist Zeynep die erste türkischstämmige<br />
Schauspielerin im Burgtheater-Ensemble.<br />
Von Zeynep Buyraç , Fotos: Christoph Liebentritt<br />
WAS IST EINE<br />
„GUTE“ TÜRKIN?<br />
34 / EMPOWERMENT SPECIAL /<br />
Aber warum möchten Sie<br />
gerade in Wien Schauspiel<br />
studieren? Es gibt in der<br />
Türkei ja auch Schauspielschulen,<br />
oder?”<br />
20 Jahre später kann ich mich tatsächlich<br />
nicht mehr an meine Antwort<br />
erinnern. Mit größter Wahrscheinlichkeit<br />
aber war sie so überzeugend, dass die<br />
Aufnahmekommission der Schauspielabteilung<br />
entschied, es mit mir doch zu<br />
probieren. Mit der 19-jährigen Istanbulerin,<br />
deren Vorname auch die Jahre<br />
darauf unaussprechbar blieb – geschweige<br />
denn ihr Nachname. Allerdings ist<br />
es in meinem Fall kaum notwendig, den<br />
Nachnamen zu verwenden, da es in den<br />
letzten 20 Jahren kaum eine andere<br />
Schauspielerin auf österreichischen<br />
Bühnen gegeben hat, die Zeynep hieß. In<br />
der Türkei heißt übrigens jede zweite so.<br />
VON DER MEHRHEIT ZUR<br />
MINDERHEIT GEWORDEN<br />
Ich heiße also Zeynep. Immer noch,<br />
obwohl mir während meiner gesamten<br />
Schauspiellaufbahn in den letzten 20<br />
Jahren mehr als einmal geraten wurde,<br />
den Namen zu ändern, da es sonst<br />
angeblich sehr schwierig gewesen wäre,<br />
eine Schauspielkarriere in Österreich<br />
anzugehen. Und da ich für einige viele<br />
bioösterreichische Augen gerade noch<br />
südeuropäisch genug aussah, wäre es<br />
also mit einer Namensänderung mehr als<br />
ausreichend gewesen, auch für “ganz<br />
normale” Rollen in Frage zu kommen. Ich<br />
blieb aber bei meinem Namen. Erstens<br />
war ich nicht kreativ genug, mir einen<br />
anderen auszusuchen, und zweitens<br />
hatte ich somit bei vielen Vorsprechen<br />
und Castings auch automatisch einen<br />
Grund für Small Talk. Zuerst musste<br />
ich ihn ein paar Mal wiederholen, bis er<br />
halbwegs richtig klang, danach nahm<br />
ich dankend das Lob entgegen, dass ich<br />
der deutschen Sprache so mächtig war,<br />
obwohl ich gar nicht hier geboren und<br />
aufgewachsen bin.<br />
Dieser Enthusiasmus ging manchmal<br />
so weit, dass ich als junge Schauspielerin<br />
bei sogenannten come-togethers mit<br />
Publikum sogar Applaus dafür bekam.<br />
Mit Anfang zwanzig und frisch in Österreich<br />
angekommen fand ich es sogar<br />
putzig, dass man aus mir von heute auf<br />
morgen ein Integrationswunder machen<br />
wollte, ohne dass ich nur einen einzigen<br />
Tag versucht hatte, mich zu integrieren.<br />
Im Nachhinein betrachtet war mir zu dem<br />
damaligen Zeitpunkt dieses mächtige<br />
Wort sogar fremd, da es während meiner<br />
gesamten Zeit in der renommierten<br />
Deutschen Schule in Istanbul – eines<br />
der Gymnasien in der Türkei von Eliten<br />
für Elite - kein einziges Mal beigebracht<br />
worden war. Ich kam also aus einer Metropole,<br />
aufgewachsen mit dem Gefühl,<br />
auf der sicheren Seite der Mehrheit zu<br />
liegen, mit einem gut situierten bürgerlichen<br />
Elternhaus im Hintergrund, ausgebildet<br />
in einer der teuersten Schulen<br />
des Landes, mit dem Luxuswunsch, im<br />
Ausland Schauspiel zu studieren, und<br />
plötzlich war ich da und alles, was früher<br />
als selbstverständlich erreichbar zu sein<br />
schien, galt also nun als Ausnahme. Ich<br />
war also nicht nur die Türkin in Österreich,<br />
sondern die gute Türkin, denn<br />
bis auf den Namen konnte ich ja alles,<br />
was gut integrierte nun mal so können<br />
müssen, ich trank gerne Wein und aß<br />
Schweinefleisch, trug kein Kopftuch,<br />
das wienerische Sudern hatte ich auch<br />
drauf. Damals vor 20 Jahren war Diversität<br />
zwar noch nicht en vogue, aber<br />
man konnte mit mir schon ziemlich gut<br />
angeben und ich war dankbar – dankbar<br />
für die Jobs, für den Applaus, für das<br />
Gefühl etwas geschafft zu haben, das für<br />
Menschen mit ähnlichen Einwanderungsgeschichten<br />
nicht vorgesehen war.<br />
„<br />
Die europäische<br />
Literaturgeschichte<br />
ist gepflastert<br />
mit den Leichen<br />
schöner junger<br />
Frauen.<br />
“<br />
WARUM IST MIR ETWAS<br />
GELUNGEN, WAS VIELEN<br />
VON UNS VERWEIGERT<br />
BLIEB?<br />
Nun aber kannte ich auch kaum eine<br />
andere Einwanderungsgeschichte als<br />
meine eigene, denn während meiner<br />
gesamten Schauspielausbildung<br />
und auch Jahre danach waren meine<br />
einzigen Begegnungen innerhalb eines<br />
Theaters in meiner Muttersprache jene<br />
mit den Reinigungskräften. Das waren<br />
Frauen, die doppelt so viel leisteten<br />
wie ich, aber für sie war kein Applaus<br />
drinnen, ihre Geschichten waren nicht<br />
fancy genug für Small Talks während<br />
Premierenfeiern. Natürlich gab es auch<br />
vor 20 Jahren da und dort einzelne<br />
KämpferInnen, für die die Stadt gerade<br />
noch so viele Subventionen übrig hatte,<br />
dass sie im ganz kleinen Rahmen unterschwelliges<br />
Migrantentheater machen<br />
durften – also Theater von MigrantInnen<br />
für MigrantInnen mit einem enormen<br />
sozialpolitischen Engagement, sie erledigten<br />
also die schwerste Arbeit ohne<br />
Ruhm, während die gesamte österreichische<br />
Hochkultur eine homogene Realität<br />
der Gesellschaft auf der Bühne behauptete,<br />
die es ab dem Bühnenausgang<br />
schlicht und ergreifend nicht gab. Auch<br />
nicht vor 20 Jahren. Warum ist mir etwas<br />
gelungen, was vielen von uns verweigert<br />
blieb?<br />
Ich bin hauptberuflich Schauspielerin.<br />
Und was meinen Beruf betrifft, hieß<br />
und heißt es harte Arbeit. Harte Arbeit,<br />
um sein Handwerk zu lernen. Harte<br />
Arbeit, um in einer Fremdsprache zu<br />
spielen. Harte Arbeit, nicht an Absagen,<br />
Niederlagen zu zerbrechen. Harte Arbeit,<br />
sich daran zu gewöhnen, in permanenter<br />
Unsicherheit zu leben; nicht zu wissen,<br />
wann das nächste Engagement kommt;<br />
nicht aufzugeben; Kritik ernst zu nehmen,<br />
aber sich trotzdem treu bleiben.<br />
Und in meinem Fall doppelt so harte<br />
Arbeit – weil ich eine Frau bin. Und eine,<br />
die in Österreich Zeynep heißt. Allerdings<br />
mit einem ganz großen Unterschied zu<br />
vielen anderen Zeyneps in diesem Land:<br />
Ich bin nicht hier geboren. Nicht hier aufgewachsen.<br />
Ein Leben in diesem Land ist<br />
meine Entscheidung. Weil ich das große<br />
Privileg hatte, eine gute Schulausbildung<br />
genießen zu dürfen. Weil ich das unfassbare<br />
Glück hatte, nicht mit 6 Jahren<br />
schon aussortiert worden zu sein – Schule<br />
hieß für mich nicht eine Institution der<br />
Exklusion. Ich kenne keine Mika-Tests<br />
(Anm.d.Red.: Standartisiertes Messverfahren<br />
zur Feststellung der Deutschkompetenz<br />
von Kindern und Jugendlichen<br />
mit Deutsch als Zweitsprache). Ich<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 35
musste als Kind nicht beweisen, dass<br />
ich dazugehöre. Genau so wenig musste<br />
ich mir anhören, dass ich erst dann ein<br />
Teil einer Gesellschaft auf Augenhöhe<br />
bin, wenn ich etwas geleistet habe. Ich<br />
bin aufgewachsen mit einem Gefühl der<br />
Zugehörigkeit, alleine durch mein Dasein.<br />
Sehr wohl aber kenne ich den Kampf<br />
gegen das Patriarchat von meiner Kindheit<br />
an. Denn in der Türkei muss Frau<br />
kämpfen. Genauso wie in Österreich.<br />
Mit dem einzigen Unterschied, dass<br />
die Diskriminierung der Frauen hier viel<br />
subtiler stattfindet. In Form von Kindergartenöffnungszeiten<br />
zum Beispiel. Oder<br />
Diskussionen über die Notwendigkeit des<br />
Genderns. Die europäische Literaturgeschichte<br />
ist gepflastert mit den Leichen<br />
schöner junger Frauen.<br />
Wenn wir heute von einem Problem<br />
der misslungenen Integration reden -<br />
und damit ist natürlich eine seit Jahren<br />
misslungene Bildungspolitik gemeint -,<br />
dann reden wir nicht über Glaubens- und<br />
Herkunftsunterschiede. Wir reden über<br />
persönliche Vergangenheiten, die nichts<br />
anderes sind als die Welten, in denen wir<br />
sozialisiert worden sind. Und die Suche<br />
nach der Antwort auf die Frage „Wer ist<br />
wir?“ wird sich nur an dem Tag erübrigen,<br />
an dem wir uns tatsächlich selber<br />
aussuchen können, wer wir wirklich sein<br />
möchten, ohne die von der sozialen Ordnung<br />
vorgegebene eigene Identität für<br />
sich neu formen zu müssen.<br />
ALTE MUSTER<br />
DURCHBRECHEN<br />
Und ja, ich bin Österreicherin. Und Türkin.<br />
Beides geht. Es ist nicht verwirrend.<br />
Es ist nicht beängstigend. Ich komme<br />
mit mir ziemlich gut klar. Mehr als das,<br />
ich bin sogar ziemlich glücklich darüber.<br />
Auch wenn ich keine Ahnung habe, was<br />
einen echten Österreicher ausmacht.<br />
Noch weniger weiß ich Bescheid darüber,<br />
was einen echten Türken ausmacht. Ich<br />
muss es nicht wissen. Ich brauche kein<br />
nationales Zugehörigkeitsgefühl, um<br />
meine Identität zu formen. Ich brauche<br />
keinen Nationalstolz, um meine Persönlichkeit<br />
definieren zu können. Allerdings<br />
habe ich, wie gesagt, leicht reden, denn<br />
ich hatte die Möglichkeit, mir das Land,<br />
in dem ich lebe und den Beruf, den ich<br />
ausübe, freiwillig aussuchen können.<br />
Und wenn meine achtjährige Tochter<br />
Zeynep musste doppelt so hart arbeiten, um ihren Traum zu erfüllen.<br />
nach Lust und Laune zwischen ihren beiden<br />
Vornamen Leyla und Sophia hin und<br />
her wechselt, ist dies keineswegs ein<br />
Zeichen des durch gelungene Integration<br />
errungenen Kosmopolitentums, sondern<br />
es ist der Beweis dafür.<br />
Erst durch meine Auswanderung<br />
nach Österreich vor 17 Jahren bin ich<br />
meiner türkischen Herkunft bewusst<br />
geworden. Dass ich auf meine Geburtsurkunde<br />
reduziert wurde, irritierte mich<br />
damals sehr. Heute denke ich mit einem<br />
Lächeln daran zurück. Über die Jahre<br />
habe ich mir also, vielleicht auch berufsbedingt,<br />
den Spaß erlaubt, immer die<br />
„Fremde“ sein zu können, wann immer<br />
ich Lust dazu hatte. So bin ich in Tirol die<br />
Wienerin, in Deutschland die Österreicherin<br />
und in Konya die Istanbulerin.<br />
Zuhause fühle ich mich aber in Ottakring.<br />
●<br />
Zeynep Buyraç ist 41 Jahre alt und die<br />
erste türkischstämmige Schauspielerin<br />
im Burgtheaterensemble.<br />
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recherchiert und gute Geschichten<br />
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AKADEMIE<br />
36 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Ein rassistisches Schulsystem und die damit einhergehenden Unsicherheiten<br />
hielten Özben beinahe davon ab, ihren eigenen Weg zu gehen. Die<br />
25-jährige mit türkischen Wurzeln ließ sich jedoch nicht unterkriegen und<br />
verfolgt weiterhin ihren Traum Journalistin zu werden. Eins steht für sie<br />
fest: Sie will die Medienlandschaft revolutionieren und sich dafür nicht<br />
assimilieren müssen. Von Özben Önal, Fotos: Zoe Opratko<br />
ICH WILL EUCH EURE<br />
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38 / EMPOWERMENT SPECIAL /<br />
Ich will den Deutschen ihre Arbeit<br />
wegnehmen, ich will nicht die Jobs,<br />
die für mich vorgesehen sind, sondern<br />
die, die sie für sich reservieren<br />
wollen, mit den gleichen Konditionen,<br />
dem gleichen Gehalt und den gleichen<br />
Aufstiegschancen“, schreibt Fatma<br />
Aydemir in ihrem Essay „Arbeit“, der<br />
in dem Band „Eure Heimat ist unser<br />
Albtraum“ erschienen ist. Dieser Satz hat<br />
sofort etwas mit mir gemacht.<br />
Zum einen, weil ich mich mit Aydemirs<br />
Familiengeschichte identifizieren<br />
konnte: Mein Opa kam im Jahr 1964<br />
das erste Mal als sogenannter Gastarbeiter<br />
nach Deutschland, um für eine<br />
bessere Zukunft zu kämpfen und Geld<br />
anzusparen und um damit ein Haus in<br />
der Türkei bauen zu lassen. Weil er sich<br />
aber für seine Familie einen besseren<br />
Lebensstandard erhoffte, holte er diese<br />
einige Jahre später dazu, damit sie in<br />
Deutschland aufwachsen und zur Schule<br />
gehen. Er schuftete jahrelang in Fabriken<br />
und leidet heute an den bitteren Konsequenzen<br />
körperlicher Einschränkungen,<br />
die die harte Arbeit mit sich brachten.<br />
Ebenso wie meine Oma, die zu der Zeit<br />
in verschiedenen Häusern putze, um<br />
meinen Opa finanziell zu unterstützen.<br />
Die sprachliche Barriere, die blieb, weil<br />
neben der Arbeit die zeitlichen Ressourcen<br />
schlichtweg fehlten, um Deutsch zu<br />
lernen und auch das dauerhaft vermittelte<br />
Gefühl, nur zu Gast zu sein, führte<br />
bei ihnen zu einer passiven Haltung und<br />
Akzeptanz gegenüber Diskriminierung<br />
und Rassismus. Sie nahmen es hin, weil<br />
sie nie das Selbstbewusstsein oder den<br />
Mut hatten, sich zur Wehr zu setzen.<br />
Meinen Eltern, die mit jeweils 9 und 22<br />
Jahren nach Deutschland gekommen<br />
waren, erging es lange Zeit ähnlich.<br />
Ihnen war außerdem nichts wichtiger<br />
als die gute Bildung ihrer Kinder und der<br />
gute Eindruck, den sie als assimilierte,<br />
Entschuldigung, ich meine integrierte,<br />
Vorzeigefamilie zu hinterlassen glaubten.<br />
Aber beide mussten lernen, mit der Zeit<br />
für sich einzustehen.<br />
Zum anderen aber auch, weil Aydemirs<br />
Satz eine Reflexion dessen ist,<br />
nicht länger aus einer internalisierten<br />
Angst und Zurückhaltung heraus mit<br />
gesenktem Kopf einer gesellschaftlichen<br />
Hierarchie unter rassistischen Strukturen<br />
beizuwohnen, sondern ihnen nun in<br />
der zweiten oder dritten Generation den<br />
Kampf anzusagen - und zwar laut.<br />
FEHLENDES SELBST<br />
BEWUSSTSEIN<br />
Ich erinnere mich noch gut daran, wie<br />
ich vor sieben Jahren am Küchentisch<br />
der Familie einer Freundin saß und<br />
hoffte, dass niemand mir eine Frage<br />
stellte. Es ging um die Politik Erdoğans<br />
in der Türkei. Zu der Zeit gab es in<br />
Deutschland kein anderes Thema, das<br />
so heiß diskutiert wurde. In eloquentem<br />
Deutsch wurde in diesem Akademiker_innenhaushalt<br />
debattiert darüber,<br />
wie die Türkei sich immer mehr zu einer<br />
Diktatur entwickelte und ich schämte<br />
mich dafür, dass ich einige verwendete<br />
Begriffe nicht kannte. Ich hatte eine<br />
solche Angst davor, für dumm gehalten<br />
zu werden, dass ich oft verstummte,<br />
obwohl ich eine Meinung hatte und den<br />
Aussagen am Tisch zustimmte und auch<br />
„<br />
Das Land braucht<br />
Menschen, die<br />
die anderen Jobs<br />
erledigen.<br />
“<br />
etwas hinzufügen hätte wollen. Aber ich<br />
hatte ständig das Gefühl, nicht intelligent<br />
genug zu sein, um etwas Relevantes<br />
beitragen zu können. Das lag daran, dass<br />
ich geprägt war durch die Erfahrungen<br />
meiner Eltern und Großeltern, aber auch<br />
durch meine eigenen. Wenn ich zum<br />
Beispiel gefragt wurde, was ich denn<br />
eigentlich von Erdoğan hielt, dann nicht,<br />
weil es um einen Diskurs auf Augenhöhe<br />
ging, sondern darum, dass ich in dem<br />
Moment als Türkin gegen meinen Willen<br />
einem stumpfen Integrationstest unterzogen<br />
wurde.<br />
Meine Klassenlehrerin sagte mir mit<br />
12, es würde keinen Sinn machen für<br />
mich, aufs Gymnasium zu gehen. Meine<br />
Lese- und Schreibfähigkeiten wären<br />
noch immer nicht gut genug, während<br />
Leonie, meine Klassenkameradin,<br />
schlechtere Deutschnoten hatte als ich<br />
und ihre Empfehlung ohne Probleme<br />
bekam. Nach ihrer Unterrichtsstunde<br />
nahm sie mich zur Seite und erklärte<br />
mir, dass es womöglich daran lag, dass<br />
bei uns zu Hause vor allem Türkisch<br />
gesprochen werde und es in Deutschland<br />
ja nicht möglich sei, dass alle<br />
Abitur machen – ich jedenfalls sei dazu<br />
nicht bestimmt. Denn das Land bräuchte<br />
ebenso Menschen, die die anderen<br />
Jobs erledigen. Ihre Bemerkung, die<br />
auf verschiedensten Ebenen abfällig<br />
war, meinte Jobs, die für uns nun seit<br />
Jahrzehnten vorgesehen wären, weil sie<br />
gesellschaftlich als Berufsklassen eingeordnet<br />
werden, denen weniger Ansehen<br />
und Geld zugesprochen wird, trotzdem<br />
harte körperliche Leistung erfordern und<br />
kaum Aufstiegschancen übrig lassen.<br />
Durch eine filmreife Aneinanderreihung<br />
von Zufällen erhielt ich am Ende<br />
doch meine Empfehlung fürs Gymnasium,<br />
die damals noch verpflichtend war.<br />
Während meine Klassenlehrerin sich<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 39
„Ich will laut werden können und ungemütlich, ich will Deutschland den Spiegel vorhalten ohne Angst haben zu müssen.“<br />
zu der Zeit bei einem Skiunfall das Bein<br />
brach und deshalb in der Schule fehlte<br />
und meine Direktorin, die ihre Meinung<br />
teilte, die Treppen hinunterfiel und nicht<br />
mehr arbeitsfähig war, war es meine<br />
Englischlehrerin, die zu meiner Mutter<br />
sagte: „Ich sehe keinen Grund, warum<br />
ihre Tochter nicht aufs Gymnasium<br />
gehen sollte“, und mir meine Empfehlung<br />
ausstellte. Ich hatte es also irgendwie<br />
geschafft, durch ein rassistisches<br />
Bildungssystem durchzuschlittern und<br />
danach auch zu studieren. Und das ist<br />
ein enormes Privileg. Aber was passiert,<br />
wenn ich durch verschiedene Einflüsse<br />
der ständigen Angst ausgesetzt bin,<br />
niemals klug genug zu sein? Richtig. Ich<br />
glaube es irgendwann.<br />
DIE UNSICHERHEITEN<br />
NEHMEN AB, ABER<br />
VERSCHWINDEN NIE GANZ<br />
Es gibt immer noch gewisse Kontexte, in<br />
denen ich besonders darauf achte, mich<br />
eloquent auszudrücken, in Situationen,<br />
in denen ich mich verunsichert fühle,<br />
in denen ich geringschätzige Blicke zugeworfen<br />
bekomme oder jemand herablassend<br />
mit mir spricht. Es gibt auch immer<br />
noch Momente, in denen mich meine<br />
Komplexe nicht besiegen können, in<br />
denen ich die dringende Notwendigkeit<br />
verspüre, zu zeigen: „Schaut her, ich bin<br />
klug!“. Früher habe ich mir das selber<br />
nicht abgekauft, heute weiß ich: Ja, das<br />
bin ich. Und die innere Stimme, die mir<br />
sagt, ich sei es nicht und müsse mich<br />
noch immer vor den anderen beweisen,<br />
wird zwar immer leiser, aber sie ist noch<br />
da. Und die Realität ist, dass diese Unsicherheiten<br />
wahrscheinlich nie vollends<br />
verschwinden. Aber einen Teufel werde<br />
ich tun, mir nochmal einreden zu lassen,<br />
ich sei nicht fähig, etwas zu tun, das<br />
ich kann. Mit den letzten Jahren und<br />
der Biber-Akademie, die ich vor einigen<br />
Monaten absolvierte, erkannte ich, dass<br />
das Schreiben, das bis dato nur ein<br />
privates Hobby war, und mein Interesse<br />
an gesellschaftspolitischem Geschehen<br />
tatsächlich einen Beruf(ung)sweg als<br />
Journalistin ebnen können. Dass ich das<br />
Zeug dazu habe, Texte zu schreiben,<br />
mit denen Menschen sich identifizieren<br />
können. Eine relevante Meinung<br />
zu haben und diese zu Wort bringen<br />
zu können. Mit anderen zu diskutieren,<br />
mich auszutauschen, zu mir zu stehen<br />
und mich gleichzeitig umstimmen lassen<br />
zu können. Ich erkannte, dass ich eine<br />
Stimme habe, die es genauso verdient<br />
hat, gehört zu werden wie andere, eine,<br />
die gehört werden muss. Vielleicht sogar<br />
eine Stimme, die bereichernder ist als<br />
andere.<br />
DIVERSITÄT IST NOCH<br />
IMMER EIN MYTHOS<br />
Noch immer ist der Anteil von Journalist_innen<br />
mit Migrationsgeschichte<br />
viel zu gering, als dass mit ihm die<br />
Gesellschaft Deutschlands oder auch<br />
Österreichs repräsentiert würde. Laut<br />
einer Studie von 2021 haben nur sechs<br />
Prozent der österreichischen Journalist_innen<br />
Migrationsgeschichte. Von<br />
den Chefredaktionsposten brauchen wir<br />
gar nicht erst zu sprechen. Die neuen<br />
deutschen Medienmacher_innen fanden<br />
2020 heraus, dass in Deutschland nur<br />
etwa sechs Prozent der Chefredakteur_innen<br />
der reichweitenstärksten<br />
Medien Migrationsbiografien haben,<br />
davon die Hälfte aus Nachbarstaaten<br />
oder EU-Ländern. Das führt dazu, dass<br />
die Medien nicht mehr die gesamtgesellschaftliche<br />
Realität widerspiegeln<br />
und gefährliche Narrative von marginalisierten<br />
Gruppen entwickeln, die einen<br />
riesigen Einfluss auf das Meinungsbild<br />
der Gesamtgesellschaft haben. Das ist<br />
keine neue Information, seit Jahren wird<br />
immer wieder auf die fehlende Diversität<br />
in Medien aufmerksam gemacht und<br />
auf die Gefahren, die sie mit sich bringt,<br />
doch es verändert sich nur schleppend<br />
etwas. Daher ist es auch kein Zufall,<br />
dass wir die Schlagwörter Migration oder<br />
Islam noch immer fast ausschließlich in<br />
negativem Kontext hören.<br />
Damit möchte ich keinesfalls sagen,<br />
dass die einzigen Themen, über die wir<br />
Expert_innenwissen mitbringen, Migration,<br />
Integration und Rassismus sind, ganz<br />
im Gegenteil. Es wäre ignorant anzunehmen,<br />
dass man als Expert_in für diese<br />
Themen gilt, nur weil man Eltern hat,<br />
die Migrationsgeschichte haben. Aber<br />
wir werden gebraucht, um auch unsere<br />
Realität abzubilden. Unsere Perspektiven,<br />
unsere Sicht der Dinge. So wie es meine<br />
Großeltern und Eltern nicht konnten, so<br />
wie ihre Realität nie abgebildet wurde.<br />
Und genau aus diesem Grund will ich<br />
die Jobs, die für uns lange Zeit nicht<br />
vorgesehen waren. Ich will laut werden<br />
können und ungemütlich, ich will<br />
Deutschland den Spiegel vorhalten, ohne<br />
Angst haben zu müssen, und ich will<br />
dazu beitragen, die Medienlandschaft<br />
endlich so zu revolutionieren, wie sie es<br />
seit Jahrzehnten nötig hat, ohne mich<br />
dabei vollends assimilieren zu müssen.<br />
Um es mit Fatma Aydemirs Worten abzuschließen:<br />
„Mein German Dream ist, dass<br />
wir uns endlich alle das nehmen können,<br />
was uns zusteht, und zwar ohne dass wir<br />
daran zugrunde gehen.“ ●<br />
Özben Önal ist 25 Jahre alt und hat<br />
türkische Wurzeln. Sie arbeitet als freie<br />
Journalistin und studiert Publizistik im<br />
Master. In ihrer Arbeit befasst sie sich<br />
mit Themen wie Gesellschaftskritik,<br />
Antirassismus und Türkeipolitik.<br />
Özben will dazu beitragen, die Medienlandschaft<br />
so zu revolutionieren, wie sie es<br />
seit Jahrzehnten nötig hat, ohne sich dabei<br />
vollständig assimilieren zu müssen.<br />
40 / EMPOWERMENT SPECIAL /<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 41
„DAS KANNST DU<br />
MACHEN, WENN DU<br />
VERHEIRATET BIST.“<br />
Heirat als Ticket für die Freiheit ? Von<br />
der väterlichen Hand in die eines Ehemanns<br />
gereicht werden, nur um nicht<br />
eingeschränkt zu leben? Um reisen zu<br />
dürfen und ihren eigenen Weg zu gehen?<br />
All das sieht Autorin Layla Ahmed nicht<br />
ein - und erkämpft sich Stück für Stück<br />
ihre Freiheit. Auch ohne Mann.<br />
Von Layla Ahmed, Fotos: Ina Aydogan<br />
Allein oder mit Freundinnen<br />
die Welt bereisen, ins<br />
Ausland ziehen oder einfach<br />
nur länger draußen bleiben?<br />
Viele Mädchen in Migra-Familien haben<br />
diese Pläne, doch was, wenn die Ehe der<br />
einzige Weg ist, um diese zu verwirklichen?<br />
„Wenn du verheiratet bist, kannst<br />
du machen, was du willst.“ Diesen Satz<br />
habe ich in meinem Leben schon das<br />
eine oder andere Mal zu hören bekommen.<br />
Ich bin 18 Jahre alt, studiere und<br />
bin anscheinend alt genug zum Heiraten,<br />
aber nicht alt genug, um meine eigenen<br />
Entscheidungen zu treffen.<br />
Wenn ich in die Vergangenheit blicke,<br />
habe ich schon immer davon geträumt,<br />
mit Freundinnen zu verreisen, und habe<br />
diese Reisen sogar schon mit ihnen<br />
geplant. Natürlich teilte ich meinen Plan<br />
sofort mit meinen Eltern, denn ich war<br />
fest davon überzeugt, dass ich, wenn<br />
ich älter bin, einen „Girls-Trip“ machen<br />
werde. Da wurde ich zum ersten Mal mit<br />
dieser Aussage konfrontiert. „Das kannst<br />
du machen, wenn du verheiratet bist.“<br />
Mit der Antwort meines Vaters ging die<br />
Diskussion auch ganz schnell wieder zu<br />
Ende. Ich konnte es nicht verstehen. Was<br />
hat die Heirat mit meinen Plänen zu tun?<br />
Und warum muss ich heiraten, damit ich<br />
mit meinen Freundinnen verreisen kann?<br />
Die Fragen stellte ich auch meinem<br />
Vater. Ich musste mich damit zufriedengeben,<br />
dass ich sowieso keine Antwort<br />
hören würde, die mir gefallen könnte,<br />
und somit hörte ich auch auf, mit ihm<br />
darüber zu diskutieren. Doch ist die Heirat<br />
wirklich die einzige Lösung, um selbst<br />
entscheiden zu dürfen, was man machen<br />
will und was nicht? Ich habe das Glück,<br />
dass meine Mutter mir immer zur Seite<br />
stand und auch meinem Vater erklärte,<br />
dass das nicht die richtige Antwort sein<br />
könne.<br />
DIE EHE – DER EINZIGE<br />
WEG IN DIE FREIHEIT?<br />
In meinem Freundeskreis kommt es häufig<br />
zu Diskussionen, wer mehr Freiheiten<br />
hat und wer weniger. Ich habe manchmal<br />
das Gefühl, dass es ein Wettbewerb<br />
geworden ist, und die Person, die am<br />
„eingeschränktesten“ ist, das totale Mitleid<br />
verdient hat. Doch eigentlich haben<br />
wir alle eines gemeinsam: Alle von uns<br />
haben mindestens einmal in ihrem Leben<br />
von ihren Eltern gehört, dass sie erst<br />
nach der Heirat machen dürfen, was sie<br />
wollen. Ich spreche nicht nur von jungen<br />
Frauen in der arabischen Community, mit<br />
der ich als Halb-Ägypterin aufgewachsen<br />
bin, sondern auch von meinen anderen<br />
Freundinnen, denen meine Kultur eigentlich<br />
absolut fremd ist. In vielen migrantischen<br />
Familien haben Eltern das Gefühl,<br />
die volle Verantwortung für ihre Töchter<br />
tragen zu müssen, und zwar so lang,<br />
bis ein anderer Mann diese übernimmt.<br />
Zumindest rede ich mir das so ein, um<br />
zu verstehen, wieso man denkt, dass ein<br />
Mann der Schlüssel in die Freiheit sein<br />
soll. Man achtet darauf, dass die Mädchen<br />
nicht zu spät draußen sind, weil es<br />
für sie „gefährlicher“ wäre. Und was hat<br />
ein Mädchen so spät abends draußen<br />
verloren?<br />
„BABA, VERTRAUST<br />
DU MIR NICHT?“<br />
Lange habe ich mich mit dem Thema<br />
befasst und versucht, eine Lösung zu<br />
finden, um meinen Vater zu beruhigen<br />
und gleichzeitig zu leben, wie ich will.<br />
Die Hilfe meiner Mutter, die in Europa<br />
geboren und aufgewachsen ist, war der<br />
Kern zum Vertrauensaufbau zwischen<br />
meinem Vater und mir. Sie hatte nie<br />
diesen Gedanken, dass ich erst so leben<br />
kann, wie ich will, wenn ich verheiratet<br />
bin, und diesen wollte sie auch meinem<br />
Vater austreiben.<br />
Ich habe mich in meinem Umfeld<br />
umgesehen und erkenne, wie Mädchen<br />
in jungen Jahren heiraten - nicht nur aus<br />
Liebe, sondern viel mehr, weil sie die<br />
Ehe als ein Ticket in ihre Freiheit sehen.<br />
Sie wollen weg von zu Hause, ein neues<br />
Leben starten, ihr Leben so gestalten,<br />
wie sie es wollen. Die einzige Möglichkeit<br />
für sie ist zu heiraten, damit sie ausziehen<br />
können. Dieses Problem hatte ich<br />
nie, weil ich mich zuhause sehr wohl<br />
fühle und eine gute Beziehung zu meinen<br />
Eltern habe. Trotzdem hat mich damals,<br />
ich war 15, die Strenge meines Vaters<br />
sehr belastet. Ich suchte ein Gespräch<br />
unter vier Augen, zwischen Vater und<br />
Tochter. In meiner Familie ist Kommunikation<br />
das A und O und obwohl mein<br />
Vater eher konservativ ist, hat er immer<br />
ein Ohr für mich offen. Ich will nicht eingeschränkt<br />
leben und ich werde früher<br />
oder später machen, was ich will. Meine<br />
Mutter hat ihm klar gemacht, dass er<br />
mich verlieren würde, wenn er weiterhin<br />
so streng bliebe. „Baba, vertraust du mir<br />
nicht?“, war meine Frage an ihn. Er hat<br />
mir klar beantwortet, dass es nicht an<br />
mir liegt und dass dieser Gedanke, dass<br />
er rund um die Uhr auf mich aufpassen<br />
muss, niemals weggehen würde. Es wäre<br />
leichter, in der Gewissheit zu leben, dass<br />
jetzt noch wer anderer auf mich aufpasst.<br />
Doch ist das das Ziel einer Ehe?<br />
Eine Ehe ist so viel mehr als ein<br />
Ticket in die Freiheit und das weiß er<br />
auch. Er sieht es nicht als eine „zweite<br />
Kontrollart“ oder „doppelte Sicherheit“,<br />
sondern es ist vielmehr der Wunsch<br />
nach einer größeren Familie, nach einer<br />
Zukunft, die er sich für sich und seine<br />
Tochter wünscht. Eine schöne Ehe –<br />
denn die Ehe kann eines der schönsten<br />
Dinge auf der Welt sein, das weiß ich.<br />
42 / EMPOWERMENT SPECIAL /<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 43
Ich weiß auch, dass er sich das Beste für<br />
mich wünscht und mich bei allem unterstützen<br />
wird. Ich bin noch jung, finanziell<br />
abhängig von meinen Eltern und definitiv<br />
nicht bereit für eine Ehe. Ich konnte meine<br />
Eltern von meinen Ansichten überzeugen,<br />
anders ist es jedoch bei anderen<br />
Familien, die ihren Töchtern permanent<br />
das Gefühl geben, heiraten zu müssen –<br />
so als wäre das das einzig wichtige Ziel<br />
in ihrem Leben.<br />
Heute weiß ich, dass hinter diesem<br />
Satz viel mehr steckt als nur eine<br />
Ausrede, um Auseinandersetzungen zu<br />
vermeiden. Er kann vielfältig aufgefasst<br />
werden. Ich habe es geschafft, mit der<br />
Hilfe meiner Mutter meinen Vater zu<br />
überzeugen, dass nicht ein Mann oder<br />
eine Ehe das Wichtigste ist und dass ich<br />
sehr wohl meinen „Girls-Trip“ machen<br />
kann. Auch ohne Mann. Zudem sehen<br />
Eltern nicht, dass sie ihren Töchtern so<br />
das Gefühl geben, eine Last zu sein,<br />
die an einen anderen Mann übertragen<br />
werden soll. Ich bin dann das Problem<br />
meines Mannes und nicht das meiner<br />
Familie. Doch das ist nicht richtig.<br />
Mädchen und junge Frauen in meinem<br />
Umfeld müssen daran erinnert werden,<br />
dass wir in einer anderen Generation<br />
leben und uns alle Türen offenstehen.<br />
Wir können selbstständig sein und sollen<br />
niemals von einem Mann abhängig sein.<br />
Die Grundsteine für uns wurden schon<br />
gelegt: Meine beiden Großmütter zum<br />
Beispiel waren von keinem Mann abhängig.<br />
Die Ehe ist viel mehr als eine Übergabe<br />
der Tochter an einen Mann. Man<br />
soll aus den richtigen Gründen heiraten<br />
wollen - weil man die Person liebt, sich<br />
mit ihr eine Zukunft vorstellen kann und<br />
mit ihr den Rest des Lebens verbringen<br />
möchte. Nicht, weil sie das Ticket in die<br />
Freiheit ist. ●<br />
Layla Ahmed ist 18 Jahre alt. Sie<br />
studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft,<br />
hat ägyptische und<br />
slowakische Wurzeln. Layla hat ihre<br />
vorwissenschaftliche Arbeit für die Matura<br />
über die veränderten Lebenswelten<br />
ägyptischer Frauen nach dem Arabischen<br />
Frühling geschrieben.<br />
Die Welt bereisen, ins Ausland ziehen – warum sollte<br />
man das nur dürfen, wenn man geheiratet hat?<br />
© Zoe Opratko, wikimedia commons Peter Gugerell, unsplash.com/Engin Akyurt, Seven.One Entertainment Group GmbH<br />
MEINUNG<br />
Mein rausgeschmissenes<br />
Geld<br />
Rückblickend würde ich mir definitiv<br />
mehr Finanzbewusstsein für mein jüngeres<br />
Ich wünschen. Heute bin ich 25<br />
und mir wird erst jetzt bewusst, wie oft<br />
ich unnötig mein Geld aus dem Fenster<br />
geworfen habe, vor allem für Kleidung.<br />
Mein Problem war, dass ich mir zu oft<br />
gezielt nur für bestehende Anlässe Teile<br />
zugelegt habe. Die einzelnen Stücke,<br />
für die ich mein ganzes Geld ausgab,<br />
landeten in meinem Schrank und wurden<br />
danach nie wieder angezogen. Mein<br />
anderes Problem war, dass ich meine<br />
Zeit auf Social Media dazu nutzte, um<br />
Modetrends zu verfolgen. Es gibt unzählige<br />
Accounts und Influencer:innen, die<br />
über die letzten Modetrends sprechen.<br />
Ich verinnerlichte diese Trends und kaufte<br />
sie nach. Heute ist mir bewusst, wie<br />
problematisch die ganze Sache eigentlich<br />
ist und wie oft ich unüberlegt gehandelt<br />
habe. Seit meiner Bewusstseinsbildung<br />
diesem Thema gegenüber gehe ich<br />
beim Shoppen vorsichtiger mit meinem<br />
Geld um und überlege es mir zwei Mal,<br />
bevor ich mir etwas Neues zulege. Mein<br />
Pro-Tipp: Stellt euch in eurem Shoppingmarathon<br />
immer die Frage: „Brauche ich<br />
das denn wirklich?“<br />
guen@dasbiber.at<br />
LIFE & STYLE<br />
Mache mir die Welt,<br />
wie sie mir gefällt<br />
Von Şeyda Gün<br />
Magischer<br />
Gesundheitstipp<br />
3 DATTELN<br />
PRO TAG<br />
Wusstet ihr, dass sich drei<br />
Datteln pro Tag positiv auf<br />
eure Gesundheit auswirken<br />
können? Warum? Darum:<br />
Vitamine in den Datteln<br />
stärken unser Immunsystem.<br />
Datteln sind gut für<br />
unsere Verdauung.<br />
Sie liefern uns viel<br />
Energie für den Alltag.<br />
Datteln sorgen für eine<br />
schöne Haut.<br />
Sie zeigen positive Wirkung<br />
bei Allergien.<br />
SPAZIERGANG<br />
IN WIEN<br />
Der Frühling ist endlich wieder<br />
da! Für mich die angenehmste<br />
Jahreszeit für Spaziergänge – es<br />
ist weder zu kalt, noch zu heiß.<br />
Ich habe für euch drei supertolle<br />
Spots in Wien ausgewählt,<br />
an denen ihr die frühlingshaften<br />
Temperaturen genießen und ein<br />
bisschen Sonne tanken könnt.<br />
Mein persönlicher Lieblingsspot<br />
zum Spazieren ist der Türkenschanzpark.<br />
→ Türkenschanzpark, 18. Bezirk<br />
→ Segataya Park, 19. Bezirk<br />
→ Lainzer Tiergarten, 13. Bezirk<br />
Podcast-Tipp:<br />
PSYCHOLOGIE<br />
TO GO!<br />
Wenn ihr eure eigene Gefühlswelt besser<br />
verstehen und dabei euch selbst<br />
reflektieren möchtet, dann solltet ihr<br />
euch unbedingt den Podcast „psychologie<br />
to go!“ auf Spotify anhören.<br />
Psychotherapeutin Franca Cerutti greift<br />
verschiedenste Themen wie stressige<br />
Gedanken, Eifersucht, Schuldgefühle<br />
oder Prüfungsangst auf. Außerdem gibt<br />
es im Podcast gute umsetzbare Tipps<br />
für schwierige Situationen.<br />
44 / EMPOWERMENT SPECIAL /<br />
/ LIFESTYLE / 45
„Buy now, pay later“ – was wie ein günstiger Deal beim<br />
Onlineshopping mit dem Bezahldienst Klarna klingt,<br />
entpuppt sich für immer mehr junge Menschen als<br />
Schuldenfalle. Offene Rechnungen, Mahnungen und<br />
Inkassoverfahren werden ihnen so zum Verhängnis.<br />
Von: Maria Lovrić-Anušić, Collagen: Zoe Opratko<br />
SCHULDIG<br />
GESHOPPT<br />
46 / RAMBAZAMBA /<br />
Es ist ein endloser Teufelskreis“,<br />
mit diesen Worten<br />
beschreibt die heute <strong>23</strong>-jährige<br />
Bahar ihr Kaufverhalten<br />
mit Klarna. Sie hat die Kontrolle über ihre<br />
Finanzen verloren. Sie bestellt immer<br />
mehr, übersieht offene Rechnungen,<br />
verschiebt Zahlungsziele nach hinten<br />
und kassiert am Ende unzählige Mahnungen.<br />
So kam es auch dazu, dass<br />
sich ein Inkassobüro bei Bahar meldete<br />
und sie für ein T-Shirt, das ursprünglich<br />
zehn Euro kostete, am Ende 200 Euro<br />
bezahlen musste. Das erste Mal nutzte<br />
sie Klarna kurz vor einem geplanten<br />
Sommerurlaub, um sich neue Klamotten<br />
zuzulegen, ohne ihr Urlaubsgeld ausgeben<br />
zu müssen. Damit kam sie schnell<br />
auf den Geschmack des „Buy now, pay<br />
later“-Prinzips. „Es kam mir so vor, als<br />
würde ich die Sachen gratis bekommen,<br />
weil sich mein Kontostand nicht veränderte“,<br />
erzählt die <strong>23</strong>-jährige. Momentan<br />
hat sie noch 800 Euro Schulden bei<br />
Klarna offen und ist für weitere Einkäufe<br />
gesperrt. Mittels Ratenzahlung versucht<br />
sie den Betrag jetzt Stück für Stück<br />
abzubezahlen. „Danach will ich die App<br />
einfach nur löschen.“<br />
Bahar ist mit diesem Problem nicht<br />
allein. Viele junge Erwachsene nutzen<br />
die Dienste des schwedischen Bezahlanbieters<br />
Klarna. Besonders beliebt ist<br />
das „Buy now, pay later“-Angebot und<br />
die Option auf Ratenzahlung. Das zeigt<br />
sich auch auf Social Media. Der Hashtag<br />
„klarnaschulden“ trendet seit Monaten<br />
auf TikTok und verzeichnet bereits 55.9<br />
Millionen Aufrufe und Hunderte Videos.<br />
Junge Menschen zeigen Screenshots<br />
von ihrer Klarna-App, in denen offene<br />
Rechnungen in Höhe von Tausenden<br />
Euros zu sehen sind. „Keiner kann meine<br />
Schulden überbieten!“, steht dann<br />
häufig in der Videobeschreibung. Die<br />
Konsequenzen von dem fatalen Umgang<br />
mit ihrem Geld werden ins Lächerliche<br />
gezogen. Klarna bedauert diesen Trend<br />
besonders. „Wir sind besorgt, wenn<br />
junge Leute ihre Klarna-Rechnungen<br />
in Videos zeigen, und wollen deutlich<br />
machen: Wir haben nicht das geringste<br />
Interesse daran, dass Menschen, egal ob<br />
jung oder alt, mit offenen Rechnungen<br />
prahlen.“ Außerdem würden 98,97 % der<br />
in Österreich verschickten Rechnungen<br />
im Rahmen des Zahlungs- und Mahnprozesses<br />
bezahlt werden, so der Bezahldienstleister.<br />
DER VERLORENE<br />
ÜBERBLICK<br />
„Es ist einfacher, auf ‚später bezahlen‘<br />
zu drücken und das Zahlungsziel zu<br />
verschieben, als das Geld aufzutreiben“,<br />
erklärt Asti. Die 25-jährige nutzt Klarna<br />
Es ist einfacher, auf<br />
‚später bezahlen‘<br />
zu drücken und das<br />
Zahlungsziel zu<br />
verschieben, als das<br />
Geld aufzutreiben.<br />
“<br />
seit fünf Jahren und kommt aus den<br />
Schulden nicht mehr heraus. Als Klarna<br />
ihren Account für eine Zeit lang sperrte,<br />
da sie mehrere Rechnungen nicht<br />
gezahlt hatte, erstellte sie sich einfach<br />
einen zweiten. Ab da versank sie immer<br />
tiefer in ihren Schulden. Sie verlor den<br />
Überblick über ihre Finanzen und wusste<br />
nicht mehr, auf welchem Account welche<br />
Rechnungen noch offen waren und<br />
verpasste Zahlungsziele. Ursprünglich<br />
wählte sie bei ihren Rechnungen den<br />
Ratenkauf, da sie von Zinsen nicht viel<br />
verstand, doch damit erhöhte sich seither<br />
der Betrag stetig. Wegen eines nicht<br />
bezahlten T-Shirts hat sie bereits ein<br />
Inkassoverfahren hinter sich. Mittlerweile<br />
hat sie auf beiden Accounts jeweils<br />
um die tausend Euro Schulden. Asti<br />
findet besonders das ´später bezahlen´-<br />
Angebot unglaublich gefährlich. Laut ihr<br />
kann es sehr verführerisch sein, sich Dinge<br />
zu bestellen, ohne das Geld dafür auf<br />
dem Konto bereit zu haben. „Ich kämpfe<br />
selbst am Monatsende immer mit dem<br />
Gedanken, mir einfach was zu bestellen“,<br />
erzählt Asti. Der Gedankengang ist<br />
immer der gleiche: Sie möchte etwas<br />
Neues und Trendiges haben, das sie auf<br />
Social Media gesehen hat, und bezahlen<br />
kann sie es dann sowieso später. Laut<br />
Gudrun Steinmann von der Schuldnerberatung<br />
des Fonds Soziales Wien ist<br />
es wichtig, genau solche Situationen zu<br />
überdenken. „Dabei entstehen ganz viele<br />
Ausgaben durch Impulskäufe oder weil<br />
es beispielsweise ein Influencer vorlebt.<br />
Da ist es wichtig, sich zu fragen, ob<br />
man diese Dinge wirklich benötigt.“ Die<br />
/ RAMBAZAMBA / 47
25-jährige Asti hat nur einen Wunsch:<br />
Sie will ihren gesamten Schuldenberg<br />
abbezahlen. Dafür reicht ihr Geld allerdings<br />
nie aus, da sich der Betrag jeden<br />
Monat durch die Zinsen, denen sie beim<br />
Ratenkauf unbewusst zugestimmt hatte,<br />
erhöht.<br />
DIE SCHULDFRAGE<br />
„Momentan habe ich noch um die 1500<br />
Euro Schulden bei Klarna“, erzählt Aynur.<br />
Es sind Schulden, die sie jetzt nur sehr<br />
mühsam mittels monatlicher Raten<br />
abbezahlen kann. Doch bis vor kurzem<br />
war die Zahl noch um ein paar Hundert<br />
Euro höher. Die 25-jährige hatte nämlich,<br />
nachdem sie letztes Jahr nach England<br />
gezogen war, zwei Klarna-Accounts<br />
– einen österreichischen und einen<br />
britischen. Die österreichischen Schulden<br />
hat sie bereits abbezahlt und hofft, bald<br />
auch den Rest begleichen zu können.<br />
Begonnen hat das Ganze vor sechs<br />
Jahren, da sie damals als Samstagskraft<br />
nur 280 Euro im Monat verdient hatte<br />
und ihr das Geld vorne und hinten nicht<br />
ausreichte. All die Dinge, die sie haben<br />
wollte, konnte sie sich nur durch den<br />
Zahlungsanbieter leisten. Anfangs ging<br />
das noch gut, doch mit der Zeit konnte<br />
sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen<br />
und die ersten Mahnungen flatterten<br />
in ihren Briefkasten. Die Schulden<br />
begannen, sich schlagartig zu erhöhen.<br />
Wenn es nach ihr geht, dann hat Klarna<br />
eine Mitschuld an ihren Schulden.<br />
Expertin Gudrun Steinmann sieht die<br />
Frage der Schuld als eine zweischneidige<br />
Sache. „Zum einen ist es wichtig,<br />
dass die Konsument:innen unter anderem<br />
durch Finanzbildung zu mündigen<br />
Konsument:innen gemacht werden, aber<br />
zum anderen gehören auch die Bezahldienstleister<br />
kritisch hinterfragt.“ Aynur<br />
ist sich allerdings sicher, dass Klarna<br />
vor allem Jugendliche süchtig machen<br />
kann, und würde jungen Menschen<br />
darum auch stark von dem Unternehmen<br />
abraten.<br />
„<br />
Es ist natürlich<br />
sehr verführerisch,<br />
wenn man auch erst<br />
in dreißig Tagen<br />
zahlen darf.<br />
“<br />
GEFÄHRLICHER TREND<br />
Expertin Steinmann sieht in dem Trend<br />
mit Klarna zu bezahlen eine ernst zu<br />
nehmende Gefahr. „Junge Menschen<br />
übernehmen für zwei Minuten Ruhm<br />
auf Social Media häufig eine Rolle, derer<br />
Konsequenzen sie sich nicht bewusst<br />
sind“, stellt sie klar. Wer ständig Schulden<br />
hat und diese nicht bezahlt, kann in<br />
seiner Kreditwürdigkeit stark sinken. Es<br />
lässt sich auch beobachten, dass jede<br />
vierte Person, die zur Schuldnerberatung<br />
in ganz Österreich kommt, unter<br />
30 Jahre alt ist. Das könnte nicht zuletzt<br />
daran liegen, dass es mittlerweile immer<br />
leichter wird, sich Schulden anzuhäufen.<br />
„Während man vor einigen Jahren<br />
nur bei drei bis vier großen Katalogen<br />
bestellen konnte, können nun 24/7<br />
online Geschäfte abgewickelt werden“,<br />
so Steinmann. Das zeigt sich auch in den<br />
Zahlen. Der Schuldenreport aus dem<br />
Jahr 2022 gab an, dass der "schlechte<br />
Umgang mit Geld" mit 21,9 einer der<br />
häufigsten Gründe für Überschuldung im<br />
Jahr 2021 war. Darunter versteht sich,<br />
dass die Ausgaben der Menschen ihre<br />
Einkommenslage überschreiten.<br />
50.000 EURO UND<br />
PRIVATINSOLVENZ<br />
Doch es gibt neben den vierstelligen<br />
Schulden auch Extremfälle. Die 25-jährige<br />
Sandra hat sich einen Schuldenberg<br />
von 50.000 Euro angehäuft. 2013 hatte<br />
sie zum ersten Mal ein Ausbildungsgehalt<br />
ausbezahlt bekommen und investierte<br />
diesen direkt online in neue Klamotten<br />
und Make-up. Das alles über Zahlungsanbieter<br />
wie Klarna oder PayPal und dem<br />
„buy now, pay later“-Angebot. „Es ist<br />
natürlich sehr verführerisch, wenn man<br />
auch erst in dreißig Tagen zahlen darf“,<br />
so Sandra. Der Grund für ihr exzessives<br />
Shoppen war auch unter anderem<br />
ihre Kaufsucht. Laut einer Studie der<br />
Arbeiterkammer aus dem Jahr 2017 ist<br />
dieses Phänomen in Österreich relativ<br />
weit verbreitet, ein Viertel der österreichischen<br />
Bevölkerung sei demnach<br />
kaufsuchtgefährdet. In solchen Fällen<br />
ist es besonders wichtig, sich Hilfe zu<br />
holen, so Steinmann. Eine lange Zeit<br />
konnte sie die Probleme, die sich wegen<br />
ihres Kaufverhaltens anhäuften, auch gut<br />
ignorieren, bis nach sechs Jahren die<br />
Gerichtsvollzieherin vor der Tür stand.<br />
Ab dem Zeitpunkt musste die 25-jährige<br />
die Notbremse ziehen: Sie ging in die<br />
Privatinsolvenz. Wenn nun alles nach<br />
Plan läuft, dann ist sie in drei Jahren<br />
schuldenfrei. Sie spricht offen über ihre<br />
Schulden und genau das rät sie auch<br />
allen anderen. „Es ist einfach wichtig,<br />
dass ihr offen darüber redet, denn ich<br />
weiß selbst, wie psychisch belastend das<br />
sein kann.“<br />
RAUS AUS DEN SCHULDEN.<br />
Das Preisvergleichsportal Check24<br />
veranstaltete auf seinem TikTok-Kanal<br />
mehrere Gewinnspiele, bei denen<br />
User:innen ausgesucht und ihre Klarna<br />
Schulden bezahlt wurden. Tausende<br />
Menschen hatten bei den Gewinnspielen<br />
in der Hoffnung teilgenommen, ihre<br />
Schulden auf einen Schlag loszuwerden.<br />
In der realen Welt benötigt das Abbezahlen<br />
von Schulden laut Steinmann jedoch<br />
etwas mehr als nur ein Video auf TikTok<br />
zu kommentieren. Es muss ein realistischer<br />
Finanzplan erstellt, ein Überblick<br />
über die gesamten Finanzen geschaffen<br />
sowie ein Kaufstopp durchgesetzt werden.<br />
Je schneller die Schulden beglichen<br />
werden, umso günstiger kommt man aus<br />
seinem persönlichen Klarna-Teufelskreis<br />
auch wieder heraus. Die beste Möglichkeit,<br />
vor allem junge Menschen vor<br />
einem Rutsch in die Schuldenfalle zu<br />
bewahren, ist umfangreiche Finanzbildung.<br />
Der richtige Umgang mit Geld<br />
muss gelernt sein – am besten gleich<br />
während der Schulzeit. ●<br />
WAS IST KLARNA?<br />
Klarna ist ein schwedischer Online-Bezahlanbieter,<br />
der 2005 gegründet wurde. Klarnas Leistung<br />
besteht darin, die Zahlungen an die Händler zu<br />
übernehmen und den Kunden einen Kleinkredit zu<br />
genehmigen, welchen sie innerhalb eines zeitlichen<br />
Rahmens bezahlen müssen. In der Klarna App<br />
können die Nutzer:innen ihre offenen Rechnung<br />
einsehen.<br />
Hierfür gibt es drei Möglichkeiten:<br />
Sofortzahlung:<br />
Der Betrag wird mittels Sofortüberweisung, Lastschrift<br />
oder Kreditkarte sofort bezahlt.<br />
Später bezahlen (Buy now, pay later):<br />
Hier erhält der Kunde seine Ware im Vorhinein und<br />
hat daraufhin 30 Tage Zeit, die Rechnung zu bezahlen.<br />
In der App kann die Zahlungsfrist gegen eine<br />
Gebühr um 10, 30 oder 60 Tage verlängert oder<br />
die Rechnung in eine Finanzierung umgewandelt<br />
werden.<br />
Ratenkauf:<br />
Der zu zahlende Betrag kann mittels eines persönlichen<br />
Zahlungsplans in festen monatlichen (maximal<br />
36 Monate) Raten beglichen werden.<br />
48 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 49
ZWISCHEN SCHWEIGEN<br />
UND OHNMACHT<br />
Warum Opfer sexualisierter Gewalt ihre Täter nicht anzeigen<br />
Anzeigen, oder nicht? Und selbst<br />
wenn doch – wird dann geholfen?<br />
Viele Opfer von sexueller Gewalt<br />
oder (Cyber-)Stalking haben große<br />
Hemmungen davor, Sexualstraftaten<br />
bei der Polizei zu melden. Woran das<br />
liegt, erzählen die Betroffenen Laura,<br />
Sara, Maria und Dilan selbst.<br />
Von Emilija Ilić, Illustrationen: Anna Lumaca<br />
Auf dem Nachhauseweg von der Schule setzte<br />
sich im Bus ein erwachsener Mann neben die<br />
damals 14-jährige Laura * , nestelte an seiner<br />
Hose herum und präsentierte ihr seinen<br />
erigierten Penis. „Ich saß ganz hinten im Bus und konnte<br />
somit nicht an ihm vorbei. Das war genau zur Rushhour – so<br />
viele Leute haben es mitbekommen und niemand hat etwas<br />
gesagt“, so die heute <strong>23</strong>-jährige. Nach großer Überwindung<br />
erzählte Laura ihrer Mutter von dem Vorfall und ging mit<br />
ihr zusammen zur nächsten Polizeistation im 19. Wiener<br />
Gemeindebezirk. Die Befragung mit der zuständigen Polizistin<br />
hat sie nachhaltig verstört. „Sie hat mir richtig unangenehme<br />
Fragen gestellt – ob sein Glied von Anfang an steif<br />
gewesen wäre, ob er masturbiert hätte, ob das wegen mir<br />
gewesen sei und ob er mich dabei angefasst hätte. Das<br />
konnte ich alles nicht klar beantworten und die Polizistin gab<br />
mir so das Gefühl, dass ich gerade aus einer Mücke einen<br />
Elefanten machte. Sie erklärte mir, dass ich zwar Anzeige<br />
erstatten könnte, diese jedoch wahrscheinlich keine Auswirkungen<br />
hätte und es für sie nur mühsam wäre, diesen<br />
Fall nun zu bearbeiten.“ Laura fühlte sich abgewiesen. „Mir<br />
wurde schon als junges Mädchen vermittelt, dass es in<br />
Ordnung ist, wenn ein erwachsener Mann neben mir seinen<br />
erregten Penis in der Öffentlichkeit zeigt.“ Die Erfahrung,<br />
im öffentlichen Raum sexuell belästigt zu werden, machte<br />
Laura nicht nur einmal – bei der Polizei angezeigt hat sie die<br />
Vorfälle zwar immer, aber „Hilfe oder Schutz erwarte ich mir<br />
nie. Nach meinen Erfahrungen habe ich nicht das Gefühl, als<br />
wäre die Bereitschaft dazu da.“<br />
Täglich melden sich Frauen bei der Frauenhelpline und<br />
berichten von Grenzüberschreitungen, die sie nicht melden<br />
möchten. Die Scham und Angst vor der Anzeige sei zu groß.<br />
Laut dem BAFÖ (Bund Autonome Frauenberatungsstellen<br />
bei sexueller Gewalt Österreich) sind es vor allem schlechte<br />
Erfahrungen anderer Opfer, der geringe Anteil an Verurteilungen<br />
sowie lange und belastende Ermittlungsverfahren,<br />
die Frauen daran hindern, Sexualstraftaten anzuzeigen. Die<br />
Zahl der angezeigten Sexualdelikte in Österreich lässt sich<br />
schwer greifen – wie internationale Studien berichten, ist<br />
die Dunkelziffer extrem hoch. Rund 15.000 Betretungs- und<br />
Annäherungsverbote wurden im letzten Jahr von der Polizei<br />
nach einem Gewaltvorfall verhängt. Im Jahr 2022 wurden<br />
78.836 Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht. Im Vergleich zu<br />
2021 sind diese um rund 11.400 gestiegen. Darunter fallen<br />
aber nur strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen<br />
die Freiheit und gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung.<br />
Weitere Sexualstraftaten wie Grooming, Cyber-<br />
Stalking oder sexuelle Belästigung werden viel seltener<br />
strafrechtlich verfolgt. BAFÖ kritisiert die fehlenden und nicht<br />
aktuellen Studien zu Sexualdelikten in Österreich stark.<br />
Sara* hat ihren Täter nie angezeigt – es war ihr eigener<br />
Freund. „Für ihn war Sex der einzige Weg, wie wir uns nach<br />
einem Streit vertragen konnten. Ihm war egal, ob ich völlig<br />
aufgelöst war oder gerade keine Lust hatte. Er meinte immer,<br />
dass ich ihn nicht lieben würde, wenn ich nicht mit ihm<br />
schlafe. Ich tat es jedes Mal, bis ich einmal klar und deutlich<br />
„Nein“ sagte. Er machte trotzdem weiter.“ Sara * war 15<br />
Jahre alt, als ihr damaliger Partner sie vergewaltigte. Diese<br />
Tat anzuzeigen, wollte sie bewusst nie. Viel zu groß war die<br />
Angst, sich vor möglicherweise sehr unsensiblen Beamten<br />
erklären und rechtfertigen zu müssen. Viel zu groß war die<br />
Angst, für immer als das „Opfer“ gesehen zu werden. „Wenn<br />
schon Fälle, bei denen es eindeutig eine Vergewaltigung war,<br />
ohne Konsequenzen für den Täter abgeschlossen wurden –<br />
wer sollte mir denn glauben, dass mich mein eigener Freund<br />
vergewaltigt hatte? Ich wusste auch nicht, wie ich das der<br />
Polizei hätte beweisen sollen“, erzählt sie heute, sechs Jahre<br />
später.<br />
DER SOZIALE DRUCK<br />
Auch die <strong>23</strong>-jährige Maria * musste schon mehrere grenzüberschreitende<br />
Vorfälle erleben, von denen sie sich bis<br />
heute tiefsitzend geschädigt fühlt. Aus Angst, ausgeschlossen<br />
zu werden und als unglaubwürdig zu gelten, erzählte<br />
sie ihrem Umfeld lange nichts von ihrem Trauma. In ihrem<br />
siebzehnten Lebensjahr wurde sie, damals stark alkoholisiert,<br />
auf einer Party vergewaltigt. Kürzlich wurde sie erneut von<br />
einem Bekannten ihrer Freundesgruppe sexuell genötigt – in<br />
ihren eigenen vier Wänden. Dieser Vorfall brachte das Fass<br />
zum Überlaufen, sie befindet sich in Psychotherapie, um die<br />
Geschehnisse aufzuarbeiten. Der Weg zur Polizei war für sie<br />
trotzdem keine Option. „Einerseits habe ich, wie viele andere<br />
Frauen, den Vorfall zuerst kleingeredet. Ich habe mir selbst<br />
die Schuld dafür gegeben, dass ich es so weit kommen lassen<br />
habe. Andererseits ist in solchen Situationen der soziale<br />
Druck extrem hoch. Wird man mir glauben? Was werden<br />
die Leute über mich reden? Wie oft habe ich schon von<br />
Freund:innen gehört, wie unsensibel sie von Polizist:innen<br />
behandelt worden waren. So etwas möchte man so schnell<br />
wie möglich abschließen, ich hatte einfach keine Kraft, diese<br />
belastenden Ermittlungsverfahren durchzumachen.“ Sowohl<br />
Maria als auch Sara sehen den gesellschaftlichen Umgang<br />
mit sexuellen Übergriffen sehr problematisch. Frauen wird<br />
immer suggeriert, dass erst das Worst-Case-Szenario wie<br />
„Mann vergewaltigt Frau nachts im Park“ als Vergewaltigung<br />
und Straftat gilt. Vergewaltigung durch den Beziehungspartner<br />
oder durch eine nahestehende Person wird jedoch nicht<br />
ernst genommen, oder gar als nicht existent abgezeichnet.<br />
50 / RAMBAZAMBA | WIEN / / RAMBAZAMBA | WIEN / 51
AUSGELIEFERT UND ALLEIN GELASSEN<br />
Sexuelle Übergriffe bei der Polizei zu melden, ist zwecks<br />
Dokumentation wichtig. Aber: Eine Meldung allein führt<br />
nicht immer zu einer Verurteilung oder Strafe für den Täter.<br />
Doch so haben Behörden wenigstens eine Chance, Straftäter<br />
zu identifizieren und Straftaten aufklären zu können. Oft<br />
kann die Polizei durch die Meldung und einer erfolgreichen<br />
Identifizierung des potenziellen Wiederholungstäters, weitere<br />
Straftaten verhindern. Laut BAFÖ kommt es aber regelmäßig<br />
zu Vorfällen, in denen das Melden eines Übergriffs keine<br />
Konsequenzen für den Täter hat. Häufig kommt es zur Täter-<br />
Opfer-Umkehr, bei der Polizist:innen bisweilen den Opfern<br />
die Schuld geben. Doch es gibt auch sehr engagierte und<br />
beeindruckende Fälle von Beamt:innen, die sehr professionell<br />
und kompetent mit Opfern von Sexualdelikten umgehen.<br />
„Es kommt sehr darauf an, wer die zuständige Person ist;<br />
inwieweit sie für solche Fälle sensibilisiert und ausgebildet<br />
ist. Das gilt auch für die Staatsanwaltschaft“, bestätigt Ursula<br />
Kussyk, Obfrau des BAFÖ. Auf die Nachfrage beim Innenministerium,<br />
inwiefern Beamt:innen im Umgang mit Opfern von<br />
Sexualdelikten geschult würden, wird auf ein für Außenbedienstete<br />
verpflichtendes E-Learning-<br />
Modul, 60 aufgestockte Landestrainer<br />
im Bereich „Gewalt in der Privatsphäre“<br />
(GiP) und einem Wiener GiP-Support<br />
hingewiesen – all das sensibilisiert<br />
Beamt:innen für das Thema. Diese Tools<br />
wurden überwiegend im Rahmen der<br />
Novellierung des Gewaltschutzgesetzes<br />
2019 eingeführt. In Hinblick auf die Kritik<br />
vieler Frauen, verweist das Innenministerium<br />
auf den Dachverband der österreichischen<br />
Gewaltschutzeinrichtungen.<br />
Dieser sieht die Kooperation zwischen<br />
Polizei und Gewaltschutzzentren als recht<br />
eng und ausreichend.<br />
WELCHE MÖGLICHKEITEN<br />
GIBT ES FÜR FRAUEN?<br />
Frauenhelpline gegen Gewalt<br />
0800 222 555<br />
Unterstützung bei sexueller Gewalt:<br />
bei BAFÖ<br />
https://www.sexuellegewalt.at/<br />
Unterstützung bei jeglichen Anliegen:<br />
Rat auf Draht 147<br />
Frauenberatung<br />
http://www.frauenberatung.at/<br />
index.php/links/beratung-wien)<br />
GRAUZONEN, AUCH IM INTERNET<br />
Nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch im Internet<br />
können übergriffige Situationen entstehen. Die kurdischstämmige<br />
Dilan * wurde von einem Freund der Familie, der<br />
doppelt so alt war wie sie, gestalkt. Von der Polizei fühlte<br />
sie sich zwar gut unterstützt und beraten, jedoch hatten<br />
die Behörden keinen klaren rechtlichen Anlass dafür, die<br />
Taten des Mannes zu unterbinden. „Der Stalker bewegte<br />
sich immer nur in einem Rahmen, der gesetzlich nicht<br />
problematisch war. Er bedrohte mich nie, er beleidigte mich<br />
auch nicht. Sein Ziel war es, eine Nähe zu mir zu suggerieren,<br />
sodass mein Umfeld dachte, dass ich neben meinem<br />
Ehemann eine Affäre hätte. In der kurdischen Community<br />
hätte dies meinem Image als Frau und dem meiner Familie<br />
enorm geschadet“, erzählt Dilan. Seit ihrer Kindheit kannte<br />
sie den Mann, der ihr die nächsten Monate zur Hölle machen<br />
sollte. Ihr Stalker überschüttete sie online mit Komplimenten,<br />
erstellte immer wieder neue Profile, um sie zu verfolgen,<br />
und terrorisierte sie und ihr Umfeld mit Anrufen. Im Internet<br />
gelten andere Regeln – die Polizei ist rechtlich eingeschränkt.<br />
Anonymität, Plattformen als Dritte und fehlende Gesetze<br />
erschweren die komplexen Ermittlungsarbeiten. BAFÖ hat<br />
dazu auch die Erfahrung gemacht, dass es der Polizei vor<br />
allem im Cyberraum an technischem Know-how und neuster<br />
Technik mangelt.<br />
DER HILFERUF INS LEERE<br />
Hilferufe von Frauen werden oft nicht ernst genommen.<br />
Laura, Sara, Maria und Dilan sind nur ein paar von Millionen<br />
Frauen weltweit, die tagtäglich grenzüberschreitenden<br />
Situationen ausgesetzt sind und sich nicht geschützt fühlen.<br />
Es fehlt auch um Aufklärung – selten werden Frauen über<br />
diese Themen informiert. Die Konsequenz: Sie realisieren das<br />
Vergehen erst spät, geben sich selbst die Schuld und schämen<br />
sich, darüber zu sprechen. Frauen, die Lauras schlechte<br />
Erfahrungen mit Polizist:innen teilen, muss mehr geschultes<br />
und sensibles Personal bereitgestellt werden. Junge Frauen,<br />
wie Sara damals, müssen darüber aufgeklärt werden, dass<br />
Frauen keinem Mann Sex „schulden“; dass auch, wenn man<br />
in einer Beziehung ist, Vergewaltigungen stattfinden können.<br />
Frauen wie Maria müssen darüber aufgeklärt werden, dass<br />
es Fraueneinrichtungen gibt, die Prozessbegleitung<br />
anbieten und sie auf dem<br />
Weg zur Anzeige unterstützen. Gesetzeslücken<br />
im Internet, von denen Dilan<br />
und so viele andere Frauen betroffen<br />
sind, muss die Justiz dringend schließen.<br />
In jedem Fall geht es um die Sicherheit<br />
von Frauen, die sich allein gelassen und<br />
ungeschützt fühlen. ●<br />
* Die Namen wurden geändert<br />
Das Innenministerium konnte zu den einzelnen<br />
Fällen, die in dem Text beschrieben werden,<br />
keine Stellung beziehen, da die Opfer zu ihrem<br />
eigenen Schutz anonymisiert wurden. Die<br />
Namen sind der Redaktion bekannt.<br />
© Zoe Opratko, unsplash.com/Christian Dubovan, EWSA<br />
MEINUNG<br />
Alltag für viele, Neuland<br />
für Arbeiter*innenkinder<br />
Donnerstagfrüh im März: Ich muss für<br />
Biber nach Brüssel. Papa fährt mich<br />
in seinem dunkelblauen Arbeitsoverall<br />
zum Flughafen, denn er muss danach<br />
in seine Werkstatt. Müde aber stolze<br />
Augen während ich rede. Nur eine<br />
Frage hat er: „Diese EU-Leute übernehmen<br />
ECHT deine Flug- und Hotelkosten?“<br />
Ich bejahe und erkläre ihm<br />
(und mir selbst) dass das „normal“ sei.<br />
Obwohl es nicht die erste Dienstreise<br />
ist, fühlt sich die Situation bizarr an.<br />
Ob das je vergeht? Die Antwort darauf<br />
kommt überraschend vom Vizepräsidenten<br />
des Europäischen Wirtschaftsund<br />
Sozialausschusses, der mir positiv<br />
auffällt, da er als einzige Person in<br />
einer Lederjacke zum Pressetermin<br />
spaziert. Später erfahre ich von ihm,<br />
dass er aus der ärmsten Region<br />
Irlands stammt. Im Gespräch verrät<br />
er mir: „Das alles fühlt sich für mich<br />
auch nach Jahren komisch an, aber<br />
Leute wie wir können immerhin dafür<br />
sorgen, dass Welten wie diese für alle<br />
zugänglicher werden. Man muss sich<br />
aber treu bleiben und zeigen, dass es<br />
klappen kann, auch wenn Herkunft<br />
und Kleidungsstil nicht in die Norm<br />
dieser Bubbles passen.“<br />
salioski@dasbiber.at<br />
KARRIERE & KOHLE<br />
Para gut, alles gut<br />
Von Šemsa Salioski<br />
YOUR EUROPE,<br />
YOUR SAY<br />
Du bist zwischen 16 und 18 und möchtest,<br />
dass deine Vorschläge für die Zukunft<br />
Europas Gehör finden? Dann könnte dich<br />
die Veranstaltung „Your Europe, Your<br />
Say!“ interessieren. Hier bekommen drei<br />
Schüler*innen aus allen EU-Mitglieds- und<br />
Kandidatenstaaten die Möglichkeit nach<br />
Brüssel eingeladen zu werden und sich mit<br />
anderen auszutauschen. Die gesammelten<br />
Empfehlungen der Teilnehmenden werden<br />
nach dem Event an die EU-Organe weitergegeben<br />
und müssen diskutiert werden.<br />
Mehr dazu unter: https://www.eesc.<br />
europa.eu/de/initiatives/your-europeyour-say<br />
Tiktok-Empfehlung<br />
@Foerderminister<br />
auf TikTok<br />
Wer sich in Österreich keinen Euro entgehen<br />
lassen will, sollte unbedingt Samy El Makarem<br />
auf TikTok folgen. Auf Tiktok fasst der<br />
selbst ernannte Förderminister in nur wenigen<br />
Sätzen zusammen, welche Förderungen<br />
ab wann und vor allem für wen zu holen<br />
sind - egal ob Klimabonus, Pendlerbonus,<br />
Studienbeihilfe oder Pensionsbonus. Mehr<br />
dazu unter: https://www.tiktok.com/@<br />
foerderminister<br />
Trend Watch<br />
VOLLZEIT,<br />
NA DANKE!<br />
Im EU-Schnitt gibt es immer<br />
mehr Vollzeitarbeitende.<br />
Österreich jedoch zählt bei<br />
der Teilzeitbeschäftigung<br />
europaweit zu den Spitzenreitern.<br />
Laut Statistik<br />
Austria beträgt der Anstieg<br />
von 2021 auf 2022 ganze<br />
7 Prozent. Wenig überraschend<br />
stehen vor allem<br />
Frauen an der Spitze dieses<br />
Trends. Fast jede zweite Frau<br />
in Österreich arbeitet nur<br />
Teilzeit. Die unsichtbare und<br />
unbezahlte Care-Arbeit gilt<br />
als Hauptgrund. Außerdem<br />
ist und bleibt der Anreiz<br />
mehr Stunden zu arbeiten<br />
für viele gering, denn wer<br />
zwischen 11.693 und 19.134<br />
Euro pro Jahr verdient, zahlt<br />
eine Einkommenssteuer in<br />
Höhe von 20 Prozent. Eine<br />
Abgabensenkung könnte<br />
das geradebiegen. Ob das<br />
junge Generationen und ihre<br />
immer lauter werdende Kritik<br />
gegenüber der 40-plus-<br />
Stunden-Woche beeinflussen<br />
könnte, bleibt fragwürdig.<br />
52 / RAMBAZAMBA | WIEN /<br />
/ KARRIERE / 53
Selbermacher<br />
Mehr als<br />
Brot und<br />
Spieße<br />
Klassiker der georgischen<br />
Küche wie<br />
Khinkali und Khatchapouri<br />
werden in Europa<br />
immer beliebter. Bei<br />
Modi1080 kann man den<br />
Geschmack Georgiens<br />
mitten in Wien kennen,<br />
und lieben lernen.<br />
Von Nada El-Azar-Chekh,<br />
Fotos: Zoe Opratko<br />
Giorgi „Gio“ Kerashvili und seine<br />
Frau Tamar Dzneladze haben mit<br />
ihrem Restaurant Modi1080 ein<br />
Stück ihrer Heimat Georgien in die Wiener<br />
Josefstadt gebracht: In einem ehemaligen<br />
Teppichgeschäft in der Alser Straße werden<br />
traditionelle Speisen in einem modernen<br />
Ambiente serviert.<br />
„Ich wollte kein ehemaliges Restaurant<br />
übernehmen. Man sagt doch immer so<br />
schön, dass man Tote nicht mehr wecken<br />
könne“, erzählt Inhaber Gio. „Dieses<br />
Teppichgeschäft stand über 42 Jahre hier<br />
– wenn man ein wenig abergläubisch ist,<br />
könnte man sagen, dass das doch Glück<br />
bringt. Deswegen haben wir es komplett<br />
renoviert und unser Restaurant hier<br />
aufgebaut.“ Eröffnet wurde Modi1080 im<br />
September 2021, kurz bevor ein weiterer<br />
Lockdown dem Lokal zusetzte. Für das Ehepaar,<br />
das zuvor noch nie einen Gastrobetrieb<br />
hatte, war es ein holpriger Start. „Drei<br />
Mal wollten wir es während der Renovierungsarbeiten<br />
aufgeben. Aber es hat sich<br />
am Ende gelohnt.“<br />
ANFASSEN ERLAUBT<br />
Lange war Modi1080 ein Abendrestaurant,<br />
seit kurzem werden aber auch Mittagsmenüs<br />
angeboten. Gekocht wird in der<br />
offenen Küche immer frisch. „Bei uns ist<br />
nichts im Tiefkühler, außer das Lachssteak“,<br />
so Tamar. Absolute Lieblingsspeise der<br />
Ladenbesitzer sind die klassischen Khinkali,<br />
große Teigtaschen, die man unbedingt<br />
mit der Hand essen sollte. „Man greift die<br />
Khinkali am besten oben an der Spitze,<br />
beißt ein Stückchen auf der Seite ab und<br />
© philipp nemenz/Shutterstock<br />
© Halfpoint/stock.adobe.com<br />
trinkt die Boullion gleich heraus. So machen<br />
wir es in Georgien und nicht anders. Wer<br />
sie mit Messer und Gabel aufschneidet,<br />
verpasst den besten Teil!“, erklärt Gio. Auch<br />
Khatchapouri, ein beliebtes Brot mit Käse<br />
überbacken, und eine große Auswahl an<br />
Fleischspießen vom Grill dürfen in einem<br />
georgischen Lokal nicht fehlen. Wer es<br />
lieber vegetarisch mag, sollte unbedingt<br />
die mit Walnusspaste gefüllten Melanzanirollen<br />
und den Bohneneintopf kosten. Als<br />
perfekte Begleitung empfiehlt es sich, einen<br />
Blick in die Weinkarte zu werfen: Denn bei<br />
Modi1080 bekommt man exklusive Qvevri-<br />
Weine direkt aus Georgien, die in Amphoren<br />
unter der Erde gegärt wurden. Diese Form<br />
der Weinherstellung gilt als älteste auf der<br />
ganzen Welt und ist von der UNESCO nicht<br />
umsonst zum Weltkulturerbe Georgiens<br />
erklärt worden.<br />
Gio und Tamar legen großen Wert auf<br />
gute Gastfreundlichkeit. „Für uns sind alle<br />
Restaurantbesucher wie Gäste bei uns<br />
Zuhause.“ In Georgien werden traditionell<br />
alle Speisen untereinander am Tisch geteilt.<br />
„Ich bin sehr dankbar, dass ich mit diesem<br />
Lokal auch mein Land repräsentieren kann<br />
und ich bin mir sehr bewusst über meine<br />
Rolle“, erklärt Gio. Nicht umsonst heißt das<br />
Lokal „Modi“, denn das bedeutet auf Georgisch<br />
so viel wie: Komm herein! Vom alten<br />
Wiener Grant ist bei hier also definitiv nichts<br />
zu spüren.<br />
Modi1080<br />
Alser Straße 11, 1080 Wien<br />
In Georgien werden alle Speisen geteilt.<br />
Mehr ist in diesem Fall also – mehr!<br />
VON DER IDEE<br />
BIS ZUR GRÜNDUNG<br />
» GRUENDERSERVICE.AT<br />
Basis-Informationen und Tools zur Gründung<br />
finden Sie auf unserer Webseite.<br />
WKO-WIEN HILFT<br />
Im Gründerservice der<br />
WKO-Wien kann man bei<br />
einem Beratungsgespräch<br />
alle Fragen stellen, die die<br />
Gründung eines Unternehmens<br />
betreffen. Im Vorhinein<br />
kann man sich auch<br />
schon eigenständig online<br />
informieren. Ob generelle<br />
Tipps zur Selbstständigkeit,<br />
rechtliche Voraussetzungen,<br />
Amtswege oder<br />
Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten:<br />
Auf<br />
der Website kommt man<br />
mit wenigen Klicks zu allen<br />
wichtigen Informationen.<br />
wko.at/wien<br />
www.gruenderservice.at<br />
Die Selbermacher-Serie ist<br />
eine redaktionelle Kooperation<br />
von das biber mit der<br />
Wirtschaftskammer Wien.<br />
Online informieren!<br />
W www.gruenderservice.at<br />
54 / KARRIERE /
TECHNIK & MOBIL<br />
Alt+F4 und der Tag gehört dir.<br />
Von Adam Bezeczky<br />
Bezahlte Anzeige<br />
MEINUNG<br />
Grabenkrieg<br />
und High-Tech<br />
Der Krieg in der Ukraine wird<br />
zunehmend ein Wettbewerb der<br />
Rüstungsfabriken: auf der einen<br />
Seite Hyperschallraketen und<br />
Drohnen, auf der anderen Seite<br />
hochgezüchtete Panzer und<br />
Mehrfachraktenwerfer. Die Zeche<br />
blecht wieder einmal die Zivilbevölkerung.<br />
Der Abnutzungskrieg<br />
im Osten wird unerbittlich und<br />
mit allen Mitteln geführt - von der<br />
smarten Aufklärungsdrohe bis zum<br />
Feldspaten kommt dabei alles zum<br />
Einsatz, und es ist nicht ohne Ironie,<br />
dass die Landschaft genauso<br />
mit Schützengräben durchzogen<br />
ist, wie damals im ersten Weltkrieg.<br />
Danach hat man sich auch<br />
gefragt “Wozu das unermessliche<br />
Leid?” - vielleicht lernen ja zukünftige<br />
Generationen aus<br />
all den verstörenden<br />
Aufnahmen aus dem<br />
Kriegsgebiet, warum<br />
bewaffnete Konflikte<br />
keine gute Idee sind.<br />
bezeczky@dasbiber.at<br />
paprikap0w3r<br />
Pause für AI<br />
ForscherInnen und UnternehmerInnen<br />
wollen eine Pause bei der Entwicklung<br />
von KI einlegen. Was nach einer<br />
vernünftigen Forderung klingt, ist<br />
unrealistisches Wunschdenken. Kein<br />
Unternehmen der Welt kann sich eine<br />
Pause leisten, alle werden weiterentwickeln.<br />
Der Wettbewerbsdruck ist viel<br />
zu groß.<br />
DIABLO<br />
KEHRT<br />
ZURÜCK<br />
Der Urvater der Dungeon “Hack<br />
n Slay” Adventures kehrt auf die<br />
Konsolen dieser Welt zurück. Wieder<br />
einmal müssen wir als Held den<br />
Teufel nicht nur an die Wand malen,<br />
sondern aus der Welt vertreiben.<br />
Übung macht den Meister, und die<br />
Entwickler wissen seit 1997, wie<br />
man Spieler bei der Stange hält.<br />
Erhältlich im Sommer!<br />
SMARTHOME<br />
SPART ENERGIE<br />
Mit smarten Steckdosen und<br />
intelligenter Heimsteuerung lässt<br />
sich viel Energie sparen. Lampen,<br />
die ausgehen, wenn man die<br />
Wohnung verlässt oder Thermostate<br />
die die Heizung sehr genau<br />
ansteuern. Es bedarf nicht großer<br />
Investitionen um eine Wohnung<br />
“smart” werden zu lassen. Mehr<br />
dazu bald auf www.dasbiber.at<br />
© Marko Mestrovic, Activision Blizzard, unsplash.com/Andrea De Santis, kremlin.ru<br />
Ich arbeite an der Digitalisierung.<br />
Ich arbeite an Wien.<br />
Asha ist stolz auf ihren Job und ihren Beitrag zur fortschreitenden Digitalisierung.<br />
Sie sorgt für Online-Services der Stadt und dafür, dass sie rund um die Uhr<br />
funktionieren. Diese wichtige Aufgabe motiviert sie täglich aufs Neue.<br />
Die Stadt Wien bietet ihr ein faszinierendes, vielfältiges und innovatives Arbeitsumfeld<br />
und das in einem krisensicheren Job mit Verantwortung und einer guten<br />
Work-Life-Balance.<br />
Arbeite auch du an Wien und bewirb dich unter: jobs.wien.gv.at<br />
#arbeitenanwien<br />
56 / TECHNIK /<br />
jobs.wien.gv.at
MEINUNG<br />
Die ewigen<br />
Ausländer<br />
Am 24. Mai 1982, genau an ihrem 25.<br />
Geburtstag, zündete sich Semra Ertan<br />
in Hamburg öffentlich an. Die politische<br />
Aktivistin und Lyrikerin kam als Kind von<br />
Gastarbeitern aus der türkischen Hafenstadt<br />
Mersin im Alter von 14 Jahren nach<br />
Deutschland und schrieb als junge Frau<br />
gegen Rassismus und Ausgrenzung. Ihr<br />
wohl bekanntestes Gedicht „Mein Name ist<br />
Ausländer“ schrieb Ertan nicht einmal ein<br />
halbes Jahr vor ihrem Suizid nieder – und<br />
erst vor wenigen Jahren wurde überhaupt<br />
ein Gedichtband auf Deutsch und Türkisch<br />
herausgebracht, der auch mehr als 40 Jahre<br />
nach ihrem Tod noch traurige Aktualität<br />
behält. Semra Ertan schrieb über Freiheit<br />
und Unabhängigkeit, in einer Zeit, in der<br />
ihr aufgrund ihrer Herkunft und sozialen<br />
Klasse viele Türen verschlossen geblieben<br />
sind. Auch heute - sei es in Deutschland,<br />
sei es in Österreich - hat sich die Situation<br />
für viele MigrantInnen bzw. für ihre Kinder<br />
kaum verändert: Gute Karrieren und Bildung<br />
werden immer noch vererbt, die Schere<br />
zwischen arm und reich wird immer größer<br />
und auch in der Kunst sind Stimmen aus<br />
marginalisierten Gruppen oft unsichtbar.<br />
Semra Ertan wäre dieses Jahr 66 Jahre<br />
alt geworden – leider wäre auch heute<br />
womöglich ein Gedicht wie „Mein Name<br />
ist Ausländer“ mit Leichtigkeit entstanden.<br />
Denn es scheint, als hätte sich über diese<br />
Jahrzehnte nur wenig verändert.<br />
el-azar@dasbiber.at<br />
KULTURA NEWS<br />
Klappe zu und Vorhang auf!<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
58 / KULTURA /<br />
Filmtipp:<br />
Die Kairo<br />
Verschwörung<br />
Der einfache Fischersohn Adam erhält<br />
ein Stipendium an der renommierten<br />
islamischen Azhar-Universität in Kairo<br />
– doch plötzlich stirbt das Oberhaupt,<br />
der Groß-Imam. Eine politische Intrige<br />
entfaltet sich um die Neubesetzung und<br />
der unscheinbare Adam wird für den<br />
ägyptischen Geheimdienst rekrutiert,<br />
um zu spionieren. Regisseur Tarik Saleh<br />
traut sich mit diesem Politthriller über<br />
ein besonders hartes Pflaster!<br />
Filmstart: 21. April 20<strong>23</strong><br />
Festival-Tipp:<br />
SALAM<br />
ORIENT<br />
Musikalische Highlights bilden unter<br />
anderem die „Voices of Iran“ Golnar<br />
Shayar, Tara Mehrad und Aïda Nosrat,<br />
die mit ihrem Projekt „Woman,<br />
Life, Freedom“ solidarisch mit den<br />
Protesten im Iran auftreten. Auch<br />
das palästinensisch-jordanische<br />
Rock-Duo El Morabba3 dreht im Flex<br />
Café ordentlich auf. Außerdem unter<br />
anderem im Programm: Özlem Bulut<br />
Band und Yemen Blues. Begleitend<br />
gibts im philomena+ die Ausstellung<br />
„Markt-Marie“, die am 5. Mai Vernissage<br />
hat.<br />
Von 4. bis 14. Mai<br />
in Wien. Weitere<br />
Informationen<br />
zum Programm<br />
gibts hier:<br />
Buchtipp:<br />
Tränen im<br />
Asiamarkt<br />
Michelle Zauner ist als einziges Kind<br />
einer koreanischen Mutter und eines<br />
US-amerikanischen Vaters im US-<br />
Bundesstaat Oregon aufgewachsen. In<br />
ihrem berührenden Bestseller-Roman<br />
„Tränen im Asiamarkt“ spürt sie dem<br />
Verlust ihrer Mutter an Krebs nach.<br />
„Seitdem meine Mutter gestorben ist,<br />
weine ich im Asiamarkt“, lesen sich<br />
die ersten Zeilen des Buches. Zauner,<br />
die übrigens auch Sängerin der Indie-<br />
Band „Japanese Breakfast“ ist, nimmt<br />
den Leser auf eine (kulinarische)<br />
Erinnerungsreise mit und verarbeitet<br />
Identität, Trauer und ihre koreanische<br />
Erziehung.<br />
„Tränen im Asiamarkt“, Ullstein<br />
Taschenbuch, 320 Seiten, 13 Euro<br />
© Zoe Opratko, Atmo, Memento Productions, Oomerak, Ullstein<br />
© Igor Ripak<br />
3 FRAGEN AN…<br />
ELISABETH<br />
BERNROITNER<br />
& ZUZANA ERNST<br />
Seit März 20<strong>23</strong> hat die Brunnenpassage<br />
eine neue künstlerische Co-<br />
Leitung, bestehend aus Elisabeth<br />
Bernroitner und Zuzana Ernst.<br />
<strong>BIBER</strong>:Wie divers ist die Wiener Kunstszene?<br />
Grundsätzlich ist die Gruppe der an Kunst und Kultur<br />
interessierten Menschen so heterogen wie es eben auch<br />
die Wiener Stadtgesellschaft ist. Gehen wir jedoch auf<br />
die Ebene der Kunstproduktion – also jener Personen,<br />
die Kunst und Kultur schaffen – wird der Kreis schon viel<br />
enger. Denn wer kann es sich schon leisten über Jahre<br />
hinweg im Prekariat tätig zu sein? Und wer hat überhaupt<br />
Zugang zu einer professionellen künstlerischen Ausbildung<br />
und den nötigen Kontakten?<br />
Spiegelt sich das, eurer Meinung nach, im heimischen<br />
Kunstsektor wider?<br />
Blicken wir auf die institutionell organisierte Kunst- und<br />
Künstler*innen<br />
Brook Andrew • Yane Calovski & Hristina Ivanoska •<br />
Siniša Ilić • Iman Issa • Gülsün Karamustafa •<br />
Barbi Marković • Elfie Semotan<br />
Kulturlandschaft, müssen<br />
wir feststellen, dass diese<br />
von Ausschlüssen geprägt<br />
und vorwiegend weiß,<br />
mehrheitsösterreichisch,<br />
privilegiert, nicht-behindert<br />
und hetero zusammengesetzt<br />
ist.<br />
Welche partizipativen<br />
Angebote bietet die Brunnenpassage<br />
für alle Kunstinteressierten?<br />
Wir bieten regelmäßige<br />
partizipative Formate in den<br />
Bereichen Performance,<br />
Gesang, Tanz und Poetry<br />
an. Als (Quer-)Einstiegsformate<br />
gibt es niederschwellige<br />
Workshops, die gänzlich ohne Voranmeldung und zu<br />
immer wechselnden Themen stattfinden. Die einzelnen<br />
Termine bauen bewusst nicht aufeinander auf, so dass<br />
jede:r einfach mitmachen kann. Andere Workshop-Reihen<br />
hingegen sind so aufgebaut, dass ein- und dieselbe<br />
Gruppe gemeinsam über einen längeren Zeitraum auf ein<br />
Ziel, z.B. ein Showing oder eine Performance, hinarbeitet.<br />
Darüber hinaus gibt es immer wieder mehrjährige Kunstproduktionen,<br />
die intensive co-kreative Prozesse erlauben.<br />
Mit Werken aus der Sammlung des MoCA Skopje von<br />
Georg Baselitz • Maria Bonomi • Alexander Calder •<br />
Luis Camnitzer • Christo & Jeanne-Claude • Ion Grigorescu •<br />
Sheila Hicks • David Hockney • Alfred Hrdlicka • Alex Katz •<br />
Sol LeWitt • Meret Oppenheim • Pablo Picasso • Bridget Riley •<br />
Niki de Saint Phalle • Henryk Stażewski uvm.<br />
20/4 20<strong>23</strong> — 28/1 2024<br />
Elfie Semotan, o.T., Skopje, 2022/<strong>23</strong> • Courtesy Studio Semotan © Elfie Semotan
„Der Tanz und ich werden<br />
Freunde bleiben.“<br />
Omar Khir Alanam kennt man hier zulande<br />
als Buchautor und Poetry-Slammer – nun<br />
tanzt er sich bei Dancing Stars in die<br />
Herzen des Publikums. Was der 32-jährige<br />
aus dem Training gelernt hat, verrät er im<br />
Interview.<br />
„ Bis ans Ende der Welt<br />
wolltest du mit mir gehen.<br />
Und auf einmal schmeißt<br />
du alles hin und haust ab!“<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
Omar Khir Alanam (r.) mit seiner Tanzpartnerin Kati Kallus (l.)<br />
60 / KULTURA /<br />
<strong>BIBER</strong>: Omar, du bist 2015 aus Syrien nach Österreich<br />
gekommen, hast mehrere Besteller als Autor veröffentlicht<br />
und machst nun bei Dancing Stars mit. Wie kam es dazu?<br />
OMAR KHIR ALANAM: Ich wurde von der Redaktion von<br />
Dancing Stars angeschrieben und angefragt. Die Idee fand<br />
ich ansprechend und lustig. Das ist eine ganz neue Herausforderung,<br />
weil ich davor mit dem Tanz keine Erfahrung<br />
hatte, außer wenn ich feiern war und frei getanzt habe.<br />
Bist du schon immer ein guter Tänzer gewesen? Was ist<br />
der härteste Teil am Training?<br />
Ein Tänzer war ich nie, aber ich habe mich immer gerne<br />
frei bewegt. Der härteste Teil ist, die Schritte und die Technik<br />
zu lernen und das Ganze dann im Takt zu machen. Und<br />
zum Schluss den Kopf aber abzuschalten und den Tanz,<br />
die Choreografie, das Lied zu spüren und zu genießen. Es<br />
ist eine Sportart, die viel Zeit, Power, Geduld, Ausdauer<br />
und wie bei allem was man neu lernt soll es auch Spaß<br />
machen.<br />
Was hast du aus deiner Zeit bei Dancing Stars lernen<br />
können?<br />
Dass Bewegung für die mentale Gesundheit wahnsinnig<br />
wichtig ist. Der Tag der ersten Pressekonferenz, ein<br />
Montag, war zufälligerweise derselbe Tag, an dem das<br />
Erdbeben in Syrien und der Türkei passierte. Dummerweise<br />
verfolgte ich die Videos der Zerstörung ganze zwei Tage<br />
lang, was in mir wieder das Trauma des Krieges ausgelöst<br />
hat. Das Tanzen war eine perfekte Methode der Therapie,<br />
und des Zulassens, und die Trauer durch Bewegung<br />
zu verarbeiten. Ich lernte neue Schritte, neue Rhythmen,<br />
ich lerne über mich selbst in den verschiedenen Choreografien,<br />
wo ich nicht nur getanzt habe, sondern mit dem<br />
Tanz meine Gefühle verkörpert habe und dadurch auch<br />
einen neuen Teil von mir entdeckte.<br />
Möchtest du auch in Zukunft weiter tanzen?<br />
Ich glaube der Tanz und ich werden Freunde bleiben. Ich<br />
werde weiter tanzen, egal wie und von wem das bewertet<br />
wird.<br />
„Dancing Stars“ jeden Freitag um 20:15 auf ORF1<br />
© ORF/Günther Pichlkostner<br />
© 20<strong>23</strong> McDonald’s<br />
Mach<br />
keinen<br />
Mist!<br />
Wer sich richtig trennt, spart wertvolle Ressourcen.<br />
Deshalb wird in jedem österreichischen McDonald’s<br />
Restaurant der Abfall gesammelt, getrennt und<br />
anschließend zu 90 % wiederverwendet.<br />
Sei dabei beim<br />
Cleanup Day 20<strong>23</strong><br />
mcd_<strong>BIBER</strong>_20<strong>23</strong><strong>04</strong>15_Littering_ANZ_Sackerl_207x270_ISOnewspaper26v4.indd 1 05.<strong>04</strong>.<strong>23</strong> 10:35
DER QUOTEN-ALMANCI<br />
2 MONATE NACH DEM ERDBEBEN<br />
Von Özben Önal<br />
In den letzten Wochen befinde ich mich immer wieder<br />
in Gesprächen innerhalb der Community über die<br />
Zukunft unserer zerstörten Heimatprovinz Hatay.<br />
Während ich jedes Mal unkontrollierbare Wut empfinde,<br />
wenn ich an die Trümmer und Zustände vor Ort denke,<br />
stecken andere noch in einer Phase der Trauer über<br />
die Verluste. Und wieder andere sprechen davon, dass<br />
nach vorne geblickt werden muss. Das Leben vor Ort<br />
geht zwar weiter, die Zeit ist offensichtlich nicht stehen<br />
geblieben, aber von Normalität kann noch lange nicht<br />
die Rede sein. Menschen sind noch immer in Zelten<br />
untergebracht, es mangelt zum Teil noch immer an<br />
sanitären Anlagen und Waschmöglichkeiten, routinemäßig<br />
notwendige Grundbedürfnisse können nicht<br />
gedeckt werden - das Zurückkehren von<br />
Normalität bleibt so in weiter Ferne. Aber<br />
auch die emotionale Komponente spielt hier<br />
eine Rolle. Vor zwei Tagen erzählte mir meine<br />
Cousine aus Hatay bei einem Telefonat vom<br />
Besuch ihrer Freundin, die ihre Mutter und<br />
Schwester beim Erdbeben verloren hatte.<br />
Sie war mit ihrem Vater noch einmal zu den<br />
Trümmern gefahren in der Hoffnung, etwas<br />
zu finden, das sie als Erinnerung mitnehmen könnten.<br />
Es war nicht möglich gewesen, die Leichname der<br />
beiden zu finden, noch immer liegen sie irgendwo<br />
zwischen Beton und Gestein. Darüber trauern sie am<br />
meisten - keinen Ort zu haben, an den sie gehen können,<br />
um sich mit ihren Liebsten verbunden zu fühlen.<br />
Sie zeigte meiner Cousine ein zerknittertes Familienbild,<br />
das nun als einziges Andenken an die Zeit vor dem<br />
sechsten Februar dient.<br />
UNTERSCHIEDLICHE<br />
VERARBEITUNGSPROZESSE<br />
Die Menschen vor Ort sind alle in unterschiedlichen<br />
Phasen der Verarbeitung und haben demnach auch<br />
einen anderen Umgang mit der Situation. Viele haben<br />
Schwierigkeiten zu begreifen, was ihnen widerfahren<br />
Kolumnistin Özben<br />
Önal ist euer „Quoten-<br />
Almanci“ – ein bisschen<br />
deutsch, ein bisschen<br />
türkisch, mit ein bisschen<br />
Liebe zu Wien. In ihrer<br />
Kolumne berichtet sie<br />
über Schönes, Schwieriges<br />
und Alltägliches.<br />
62 / MIT SCHARF /<br />
ist und suchen verzweifelt nach einem Sinn. Darunter<br />
auch solche, die an dem Glauben festhalten, dass ihr<br />
Verlust Schicksal war. Jedes Mal, wenn ich dieses Wort<br />
im Zusammenhang mit dem Erdbeben höre, stellen sich<br />
mir die Nackenhaare auf und ich werde wütend. Denn<br />
die Verbindung erinnert an das politisierte Narrativ, das<br />
Erdogan drei Tage nach dem Beben bediente, indem<br />
er von „Schicksal“ sprach, was vor allem dazu dienen<br />
sollte, Verantwortungslosigkeit und Versagen innerhalb<br />
der Regierung zu legitimieren. Allerdings ist mir<br />
mittlerweile klar, dass der individuelle Glaube daran,<br />
der eigene Verlust sei Schicksal gewesen, für einige<br />
Menschen notwendig ist und manchmal auch getrennt<br />
vom politischen Vokabular gesehen werden sollte,<br />
dessen sich ein Staatsoberhaupt bedient, um<br />
das eigene Verschulden zu rechtfertigen. Sie<br />
kennen keinen anderen Weg des Trostes,<br />
keinen anderen Sinn. Und um ihren Verlust<br />
verarbeiten zu können, halten sie an ihrem<br />
Glauben fest, weil es für sie nichts anderes<br />
gibt. Und woher nähme ich das Recht, einer<br />
tieftrauernden Person abzusprechen, woran<br />
sie glaubt und für den Moment glauben muss,<br />
um ihre Situation ertragen zu können? Genau so gibt<br />
es Menschen, deren Trauer in Wut umgeschwungen<br />
ist, Wut darüber, nicht akzeptieren zu wollen, dass ihr<br />
Verlust als Schicksal betitelt wird. Sie brauchen die<br />
Übernahme von Verantwortung, die Gerechtigkeit und<br />
die Aufklärung, um den Heilungsprozess beginnen zu<br />
können. Die Wut ist ihr Ventil. Auch wenn es sich um<br />
ein kollektives Trauma handelt, gibt es auf der individuellen<br />
Ebene nicht den einen richtigen Umgang, dafür<br />
ist die Gesellschaft zu vielschichtig, das Erlebte zu<br />
unterschiedlich. Vielmehr ist gerade höchste Sensibilität<br />
gefragt in Gesprächen über das Erlebte. zwei Monate<br />
fühlen sich für die einen an wie zwei Tage, für die<br />
anderen wie zwei Jahre. Die einen glauben daran, dass<br />
der Verlust ihrer Liebsten unumgänglich war, während<br />
andere von Mord sprechen. ●<br />
© Zoe Opratko<br />
Blind ermielt ermielt<br />
Zwei neue Fälle für Haller & Falk<br />
Tod im Weinberg | Montag 17. April 20:15<br />
Mord an der Donau | Montag, 24. April 20:15<br />
20.03.<strong>23</strong> 12:51
JOBS MIT ZUKUNFT<br />
„Jeder fängt mal klein an.<br />
Aber hier werd’ ich groß!“<br />
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/ MIT SCHARF / 65<br />
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