Künstler - - Stift Admont
Künstler - - Stift Admont
Künstler - - Stift Admont
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Künstler</strong> - biografien<br />
Deutsch – English<br />
Prinzhorn Collection<br />
Museum für Gegenwartskunst, <strong>Stift</strong> <strong>Admont</strong><br />
30. Mai bis 8. November 2009<br />
Das Handout wurde erstellt von Dr. Gerald Unterberger, <strong>Stift</strong> <strong>Admont</strong><br />
The handout is created by Dr. Gerald Unterberger, <strong>Admont</strong> Monastery
Else Blankenhorn<br />
*Karlsruhe 1873–1920, Anstalt Konstanz-Reichenau<br />
Das großbürgerliche junge Mädchen Else war<br />
Liebling des besitzergreifenden Vaters und von<br />
dessen Krisen erschüttert.<br />
Else Blankenhorn hielt sich von 1899 bis 1902 –<br />
teils gleichzeitig mit dem Vater – in der Kreuzlinger<br />
Privatklinik Bellevue auf.<br />
Wohl auch infolge eines sexuellen Missbrauchs litt<br />
Blankenhorn an einem „hypochondrischen” System<br />
von „zerrissenen Nerven“, bei dem sich der Kopf<br />
vom Körper ablöste.<br />
Nach dem Tod des Vaters 1906 suchte sie die Klinik<br />
erneut auf; sie fürchtete, die Mutter sei ermordet, man wolle sie vergiften, sie<br />
sei schwanger und ihr Gehirn durchlöchert.<br />
1919 brachte man sie – aus finanziellen Gründen (?) – in die öffentliche Anstalt<br />
Konstanz-Reichenau.<br />
Im Bellevue gab Blankenhorn ihre Malstunden schnell auf, arbeitete aber<br />
energisch und talentiert alleine und autodidaktisch weiter: Aquarelle, farbkräftige<br />
Ölbilder und goldglänzende visionäre Studien zwischen Symbolismus und früher<br />
Moderne.<br />
Else Blankenhorn war auch schriftstellerisch aktiv und sie komponierte, verbarg<br />
aber alles vor den Ärzten.<br />
In ihrer „geistigen Wirklichkeit” war sie als engelsgleiche „Else von Hohenzollern“<br />
die Gemahlin von Kaiser Wilhelm II.<br />
Laut Krankenakte malte sie eine Heimstatt für die auf Kirchhöfen begrabenen<br />
Ehepaare, die erlöst werden sollten. Für die hungrigen Toten, die sie „ausgraben”<br />
müsse, schuf sie große Mengen hoch dotierter Geldscheine, deren Unsummen<br />
die zukünftige Inflationszeit vorwegzunehmen scheinen …<br />
1
Else Blankenhorn<br />
*Karlsruhe 1873–1920, Konstanz-Reichenau Clinic<br />
The upper-class young Else was the favourite of her possessive father and shaken<br />
by his crises.<br />
Else Blankenhorn resided in the private clinic Kreuzlinger Bellevue from 1899 to<br />
1902, overlapping with her father at times.<br />
As a result of sexual abuse, Blankenhorn suffered from a “hypochondriacal”<br />
system of “shredded nerves”, causing her mind to separate itself from her body.<br />
She returned to the clinic in 1906 after the death of her father, fearing that her<br />
mother would be murdered, that people were trying to poison her, that she was<br />
pregnant and that her brain was perforated.<br />
In 1919, she was placed in the public clinic Konstanz-Reichenau, possibly for<br />
financial reasons.<br />
While Blankenhorn ceased her painting lessons at Bellevue quickly, she<br />
continued to work alone energetically and autodidactically, displaying talent:<br />
watercolours, intensely coloured oil painting and visionary studies between<br />
Symbolism and early Modernism which shone like gold.<br />
Else Blankenhorn also wrote and composed a great deal, but hid all of this from<br />
the doctors.<br />
In her “psychological reality”, she was the angelic “Else von Hohenzollern”, the<br />
wife of the German Emperor Kaiser Wilhelm II.<br />
According to the medical files, she painted a home for the married couples buried<br />
in the churchyards, who were to be redeemed. She created great amounts of<br />
paper money for the hungry dead whom she had to “exhume”, whose vast sums<br />
seemed to anticipate the coming inflation...<br />
2
Paul Goesch<br />
*1885–1940<br />
Nach dem Studium von Malerei und Architektur<br />
(1903-1910) war Goesch Regierungsbaumeister in<br />
Berlin. Um 1909 zog er zu seinem Bruder Heinrich<br />
nach Dresden. Gemeinsam entwarfen sie ein<br />
„System der Ästhetik mit mathematischen Grundlagen“.<br />
Vermittelt durch den österreichischen Psychiater<br />
Otto Groß waren die Brüder von der Psychoanalyse<br />
begeistert.<br />
Paul Goesch schuf zu dieser Zeit Fresken in der Turnhalle in Laubegast bei<br />
Dresden (zerstört).<br />
Anthroposophisch bewegt, arbeitete er 1914 an Rudolf Steiners hölzernem<br />
Doppelkuppelbau, dem ersten „Goetheanum“, in Dornach/Schweiz. Im Mai<br />
dieses Jahres konvertierte Goesch zum Katholizismus, zum „Schutz gegen<br />
Verfehlungen“.<br />
In Kulm (Westpreussen/Polen), wo er als Architekt tätig war, erkrankte er und<br />
wurde 1917-19 in Schwetz hospitalisiert.<br />
Er verkannte Personen, wollte König von Frankreich werden und ahnte die<br />
Gedanken anderer voraus. Nach der Entlassung lebte er beim Vater in Berlin.<br />
Dort mischte sich Goesch als Mitglied der Novembergruppe (gegr. 1918) und des<br />
Arbeitsrates für Kunst (gegr. 1919) in revolutionäre Projekte ein.<br />
1921 erkrankte Goesch erneut und wurde in der Heilanstalt Göttingen aufgenommen.<br />
Ab August 1923 übernahm ein Schwager die Pflegschaft, eine Entmündigung<br />
blieb ihm erspart.<br />
Goesch war überzeugt, von den Hohenzollern abzustammen. Er hörte Stimmen<br />
und führte mit ihnen „Ferngespräche“. Sehnsuchtsbild aber blieb die Prinzessin<br />
Victoria von Bentheim. Alle Madonnen tragen ihre Züge.<br />
1923 publizierte er eine Serie biblischer Holzschnitte. Dann schuf er „Halbplastiken<br />
mit Essresten, die er mit Tabakresten und Spucke anklebt“, baute<br />
Pyramiden aus Schachteln und zeichnete erotische "Serienbilder“.<br />
Noch 1931 bescheinigte ihm der Arzt ein „ausgezeichnetes Gedächtnis für<br />
Einzelheiten, produktive Phantasie und originelle Anschauungsart.“<br />
1934 verlegte man ihn nach Teupitz bei Berlin.<br />
Paul Goesch wurde am 6.9.1940 im alten Zuchthaus Brandenburg von den<br />
Nationalsozialisten ermordet.<br />
3
Paul Goesch<br />
*1885–1940<br />
After studying painting and architecture, Goesch worked as a state architect in<br />
Berlin. In 1909, he moved to Dresden to live with his brother Heinrich.<br />
Together, they created an “aesthetic system with mathematical foundations”.<br />
Introduced by the Austrian psychiatrist Otto Groß, the brothers became excited<br />
by psychoanalysis.<br />
At this time, Paul Goesch created frescoes in the sports hall in Laubegast, near<br />
Dresden (destroyed).<br />
Motivated by anthroposophy, he worked on Rudolf Steiner’s wooden doubledoom,<br />
the first “Goetheanum”, in Dornach, Switzerland. In May of this year,<br />
Goesch converted to Catholicism, as a “protection against transgressions”.<br />
He became ill working as an architect in Kulm (West Prussia/Poland) and was<br />
hospitalized in Schwetz from 1917-1919.<br />
He stopped recognising people, sought to become king of France and could read<br />
other people’s thoughts. He went to live with his father in Berlin after his<br />
release.<br />
While there, Goesch participated in revolutionary projects as a member of the<br />
November Group (founded in 1918) and the Worker’s Council for Art (founded<br />
in 1919).<br />
Goesch became ill again in 1921 and was admitted to the Göttingen sanatorium.<br />
A brother-in-law took over his care in 1923, sparing him from incapacitation.<br />
Goesch was convinced that he was a descendant of the Hohenzollerns. He heard<br />
voices and carried on “distant conversations” with them. The object of his desire,<br />
however, remained Princess Victoria of Bentheim. All of his madonnas bore her<br />
features.<br />
In 1923, he released a series of biblical wood cuttings. He then created “half<br />
statues with scraps of food, which he stuck together using crumbs of tobacco and<br />
spit", built pyramids out of boxes and drew erotic "picture series".<br />
In 1931, the doctor certified his "outstanding memory for details, productive<br />
fantasies and original points of view".<br />
He was transferred to Teupitz, near Berlin, in 1934.<br />
Paul Goesch was murdered by the National Socialists on September 6, 1940 in<br />
the Brandenburg Zuchthaus.<br />
4
Heinrich Hack<br />
*Sandhausen 1869, nachgewiesen bis 1936<br />
in der Anstalt Wiesloch<br />
Heinrich Hack, Tagelöhner in einer Zigarren-<br />
und später in einer Zementfabrik, heiratete<br />
früh und hatte sieben Kinder.<br />
Wegen eines Hirntumors erhielt er seit 1904<br />
Invalidenrente. 1906 traten die Symptome<br />
zurück, doch fühlte er sich nun verfolgt, sah<br />
Farben und Bilder vor dem geistigen Auge,<br />
hörte Rasseln im Ohr.<br />
1907 kam er für wenige Wochen in die<br />
Anstalt Wiesloch, 1910 für sechs Jahre, ab<br />
1919 blieb er endgültig dort.<br />
Der Arzt beschreibt ihn als „etwas stumpfen, langsamen, schwerfälligen Menschen,<br />
die Augen haben eigentümlich oft träumerischen, oft leeren Ausdruck.<br />
Gesichtsausdruck manchmal fast sentimental“.<br />
Nach 1925 zeigten sich die Folgen jahrelanger Internierung. Hack wurde still.<br />
Noch einmal spricht die Akte von Aufbegehren und „endlosen Ansprachen“,<br />
dann galt er als „stumpf“ und „verblödet“. Als „Endzustand der Schizophrenie“<br />
verlegte man ihn 1936 nach Sinsheim, wo sich seine Spur verliert.<br />
Hack, der gern spontan Predigten hielt, begann 1912 zu zeichnen. Er berichtete,<br />
Jesus am Kreuz gesehen zu haben: „Er solle sich prüfen und beschäftigen in der<br />
Malerei, um später damit seine Familie ernähren zu können. Später sei ein Engel<br />
auf ihn zu gekommen und habe sich in ihm aufgelöst. Das sei eine Hilfe von Gott<br />
gewesen“.<br />
Er kopierte aus Zeitschriften, erfand aber bald eigene Figuren, eine eigene<br />
kostbar und würdevoll anmutende Schrift und Orthographie. Den Herrschaften<br />
seiner großartigen Porträtgalerie verlieh Hack eine imposante und schwungvolle<br />
Statur. Trotz Körper- und Gewandfülle scheinen sie in ihrer noblen Sphäre zu<br />
schweben – unerreichbar für den internierten Tagelöhner …<br />
5
Heinrich Hack<br />
*Sandhausen 1869, Accounted for in the Wiesloch Clinic until 1936<br />
Heinrich Hack, day labourer in a cigar factory and later a cement factory, married<br />
early and had seven children.<br />
He began to receive disability benefits in 1904 due to a brain tumour. The<br />
symptoms rescinded in 1906, but he continued to feel as though he was being<br />
followed, saw colours and images in his mind's eye and heard rustling in his ears.<br />
He spent a few weeks in the Wiesloch clinic in 1907, returned for six years in<br />
1910 and began permanently residing there in 1919.<br />
The doctor described him as an “obtuse, slow, dull person, the eyes often have a<br />
peculiar dreamy expression as well as a frequently occurring, empty expression.<br />
His facial expression is sometimes almost sentimental.”<br />
The effects of many years of institutionalisation began to present themselves<br />
after 1925. Hack became very quiet. While his files used to speak of uproars and<br />
“endless speeches”, he became “dull” and “lifeless”. In the “final stages of<br />
schizophrenia”, he was transferred to Sinsheim in 1936, where all traces of him<br />
have been lost.<br />
Hack, who enjoyed delivering spontaneous sermons, began to draw in 1912. He<br />
reported that he had seen Jesus on the cross: “He should pursue painting, so that<br />
he will be able to feed his family from it later. An angel came to him later and<br />
dissolved itself into him. That was aid from God.”<br />
He began copying from newspapers, but soon invented his own characters, his<br />
own sumptuous and dignified typeface and orthography. Hack granted the<br />
masterful subjects of his extraordinary portrait gallery an imposing and jaunty<br />
stature. Despite their corpulence and vestments, they seem to float within their<br />
noble spheres – something unattainable for the institutionalised day labourer...<br />
6
Oskar Herzberg<br />
nachgewiesen 1912–1914, Dr. Schilder, Wien<br />
Herzberg bezeichnete sich selbst als Setzer und<br />
Kolporteur aus Frankfurt/Main, war aber Dienstmann<br />
von Beruf und vermutlich Patient der<br />
Psychiatrischen Klinik Leipzig.<br />
Der alte Dienstmann, wie Prinzhorn ihn nennt,<br />
fabulierte sich in das Leben seiner Zeitgenossen<br />
hinein, malte Alltägliches und Freudiges, Wohlstand<br />
und Not, Exotisches und Sensationen.<br />
Schlittschuhläufer und Mitpatienten treten auf,<br />
Tanzende, Kometen, Wackelfelsen, Riesenstollen<br />
und Kamelherden.<br />
Oftmals kommentierte er in seiner unsicheren Orthographie einer „disertation“<br />
die Thematik eines Bildes und rankte Geschichten daran wie ein orientalischer<br />
Märchenerzähler.<br />
Anders als bei ‚naiven’ Malern deckte sein Blick auch mentale und soziale<br />
Schichten auf, wie das von der schützenden Fassade freigelegte Interieur von<br />
„Frau Gern“. Herzberg selbst nähert sich der Bettlägerigen als Magnetiseur,<br />
während Herr und Hund abseits sitzen. Im Nebenraum links – zu lesen als<br />
zeitlich davor – liebkosen sich Hund und Herr.<br />
Die strukturgebende Zeichnung ist meist lapidar und großzügig, ebenso die<br />
lockere, pastose Tüpfeltechnik.<br />
Ohne Berührungsangst näherte sich Herzberg trotz fehlender akademischer<br />
Schulung den komplexesten Motiven, fand anschauliche Ausdrucksformen für<br />
Mimik und Gestik, für Exotisches und Transzendentes.<br />
7
Oskar Herzberg<br />
Accounted for from 1912–1914, Dr. Schilder, Vienna<br />
Herzberg referred to himself as a typesetter and newspaper seller from<br />
Frankfurt/Main, but was actually a porter by trade and probably a patient at the<br />
Leipzig Psychiatric Clinic.<br />
The old porter, as he is called by Prinzhorn, fabulated himself into the lives of his<br />
contemporaries, painted the everyday and celebrations, prosperity and<br />
destitution, the exotic and the sensational.<br />
Ice skaters and fellow patients appear, along with dancers, comets, rock<br />
formations, giant Christmas cakes and herd of camels.<br />
In his insecure orthography, he creates a “disertation” on the subject matter of a<br />
picture and spins yarns like an Oriental storyteller.<br />
As opposed to “naive” painters, his gaze also disclosed mental and social layers,<br />
such as the interior of “Frau Gern”, freed from its protective facade. Herzberg<br />
himself approached the bedridden woman as a magnetiser, while her husband<br />
and dog sit to the side. In the adjoining room to the left – to be read as though it<br />
took place previously – the dog and husband caress each other.<br />
The structure drawing is generally succinct and lavish, just like the relaxed,<br />
mellow dappling technique.<br />
Despite a lack of academic schooling, Herzberg moved ever closer to more<br />
complex motifs, found vivid forms of expression for mimicry and gestures, for the<br />
exotic and the transcendent.<br />
8
August Klett<br />
*Heilbronn 1866–1928, Anstalt Weinsberg<br />
Pseudonym bei Prinzhorn: „August Klotz“<br />
kein Bild vorhanden<br />
Der Sohn eines jähzornigen Heilbronner Kaufmanns hatte eine schwere Jugend.<br />
Nach dem Gymnasium bis zum Einjährigen, Kaufmannslehre und Militärdienst<br />
war Klett für die väterliche Kolonialwarenagentur im Ausland tätig (Antwerpen,<br />
Brüssel, London), dann als Wein- und Sektreisender.<br />
Er war Freimaurer, hatte scheint’s viele Liebesverhältnisse mit Damen und ging<br />
zu Weinproben mit Fürsten.<br />
Nach einer gescheiterten Liebe und schwerer Influenza verstärkten sich<br />
Depressionen, Schuldgefühle und Todesangst, sodass er sich halluzinierend in<br />
den Bauch schnitt. 1903 in die Anstalt Göppingen eingewiesen, fühlte er sich<br />
verfolgt und erlitt als „Christus“ die Kreuzigung.<br />
1905 kam er – „ungebessert abgeschrieben“ – nach Weinsberg. Hier bannte er<br />
Teufelsfratzen und Totenköpfe, die er auf Tapeten sah, mit Freimaurerzeichen<br />
aus Fett. Er erfand ein „Farbenalphabet“ (a=rot, usw.) und ein kabbalistisch<br />
kombiniertes Zahlen-Farben-Buchstaben-System.<br />
Der Wort- und Bildkünstler war überaus produktiv. Seine kontrastreiche,<br />
großflächige Malerei hatte er der Plakatkunst abgeschaut. Das Feuerwerk<br />
visueller und sprachlicher Einfälle und Konfigurationen schüttete er mit Witz,<br />
planlos und doch kalkuliert aus.<br />
Anstaltsalltag, Erinnertes, Geschäftliches, Plaudereien, Bildungswissen und<br />
sexuelles Begehren wurden dabei zerlegt, neu montiert und dicht verkettet.<br />
Normative Bild- und Sprachfiguren sind unkenntlich gemacht: eine Rhetorik des<br />
Wahns, die man rat- und respektlos „Sprachsalat“, „zerfahren“ oder „futuristisch“<br />
nannte.<br />
Über wirkliche Traumata schwieg die beredte Strategie der „sprachlöchersterne“.<br />
9
August Klett<br />
*Heilbronn 1866–1928, Weinsberg Clinic<br />
Pseudonym from Prinzhorn: “August Klotz”<br />
no image available<br />
The son of a hot-tempered Heilbronn merchant, Klett had a difficult youth. After<br />
completing secondary school and until a one-year merchant apprenticeship and<br />
military service, Klett worked for his father’s colonial goods agency abroad<br />
(Antwerp, Brussels, London) and then as a wine and champagne salesman.<br />
He was a freemason, is purported to have had numerous romantic interludes with<br />
women and went to wine tastings with duchesses.<br />
After a failed love affair and severe influenza, his suffered from increased<br />
depression, feelings of guilt and necrophobia, causing him to cut himself in the<br />
stomach during a hallucination. He was admitted to the Göppingen Clinic in<br />
1903, feeling as though he was being followed and suffering the crucifixion as<br />
"Christ".<br />
He was transferred to Weinsberg in 1905, “unimproved”. Here, he warded off<br />
the devils and deaths heads that he saw on the wallpaper with freemason symbols<br />
made from fat. He invented a “colour alphabet” (a=red, et cetera) and a<br />
cabalistic combined number-colour-letter system.<br />
He was extraordinarily productive as a word and visual artist. He learned his<br />
large-scale, high-contrast painting style from poster art. He poured humour into<br />
the fireworks of his visual and linguistic inspirations and configurations,<br />
unsystematically yet calculatedly at the same time.<br />
Everyday life in the clinic, things remembered, business occasions, conversations,<br />
education theory and sexual desires were disassembled, recombined and tightly<br />
linked. Normative image and linguistic characters are rendered unrecognisable: a<br />
rhetoric of madness, which was called, perplexedly and disrespectfully, "language<br />
salad", "disjointed" or "futuristic".<br />
The silver-tongued strategy of the “sprachlöchersterne” remained silent regarding<br />
real traumas.<br />
10
Johann Knopf<br />
*Wünschmichelbach bei Weinheim 1866–1910, Anstalt Wiesloch<br />
Pseudonym bei Prinzhorn: „Johann Knüpfer“<br />
kein Bild vorhanden<br />
Nach dem Tode seiner Mutter 1895 ließ sich der einst solide Odenwälder<br />
Bäcker, Fabrikarbeiter und Schlosser zur Ehe überreden. Er wurde unglücklich,<br />
wahnhaft, prügelte sich mit seiner Frau, trieb sich herum und saß wegen Bettelns<br />
und Körperverletzung im Gefängnis.<br />
1903 stach er sich „durch die schwere Schikane, durch die Marter“ mit einem<br />
Taschenmesser in den Leib. Das Krankenhaus in Mannheim übergab ihn der<br />
Heidelberger Psychiatrie, da er sich verfolgt fühlte und von religiösen Visionen<br />
sprach: Er sei „die Auferstehung“, niemand habe soviel gelitten wie er, nicht<br />
einmal Christus. Tiere seien ihm nah, die Stimmen der Vogel verstünde er.<br />
„Mit heiligem Eifer“ zeichnete und schrieb Knopf auf jedes Stück Papier. Ein Lob<br />
seiner Werke lehnte er ab, denn es komme nur darauf an, dass alles „richtig“ sei.<br />
„Wahrheit“ habe er zu offenbaren, Heiliges und Mörderisches, von dem nur er<br />
wisse.<br />
In die Zwischenräume seiner Zeichnungen legte er dichte Schriftnetze mit seinen<br />
Botschaften aus, markiert von Odenwälder Ortsnamen und biblischen Genealogien<br />
von Abraham aufwärts.<br />
Berichte von Schuldigen „geheimnisvoller Mordanschläge“ zweigen atemlos<br />
daraus ab oder führen auf den geliebten großelterlichen Bauernhof. Den malte er<br />
mehrfach, aufgeklappt, rotbunt, mit freilaufenden Tieren, Sonne und Vögel.<br />
Auf einem anderen Blatt strahlt die Sonne als Kopf-Monstranz, die ihm<br />
erschienen war: „Die Herlichkeit Meines Heilandes Christi Christus“.<br />
Doch ist der Christusgleiche auch Jäger, einer, der mit Rasiermesser, Stilett und<br />
Gewehr bewaffnet gegen (böse) frauenköpfige Harpyien vorgeht. Vögel, die<br />
Knopf genau zu verstehen glaubte, holte er sich in viele Zeichnungen, oft groß<br />
und schwarz, wie Todesboten.<br />
11
Johann Knopf<br />
*Wünschmichelbach near Weinheim 1866–1910, Wiesloch Clinic<br />
Pseudonym from Prinzhorn: “Johann Knüpfer”<br />
no image available<br />
After the death of his mother in 1895, the formerly solid baker from the Forest<br />
of Odes, factory worker and mechanic allowed himself to be convinced to marry.<br />
He became unhappy, delusional, beat his wife, roved about and went to jail for<br />
begging and assault.<br />
In 1903, he stabbed himself in the stomach with a pocketknife “because of the<br />
awful harassment, because of the torture”. The hospital in Mannheim transferred<br />
him to the Heidelberg Clinic, where he felt as though he was being followed and<br />
spoke of religious visions: He was the “resurrection”, no one had suffered as<br />
much as he had, not even Christ. He was close to animals and claimed to<br />
understand the voices of the birds.<br />
Knopf drew and wrote on every piece of paper "with religious zeal”. He rejected<br />
praise for his work, since his only concern was that everything was “correct”.<br />
“Truth” was what he had to reveal, the holy and the murderous, which only he<br />
knew.<br />
He created thick networks of writing in the empty spaces of his drawings, filled<br />
with his messages, marked with the names of places in the Forest of Odes and<br />
the biblical genealogies from Abraham forward.<br />
Reports on the culprits of “secret murderous acts” stemmed from these or led to<br />
the beloved farm of his grandparents. He painted this numerous times, open,<br />
bright red, with free-ranging animals, the sun and birds.<br />
On another pieces of paper, the sun shone as monstrance which appeared to him<br />
as: “The splendour of my saviour Jesus Christ.”<br />
The Christ-like figure, however, is also a hunter, armed with a razor, stiletto and<br />
rifle, standing against (evil) harpies with the heads of women. Birds, which Knopf<br />
believed he could understand precisely, appeared in many drawings, often large<br />
and black, like messengers of death.<br />
12
Peter Meyer<br />
*Bütgenbach 1871 oder 1872–1930, Anstalt Eickelborn<br />
Pseudonym bei Prinzhorn: „Peter Moog“<br />
Dem in Armut geborenen Meyer gelang es, sich<br />
durch beweglichen Geist und Lebenskunst aus<br />
seinen Verhältnissen zu befreien.<br />
Seine Wortgewandtheit machte ihn zum beliebten<br />
„Original“. Der gelernte Kellner eröffnete in<br />
Münster eine Wirtschaft und heiratete, aber die Frau<br />
starb nach sieben Jahren. Von drei Kindern überlebte<br />
nur eines. Die Wirtschaft konnte er nicht halten,<br />
doch fand er als Geschäftsführer eines Kölner Hotels<br />
1907 eine Anstellung.<br />
Nachdem er unvermittelt einen „elektrischen Schlag im Hirn“ gespürt hatte, sah<br />
er sich als <strong>Künstler</strong>. Zugleich bedrohte er in „großer Erregung“ die Familie mit<br />
dem Revolver, sodass er in die Anstalten Düren (1909-1911) und Eickelborn<br />
(1911-1930) kam.<br />
Der „Dichterfürst“ begann 1912 zu zeichnen. Er wandelte sich zum „Heiligenmaler“,<br />
als er 1918 ein Gelübde abgelegt hatte, keusch wie ein Mönch zu leben<br />
und Alkohol sowie Tabak zu entsagen. Seine Bilder gab er willig her, hoffte er<br />
doch, damit seine Sündenschuld bezahlen zu können.<br />
Meyer malte für den Kölner Dom: Madonnen und große biblische Themen, wie<br />
Kreuzabnahme, Jüngstes Gericht, aber auch – abseits von Bildkonventionen –<br />
den Propheten Elias.<br />
Die Oberflächen, Gewänder und Hintergründe oszillieren in meist rotbunten,<br />
kristallin zerlegten Farbfeldern wie kostbare Bildteppiche. Das biblische Personal<br />
mit runden Gesichtern indes leugnet jede Körperlichkeit, so als erfüllte Meyer an<br />
den mageren Gestalten sein leibfeindliches Gelübde.<br />
13
Peter Meyer<br />
*Bütgenbach 1871 or 1872–1930, Eickelborn Clinic<br />
Pseudonym from Prinzhorn: “Peter Moog”<br />
Born into poverty, Meyer was able to use his nimble spirit and art of living to free<br />
himself from his circumstances.<br />
His eloquence soon made him a beloved “original”. The trained waiter opened a<br />
restaurant in Münster and married, but his wife died after seven years. Only one<br />
of three children survived. He was not able to keep the restaurant going, but<br />
found a position as the managing director of a hotel in Cologne in 1907.<br />
After feeling a sudden “electrical shock in the brain”, he began to see himself as<br />
an artist. At the same time, he threatened his family with a revolver in “great<br />
agitation”, causing him to be admitted to the Düren Clinic (1909-1911) and<br />
Eickelborn Clinic (1911-1930).<br />
The “Prince of Poets” began to draw in 1912. He became a “holy painter” when<br />
he vowed in 1918 to live as chaste as a monk and renounce alcohol as well as<br />
tobacco. He voluntarily gave away his paintings, yet hope that he could use them<br />
to pay for his sins.<br />
Meyer painted for the Cologne Cathedral: Madonnas and large biblical themes,<br />
such as the deposition from the cross, the last judgment as well as – outside of<br />
painterly conventions – the prophet Elias.<br />
The surfaces, garments and backgrounds generally oscillate between bright red,<br />
crystalline fragment field of colours and lavish tapestries. The biblical figures with<br />
round faces, however, disavow all corporeality, as though Meyer is using his<br />
gaunt figures to fulfil his own body-rejecting vow.<br />
14
Heinrich Anton Müller<br />
*Versailles 1869–1930, Anstalt Münsingen, Schweiz<br />
Müller lebte seit 1898 mit seiner stetig wachsenden Familie in Corsier und<br />
verdiente sein Geld als Rebknecht – ein bescheidener Beruf, der ihm jedoch<br />
genug Raum für Kreativität ließ.<br />
Im selbstgebauten Haus hatte er sich eine Werkstatt eingerichtet, in der er die<br />
Wasserkraft eines vorbei fließenden Baches nutzte. Er konstruierte einen Kreisel<br />
und eine mechanische Feile; patentieren ließ er sich 1903 eine Maschine zum<br />
Beschneiden von Weinreben. Trotzdem beuteten andere die Erfindung aus.<br />
Seither irrte Müller planlos durch die Weinberge. 1906 nahm ihn die Anstalt<br />
Münsingen auf, wo er bis zu seinem Tod blieb – ohne Diagnose.<br />
In der Anstalt verfolgte Müller eigene, zum Teil verzweifelte Projekte. 1912<br />
verkroch er sich in einer selbst gegrabenen Höhle, 1913 auf einem selbst<br />
gebauten Hochsitz. Eine Art Helm, in dem er Speisereste aufbewahrte, wurde<br />
ihm weggenommen. Seit 1914 montierte er aus Lumpen, Draht und Zweigen mit<br />
Hilfe seiner Exkrete und Sekrete Räder, und daraus Maschinen, die er im Zorn<br />
über seine Internierung wieder zerstörte.<br />
1919 begann er, zu schreiben und zu zeichnen, wunderliche Wesen mit<br />
mechanischem Innenleben, Fratzen, aber auch zarte Kinderbildnisse, Märchenhaftes<br />
– und immer wieder die Rebpflanze.<br />
1925 gab er auf, lag meist im Garten hinter einem Strauch oder am Fenster und<br />
sah durch ein Fernrohr …<br />
15
Heinrich Anton Müller<br />
*Versailles 1869–1930, Münsingen Clinic, Switzerland<br />
Müller lived with his constantly growing family in Corsier beginning in 1898 and<br />
earned his living as a winery labourer – a modest profession which allowed him<br />
enough space for creativity.<br />
In a house he built himself, he set up his own workshop, using the hydropower<br />
of a stream following nearby. He built a gyroscope and a mechanical file; he<br />
patented a machine to cut grapevines in 1903. Other people exploited his<br />
invention. After this, Müller wandered aimlessly through the vineyards. He was<br />
admitted to the Munsingen Clinic in 1906, where he remained until his death –<br />
without being diagnosed.<br />
While in the clinic, Müller pursued his own, sometimes desperate projects. In<br />
1912, he hid himself away in a cave, he had before dug himself, and on a selfmade<br />
perch in 1913. A manner of helmet that he was saving food scraps in was<br />
taken away from him. Beginning in 1914, he constructed wheels from rags, wire<br />
and branches with the help of his excretions and secretions, and from these<br />
machines, which he destroyed again and again, in rage over his internment.<br />
He began to write and draw in 1919, wondrous creatures with mechanical<br />
innards, grimaces as well as tender children’s pictures, like fairytales – as well as<br />
vines.<br />
He gave up in 1925 and spent most of his time lying in the garden behind a<br />
shrub, or at the window, peering through a telescope...<br />
16
August Natterer<br />
*Schornreute 1868–1933, Pflegeanstalt Rottenmünster<br />
Pseudonym bei Prinzhorn: „August Neter“<br />
Natterer war als Sohn eines schwäbischen Sparkassiers<br />
der Jüngste von neun Geschwistern.<br />
Nach siebenjähriger Realschule erlernte er den<br />
Beruf des Mechanikers und absolvierte Ausbildungen<br />
zum Elektromonteur. Seine Unternehmungslust<br />
trieb Natterer für Jahre durch Europa<br />
und sogar Amerika, wo er im Telegrafen- und<br />
Telefonwesen arbeitete und 1893 die Weltausstellung<br />
in Chicago besuchte.<br />
1897 gründete Natterer in Würzburg ein<br />
Mechaniker- und Elektrotechniker-Geschäft,<br />
bildete Lehrlinge aus, war Vorsitzender der Meisterprüfungs-Kommission und<br />
belieferte Universitätsinstitute. Ab 1902 konnte er die Universität aufgrund<br />
rückläufigen Bedarfs nicht mehr mit seinen feinmechanischen Apparaturen<br />
beliefern; er bewarb sich als Vorarbeiter einer Fachschule und wurde abgewiesen.<br />
Ab 1907 beschäftigte sich Natterer exzessiv mit Erfindungen und Patenten,<br />
geriet in große Unruhen und suchte schließlich ärztlichen Rat auf. Im Frühling<br />
desselben Jahres – nach Natterers Worten ausgelöst durch berufliche<br />
Demütigung und eine „Todsünde“, die er in einem Bordell begangen hatte –<br />
erfuhr er eine große halluzinatorische Vision: Natterer offenbarten sich am<br />
Himmel an die 10.000 Bilder in einer halben Stunde. Gott selbst erschien, die<br />
Hexe, die die Welt erschuf, Kriegsbilder, Erdteile, Kosmosdarstellungen, usw.<br />
Diese Bilder als „Offenbarungen des Weltgerichtes“ bestimmten ganz wesentlich<br />
Natterers künstlerisches Schaffen. 1912 begann er, seine Visionen zu zeichnen –<br />
zwei seiner herausragenden Werke sind der „Wunder-Hirthe“ und „Weltachse<br />
mit Hase“.<br />
Neben seinem bildnerischen Werk verfasste Natterer auch phantastische<br />
Gedichte mit teils brillanten Klangassoziationen.<br />
Nach der Krankenakte litt Natterer an einer schweren Psychose und Paranoia: „Es<br />
sei ihm, als fege ein Kehrbesen in seiner Brust und in seinem Bauche herum;<br />
seine Haut sei zu einem Fell geworden; seine Knochen und Kehle versteinert; im<br />
Bauche habe er einen Baumstamm; aus seiner Nase kommen Tiere herunter …<br />
starkes Knarren in den Kniegelenken erklärt er als Telephonieren, wodurch dem<br />
Teufel stets sein Aufenthalt nach unten berichtet wird …“.<br />
17
August Natterer<br />
*Schornreute 1868–1933, Rottenmünster Mental Hospital<br />
Pseudonym from Prinzhorn: “August Neter”<br />
The son of a Swabian banker, Natterer was the youngest of nine siblings.<br />
After seven years of secondary school, he trained as a mechanic and completed<br />
apprenticeships as an electrician. His adventurous spirit led Natterer across<br />
Europe and even America for years, where he worked at telegraph and telephone<br />
companies and visited the 1893 Chicago World’s Fair.<br />
Natterer founded a mechanist and electrical engineering company in Würzburg in<br />
1897, trained apprentices, became deputy chair of the commission for the<br />
examination for the master's certificate and supplied university institutes.<br />
Beginning in 1902, demand from the university for his mechanical apparatuses<br />
receded; he applied as a foreman to a technical school and was rejected.<br />
Natterer began to concern himself excessively with inventions and patents in<br />
1907, became increasingly restless and ultimately sought medical advice. In<br />
spring of the same year – in Natterer’s words triggered by the professional<br />
humiliation and a “deadly sin” which he committed in a brothel – he experienced<br />
a great hallucinatory vision: The heaves revealed 10,000 images to Natterer<br />
within half an hour. God himself appeared, the witches who created the world,<br />
images of war, parts of the earth, portrayals of the cosmos, et cetera.<br />
Seeing these images as “revelations of the last judgement”, clearly marked<br />
Natterer’s artistic work. He began drawing his visions in 1912 – two of his most<br />
outstanding works are the “Wunder-Hirthe” and “Weltachse mit Hase”.<br />
Alongside his painterly work, Natterer also composed fantastic poems with, at<br />
times, brilliant sound associations.<br />
According to the medical records, Natterer suffered from severe psychosis and<br />
paranoia: “It seems to him as though a broom is sweeping his chest and stomach;<br />
his skin has become a pelt; his bones and throat have turned to stone; he has a<br />
tree stump in his stomach; animals come out of his nose...he explains loud creaks<br />
in his knee joints as telephony, where the devil continually reports to him about<br />
his stay below...”.<br />
18
Gustav Sievers<br />
*Almstedt 1865–1941, ermordet in der Anstalt Hadamar<br />
kein Bild vorhanden<br />
Der Weber Gustav Sievers wurde 1900 wegen „unsittlicher Handlungen" an zwei<br />
Mädchen verhaftet und zur Beobachtung in die Provinzial Irrenanstalt Lengerich eingewiesen.<br />
Sein Strafregister weist Haftstrafen wegen Bettelns und Polizistenbeleidigung<br />
auf, aber auch „Verbreitung sozialdemokratischer Schriften".<br />
Sieben Jahre war er in Amerika, hat schwere körperliche Arbeit verrichtet und sich in<br />
seiner Freizeit in Bibliotheken autodidaktisch gebildet. Kant, Darwin, Voltaire und<br />
Alexander von Humboldt gehörten zu seiner Literatur. Nach gescheiterter Ehe<br />
unternahm er einen Selbstmordversuch und zog daraufhin wieder in die Welt hinaus.<br />
Sievers bekannte sich offen zur Arbeiterklasse und zur Sozialdemokratischen Partei. Er<br />
verlangte den Vorwärts (sozialdemokratische Zeitschrift), kündigte einen sozialdemokratischen<br />
Vortrag auf Station an und schrieb an August Bebel (Begründer der<br />
organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland).<br />
Sievers glaubte, die Zentrumspartei verschulde seine Anstaltseinweisung. Dahinter<br />
steckten die Freimaurer, die ihn verfolgten und zu vernichten suchten. Ursache dieser<br />
Verfolgung sei der Neid auf seine Erfindung des „Fallschützenwebstuhls", welcher die<br />
„3000jährige Epoche des fliegenden Webschiffs" einleite.<br />
Auch in der Anstalt kreisten Sievers' „Gedankenoperationen" um seine Erfindung, die in<br />
der Reichspatentrolle unter Nummer 108661 eingetragen ist.<br />
Der Unbeugsame rebellierte fortwährend. Immer wieder versuchte er, aus der Anstalt<br />
zu fliehen, zeigte sich gewalttätig, zerschlug Fensterscheiben, bedrohte die Wärter, griff<br />
den behandelnden Arzt an und plante ein Attentat auf den Anstaltsdirektor.<br />
Die darauf folgende Verordnung: „Über drei Jahr bleibt er in der Isolierzelle und wird<br />
täglich ins Dauerbad gesetzt“.<br />
1903 konnte er fliehen und wurde anschließend in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt<br />
Lüneburg gebracht. 1909 wurde er in das Landes-Verwahrungshaus Göttingen verlegt,<br />
1934 zurück nach Lüneburg.<br />
Als „Endzustand" kam er 1939 nach Herborn und wurde damit zur „Euthanasie"<br />
freigegeben. Die Nazis ermordeten Sievers 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar.<br />
In der Sammlung Prinzhorn sind Werke von 1903 bis 1919 erhalten: vor allem<br />
Bildgeschichten, zunächst mit Bleistift gezeichnet, später mit Deckfarben bunt<br />
ausgemalt. Oft handelt sich um Parabeln, die sich durch ihren karikierend humorvollen<br />
Charakter auszeichnen.<br />
19
Gustav Sievers<br />
*Almstedt 1865–1941, Murdered in the Hadamar Clinic<br />
no image available<br />
The weaver Gustav Sievers was arrested in 1900 for “indecent conduct” with two<br />
girls and admitted to the Lengerich Asylum for observation. His police records<br />
indicate prison terms for begging and insulting the police, as well as the<br />
“distribution of social democrat writings”.<br />
He was in America for seven years, performed hard physical labour and educated<br />
himself autodidactically in libraries in his free time. Kant, Darwin, Voltaire and<br />
Alexander von Humboldt were all part of his literature. After a failed marriage, he<br />
attempted suicide and, as a result, ventured back out into the world.<br />
Sievers often avowed himself a member of the working class and the social democrat<br />
party. He promoted Vorwärts (a social democrat newspaper), announced a social<br />
democrat speech and wrote to August Bebel (founded of the organised worker’s<br />
movement in Germany).<br />
Sievers believed that the Centre Party was guilty for his admittance to the clinic.<br />
Behind them were the freemasons, who followed him and tried to destroy him.<br />
The reason he was being followed was jealousy over his invention of the “fall<br />
restrain webbed chair”, which will introduce the “3,000 year epoch of the flying<br />
webbed ship".<br />
While in the clinic, Sievers’ “thought operations” also revolved around his invention,<br />
which is entered in the Reich patent register as number 108661.<br />
The unrelenting man continued to rebel. He continued to attempt to escape the<br />
clinic, proved himself to be violent, smashed window panes, threatened the<br />
guards, attacked the doctors and planned the assassination of the director of the<br />
clinic.<br />
This caused the following decree: “He is to remain in the isolation cell for three<br />
years and will be brought to the extended bath each day.”<br />
He was able to escape in 1903 and was then admitted to the Lüneberg<br />
sanatorium. He was transferred to the Göttingen Clinic in 1909 and transferred<br />
back to Lüneberg in 1934.<br />
As a “final condition”, he was brought to Herborn in 1939 and cleared for<br />
euthanasia there. The Nazis murdered Sievers in 1941 in the Hadamar killing facility.<br />
Works from 1903 to 1919 are included in the Prinzhorn Collection: these are primarily<br />
comic strips, first drawn in pencil and later colourfully painted in with body<br />
colours. These were often parables, marked by their caricaturing, humorous<br />
character.<br />
20
Oskar Voll<br />
*Blankenburg 1876, zuletzt erwähnt 1935, Anstalt Werneck<br />
kein Bild vorhanden<br />
Der Schneidergeselle Oskar Voll, dessen Vater als trunksüchtig galt, kam auf<br />
seiner Wanderschaft 1897 bis Dortmund. In einer Wirtschaft hielt der<br />
Einundzwanzigjährige “Reichstagsreden”, sodass man ihn in Aplerbeck einwies.<br />
Internierungen in Hildburghausen, Raumweiler (Arbeiteranstalt), Düren und –<br />
nach einer Brandstiftung – Werneck folgten (von 1903 bis1935).<br />
Voll wurde als “gemeingefährlich” und “völlig stumpfsinnig” beschrieben; unerwartet<br />
bräche er in Wut aus, sonst schwieg er.<br />
In der Schneiderei war er bereit zu arbeiten. Mit Kohle zeichnete er anfangs<br />
Ritter, Soldaten und Vögel auf dem Verandaboden. Bald übergab er dem Arzt<br />
“mit viel Liebe” gezeichnete Blätter und freute sich über Lob.<br />
Er litt unter Halluzinationen, zerriss wütend Zeichnungen, schwieg wochenlang<br />
und verkroch sich im Bett. Auch wenn er kein Papier hatte, verbarg er sich dort.<br />
Bleistifte rieb er spitz am steinernen Fenstersims. Bis zuletzt arbeitete Voll<br />
“autistisch” an “stereotypen” Zeichnungen, viel im Bett liegend.<br />
Nach 32 Jahren entließ man ihn 1935 “gebessert“ in die "caritative Anstalt<br />
Römershag".<br />
Einige seiner Zeichenhefte mit vom Stummfilm geprägten militärischen<br />
nächtlichen Szenen wurden 1910 und 1924 in das "Museum" der Anstalt<br />
Werneck aufgenommen.<br />
21
Oskar Voll<br />
*Blankenburg 1876, Last Mentioned in 1935, Werneck Clinic<br />
no image available<br />
The journeyman tailor Oskar Voll, son of an alcoholic, emerged from his<br />
travellings in Dortmund in 1897. The 21-year-old held “Reichstag talks” in a<br />
restaurant so that he could be indoctrinated in Aplerbeck. Internments in<br />
Hildburghausen, Raumweiler (worker facility), Düren and - after setting a fire –<br />
Werneck followed (from 1903 to 1935).<br />
Voll was described as “dangerous to the public” and “completely hebetudinous”;<br />
he would unexpectedly burst out in rage or otherwise sit silently.<br />
He was prepared to work in the tailor shop. He began to draw knights, soldiers<br />
and birds on the veranda floor with coal. He began to give the doctor drawings<br />
made "lovingly" and rejoiced in praise.<br />
He suffered from hallucinations, angrily tore up drawings, remained silent for<br />
weeks at a time and hid away in bed. He also concealed himself there at times<br />
when he did not have paper. He sharpened his pencils on the stones of the<br />
windowsills. Voll worked “autistically” on “stereotypical” drawings until the end,<br />
spending much time lying in bed.<br />
After 32 years, he was deemed “improved” in 1935 and transferred to the<br />
“Römershag Charitable Clinic”.<br />
Some of his books of drawings inspired by military night scenes from silent films<br />
were displayed in the “museum” of the clinic in 1910 and 1924.<br />
22
Adolf Schudel<br />
*1869 (?) – 1918, Anstalt Schaffhausen<br />
kein Bild vorhanden<br />
Die biografischen Nachrichten über Adolf Schudel, einem Fotografen aus der<br />
Schweiz, sind spärlich.<br />
Schudel arbeitete als Retoucheur in einem Fotoatelier in Reutlingen. Später lebte<br />
er einige Zeit in Paris.<br />
Er gründete nie eine eigene Familie. Als der Vater starb, übernahm er die<br />
Verantwortung für die Mutter und seine fünf Geschwister.<br />
1897 unternahm Schudel in einem Basler Hotel einen Suizidversuch, deshalb<br />
wurde er in die Anstalt Schaffhausen eingewiesen und zwei Jahre später wieder<br />
entlassen.<br />
1907 wurde er ein zweites Mal mit Polizeigewalt in die Anstalt gebracht, da er<br />
seine Mutter verprügelt hatte.<br />
In der Anstalt fürchtete sich Schudel vor vergiftetem Essen („Gemeinheitsstoff“),<br />
fühlte sich ständig müde und krank, hörte Stimmen und versuchte oft zu fliehen.<br />
Adolf Schudel begann 1907 nach Vorlage zu zeichnen. Er sprach von Schlangen<br />
und Ungetümen, die ihn ängstigten. Außerdem befürchtete er, dass sein<br />
verstorbener Vater auferweckt worden sei.<br />
Das Zeichnen und Schreiben beruhigte ihn mehr als die stundenlangen<br />
Fixierungen im Dauerbad.<br />
Wie in seinem Krankenblatt der Anstalt Schaffhausen festgehalten wurde, starb<br />
Schudel 1918 an „Ruptur des Herzens“.<br />
23
Adolf Schudel<br />
*1869 (?) – 1918, Schaffhausen Clinic<br />
no image available<br />
The biographic details regarding Adolf Schudel, a photographer from Switzerland,<br />
are sparse.<br />
Schudel worked as a retoucher in photography studio in Reutlingen. He lived for<br />
a time in Paris after this.<br />
He never founded his own family. After his father died, he assumed responsibility<br />
for his mother and his five siblings.<br />
Schudel attempted to kill himself in 1897 in a hotel in Basel, which caused him<br />
to admitted to the Schaffhausen Clinic and released two years later.<br />
He was returned to the clinic by the police in 1907, after beating his mother.<br />
While in the clinic, Schudel feared poisoned food (“nasty business”), constantly<br />
felt exhausted and ill, heard voices and frequently attempted to escape.<br />
Adolf Schudel began to draw from reference artworks in 1907. He spoke of<br />
snakes and monsters that scared him. In addition, he feared that his dead father<br />
had risen from the dead.<br />
Drawing and writing calmed him more than hours in an extended bath.<br />
As written on his case sheet at the Schaffhausen Clinic, Schudel died in 1918<br />
from a “rupture of the heart”.<br />
24
Josef Forster<br />
*Stadtamhof 1878–nach 1941<br />
kein Bild vorhanden<br />
Josef Forster wurde als zehntes von insgesamt 13 Kindern seiner Eltern geboren.<br />
Der Vater war Braumeister, psychisch krank und beging mit 54 Jahren<br />
Selbstmord; auch der Bruder des Vaters litt an einer psychischen Erkrankung.<br />
Josef Forster galt als wenig begabter Schüler; schon im Alter von sieben oder acht<br />
Jahren hatte er Halluzinationen und Erscheinungen („Mann mit starren Augen<br />
am Bett“).<br />
Ab 1896 hat Forster auch akustische Halluzinationen und hört das „Beten von<br />
Menschen im All“. Er begann eine Lehre als Dekorateur und begab sich danach<br />
auf Wanderschaft.<br />
1898 erkrankte er an Tuberkulose und zeigte in der Isolierung anscheinend erste<br />
Anzeichen von „Geisteskrankheit“. In dieser Zeit begann Forster zu malen und<br />
kopierte Werke berühmter Meister in deutschen und österreichischen Museen.<br />
Aus finanzieller Not betrieb Forster wieder ein Handwerk, und schon bald<br />
eröffnete er ein eigenes Geschäft.<br />
Ab 1916 dürfte sich sein psychischer Zustand verschlechtert haben. Im<br />
Wachbewusstsein betrachtete er Gestalten vor seinem Bett und im Spiegel sah er<br />
Feuer aus seinen Augen hervorkommen.<br />
In der Anstalt Regensburg porträtierte Forster Personen, malte Landschaften und<br />
symbolische Bilder. Er konstruierte eine Art „Perpetuum mobile“ und machte<br />
auch sonst allerlei „Erfindungen“.<br />
Das weitere Schicksal Josef Forsters ist nach 1941 unbekannt …<br />
Paul Kunze<br />
*Roßwein 1860, nachweisbar um 1913 in der Landes- Heilanstalt<br />
Hubertusburg bei Wermsdorf, Königreich Sachsen<br />
Beruf: Konditor<br />
weder Bild noch Biografie vorhanden<br />
25
Josef Forster<br />
*Stadtamhof 1878–after 1941<br />
no image available<br />
Josef Forster was the tenth of a total of 13 children. His father was a master<br />
brewer, mentally ill and committed suicide at 54; his father’s brother also<br />
suffered from mental illness.<br />
Josef Forster was not known as a talented student; he began suffering<br />
hallucinations and visions at the age of seven or eight (“man with staring eyes on<br />
the bed”).<br />
Beginning in 1896, Forster began to suffer from acute hallucinations and heard<br />
the “praying of people in outer space”. He began an apprenticeship as a decorator<br />
and then began travelling.<br />
He came down with tuberculosis in 1898 and displayed what were probably the<br />
first signs of "mental illness" while in quarantine. Forster began to paint during<br />
this time and copied the works of master artists in German and Austrian<br />
museums.<br />
Financial necessity drove Forster back to business and he soon opened his own<br />
establishment.<br />
His psychological condition worsened, beginning in 1916. While fully conscious,<br />
he saw figures under his bed and saw fire coming out of his eyes in the mirror.<br />
In the Regensburg Clinic, Forster painted portraits of persons, as well as<br />
landscapes and symbolic images. He created a kind of “perpetual motion” and<br />
devised all sorts of “inventions”.<br />
The fate of Josef Forster after 1941 is unknown...<br />
Paul Kunze<br />
*Roßwein 1860, Accounted for ca. 1913 in the State Clinic of<br />
Hubertusburg, near Wermsdorf, Kingdom of Saxony<br />
Profession: Confectioner<br />
no image or biography available<br />
26
Historische Ansichten von Anstalten<br />
Historical views of homes<br />
Provinzial- Heil- und Pflege-Anstalt Bunzlau in Schlesien<br />
Landeshospital Merxhausen, Regierungsbezirk Cassel<br />
27
Grossherzogliche Badische Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch<br />
Provinzial- Heil- und Pflege-Anstalt Kortau bei Allenstein in Ostpreussen<br />
28
Fürstliche Lippische Heil- u. Pflege-Anstalt Lindenhaus bei Lemgo<br />
Provinzial- Heil- und Pflege-Anstalt Brieg, Bezirk Breslau<br />
29
Fürstliche Lippische Heil- u. Pflege-Anstalt Lindenhaus bei Lemgo<br />
30
Königlich Sächsische Heil- und Pflegeanstalt Gross Schweidnitz<br />
31
Königlich Sächsische Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke zu Untergöltzsch<br />
32