7.2. Bogenlänge ebener Kurven
7.2. Bogenlänge ebener Kurven
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<strong>7.2.</strong> <strong>Bogenlänge</strong> <strong>ebener</strong> <strong>Kurven</strong><br />
Die Berechnung der Länge von <strong>Kurven</strong>bögen gehört zu den häufigen Aufgaben in der<br />
Ingenieurmathematik.<br />
Eine Kurve mit der (stetigen) Parameterdarstellung w: [a,b] --> R m kann beliebig genau durch<br />
Polygonzüge approximiert werden. Die Länge eines solchen Polygonzuges mit den Ecken<br />
w( t0 ) , w( t1 ) , ... , w( tn )<br />
wobei t0 = a und tn = b gesetzt wird, ist<br />
n<br />
∑<br />
j = 1<br />
w( tj ) − w( t − )<br />
j 1 .<br />
Falls w sogar stetig differenzierbar ist, zeigt eine einfache Grenzwertbetrachtung, daß diese Längen<br />
bei immer feiner werdenden Unterteilungen t 0 , t 1 , ... , t n gegen eine Zahl konvergieren, die<br />
unabhängig von den gewählten Unterteilungspunkten ist. Eine einfache Anwendung des<br />
Mittelwertsatzes ergibt, daß der Grenzwert nichts anderes als das folgende Integral ist:<br />
⌠<br />
sa( b ) = ⎮ w´ ( t ) dt<br />
.<br />
⌡<br />
a<br />
b<br />
Diese Zahl nennt man die <strong>Bogenlänge</strong> der durch w bestimmten Kurve.<br />
Weg = Geschwindigkeit mal Zeit<br />
Aus diesem Prinzip wird bei variabler Geschwindigkeit v( t ) die Formel<br />
⌠ ⌠<br />
sa( b ) = ⎮ v( t) dt<br />
= ⎮ w´ ( t) dt<br />
⌡ ⌡<br />
a<br />
b<br />
a<br />
b<br />
für die <strong>Bogenlänge</strong>, also die Länge des entlang der Kurve zurückgelegten Weges zwischen den<br />
Punkten w( a ) und w( b ) . Wir werden sie bald für allgemeine <strong>Kurven</strong> in höheren Dimensionen<br />
untersuchen, beschränken uns im Augenblick aber auf den Fall m = 2, wo die <strong>Kurven</strong> in der x-y<br />
-Ebene liegen und die Formel für die <strong>Bogenlänge</strong> die folgende Gestalt erhält:<br />
⌠<br />
(1) sa( b) = ⎮ x´ ( t) + d<br />
⌡<br />
2<br />
y´ ( t )<br />
2<br />
t .<br />
a<br />
b
Invarianz gegen Translationen und Rotationen<br />
Die <strong>Bogenlänge</strong> einer Kurve bleibt unverändert bei Wechsel der Parameterdarstellung, aber auch<br />
bei Verschiebungen, Drehungen und Spiegelungen. Das ist anschaulich evident, kann aber auch<br />
mathematisch exakt begründet werden (was wir hier weglassen).<br />
Beispiel 1: Rotierende Sinuskurven<br />
Beispiel 2: Die Länge von Strecken<br />
Wir beginnen mit dem einfachsten Fall: Eine gerade Strecke zwischen den Punkten (a,c) und (b,d)<br />
wird durch die Parameterdarstellung<br />
⎡ a ⎤<br />
w( t ) = ⎢ ⎥ + t<br />
⎣ c ⎦<br />
⎡b<br />
− a⎤<br />
⎢ ⎥ (t = 0, ...,1)<br />
⎣d<br />
− c ⎦<br />
beschrieben und hat nach dem Satz von Pythagoras die Länge<br />
L = ( b − a ) +<br />
2<br />
( d − c) 2 .<br />
Dies bestätigt sich analytisch durch das Integral<br />
⌠<br />
L = ⎮ w´ ( t) dt<br />
,<br />
⌡<br />
0<br />
1<br />
denn offensichtlich ist<br />
w´ ( t ) = ⎡b<br />
− a⎤<br />
⎢ ⎥ , w´ ( t) = L .<br />
⎣d<br />
− c ⎦<br />
Kein Wunder: Eine (gerade) Strecke fällt ja mit jedem ihrer "approximierenden" Polygonzüge<br />
zusammen.
Koordinatendarstellung der <strong>Bogenlänge</strong><br />
Ist die y-Koodinate als Funktion der x-Koordinate gegeben, etwa durch y = f( x ) , so wird aus der<br />
Formel (1) für die <strong>Bogenlänge</strong> die Gleichung<br />
⌠<br />
(2) sa( b) = ⎮ 1 + f ´ ( x ) d<br />
⌡<br />
2 x.<br />
a<br />
b<br />
Regel für Umkehrfunktionen<br />
Ist eine Funktion g invers zu f, also<br />
x = g( y ) y = f( x ) ,<br />
so entsteht die zu g gehörige Kurve aus der zu f gehörigen durch Spiegelung an der Diagonalen.<br />
Deshalb ist der Bogen von f zwischen zwei <strong>Kurven</strong>punkten (a,c) und (b,d) genau so lang wie der<br />
Bogen von g zwischen (c,a) und (d,b):<br />
⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
a<br />
b<br />
1 + f ´ ( x ) d =<br />
2 ⌠<br />
x ⎮ 1 + g´ ( y ) d<br />
⌡<br />
2 y<br />
mit c = f( a ) , d = f( b ) bzw. a = g( c ) , b = g( d ) .<br />
c<br />
d<br />
Beispiel 3: Die kubische Parabel und ihre Umkehrfunktion<br />
Die <strong>Bogenlänge</strong> der kubischen Parabel x 3 (und ihrer Umkehrfunktion x ) läßt sich mit<br />
elementaren Methoden nicht berechnen!<br />
Leider ist nicht nur in diesem Beispiel, sondern auch in vielen anderen Fällen die exakte<br />
Auswertung von <strong>Kurven</strong>integralen aufgrund der auftretenden Wurzeln sehr mühsam oder<br />
elementar gar nicht möglich (dann muß man zu numerischen Näherungsmethoden greifen). Bereits<br />
für die scheinbar harmlosen Potenzfunktionen<br />
f( x) = x k ,<br />
erweist sich die elementare Berechnung der <strong>Bogenlänge</strong> (außer für k = 0 und k = 1, wo gerade<br />
Strecken herauskommen) als schwierig bis unmöglich.<br />
Wir betrachten den nicht ganz einfachen, aber lösbaren Fall k = 2.<br />
⎛ 1 ⎞<br />
⎜ ⎟<br />
⎝ 3 ⎠
Beispiel 4: Hängebrücken<br />
Bei einem durchhängenden Seil oder Kabel ist die spezifische Längenbelastung k( x ) proportional<br />
zur zweiten Ableitung<br />
y´´ = f ´´ ( x ) .<br />
Nach dem Hauptsatz wird die Seilkurve durch das folgende Doppelintegral beschrieben:<br />
⌠ ⌠<br />
f( x) = c ⎮ ⎮ k( t ) dt<br />
du<br />
;<br />
⌡ ⌡<br />
0<br />
x<br />
0<br />
u<br />
Bei konstantem k( x ) = k ergibt sich beispielsweise<br />
f( x)<br />
=<br />
c k x 2<br />
2 .<br />
Die tragenden Kabel einer Hängebrücke mit gleichverteiltem Gewicht haben daher näherungsweise<br />
die Form einer Parabel, wenn das Eigengewicht der Kabel vernachlässigbar ist.<br />
Um die Länge eines Kabels zwischen zwei Aufhängepunkten zu berechnen, muß man also die<br />
<strong>Bogenlänge</strong> einer Parabel<br />
y = h x 2<br />
mit der Ableitung<br />
y´ = 2 h x<br />
bestimmen. Das war für Leibniz und seine Zeitgenossen im 17. Jahrhundert eine harte Nuss - aber<br />
er hat sie mit seinen analytischen Methoden geknackt. So einfach die Sache aussieht, so<br />
kompliziert ist die Formel für die <strong>Bogenlänge</strong>:<br />
⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
a<br />
b<br />
1 + 4 h d<br />
2 x 2 ⎡<br />
⎢<br />
x = ⎢<br />
⎣<br />
x 1 + 4 h 2 x 2<br />
2<br />
ln ( 2 h x + 1 + 4 h ) ⎤<br />
⎥<br />
+<br />
⎥<br />
⎦<br />
2 x 2<br />
.<br />
4 h<br />
Speziell ergibt sich für die <strong>Bogenlänge</strong> der Normalparabel zwischen den Punkten (0,0) und (1,1)<br />
der wohl kaum erwartete Ausdruck<br />
5 ln ( 2 + 5 )<br />
+<br />
.<br />
2 4<br />
Entsprechend errechnet man für die <strong>Bogenlänge</strong> der Parabel<br />
y = h x 2<br />
zwischen zwei gleich hohen Aufhängepunkten im Abstand d, etwa<br />
( − ,<br />
d<br />
2<br />
⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
d/2<br />
-d/2<br />
h d 2<br />
4<br />
) und ( ,<br />
d<br />
2<br />
h d 2<br />
) :<br />
4<br />
1 + 4 h d<br />
2 x 2 d 1 + h<br />
x = +<br />
2 d 2<br />
ln ( h d + 1 + h )<br />
2<br />
2 d 2<br />
.<br />
2 h<br />
Ist der Abstand der Aufhängepunkte zum Beispiel 200 m und liegt der tiefste Punkt 10 m niedriger,<br />
a<br />
b
so ergibt sich<br />
10 1<br />
h = =<br />
2<br />
100 1000 ,<br />
und die Länge des Kabels (in Metern) ist<br />
20 26 + 500<br />
⎛<br />
⎜<br />
1<br />
ln ⎜ +<br />
⎝5<br />
26 ⎞<br />
⎟ = 201.3254456<br />
5 ⎠<br />
Für eine so flache Kurve sind die horizontalen Zugkräfte, die auf die Aufhängepunkte wirken,<br />
enorm! Viel geringer sind sie bei gleicher Breite von 200 m, aber einem Höhenunterschied von 100<br />
m. Dieser Fall tritt für h = 1/100 ein, und die Länge ist dann<br />
100 5 + 50 ln ( 2 + 5 ) = 295.7885714<br />
Beispiel 5: Die <strong>Bogenlänge</strong> der Wurzelfunktion<br />
g( x ) = x = x 1/2 1<br />
mit der Ableitung g´ ( x)<br />
=<br />
2 x .<br />
Wollte man die <strong>Bogenlänge</strong> direkt ausrechnen, hätte man das Integral<br />
⌠<br />
⎮ 1<br />
sc( d) = ⎮ 1 + dx<br />
⎮ 4 x<br />
⌡<br />
c<br />
d<br />
auszuwerten, was noch ein bißchen ungemütlicher wird. Schneller kommt man mit der Regel für<br />
Umkehrfunktionen zum Ziel. Da g( x ) die Umkehrfunktion zu f( x ) = x 2 ist, muß das Ergebnis<br />
lauten:<br />
sc( d)<br />
⎡<br />
⎢<br />
= ⎢<br />
⎣<br />
x 1 + 4 x 2<br />
2<br />
ln ( 2 x + 1 + 4 x ) ⎤<br />
⎥<br />
+<br />
⎥<br />
⎦<br />
2<br />
4<br />
wobei man noch a durch c und b durch d zu ersetzen hat:<br />
a<br />
b<br />
,
sc( d ) =<br />
d 1 + 4 d ln ( 2<br />
+<br />
2<br />
d +<br />
4<br />
1 + 4 d )<br />
−<br />
c 1 + 4 c<br />
−<br />
2<br />
Speziell ist wieder<br />
5<br />
s0( 1 ) = +<br />
2<br />
ln ( 2 + 5 )<br />
4<br />
.<br />
ln ( 2 c + 1 + 4 c )<br />
MAPLE bietet hier je nach Version eine drei bis vier Zeilen lange Mammutformel oder überhaupt<br />
keine Lösung an. Oft ist eine Vorüberlegung besser als stures Rechnen!<br />
Beispiel 6: Die Neilsche Parabel<br />
y = f( x ) = x 3/2<br />
sieht auf den ersten Blick unangenehmer aus als die Normalparabel, erweist sich aber hinsichtlich<br />
der <strong>Bogenlänge</strong> als leichter zugänglich. Historisch gehört diese Kurve sogar zu den ersten, für die<br />
eine Berechnung der <strong>Bogenlänge</strong> gelang ( W. Neil, 1637-1670). Die Ableitung<br />
und<br />
3 x<br />
y´ =<br />
2<br />
⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
a<br />
b<br />
ergibt quadriert = y´2 9 x<br />
4 ,<br />
9 x ⎡<br />
1 + dx<br />
= ⎢<br />
( 4 + 9 x) ⎤<br />
⎢<br />
⎥<br />
4 ⎣<br />
⎦<br />
3/2<br />
27<br />
a<br />
b<br />
= ⎡ ⎛ 4 ⎞⎤<br />
⎢ f ⎜ + x ⎟⎥<br />
⎣ ⎝ 9 ⎠⎦<br />
Speziell ist die <strong>Bogenlänge</strong> zwischen den Punkten (0,0) und (1,1)<br />
⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
0<br />
1<br />
9 x 13 13 8<br />
1 + dx<br />
= − = 1.439709874...<br />
4 27 27<br />
Die inverse Neilsche Parabel<br />
entsteht durch Vertauschen von x und y in<br />
a<br />
b<br />
⎛ 4 ⎞ ⎛ 4 ⎞<br />
= f ⎜ + b⎟<br />
− f ⎜ + a ⎟ .<br />
⎝ 9 ⎠ ⎝ 9 ⎠<br />
x = y 2/3 y = x 3/2 .<br />
Die <strong>Bogenlänge</strong> der gespiegelten Kurve zwischen den Punkten (0,0) und (1,1) bleibt die gleiche!<br />
f( x ) = x<br />
( ) / 3 2<br />
, g( x ) = x<br />
( ) / 2 3<br />
4<br />
.
Die Ableitung von<br />
g( y ) = y 2/3 2 y<br />
ist g´ ( y ) =<br />
-1/3<br />
.<br />
3<br />
Das zugehörige <strong>Kurven</strong>integral für die <strong>Bogenlänge</strong> lautet<br />
⌠<br />
2<br />
⎮ ⎛ 2 ⎞<br />
⎮ 1 + ⎜ ⎟ y d<br />
⎮ ⎝ 3 ⎠<br />
⌡<br />
-2/3 y .<br />
Das sieht auf den ersten Blick recht finster aus, aber die Substitution<br />
x = y 2/3 , d.h. y = x 3/2 3 x<br />
, dy =<br />
1/2 dx<br />
2<br />
führt natürlich wieder zum ursprünglichen, leichter berechenbaren Integral<br />
3<br />
2<br />
d<br />
⌠<br />
⌠<br />
⎮ 4 ⎮ 9 x ( )<br />
⎮ 1 + x x = ⎮ d<br />
⎮ 9 x ⎮ 1 + x =<br />
⎮ 4<br />
⌡<br />
⌡<br />
+<br />
3/2<br />
4 9 x<br />
,<br />
27<br />
und Rücksubstitution ergibt<br />
⌠<br />
2<br />
⎮ ⎛ 2 ⎞<br />
⎮ 1 + ⎜ ⎟ y d<br />
⎮ ⎝ 3 ⎠<br />
⌡<br />
-2/3 ( )<br />
y = +<br />
3/2<br />
4 9 y2/3<br />
.<br />
27<br />
Integrieren wir von 0 bis 1, so landen wir wieder bei<br />
( 4 + 9 )<br />
3/2<br />
27<br />
−<br />
4 3/2<br />
27<br />
13 13<br />
= −<br />
27<br />
8<br />
27 .<br />
Genereller Tip: Bei Integrationen gebrochene Potenzen "wegsubstituieren"!<br />
Streckungen und Stauchungen<br />
Leider darf man (anders als bei der Berechnung von Flächen) die <strong>Bogenlänge</strong> einer Kurve w nicht<br />
einfach mit einem Faktor c multiplizieren, um die <strong>Bogenlänge</strong> der gestreckten oder gestauchten<br />
Kurve cw zu erhalten, weil sich die Streckung bei unterschiedlicher Steigung verschieden stark<br />
auswirkt.<br />
Beispiel 7: Eine gestauchte Parabel<br />
Verschiebt man die Neilsche Parabel um 1 nach rechts (was die <strong>Bogenlänge</strong> nicht verändert) und<br />
staucht sie um den Faktor 2/3, so kommt für die neue Kurve<br />
f( x)<br />
=<br />
2 ( x − 1 )<br />
3/2<br />
3<br />
nicht das 2/3-fache der <strong>Bogenlänge</strong> aus Beispiel 6 heraus. Die Ableitung von f ist<br />
f ´ ( x ) = x − 1 .<br />
Daher ergibt sich für die <strong>Bogenlänge</strong> zwischen den Punkten (0,0) und (1,1) :<br />
⌠<br />
s0( 1 ) = ⎮ t dt<br />
=<br />
⌡<br />
1<br />
2<br />
4 2 − 2<br />
3<br />
= 1.218951415...<br />
und das ist sicher nicht 2/3 der für die Neilsche Parabel errechneten <strong>Bogenlänge</strong>
13 13 8<br />
−<br />
27 27<br />
Allgemein erhalten wir<br />
b<br />
⌠<br />
sa( b ) = ⎮ t dt<br />
=<br />
⌡<br />
2<br />
⎛<br />
⎜<br />
⎝b<br />
a<br />
= 1.439709874...<br />
⎛ 3 ⎞<br />
⎜ ⎟<br />
⎝ 2 ⎠<br />
− a<br />
3<br />
⎛ 3 ⎞<br />
⎜ ⎟<br />
⎝ 2 ⎠<br />
⎞<br />
⎟<br />
⎠<br />
= f ( b + 1 ) − f ( a + 1 ) .<br />
Die <strong>Bogenlänge</strong> zwischen zwei <strong>Kurven</strong>punkten ist hier also ebenso groß wie der<br />
Ordinatenabschnitt zwischen den beiden entsprechenden Punkten der um 1 nach links<br />
verschobenen Kurve (während bei der ursprünglichen Neilschen Parabel eine entsprechende<br />
Verschiebung um 4/9 erforderlich war).<br />
Beispiel 8: Kettenlinien<br />
Ein biegsames Seil oder Kabel, das nur sein eigenes Gewicht zu tragen hat (wie z.B. eine<br />
Hochspannungsleitung) hat die Form einer Kettenlinie (catenaria). Wiederum war es Leibniz, der<br />
als erster diese Form mathematisch exakt bestimmt hat.<br />
Wir wollen eine Parameterdarstellung für Kettenlinien aus den statischen Gegebenheiten herleiten.<br />
Die tangentiale Zugkraft in einem Punkt des Seiles setzt sich zusammen aus einer konstanten<br />
horizontalen Komponente (Gleichgewicht!) und einer vertikalen Komponente, die proportional zu<br />
Seillänge s( x ) zwischen diesem Punkt und dem tiefsten Punkt des Seils ist.<br />
Es gibt daher Konstanten a, b, c mit<br />
y´ ( x ) = v( x) = a s( x ) ,<br />
y´´ ( x ) = v´ ( x ) = a s´ ( x ) = a 1 + v( x) 2 ,
v´ ( x )<br />
arsinh´ ( v( x ) ) = =<br />
1 + v( x )<br />
2<br />
sinh ( a x + b)<br />
v( x ) = sinh ( a x + b ) , s( x ) =<br />
a<br />
a , arsinh ( v( x ) ) = a x + b<br />
, y( x ) =<br />
cosh ( + )<br />
a x b + c<br />
.<br />
a<br />
Kettenlinien werden also durch den Cosinus hyperbolicus beschrieben, und ihre Länge ebenso wie<br />
ihre Ableitung durch den Sinus hyperbolicus. Bei geeigneter Wahl des Koordinatensystems liegt<br />
der tiefste Punkt der Kurve im Ursprung (0,0). Sie ist dann gegeben durch<br />
cosh( a x ) − 1<br />
y( x ) =<br />
,<br />
a<br />
ihre Ableitung durch<br />
v( x ) = sinh( a x ) ,<br />
die <strong>Bogenlänge</strong> durch<br />
sinh( a x)<br />
s( x ) = ,<br />
a<br />
und die Fläche zwischen der Kurve und der Geraden y = − 1<br />
, gemessen von 0 bis x, durch<br />
a<br />
x<br />
⌠ sinh( a x)<br />
F( x) = ⎮ y( t ) dt<br />
=<br />
⌡<br />
0<br />
a 2<br />
.<br />
Fazit: Kettenlinien haben die bemerkenswerte und charakteristische Eigenschaft, daß die<br />
Ableitung, die Fläche unter der Kurve und die <strong>Bogenlänge</strong> bis auf einen konstanten Faktor<br />
übereinstimmen! Im Falle des Cosinus hyperbolicus ist dieser Faktor 1.<br />
Ein Vergleich zwischen Kettenlinie und Parabel<br />
Bei Hängebrücken kommt zur Traglast das Eigengewicht der Kabel; es tritt also genau genommen<br />
eine Superposition von Parabeln und Kettenlinien auf, wobei die Parabeln allerdings so viel stärker<br />
zu gewichten sind, daß der Anteil der Kettenlinien vernachlässigbar wird. Es entstehen folgende<br />
Bilder für eine reine Kettenlinie (außen steiler) und eine reine Parabel (außen flacher) :<br />
Parabel = a ( cosh( 1) − 1 ) x , ,<br />
2<br />
cosh( a x ) − 1 cosh( 1 ) − 1<br />
Kettenlinie =<br />
h =<br />
a<br />
a<br />
Während die beiden <strong>Kurven</strong> außerhalb stark auseinander driften, sind sie optisch zwischen den<br />
Aufhängepunkten kaum zu unterscheiden. Numerisch besteht allerdings durchaus eine Differenz:<br />
Im Fall a = 1 ergibt sich für die <strong>Bogenlänge</strong> der Kettenlinie als Näherungswert von 2 sinh( 1 ) :<br />
2.350402388<br />
Im Vergleich dazu erhalten wir für die Parabel
h x 2<br />
mit den gleichen Aufhängepunkten 1 und -1 und dem Durchhang<br />
h = cosh( 1) − 1<br />
laut Beispiel 4 die <strong>Bogenlänge</strong><br />
oder numerisch angenähert<br />
1 + 4 h +<br />
2 1 ln ( 2 h + 1 + 4 h )<br />
2<br />
2<br />
h<br />
2.342755625<br />
Klar, daß der Unterschied von etwa 3 Promille kaum bemerkbar ist (anders als bei der<br />
Alkoholkontrolle!)<br />
Beispiel 9: Deformierte Einheitskreise<br />
+ = 1<br />
haben nur in seltenen Fällen eine elementar berechenbare <strong>Bogenlänge</strong>. Der Umfang ist<br />
x p<br />
y p<br />
⌠<br />
2/p-2<br />
U( p ) = 4 ⎮<br />
p<br />
⎮ 1 + ( 1 − x ) x d<br />
⌡<br />
2p-2 x .<br />
Hier die drei wichtigsten Beispiele:<br />
0<br />
1<br />
Kreis , p = 2 , U( p ) = 2 π<br />
Raute , p = 1 , U( p ) = 4 2<br />
Astroide , p = 2/3 , U( p ) = 6<br />
Beispiel 10: Zykloiden<br />
Rollt ein Rad mit Radius r auf einer ebenen Bahn ab (siehe Abschnitt 7.1), so durchläuft ein Punkt<br />
auf dem Rad im Abstand a vom Mittelpunkt die Zykloide<br />
x( t ) = r t − a sin( t ) , y( t ) = r − a cos( t )<br />
mit der skalaren Geschwindigkeit<br />
2<br />
v( t ) = ( r − a cos( t)<br />
) + a 2<br />
sin( t) 2 = r + −<br />
2<br />
a 2<br />
2 r a cos( t ) = r +<br />
2<br />
a 2<br />
,<br />
2 r a<br />
δ =<br />
r +<br />
2<br />
.<br />
2<br />
a<br />
Daraus ergibt sich die <strong>Bogenlänge</strong> zwischen den Drehwinkeln α und β:<br />
β<br />
⌠<br />
sα( β ) = ⎮ v( t) dt<br />
= r −<br />
⌡<br />
2<br />
a 2 ⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
α<br />
α<br />
β<br />
1 − δ cos( t) dt<br />
.<br />
1 − δ cos( t )
Für beliebiges a ist dies Integral nicht elementar auswertbar! Aber für Punkte auf der Peripherie,<br />
also a = r , ist es einfach:<br />
β<br />
⌠<br />
sα( β ) = ⎮ 2 r − d<br />
⌡<br />
α<br />
2<br />
2 r 2<br />
⌠<br />
⌠<br />
⎮ 1 − cos( t)<br />
⎮ ⎛ ⎞<br />
cos( t ) t = 2 r ⎮<br />
dt<br />
= 2 r ⎮ sin⎜ ⎟ d<br />
⎮ 2<br />
⎮ ⎝ ⎠<br />
⌡<br />
⌡<br />
t<br />
t<br />
2<br />
= 4 r ⎛ ⎛ ⎞ ⎞<br />
⎜ cos⎜ ⎟ − ⎟<br />
⎝ ⎝ ⎠ ⎠<br />
α ⎛ ⎞<br />
cos⎜ ⎟<br />
2 ⎝ ⎠<br />
β<br />
,<br />
2<br />
solange α und β zwischen 0 und 2 π liegen. Speziell ist nach einer vollen Umdrehung<br />
s0( 2 π ) = 8 r ,<br />
also der zurückgelegte Weg gleich dem vierfachen Durchmesser des Rades. Die Kreiszahl π<br />
kommt hier trotz der Umdrehung nicht vor!<br />
Im Falle a ≠ r führt die Substitution u =<br />
2<br />
1 − cos( t ) ⎛ ⎞<br />
= sin⎜ ⎟<br />
2 ⎝ ⎠<br />
t<br />
2<br />
auf das nicht elementar lösbare elliptische Integral<br />
t<br />
2<br />
α<br />
β<br />
zusammen mit der trigonometrischen Formel<br />
⌠<br />
s0( 2 π) = 2 r − a ⎮ 1 + ε d<br />
⌡<br />
2<br />
sin( u )<br />
2 2 r a<br />
u mit ε =<br />
r − a .<br />
0<br />
π<br />
Epi- und Hypozykloiden<br />
Rollt das Rad stattdessen (außen oder innen) auf einem Kreis ab, so ensteht eine Epi- oder<br />
Hypozykloide mit der Parameterdarstellung<br />
⎛ ρ t ⎞<br />
x( t ) = ρ cos( t ) − a σ cos⎜ ⎟<br />
⎝ r ⎠<br />
und der skalaren Geschwindigkeit<br />
, y( t ) = ρ sin( t ) − a<br />
⎛ ρ t ⎞<br />
sin⎜ ⎟ ,<br />
⎝ r ⎠<br />
ρ r + −<br />
v( t)<br />
=<br />
2<br />
a 2 ⎛ R t ⎞<br />
2 r a cos⎜ ⎟<br />
⎝ r ⎠<br />
,<br />
r<br />
wobei σ = 1 für "außen", σ = −1 für "innen" und ρ für R + σ r steht.<br />
Die <strong>Bogenlänge</strong> ist hier für Randpunkte ( r = a):<br />
β<br />
α
Für r =<br />
R<br />
n<br />
β<br />
⌠<br />
⎛ R t ⎞<br />
β<br />
⎮ 1 − cos<br />
⎮<br />
⎜ ⎟ ⌠<br />
sα( β ) = 2 ρ ⎮<br />
⎝ r ⎠ ⎮ ⎛ R t ⎞<br />
⎮<br />
dt<br />
= 2 ρ ⎮ sin⎜ ⎟ dt<br />
=<br />
⎮<br />
2<br />
⎮ ⎝ 2 r ⎠<br />
⎮<br />
⌡<br />
⌡<br />
α<br />
α<br />
und einen vollen Umlauf ergibt sich<br />
4 R ( n + σ )<br />
s0( 2 π)<br />
=<br />
n 2<br />
⌠<br />
⎮<br />
⌡<br />
0<br />
sin( u) du<br />
= 8 R ⎛ ⎞<br />
⎜ 1 + ⎟<br />
⎝ ⎠<br />
σ<br />
n .<br />
Einige spezielle Werte bei R = 1:<br />
n 1 2 3 4 5<br />
außen 16 12 32/3 10 48/5<br />
innen 0 4 16/3 6 32/5<br />
n π<br />
n = 3<br />
n = 5<br />
R β<br />
2 r<br />
4 r ρ<br />
R d<br />
⌠<br />
⎮ sin( u ) u .<br />
⌡<br />
Die Summe der äußeren und der inneren Weglänge ist stets das achtfache des großen<br />
Kreisdurchmessers!<br />
Geht n gegen ∞ , so konvergiert sowohl außen als auch innen die Weglänge eines vollen Umlaufs<br />
gegen den vierfachen Durchmesser des großen Kreises. Die Umlaufkurven selbst konvergieren<br />
aber gleichmäßig gegen die Kreisbahn!! Wieder einmal die Quadratur des Kreises ??<br />
R α<br />
2 r