Mixology Issue #114 – alkoholfrei anno 2023
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
MIXOLOGY <strong>–</strong> MAGAZIN FÜR BARKULTUR 2.20 23<br />
2/ <strong>2023</strong> — 21. Jahrgang<br />
Einzelverkaufspreis: [D] 11,00 € — [A, LUX] 12,00 € — [CH] 12,50 CHF<br />
COCKTAILS OHNE ALKOHOL<br />
Die Schwierigkeit der neuen<br />
Leichtigkeit
AUF EIN GLAS MIT …<br />
Freddie Knüll ist mit<br />
seinem Posten als Bar-<br />
Manager im Hamburger<br />
»Jing Jing« neu und mit<br />
großer kreativer Wucht<br />
auf der Bildfläche der<br />
deutschen Szene erschienen.<br />
Dabei war der groß<br />
gewachsene Mann schon<br />
mehr als ein Jahrzehnt<br />
lang ein zentraler Protagonist,<br />
bevor es stiller um<br />
ihn wurde. Ein Gespräch<br />
mit einem, der neu angekommen<br />
ist und dabei<br />
eine beneidenswerte<br />
Gleichmut ausstrahlt.<br />
Text & Interview Nils Wrage<br />
Fotos Pascal Kerouche<br />
»IM ZWEIFEL FÜR<br />
DIE LIEBE«<br />
20
Das Jing Jing liegt eigentlich gut versteckt im<br />
Grenzbereich von Altona und Eimsbüttel, in<br />
einer dieser Gegenden von Hamburg, in der<br />
sich ein paar der Straßennamen finden, die auf<br />
die kurze napoleonische Episode der Stadtgeschichte<br />
verweisen: Bellealiancestraße, Waterloostraße<br />
und eben Waterloohain. Dort, im<br />
Jing Jing, geht es aber nicht französisch zu, sondern<br />
asiatisch. Freddie Knüll begrüßt uns an<br />
»seinem« Tresen. Und schon schenkt er ein, und<br />
zwar einen »Barbar Fetish Club« als Begleiter<br />
zu einem ausgiebigen Interview.<br />
<strong>Mixology</strong>: Lieber Freddie, in dem Drink<br />
steckt direkt viel drin, worüber man sprechen<br />
kann: ein veganer Milk Punch, der gleichzeitig<br />
schmelzig, bitterwürzig, fast fordernd ist und<br />
eine Brücke von Südeuropa nach Thailand<br />
schlägt, außerdem simpel im Handling. Ist das<br />
ein Sinnbild für eure Programmatik?<br />
Freddie Knüll: Ja, insgesamt schon. Simpel<br />
im Handling natürlich »nur« im Service, nicht<br />
in der Vorbereitung. Der wichtigste Gedanke<br />
an dem Drink ist, einen Entry Point zu haben,<br />
den jeder kennt. Und da bauen wir dann so ein<br />
bisschen das Unbekannte rein, das Thai-Thema.<br />
Barbar Fetish Club<br />
Martini Bitter, frischer Mandarinensaft,<br />
frischer Zitronensaft, Zucker, Thai-Sellerie<br />
Mit Sojamilch vegan als Milk Punch<br />
klarifiziert. Im Tumbler auf einem großen<br />
Eisblock mit Soda getoppt und mit sauer<br />
eingelegtem Thai-Sellerie garniert.<br />
Die alkoholische Basis also eher konservativ,<br />
das Asiatische kommt über den Thai-Sellerie.<br />
Das passt zu einer früheren Aussage von dir,<br />
dass es im südostasiatischen Raum gar keine<br />
so große Spirituosenkultur gibt und man die<br />
typischen, authentischen Aromen eher über<br />
Rohstoffe wie Früchte, Blätter oder Gemüse in<br />
den Drink transportieren muss.<br />
Nicht ganz richtig, da ist schon viel Spirituosentradition.<br />
Einer der meist getrunkenen<br />
Gins der Welt etwa wird auf den Philippinen<br />
hergestellt. Er wird aber eben auch praktisch<br />
nur da getrunken. Ich weiß ehrlich nicht, ob<br />
das überhaupt exportiert wird. Und auch Reisschnaps<br />
aus Thailand oder andere lokale Sachen<br />
von den Microdistillers rauszukriegen, ist<br />
nicht einfach.<br />
Es gibt die Sachen hier also einfach nicht<br />
regulär?<br />
Richtige Vertriebswege gibt es nicht, und sie<br />
sind auch einfach lang, weit und teuer. Ich<br />
bin mir aber auch nicht sicher, ob die europäische<br />
Zunge dafür überhaupt ready wäre für so<br />
»Reiswein«, der da in Thailand umgerechnet<br />
einen Dollar die Flasche kostet. Und die trinken<br />
das in Thailand wie Weinschorle.<br />
Sind das Sachen, die geschmacklich im Bereich<br />
wie Sotol oder Mezcal liegen?<br />
Eher ein bisschen wie Sake, die ungefähre Richtung.<br />
Nep Moi, vietnamesischer Reisschnaps,<br />
ist da auch ein gutes Beispiel.<br />
Aber es ist also tatsächlich so, dass ihr die<br />
Formsprache eurer Signatures eher durch Verschränkung<br />
sozusagen kanonisierter, westlicher<br />
Spirituosen mit anderen Produkten aus dem<br />
asiatischen Raum erzeugt?<br />
Schon, aber man muss ganz klar sagen: Wir beschränken<br />
uns auf einen recht klar definierten<br />
Raum, der sich in etwa aus Thailand, Laos und<br />
Vietnam zusammensetzt. Chinesische, koreanische<br />
oder japanische Elemente findet man bei<br />
uns nicht, das wäre dann irgendwann zu sehr<br />
»Asia Express«.<br />
René Frank, der Betreiber des zweifach besternten<br />
Coda in Berlin, sagte in unserem Podcast<br />
vor einiger Zeit, dass er es üblicherweise<br />
nicht für möglich hält, Speisen oder Menüs mit<br />
richtigen Cocktails zu begleiten <strong>–</strong> außer wenn<br />
es um die südostasiatische Küche geht, weil sie<br />
mit so starken geschmacklichen Grundanlagen<br />
arbeitet. Erlebt ihr das hier entsprechend?<br />
Voll! Einerseits, weil unsere Gäste, wenn sie<br />
herkommen, nach Sachen suchen, die sie noch<br />
nicht kennen. Und da gehört das mit dazu.<br />
Und das andere: Es stimmt, unsere Küche<br />
bringt halt super viel Dichte mit, Säure, Deftigkeit,<br />
aber auch interessante Süße. Wir arbeiten<br />
viel mit Palmzucker und Kokosblütenzucker,<br />
in den Dressings mit Fischsauce, natürlich<br />
auch mit Schärfe, irgendwie beinahe »überflavoured«<br />
…<br />
… also nach europäischem Verständnis eine<br />
fast überwürzte Küche?<br />
Total! Und wenn du in einem europäischen<br />
Restaurant sitzt und die servieren ein Rosmarin-Focaccia<br />
und dazu einen Rosmarin-Sour<br />
<strong>–</strong> das ist halt super lame. Also, nicht böse gemeint,<br />
aber leider wahr. Jedenfalls finde ich absolut<br />
richtig, was René Frank sagt: Man muss<br />
zu unserer Küche super »volle«, eigentlich<br />
überladene Drinks entwickeln. Davon würde<br />
man teilweise vielleicht nur ein oder zwei Sips<br />
nehmen <strong>–</strong> aber mit dem Essen funktioniert<br />
es dann. Oder noch einfacher: Du hast in der<br />
Thai-Küche eigentlich den Drink schon im Essen,<br />
und auch im Essen vorgegeben.<br />
Wir haben aktuell noch keine »offiziellen«<br />
Pairings in der Karte stehen, aber wir planen<br />
das. Bislang entscheiden die Leute einfach<br />
selbst, welche Paarung sie geil finden. Aber sie<br />
betreten den Pfad gemeinsam mit uns, und das<br />
macht Spaß.<br />
Ist Wein dann überhaupt ein Thema in eurem<br />
Restaurant?<br />
Ja, aber: Wir haben ziemlich viele restsüße<br />
Weine da, Spätlesen oder Auslesen, die durch<br />
ihre Süße und Textur ähnliche Eigenschaften<br />
haben wie unsere Drinks. Phänomenale Weine.<br />
Hätt’ ich vorher gar nicht gedacht, vor allem,<br />
weil uns die Weine auch erst geschmeckt<br />
haben, als es dazu was zu Essen gab (lacht).<br />
Überhaupt kommen ja sowohl die Wein- als<br />
auch die Barwelt aus ein, zwei Jahrzehnten, in<br />
denen extrem trocken der absolute Standard<br />
war.<br />
Oder? Überleg’ mal, was dadurch alles verloren<br />
gegangen ist. Zucker gibt doch auch Textur.<br />
Hat vor zehn Jahren irgendjemand über<br />
weißen, süßen Wermut geredet? Dabei kann<br />
ich damit in einem Martini so viel Viskosität<br />
und Komplexität erzeugen, viel mehr als mit<br />
diesem nach Frankreich verbeugen. Ich habe<br />
auch vor Jahren mit Lars Bender und Marco<br />
Wirth an einem Abend im Tiny Cup in Frankfurt<br />
mal Martinis mit einem Barlöffel Zuckersirup<br />
gemacht.<br />
Exakt, und der Drink wird dadurch nicht vordergründig<br />
süß, aber er kriegt Schmelz.<br />
Wir haben damals gesagt: Er kriegt ’nen etwas<br />
breiteren Booty. Aber ja, ich find’ es super nice,<br />
21
STADTGESCHICHTEN<br />
HEXENWERK<br />
UND BESTENLISTEN<br />
WILLKOMMEN IN DER<br />
VITALSTEN COCKTAILSTADT<br />
LATEINAMERIKAS<br />
26
Text Philipp Gaux<br />
Mexiko-Stadt hat sich<br />
zum Liebling der globalen<br />
Bar-Bestenlisten gemausert.<br />
Doch ist der Hype<br />
angemessen? Unser Autor,<br />
seit einiger Zeit wohnhaft<br />
in der Giga-Metropole,<br />
nimmt uns mit auf einen<br />
Streifzug, der vor allem<br />
klarmacht: Hier entstehen<br />
keine Copycat-Konzepte<br />
am Reißbrett, sondern die<br />
Tradition des Landes bringt<br />
Aufregendes hervor.<br />
Para todo mal, un mezcal<br />
Para todo bien, también<br />
Si no hay remedio,<br />
Litro y medio<br />
Foto: Tlecan<br />
27
S T A T U S<br />
Q U O<br />
F I L L E R<br />
RIN<br />
ZUKUNFT DRINK?<br />
Illustrationen: Editienne<br />
36
FOKUS<br />
Vor knapp zwei Jahrzehnten begann die Neuordnung des<br />
Filler-Marktes. Eigentlich entstand er vollkommen neu. Im<br />
Zentrum standen dabei Tonic Water und Ginger Beer. Diese Phase<br />
aus Sturm und Drang scheint vorüber, wie Bars und Hersteller<br />
bestätigen. Für die nächsten Jahre bedeutet das: Die Kategorie<br />
der Filler wird sich wandeln <strong>–</strong> weg von klassischen Bitterlimonaden<br />
hin zu mehr Frucht und Varianz. Eine Bestandsaufnahme.<br />
Text Nils Wrage<br />
Das neue Zeitalter des Longdrinks beginnt sozusagen<br />
im Jahr 2004: In Großbritannien gründen<br />
Tim Warrilow und Charles Rolls die<br />
Firma Fever-Tree. Zeitpunkt und Ort machen<br />
Sinn, denn die neue, damals noch kleine globale<br />
Barwelle rollte bereits, und sie rollte am Anfang<br />
primär von zwei Städten aus <strong>–</strong> New York<br />
und London. London ist bis heute der Sitz von<br />
Fever-Tree.<br />
Beachtlich ist auch aus heutiger Sicht noch die<br />
Chuzpe von Warrilow und Rolls. Die Gründung<br />
einer Bitterlimonadenmarke mit internationalem<br />
Anspruch und der hochwertigen<br />
Bar als Zielgruppe war damals ein Vergleich<br />
von David gegen Doppelgoliath. Schließlich<br />
schob Fever-Tree nicht einfach eine neue Marke<br />
auf einen diversen, entwickelten Markt,<br />
nicht einfach einen neuen Whiskey oder Gin.<br />
Fever-Tree begab sich auf ein Terrain, in dem<br />
es vielleicht so etwas wie das einzige faktische<br />
Monopol der barrelevanten Getränkewelt gab:<br />
Bitterlimonaden waren gleichbedeutend mit<br />
Schweppes. Schweppes war die einzige weltumspannend<br />
bedeutsame Marke für Tonic Water<br />
und Bitter Lemon im Kontext von Cocktailbars.<br />
Selbst der Gigant Coca-Cola hatte im<br />
Bereich der Limonaden immerhin Pepsi als<br />
großen Widersacher. Schweppes hatte keinen.<br />
Bitterlimonaden scheinen ein so großes Alleinstellungsmerkmal<br />
zu sein, dass weder Coca<br />
noch Pepsi bis heute derlei Produkte unter eigenem<br />
Namen führen.<br />
NUR SELTEN KANN MAN DIE<br />
NEUORDNUNG EINER KATEGORIE AUF<br />
EINE EINZELNE<br />
ZURÜCKFÜHREN.<br />
BEI TONIC WATER IST ES MÖGLICH<br />
DER TONIC-WENDEPUNKT<br />
Der Launch von Fever-Tree 2004/2005 markiert<br />
also einen Wendepunkt an der Bar, der<br />
sich inzwischen auch bei Verbraucher:innen<br />
etabliert hat. 2010 entstand in Deutschland<br />
die inzwischen ebenfalls global präsente Marke<br />
Thomas Henry mit ganz ähnlichem Anspruch.<br />
Hinzu kam außerdem die deutsche<br />
Marke Goldberg, die seit einigen Jahren auch<br />
der offizielle Versorger der Lufthansa ist. Viele<br />
weitere neue Hersteller und Brands folgten,<br />
parallel erhielten alte Häuser wie Fentimans<br />
wieder neue Aufmerksamkeit. Kurioserweise<br />
konnte sich Coca-Cola mit seiner schon recht<br />
alten Untermarke Kinley nie einen Teil dieses<br />
Kuchens sichern, zumindest keinen in der besseren<br />
Bar sichtbaren. Die vor einigen Jahren<br />
lancierte Coca-Bittermarke Royal Bliss bleibt<br />
<strong>–</strong> vielleicht auch coronabedingt <strong>–</strong> bislang ebenfalls<br />
global im Hintergrund. Ob die Akquise<br />
des jungen griechischen Brands Three Cents<br />
durch Coca-Cola sich mittelfristig weltweit niederschlagen<br />
wird, bleibt noch abzuwarten.<br />
37
COCKTAIL<br />
HÖLLISCHE<br />
PASSIVHEDONISTEN<br />
Text Markus Orschiedt<br />
Fotos Jule Felice Frommelt<br />
Drink-Design Dominique Maria Krauss<br />
Es ist eine philosophische Frage,<br />
warum sich ausgerechnet Bars<br />
mit ihrem ganz eigenen Daseinsmythos<br />
einem generationell beförderten<br />
Wertewandel unterziehen<br />
sollen. Wie viel <strong>alkoholfrei</strong>e Kultur<br />
tut einer Bar gut? Landen wir in<br />
sinnlosen Kultur kämpfen? Was<br />
denken Bartender darüber, wie<br />
nehmen sie die Dinge selbst in die<br />
Hand und wo sehen sie die Grenzen?<br />
Oder ist es besser, strategisch<br />
vorzugehen und die Dinge<br />
aktiv zu steuern, bevor man überrollt<br />
wird? Und wie man auch eine<br />
Sünde begeht ohne zu sündigen.<br />
Warum Sie beim nächsten Date keinen Alkohol<br />
bestellen sollten, lautet am Morgen die Überschrift<br />
in der Tageszeitung Die Welt. Nur die<br />
Anrede mit »Sie« statt des distanzlosen Duzens<br />
weist auf vergangene Zeiten hin. Es geht um den<br />
Trend des Dry Dating in der Bar, das auf das<br />
Kennenlernen via Dating-App folgt. Gemeint<br />
ist der Umgang der Gen Z mit Grenzen. Also<br />
nicht das Suchen und Erforschen der eigenen<br />
Persönlichkeit durch Grenzüberschreitungen,<br />
sondern im Gegenteil durch Grenzsetzungen<br />
als Grundkonstante in der grenzenlosen Sphäre<br />
des Erotischen. Gut, Gen Z (ca. 1997 <strong>–</strong> 2012<br />
geboren) hat keine orgiastische Nacht, sondern<br />
ein Match mit eventuellem Sober Sex in einer<br />
immerhin wirklichen Wirklichkeit. Achtsamkeit<br />
lautet der Claim <strong>–</strong> statt eines ohnehin von<br />
den Stones immer nur geheuchelten Verlangens<br />
nach Street fightig Man, Revolution und<br />
Satisfaction. Ein Claim, den sich auch die Werbeindustrie<br />
genommen und in Verbindung mit<br />
Nachhaltigkeit zu einem alles überwölbenden<br />
Marketing-Bewusstseins-Chiffongewand verwoben<br />
hat. Man sieht durch, aber nicht klar.<br />
Auch Teile der Politik mit ihrer paternalisti-<br />
schen Regelungssucht einer Gesellschaft der<br />
Heiligen, Reinen und Risikovermeider sowie<br />
viele Medien mit gut verkäuflichem Alarmismusgeklingel<br />
à la »Wie schon ein Glas Wein<br />
am Abend die Gesundheit ruiniert« flankieren<br />
das. Das klickt, kickt und verkauft.<br />
Blut tut gut! Auch, wenn es um Unblutiges<br />
geht. Man betrachte nur einmal Werbung auf<br />
einem der Lieblingsmedien der Z-ler. Auf You-<br />
Tube ist gerade das heiße Ding, vorzugaukeln,<br />
man sehe einen Influencer. Man engagiert sie<br />
nicht mehr, sondern die beworbene Tütensuppe<br />
oder das vegane Schnitzel ist Teil des<br />
zeitgerafften Tagesablaufs im Spot mit einer<br />
Fake-Person. Täuschend echte Simulationen.<br />
Da hilft kein Naserümpfen, die Generation<br />
Alpha ist bereits geboren, und wenn die alte<br />
soziologische Regel gilt, dass alle zwei Generationen<br />
ein Paradigmenwechsel stattfindet,<br />
sollten sich Bartender und Barbetreiber mit<br />
dem Konsumverhalten und den Werten ihrer<br />
Gäste auseinandersetzen. Das ist schließlich<br />
Bedingung für strategisches Handeln und ein<br />
zukunftsfähiges Geschäftsmodell. Es wird eine<br />
wachsende Anzahl von Kunden auf die Bars<br />
zukommen, die die Nacht wie den Tag behandeln:<br />
»In einer aktuellen GoGov-Studie zum<br />
Alkoholkonsum junger Europäer gaben 49 %<br />
der deutschen Generation Z an, gar keinen Alkohol<br />
zu trinken. So haben sich Bewegungen<br />
aus den USA wie Sober und Mindful Drinking,<br />
die sich stark über Social Media verbreiten,<br />
auch ihren Weg nach Deutschland gebahnt«,<br />
schreibt die Welt. Menschen, die sich weder<br />
andere Menschen beim Date schöntrinken<br />
noch mehrheitlich eine Sozialisation anstreben,<br />
die über einschneidende Grenzerfahrungen<br />
<strong>–</strong> und dazu zählen sicherlich auch jene, die<br />
vor allem nachts in Bars ihren Ausgang nehmen<br />
können <strong>–</strong> gebildet wird. Dass auch in diesen<br />
Verhaltensmustern Realitätsflucht implizit<br />
ist <strong>–</strong> geschenkt. Das mag man soziokulturell<br />
beklagen, für Akteure im Maschinenraum der<br />
Konsumgötter gilt: Deal with it, or not, stupid!<br />
Kreativer Spaßschaum<br />
und Nasenhaare<br />
Spricht man mit Barleuten, fällt auf, dass bei<br />
vielen die Auseinandersetzung mit dem Zukunftsthema<br />
noch immer schwerfällt und von<br />
Reflexen geprägt ist. Mancher Bartender, der<br />
sonst gerne für sich beansprucht, der geborene<br />
Gastgeber zu sein, scheitert bereits beim<br />
56
ES HILFT NICHTS:<br />
BARS MÜSSEN SICH MIT<br />
DEM NEUEN KONSUM-<br />
VERHALTEN BEFASSEN<br />
GREEN CADILLAC<br />
Johannes Sorg & Martin Lopateki, Schoellmanns Bar & Küche, Offenburg<br />
1/2 grüne Paprika<br />
2 cl Riesling-Verjus<br />
2 cl Passionsfrucht-Sirup*<br />
(kalt mazeriert)<br />
3 Dashes Tabasco grün (nach Gusto<br />
höher oder niedriger dosieren)<br />
2 Dashes Salzlösung<br />
1,5 cl Ginger Beer<br />
3,5 cl Soda<br />
GLAS: Nick & Nora / kleine Coupette<br />
GARNITUR: keine<br />
ZUBEREITUNG: Paprika im Shaker<br />
zerstoßen. Verjus, Sirup, Tabasco und<br />
Salzlösung zugeben, mit Eiswürfeln<br />
auffüllen und kräftig schütteln.<br />
Shaker öffnen, Ginger Beer und Soda<br />
hineingeben und den Drink doppelt ins<br />
vorgekühlte Glas abseihen.<br />
* Passionsfrucht-Sirup<br />
Das Fruchtfleisch frischer Passionsfrüchte in<br />
der gewünschten Menge auslösen, fein durch<br />
ein Sieb passieren und anschließend abwiegen.<br />
Den gleichen Gewichtsanteil Puderzucker<br />
unterrühren und die Flüssigkeit vakuumieren.<br />
Kalt lagern. Nach zwei Tagen erneut absieben<br />
und in Flaschen füllen.<br />
57
62
TRINKWELT<br />
SAUF<br />
QUI PEUT!<br />
Baskenmütze, Baguette und Bordeaux, es lebe<br />
das Klischee vom hedonistischen Frankreich!<br />
Doch der Weinmarkt wird gerade gehörig<br />
durcheinandergewirbelt. Und die Fahne des<br />
Hochprozentigen hält <strong>–</strong> in gallischer Dorftrotzigkeit<br />
<strong>–</strong> nur die Bretagne hoch. Vignetten<br />
einer nicht ganz nüchternen Tour de France.<br />
Text Roland Graf<br />
Illustrationen Inga Israel<br />
Vielleicht fühlte man sich nur auf den Schlips<br />
getreten bei der Organisation Santé publique<br />
France. Denn zu Jahresbeginn erklärte<br />
die staatliche Agentur dem Trinkspruch den<br />
Kampf, der ausgerechnet mit ihrem Namen zusammenfällt.<br />
Man möge doch bitte nicht mehr<br />
auf die Gesundheit trinken, beschied der TV-<br />
Spot der Gesundheitsagentur den Zusehern.<br />
Sein finaler Claim: »La bonne santé n’a rien<br />
à voir avec l’alcool« (»Gute Gesundheit hat<br />
nichts mit Alkohol zu tun«). Also bitte, künftig<br />
nicht mehr mit Santé! zuprosten beim Barbesuch!<br />
Der unmittelbare Anlass der <strong>2023</strong>er-Kampagne<br />
hat mit einer auch international mit<br />
Frankreich verbundenen Sicht auf das tägliche<br />
Glas Rotwein zu tun <strong>–</strong> dem »French Paradox«,<br />
also der Erkenntnis, dass Olivenöl und Wein<br />
DIE TRINKFESTIGKEIT DER NORD-<br />
FRANZOSEN IST IM GANZEN LAND<br />
LEGENDÄR<br />
der provenzalischen Standardernährung nicht<br />
mehr Herzkrankheiten verursachen als der<br />
Verzicht darauf. Woran selbst heute immer<br />
noch ein Fünftel der Franzosen über 60 Jahre<br />
»glaubt«, wie man mit ziemlichem Zähneknirschen<br />
bei Santé publique France festgestellt<br />
hat.<br />
»Lateinisch trinken« am Ende<br />
Wenn die Gesundheitsagentur nicht gerade als<br />
Sprachpolizei verkleidet ausreitet, hat sie aber<br />
auch interessante Einsichten in Sachen Alkoholkonsum<br />
zu bieten. »Frankreich wird Schweden«,<br />
lautet im Bild-Stil die Erkenntnis, dass<br />
das modèle latin an Boden verliert. Diese Variante<br />
steht für regelmäßigen, aber eben moderaten<br />
Konsum, wie er in romanischen Ländern<br />
eher üblich ist. Doch Frankreich geht in Richtung<br />
modèle nordique: weniger feuchte Tage,<br />
aber dann bis zum Absturz. Diese Einteilung<br />
unterstreicht auch der API, die Monatsstatistik<br />
der alcoolisations ponctuelles importantes. Bei<br />
den Tagen, an denen »sechs Gläser oder mehr<br />
bei einer einzigen Gelegenheit« konsumiert<br />
werden, liegt im nationalen Frankreich-Ranking<br />
die Bretagne weit vorne. Etwa doppelt so<br />
hoch wie die angeblich so gechillte Rhum-agricole-Insel<br />
Guadeloupe <strong>–</strong> rechtlich auch ein Teil<br />
Frankreichs.<br />
Der trinkfeste Norden hat es bei den Nachbarn<br />
sogar bis in den Sprachgebrauch geschafft. Zumindest<br />
wenn man jenseits der 60 Jahre alt<br />
ist. Da ruft man dann gelegentlich nach dem<br />
»normannischen Loch«. Lange bevor man ein<br />
Sorbet als Gaumenerfrischer im Restaurant<br />
serviert hat, wurde mit diesem trou Normand<br />
Platz im Magen geschaffen, wie das die trinkfesten<br />
Onkel in Caen oder Le Havre nennen.<br />
Ein kräftiger Schluck Calvados, zwischen Fisch-<br />
63
70
ALCHEMIST<br />
DER HYBRID<br />
Erst kam frischer Saft. Dann kamen<br />
Lösungen aus Säurepulver. Mit der Idee des<br />
»Super Juice« kam kürzlich ein neuartiger<br />
Ansatz ans Licht, der diese beiden Sphären<br />
sozusagen verbindet. Volles Fruchtaroma,<br />
gepaart mit der Kraft günstig verfügbarer,<br />
effektiver Säuren <strong>–</strong> so könnte für viele<br />
Bars ein rentables, interessantes und vor<br />
allem simples Modell zur Mise-en-Place<br />
aussehen. Und sogar die Nachhaltigkeit<br />
spielt eine Rolle. Gleich mehrfach. Über eine<br />
Idee, die noch ziemlich groß werden kann.<br />
Text Reinhard Pohorec<br />
Illustrationen Constantin Karl<br />
Blättert man aufmerksam durch Cocktailbücher,<br />
so findet sich kaum eine Rezeptur, die<br />
nicht nach einer Zitrusfrucht verlangt. Keine<br />
andere Produktgruppe, von Eis einmal abgesehen,<br />
erfreut sich so universeller Verbreitung in<br />
den Cocktailbars dieser Welt wie die herrlich<br />
duftenden Rautengewächse. Die ätherischen<br />
Öle der Schale sind das Parfüm des Bartenders,<br />
ihr säuerlicher Saft das erfrischende Lebenselixier,<br />
das den feinsten Kreationen ihren Schliff<br />
verleiht. Säure ist ein essenzieller Baustein<br />
jedes Drinks. Wie eine Speise ist ein Cocktail<br />
eine Komposition unterschiedlicher Bausteine<br />
zu einem sensorischen Gesamtwerk. Der Genuss<br />
entsteht durch das Zusammenspiel diverser<br />
Komponenten, die Aromatik, Textur und<br />
Geschmack bedingen.<br />
Gerade Letzterer ist vergleichsweise rudimentär<br />
ausgebildet, differenziert die menschliche<br />
Geschmackswahrnehmung doch nur zwischen<br />
süß, bitter, salzig, umami und eben sauer.<br />
Ob am Teller oder im Glas, erst die ganzheitliche<br />
Stimulation der Rezeptoren schafft<br />
ein komplexes Genussbild am Gaumen. Säure<br />
bringt Lebendigkeit, macht Lust auf mehr, impliziert<br />
Frische. Überhaupt gelten Zitronen,<br />
Orangen, Limetten und Grapefruits, bunt am<br />
Tresen drapiert, weithin als erster Indikator<br />
für die Verwendung frischer Zutaten einer Bar<br />
<strong>–</strong> spätestens seit der Cocktail-Renaissance um<br />
die Jahrtausendwende ein untrügliches Qualitätsmerkmal.<br />
Zwei Jahrzehnte später keimt die Frage auf,<br />
ob dieses Paradigma noch zeitgemäß oder relevant<br />
ist. Längst bestimmen andere Fragen<br />
rund um nachhaltigen Ressourceneinsatz, den<br />
globalen CO2-Fußabdruck oder neuartige Zubereitungs-<br />
und Darreichungsformen <strong>–</strong> man<br />
denke an pre-batch oder pre-bottled Cocktails<br />
<strong>–</strong> den öffentlichen Diskurs. Das romantische<br />
À-la-minute-Pressen einer saftig schillernden<br />
Limette muss der transportintensiven Ökobilanz<br />
gegen übergestellt werden. Die augenscheinliche<br />
Frische weicht dem umweltfreundlichen<br />
Umgang mit naturgegeben limitierten<br />
Rohstoffen.<br />
Dabei hat Säure historisch in vielerlei Form<br />
ihren Weg in die Gläser dieser Welt gefunden<br />
und unterschiedlichste Moden durchlaufen.<br />
Verjus, Agrest oder Essig erlangten ab dem<br />
Mittelalter weite Verbreitung als Würz- und<br />
Säuerungsmittel. Die früh-klassische Barkultur<br />
im späten 19. und angehenden 20. Jahrhundert<br />
vertraute bereits auf die gängigen Zitrusfrüchte.<br />
Auch mittels Wermut oder anderer weinbasierter<br />
Ingredienzien erfuhren vollmundige<br />
Standards eine säuerliche Dimension. Es folgten<br />
düstere Jahre industrieller Sweet-and-sour-<br />
Mixes, ehe die glockenhelle Zitrusfrische im<br />
Zuge der sich neu entwickelnden Qualitäts-Bewegung<br />
ein Comeback feierte. Mit kristallinen<br />
Alternativlösungen der modernen Avantgarde<br />
beschritten kreative Bartender schließlich bis<br />
dato ungekannte Wege der Säuerung von Cocktails.<br />
Doch was passiert eigentlich, wenn man<br />
klassisches Juicing mit modernen Labor-Techniken<br />
in Verbindung setzt?<br />
71
76
MIXOLOGY TASTE FORUM<br />
AÑEJO<br />
PARA DOXON<br />
Text Stefan Adrian<br />
Tastingleitung Maria Gorbatschova<br />
Illustration Constantin Karl<br />
Tequila boomt. Vor allem in<br />
den USA reißt die Nachfrage<br />
Rekord um Rekord. In diesem<br />
Fahrwasser gewinnt auch die<br />
Unterkategorie Añejo an Profil.<br />
Aber auch an Geschmack?<br />
Das MIXOLOGY Taste Forum<br />
widmet sich jener Tequila-Kategorie,<br />
die bei vielen Herstellern<br />
auch die rarste und teuerste<br />
ist.<br />
Tequila! Hände in die Höhe, wer keine Geschichten<br />
mehr hören kann, in denen es um<br />
das Tequila-Image geht, das so niederträchtig<br />
wie nervtötend um Tequila-Shots mit Zitrone<br />
und Salz zirkuliert, die irgendwer »in Jugendjahren«<br />
konsumiert haben will. Hier, ich, einmal<br />
überspringen, bitte! Die Verortung von<br />
Tequila im kollektiven Verständnis soll uns an<br />
dieser Stelle so egal sein wie Caledon Hockley<br />
das Überleben sämtlicher Mitreisender auf der<br />
Titanic.<br />
Wir gehen direkt in Medias Res: Añejo Tequila.<br />
So darf sich Tequila nennen, der mindestens<br />
ein und höchstens drei Jahre im Fass lagert.<br />
Lagert er länger, darf er sich Extra Añejo<br />
nennen, lagert er mindestens zwei Monate bis<br />
zu einem Jahr, darf er sich Reposado nennen.<br />
Alles, was kürzer oder gar nicht lagert, ist Tequila<br />
Blanco. Aus Blanco wird also Reposado,<br />
aus Reposado wird Añejo, aus Añejo wird Extra<br />
Añejo. Und all das wird <strong>–</strong> natürlich <strong>–</strong> aus<br />
Blauen Weber-Agaven im Bundesstaat Jalisco<br />
in der östlichen Mitte von Mexiko hergestellt.<br />
So weit, so logisch. Wenn auch nicht ganz:<br />
Denn obwohl für Reposado weniger Reifezeit<br />
benötigt wird, ist Añejo die ältere, schon länger<br />
festgeschriebene Kategorie. José Cuervo<br />
rühmt sich, den ersten Añejo um die Wende<br />
zum 19. Jahrhundert erfunden zu haben, inspiriert<br />
von den fassgelagerten Whiskeys und<br />
Brandys, die die mexikanische Oberschicht zu<br />
jenem Zeitpunkt genoss. Tequila war, wie so<br />
viele indigene tradierte Spirituosen, zu Beginn<br />
eher ein Getränk der armen Leute ohne Prestige.<br />
Reposado hingegen taucht erst 1974 als<br />
Kategorie auf, hier bezeichnet sich die Marke<br />
Herradura als Erfinder. Ihr Reposado sei die<br />
Antwort gewesen auf <strong>–</strong> so schreibt Chantal<br />
Martineau in ihrem Buch How the Gringos<br />
Stole Tequila <strong>–</strong> ein Produkt von Cuervo, das<br />
für den damaligen US-Markt einen Blanco<br />
Tequila mit Karamell-Färbung versehen wollte.<br />
Herradura wollte da nicht mitmachen und<br />
natürliche Färbung ins Spiel bringen. Heute,<br />
knapp fünfzig Jahre später, sind etwa 80 % des<br />
in Mexiko getrunkenen Tequilas Reposados.<br />
Añejo in der Verfügbarkeit<br />
Getrunken wird Tequila aktuell überall, die<br />
Exportwerte nach Deutschland, Frankreich<br />
und Großbritannien steigen Jahr für Jahr, unangefochten<br />
an erster Stelle aber stehen die<br />
USA. Für Aufsehen sorgte in diesem Jahr die<br />
Prognose des IWSR, dass Tequila in den Vereinigten<br />
Staaten bis Ende dieses Jahres Vodka<br />
überholen und die meist getrunkene Spirituose<br />
im Lande von Bourbon und Rye sein wird.<br />
Corona hat dieser Entwicklung, in der kaum<br />
ein Monat vergeht, in dem nicht ein US-Promi<br />
einen Tequila auf den Markt bringt oder sich<br />
zumindest publikumswirksam daran beteiligt,<br />
nicht geschadet. Der Verfügbarkeit hingegen<br />
schon. Für dieses Taste Forum wurden viele<br />
Anfragen negativ beschieden: Flaschen nicht<br />
lieferbar. Añejo scheint knapp zu sein, was aber,<br />
wenn man mit Barbetreiber:innen spricht, seit<br />
Monaten schon ganz allgemein für Tequila gilt.<br />
»Drei Probleme kommen hier zusammen:<br />
Produzenten, die keine eigenen Agavenfelder<br />
haben, haben auf sinkende Agaven-Preise spekuliert,<br />
die nicht eingetreten sind. Ein Produkt<br />
wie ein Añejo oder gar Extra Añejo, das bis zu<br />
drei Jahre ruht, erwirtschaftet keinen Ertrag«,<br />
beschreibt Markus Nikowitsch vom Tequila<br />
Kontor die Lage. »Durch die Pandemie<br />
wurden mehr gereifte Tequila-Varianten an<br />
Endkunden verkauft, weswegen die Lager der<br />
großen Produzenten auch ziemlich leer sind.<br />
Der Endkunde hat eher zum Añejo und Extra<br />
Añejo gegriffen als zum Blanco. Für zu Hause<br />
gönnt man sich eben etwas vermeintlich ›Besseres‹.«<br />
Dieses vermeintlich »Bessere« setzt Nikowitsch<br />
nicht von ungefähr unter Anführungszeichen.<br />
Denn es ist ein wenig die Gretchenfrage<br />
der Añejo-Kategorie: Ist lange gereifter<br />
Tequila wirklich besser als nicht oder nur kurz<br />
gereifter Tequila? Braucht die Agave, diese<br />
grandiose Frucht, denn überhaupt Holz, oder<br />
verhält es sich nicht eher wie beim Obstbrand,<br />
wo das Endprodukt so stark wie möglich den<br />
Ausgangsrohstoff abbilden soll? Stimmt also<br />
eher der Industrie-Spruch »Tequila reift auf<br />
dem Feld« in Anspielung auf die Agave, die<br />
allerfrühestens nach sechs Jahren Wachstumszeit<br />
zu ernten ist und zum Aufsaugen von<br />
Sonne, Wetter und Terroir einen Zeitraum zur<br />
Verfügung hat, in dem viele Bartender:innen<br />
in drei verschiedenen Bars arbeiten?<br />
77
SPIONE<br />
BIENEN<br />
UND EIN<br />
BUCH<br />
Coverbild: Aus »The Artistry of Mixing Drinks«, 1937
BACK TO BASICS<br />
Text Gabriel Daun<br />
Frank Meier war eine der<br />
schillerndsten Figuren,<br />
die die Pariser Gesellschaft<br />
vor dem Zweiten<br />
Weltkrieg zu bieten<br />
hatte. Doch der Headbartender<br />
des »Ritz« in<br />
Paris hat uns außerdem<br />
eines der grundlegendsten<br />
Barbücher des 20.<br />
Jahrhunderts hinterlassen:<br />
Unser Autor schaut<br />
in Schlaglichtern auf sein<br />
epochales »The Artistry<br />
of Mixing Drinks«.<br />
Nachdem vergangenes Mal das Savoy Cocktail<br />
Book Gegenstand unserer Betrachtung gewesen<br />
ist, widmen wir uns heute einem Werk, das<br />
überraschende Parallelen zu ihm aufweist, teilweise<br />
formaler Natur, aber auch was seine Urheber<br />
betrifft: Frank Meiers The Artistry of<br />
Mixing Drinks. Auch wenn Meiers Name heute<br />
nicht mehr ganz den Klang besitzt, über den<br />
Harry Craddock immer noch verfügt, glaube<br />
ich behaupten zu dürfen: Wir haben es auch<br />
in dieser Ausgabe mit einem der relevantesten,<br />
weil einflussreichsten Barbücher des 20. Jahrhunderts<br />
zu tun.<br />
Das wilde Leben des Frank M.<br />
Frank Meiers Leben wird umrankt von wilden<br />
Gerüchten. Inwiefern diese der Wahrheit entsprechen,<br />
ist schwer zu sagen. Unterhaltsam<br />
sind einige von ihnen allemal. Leider ließen<br />
sich nicht alle Angaben über ihn ausreichend<br />
auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, da die<br />
Quellen sich oft widersprechen. Um wenigstens<br />
einigermaßen seriös zu bleiben, liste ich<br />
die Informationen, die ich ausdrücklich nicht<br />
als gesicherte Fakten verstanden wissen möchte,<br />
einfach auf. Folgendes über ihn habe ich<br />
zusammentragen können:<br />
Frank Meier wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts<br />
(je nach Quelle 1890, 1894 oder 1895)<br />
entweder in Lothringen oder Österreich geboren.<br />
Wie Craddock arbeitete auch er zeitweise<br />
in New York, angeblich sogar ebenfalls im<br />
Hoffman House sowie im Knickerbocker<br />
Hotel, bevor er (wahrscheinlich 1921) eine Stelle<br />
als Bartender im legendären Hôtel Ritz in<br />
Paris antrat, wo er nach einiger Zeit zum Headbartender<br />
aufstieg und sich den Ruf erarbeitete,<br />
einer der Besten seiner Zunft zu sein. Wie<br />
Craddock durfte auch er einige der prominentesten<br />
Menschen seiner Zeit als Gäste begrüßen:<br />
Coco Chanel, Ernest Hemingway, F. Scott<br />
Fitzgerald (für dessen Frau Zelda Craddock<br />
wiederum angeblich die White Lady erfand, s.<br />
<strong>Mixology</strong> 1/23) und viele mehr.<br />
Vermutlich verließ Meier das Hotel 1941, als<br />
die deutschen Besatzer es schlossen, und verstarb<br />
relativ jung bereits 1947 in Südfrankreich.<br />
An einigen Stellen ist zu lesen, Meier sei ein<br />
Agent der Alliierten gewesen und habe während<br />
des Zweiten Weltkriegs als Spion Informationen<br />
über die deutschen Besatzer gesammelt,<br />
die das Ritz nach der Besatzung selbst in Anspruch<br />
nahmen. Meier dürfte als deutschsprachiger<br />
Bartender dort geduldet worden sein.<br />
In ihrem Buch The Hotel on Place Vendôme<br />
schreibt Tilar J. Mazzeo, Meier habe neben<br />
seiner Tätigkeit als Spion auch die Résistance<br />
unterstützt. Leider sind diese Informationen<br />
nicht verbrieft. Eine unrühmliche Geschichte<br />
über ihn lautet zudem, er sei im Ritz entlassen<br />
worden, weil er Gäste gebeten habe, ihre Zeche<br />
auf sein privates Konto zu überweisen. Inwiefern<br />
diese Geschichte der Wahrheit entspricht,<br />
kann allerdings nicht mit Sicherheit gesagt<br />
werden. Deshalb gilt: In dubio pro reo!<br />
Und um mit etwas Schönem über seine Person<br />
zu enden: Der jetzige Headbartender der<br />
Bar im Ritz, Colin Field, berichtet, dass Meier<br />
oft Hotelgäste bereits beim Check-in in der<br />
Lobby begrüßte und ihnen sogar das Gepäck<br />
aufs Zimmer trug. Ein erstes Trinkgeld von diesen<br />
Gästen dürfte dabei bereits herausgesprungen<br />
sein <strong>–</strong> sicher nicht selten gefolgt von einem<br />
weiteren abends in der Bar. Dies war Field<br />
zufolge allerdings weniger seine Motivation,<br />
vielmehr die Ansicht, der Headbartender solle<br />
idealerweise nicht hinter der Bar, sondern vornehmlich<br />
vor ihr als Host zu finden sein. Eine<br />
Idee, die er häufig formulierte und die auch<br />
heute nicht an Gültigkeit eingebüßt hat.<br />
Drinks, Sandwiches, Erste Hilfe<br />
Wie bereits angedeutet, steht The Artistry of<br />
Mixing Drinks dem Savoy Cocktail Book auch<br />
in seiner Ästhetik in nichts nach. Beide sind<br />
um ein Vielfaches schöner gestaltet als ihre<br />
Vorgänger aus dem vorigen Jahrhundert. Ein<br />
wunderschönes, für Bibliophile geeignetes<br />
Buch, das im Art-déco-Stil gehalten ist. Die<br />
ersten Exemplare müssen ganz besonders gewesen<br />
sein, denn nicht ohne Stolz wird in der<br />
Erstausgabe angemerkt:<br />
PUBLISHER’S NOTE<br />
The First Edition of this Book was<br />
published on October 1st, 1936 and<br />
consisted of 26 COPIES A to Z<br />
specially printed for the Author<br />
together with THREE HUNDRED CO-<br />
PIES on hand made paper, numbered<br />
from 1 to 123 and CXXIV co CCC, and<br />
SEVEN HUNDRED COPIES on Cream<br />
Vellum paper numbered from 301 to<br />
1000.<br />
83