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Renke Brahms: Allein der Frieden (Leseprobe)

Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert die evangelische Friedensethik heraus und gibt Anlass, über die Grundlagen einer reformatorisch geprägten Friedenstheologie nachzudenken und die verschiedenen friedensethischen Optionen zu durchdenken. Ausgehend von der Rechtfertigungslehre und den reformatorischen »Soli« werden theologische Grundmuster der evangelischen Tradition kritisch betrachtet und auf dem aktuellen Hintergrund mit sola pax (allein der Frieden) ergänzt. In einem zweiten Teil werden angesichts des Krieges in der Ukraine die Denkmuster der »rechtserhaltenden Gewalt« aus der Denkschrift der EKD von 2007 und der »Weg der Gewaltfreiheit« reflektiert und damit ein Beitrag zur Debatte um eine »neue Friedensethik« versucht. Mit Bibelarbeiten und Predigten schließen sich Beispiele einer biblisch orientierten Friedenstheologie an. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Betrachtung zu 13 Jahren Friedensbeauftragung für den Rat der EKD.

Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert die evangelische Friedensethik heraus und gibt Anlass, über die Grundlagen einer reformatorisch geprägten Friedenstheologie nachzudenken und die verschiedenen friedensethischen Optionen zu durchdenken. Ausgehend von der Rechtfertigungslehre und den reformatorischen »Soli« werden theologische Grundmuster der evangelischen Tradition kritisch betrachtet und auf dem aktuellen Hintergrund mit sola pax (allein der Frieden) ergänzt.
In einem zweiten Teil werden angesichts des Krieges in der Ukraine die Denkmuster der »rechtserhaltenden Gewalt« aus der Denkschrift der EKD von 2007 und der »Weg der Gewaltfreiheit« reflektiert und damit ein Beitrag zur Debatte um eine »neue Friedensethik« versucht. Mit Bibelarbeiten und Predigten schließen sich Beispiele einer biblisch orientierten Friedenstheologie an. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Betrachtung zu 13 Jahren Friedensbeauftragung für den Rat der EKD.

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<strong>Renke</strong> <strong>Brahms</strong><br />

<strong>Allein</strong><br />

<strong>der</strong><br />

<strong>Frieden</strong><br />

<strong>Frieden</strong>stheologische und<br />

friedensethische Perspektiven


Vorwort<br />

Es gibt wenige Themen, die in <strong>der</strong> Öffentlichkeit gegenwärtig<br />

so leidenschaftlich diskutiert werden wie das Thema <strong>Frieden</strong>sethik.<br />

Noch vor wenigen Jahren war das an<strong>der</strong>s. Der<br />

Rat <strong>der</strong> EKD hatte schon 2016 einen Forschungs- und Diskussionsprozess<br />

zum Thema <strong>Frieden</strong>sethik an <strong>der</strong> Forschungsstätte<br />

Evangelische Studiengemeinschaft (FEST)<br />

angesto ßen , um die Pro blemlagen mög lichst umfassend zu<br />

beschreiben und, wo möglich, zu klären, die mit diesem<br />

Thema verbunden sind und sich in mancher Hinsicht seit<br />

<strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sdenkschrift <strong>der</strong> EKD von 2007 neu gestellt haben.<br />

Über 20 Bände sind daraus entstanden. In diesen Bänden<br />

wird intensiv reflektiert über den Bedeutungsgehalt des<br />

für die evangelische wie die ökumenische <strong>Frieden</strong>sethik<br />

zentral gewordenen Begriffs des »Gerechten <strong>Frieden</strong>s«, über<br />

die Weiterentwicklung des internationalen Rechts, über<br />

die ethischen Probleme digitaler Kriegsführung und darin<br />

zum Einsatz kommen<strong>der</strong> autonomer Waffensysteme o<strong>der</strong><br />

etwa über die Möglichkeiten und Grenzen gewaltfreien<br />

Wi<strong>der</strong>st ands .<br />

Von all diesen Diskussionen und Publikationen scheint<br />

wenig bis nichts bei denen angekommen zu sein, die <strong>der</strong><br />

EKD jetzt weitgehende Naivität und Ahnungslosigkeit angesichts<br />

einer faktisch von zahlreichen Dilemmata geprägten<br />

friedensethischen Gesamtlage vorwerfen, die durch die russische<br />

Invasion in <strong>der</strong> Ukraine zwar noch einmal drastisch<br />

5


an Dramatik zugenommen haben, die aber auch vorher<br />

schon im Horizont evangelischer <strong>Frieden</strong>sethik lagen.<br />

Das stand etwa im Hintergrund, als ich selbst als EKD-<br />

Ratsvorsitzen<strong>der</strong> im Sommer 2014 Waffenlieferungen an die<br />

Peschmerga im Kampf gegen die IS-Milizen für lei<strong>der</strong> notwendig<br />

gehalten habe. Auch innerhalb <strong>der</strong> evangelischen<br />

Kirche wurde darüber gestritten – und das war gut so. Denn<br />

wie hätte man im Lichte von Jesu Aufruf zur Gewaltfreiheit<br />

in <strong>der</strong> Bergpredigt die Anwendung von Gewalt und die Hinnahme<br />

einer nur bedingt kontrollierbaren Verbreitung von<br />

Waffen für unproblematisch erklären können? Dass wir es<br />

uns in <strong>der</strong> evangelischen Kirche so schwer machen mit <strong>der</strong><br />

Akzeptanz militärischer Gewalt, ist kein Ausweis von Politikunfähigkeit,<br />

son<strong>der</strong>n von ethischer Verantwortung und<br />

von historischer Lernfähigkeit angesichts <strong>der</strong> unheilvollen<br />

Segnung von Waffen in früherer Zeit.<br />

Freilich gilt ebenso das Umgekehrte: Auch die Verweigerung<br />

wirksamen – und das kann eben auch heißen: militärischen<br />

Schutzes unschuldiger Menschen kann schwere<br />

Schuld bedeuten. Dass 1994 beim Völkermord in Ruanda in<br />

100 Tagen fast eine Million Menschen mit Macheten ermordet<br />

werden konnten, weil die UNO-Blauhelmsoldaten, die<br />

danebenstanden, ihre Waffen nicht zum Schutz <strong>der</strong> Menschen<br />

einsetzen durften, war eine beispiellose moralische<br />

Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Völkergemeinschaft.<br />

Die <strong>Frieden</strong>sdenkschrift <strong>der</strong> EKD »Aus Gottes <strong>Frieden</strong> leben<br />

– für gerechten <strong>Frieden</strong> sorgen« aus dem Jahr 2007 hat<br />

solche Situationen sehr klar im Blick gehabt, als sie rechtserhaltende<br />

Gewalt ausdrücklich für legitim erklärte. Davon,<br />

dass die EKD ihre <strong>Frieden</strong>sethik nach dem russischen An-<br />

6


griff auf die Ukraine neu erfinden müsste, kann also keine<br />

Rede sein. Weiterentwickeln muss sie sich schon. Während<br />

in den Jahrzehnten nach dem Ende <strong>der</strong> Blockkonfrontation<br />

vor allem <strong>der</strong> Umgang mit »privatisierter Gewalt« – also etwa<br />

dem Terrorismus von Al-Kaida und den Milizen des IS und<br />

<strong>der</strong> Taliban im Zentrum stand, ist durch den russischen Angriff<br />

nun <strong>der</strong> Umgang mit diesem aggressiven Akt einer<br />

Großmacht mit Atomwaffen und die Möglichkeit <strong>der</strong> Eskalation<br />

bis hin zu einem atomaren Weltkrieg zu einem dringlichen<br />

Thema geworden.<br />

All diese Fragen sind in dieses Buch eingegangen. Als<br />

<strong>Frieden</strong>sbeauftragter des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland (EKD) in den Jahren 2008 bis 2021 hat sein<br />

Autor <strong>Renke</strong> <strong>Brahms</strong> die durch die <strong>Frieden</strong>denkschrift gelegte<br />

Grundlage immer wie<strong>der</strong> vertreten, reflektiert, diskutiert<br />

und weitergedacht. Nicht zuletzt die gemeinsamen Stellungnahmen<br />

mit dem Bischof für die Seelsorge in <strong>der</strong><br />

Bundeswehr haben gezeigt, wie groß <strong>der</strong> gemeinsame<br />

Grund in <strong>der</strong> evangelischen <strong>Frieden</strong>sethik ist. Dass auch pazifistische<br />

Stimmen in ihr einen Ort haben, ist eine Stärke.<br />

Man muss nur in die Geschichte schauen, um zu sehen, wie<br />

wichtig die Stimme <strong>der</strong> historischen <strong>Frieden</strong>skirchen als<br />

Korrektiv zu vorschneller Legitimierung von Kriegen war.<br />

<strong>Renke</strong> <strong>Brahms</strong> ist in beidem zu Hause: in dem Impuls<br />

prinzipieller Gewaltfreiheit, für den die <strong>Frieden</strong>skirchen stehen,<br />

und in dem sorgfältigen Abwägen <strong>der</strong> Dilemmata zwischen<br />

<strong>der</strong> Schuld einerseits, die mit <strong>der</strong> Anwendung von<br />

Gewalt verbunden ist und <strong>der</strong> Schuld an<strong>der</strong>erseits, die mit<br />

<strong>der</strong> Verweigerung wirksamen Schutzes bedrohter Menschen<br />

verbunden ist. Das kommt etwa deutlich zum Ausdruck in<br />

7


dem Aufsatz »Gerechter <strong>Frieden</strong> und <strong>der</strong> Krieg in <strong>der</strong><br />

Ukraine« <strong>der</strong> in diesem Buch enthalten ist. Darin hält er zu<br />

Recht als bleibende Aufgabe <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland fest, friedensethisch den Vorrang des Zivilen<br />

zu betonen und die Chancen <strong>der</strong> gewaltfreien Konflikttransformation<br />

und des gewaltfreien Wi<strong>der</strong>stands zu stärken. Zugleich<br />

sieht er Waffenlieferungen in die Ukraine zwar als<br />

friedensethisch problematisch, räumt aber auch die Möglichkeit<br />

ein, sie im Rahmen von Nothilfe als legitim zu betrachten.<br />

Seine Ausführungen zur reformatorischen Theologie zeigen,<br />

wieviel Konvergenz sie mit heutigen friedenstheologischen<br />

Überlegungen aufweisen. Eine Kirche und eine <strong>Frieden</strong>sethik<br />

aus dem Geist <strong>der</strong> Reformation – so folgert er –<br />

weiß um das »simul« und die Gebrochenheit unserer <strong>Frieden</strong>sbemühungen.<br />

Zugleich sieht er darin aber auch einen<br />

prophetischen Hoffnungsüberschuss, <strong>der</strong> nach vorne treibt<br />

und stets den <strong>Frieden</strong> sucht. Nicht zuletzt im sola scriptura<br />

<strong>der</strong> Reformation sieht er angesichts <strong>der</strong> darin enthaltenen<br />

Aufrufe zur Überwindung von Gewalt die Verpflichtung<br />

zum »sola pax«.<br />

Genau solche differenzierte Situationswahrnehmung und<br />

ethische Reflexion brauchen wir jetzt. Deswegen wünsche<br />

ich diesem Buch viele Leserinnen und Leser. Möge es helfen,<br />

das Niveau <strong>der</strong> Debatten um die evangelische <strong>Frieden</strong>sethik<br />

auf die Höhe zu heben, die sie verdient.<br />

Heinrich Bedford-Strohm<br />

Landesbischof <strong>der</strong> Evangelisch-Lutherischen Kirche<br />

in Bayern<br />

8


Inhalt<br />

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

I »<strong>Allein</strong> <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>«<br />

Gerechter <strong>Frieden</strong> aus dem Geist <strong>der</strong> Reformation. . . . . 15<br />

1. Das Leitbild des Gerechten <strong>Frieden</strong>s als<br />

ökumenischer Konsens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

2. Die Reformationen und <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>. . . . . . . . . . . . . 19<br />

2.1 Eine Zeit <strong>der</strong> Umbrüche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

2.2 Krieg und <strong>Frieden</strong>: Erasmus, Luther,<br />

Melanchthon, Calvin und Zwingli. . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

2.3 Der linke Flügel <strong>der</strong> Reformation. . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

3. Die reformatorische Botschaft und <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>. . . . 39<br />

3.1 Die Rechtfertigung des Sün<strong>der</strong>s als Mitte <strong>der</strong><br />

reformatorischen Botschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

3.2 Die Rechtfertigung als soziales Geschehen. . . . . . . . 40<br />

3.3 »Simul iustus et peccator« – So o<strong>der</strong> so schuldig?. . . 42<br />

3.4 Das Augsburgische Bekenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />

3.5 Verantwortung und Versöhnung. . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

4. Die Exklusivartikel – inklusiv verstanden im<br />

Raum <strong>der</strong> Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />

4.1 »Solus Christus« – allein Christus ist unser<br />

Friede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

9


4.2 Sola scriptura – allein die Schrift: Biblischer<br />

Pazifismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />

4.3 Sola gratia – allein aus Gnaden: <strong>Frieden</strong> mit<br />

Gott erleben<br />

Sola fide – allein aus Glauben: aus Gottes <strong>Frieden</strong><br />

leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />

5. <strong>Allein</strong> <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong> – »sola pax« . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

5.1 »Wer den <strong>Frieden</strong> will, muss den <strong>Frieden</strong><br />

vorbereiten.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />

5.2 Ökumenisches <strong>Frieden</strong>sverständnis. . . . . . . . . . . . . 98<br />

5.3 Der »Mythos« <strong>der</strong> Heidelberger Thesen von 1959. . 100<br />

5.4 »Kirche auf dem Weg <strong>der</strong> Gerechtigkeit und<br />

des <strong>Frieden</strong>s« – Die Kundgebung <strong>der</strong> EKD-Synode<br />

von 2019. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

6. Hoffnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />

II Modellgesellschaft des <strong>Frieden</strong>s<br />

1. Pax romana und pax christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />

2. Advent Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />

3. Der beson<strong>der</strong>e Mauerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />

4. Kirche des <strong>Frieden</strong>s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

III Gerechter <strong>Frieden</strong> und <strong>der</strong> Krieg in<br />

<strong>der</strong> Ukraine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />

Ein Angriffskrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138<br />

Buße tun und zur Buße rufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139<br />

Beten, Tun des Gerechten und Warten auf<br />

Gottes Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />

<strong>Frieden</strong>sethisch orientieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />

10


Das Narrativ <strong>der</strong> Naivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146<br />

Gerechter <strong>Frieden</strong> und rechtserhaltende Gewalt. . . . . . 147<br />

Waffenlieferungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150<br />

Die Option des gewaltfreien Wi<strong>der</strong>stands. . . . . . . . . . . 153<br />

Zeitenwende? Zeitenwende!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />

Wie weiter in <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sethik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 160<br />

IV Leid vermeiden<br />

Predigt im Gottesdienst am 27. 02. 2022 in <strong>der</strong><br />

Stadtmissionsgemeinde Britz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164<br />

V Zeitenwende!?<br />

Predigt im Gottesdienst am 20. 03. 2022 in<br />

<strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>gemeine Neukölln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172<br />

VI 13 Jahre <strong>Frieden</strong>sbeauftragter des Rates<br />

<strong>der</strong> EKD – ein Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180<br />

11


Einleitung<br />

Als <strong>Frieden</strong>sbeauftragter des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche<br />

in Deutschland (EKD) in den Jahren 2008 bis 2021 habe ich<br />

mich als Botschafter <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sdenkschrift »Aus Gottes<br />

<strong>Frieden</strong> leben – für gerechten <strong>Frieden</strong> sorgen« aus dem Jahr<br />

2007 verstanden und dabei vor allem den Vorrang des Zivilen<br />

vertreten. Ich wurde zu vielen Vorträgen und Podiumsdiskussionen<br />

eingeladen und habe zahlreiche Artikel verfasst<br />

und Interviews gegeben. Vieles davon findet sich im<br />

Netz o<strong>der</strong> in Tagungsdokumentationen. Ermutigt durch<br />

Stimmen aus <strong>der</strong> Evangelischen <strong>Frieden</strong>sarbeit, habe ich<br />

mich entschlossen, einige Texte in diesem Buch zu ver -<br />

öffentlichen, die bisher nicht veröffentlicht sind o<strong>der</strong> nur in<br />

grauer Literatur zu finden sind. Dabei ist keine Dokumentation<br />

<strong>der</strong> Texte über die gesamte Zeit <strong>der</strong> Beauftragung entstanden.<br />

Vielmehr sind es Texte aus jüngerer Zeit, die bis in<br />

die aktuelle Situation des Krieges in <strong>der</strong> Ukraine führen.<br />

Dem ersten Teil zum Thema »<strong>Allein</strong> <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong> – Gerechter<br />

<strong>Frieden</strong> aus dem Geist <strong>der</strong> Reformation« liegt ein<br />

Vortrag aus dem Jahr 2017 zugrunde. Diesen habe ich während<br />

meiner Zeit als theologischer Direktor <strong>der</strong> Evangelischen<br />

Wittenbergstiftung und auch danach weiterbearbeitet<br />

und aktualisiert bis hinein in <strong>der</strong> Herbst 2022. Darin setze<br />

ich mich kritisch mit einigen theologischen Mustern <strong>der</strong> reformatorischen<br />

Theologie und <strong>der</strong> evangelischen <strong>Frieden</strong>sethik<br />

auseinan<strong>der</strong>, die immer wie<strong>der</strong> herangezogen werden,<br />

13


wie z. B. einer stark individualistischen Rechtfertigungstheologie,<br />

<strong>der</strong> Formel des »iustus et peccator« und seines Gebrauchs<br />

in <strong>der</strong> friedensethischen Debatte. Darüber hinaus<br />

geht es um die Auseinan<strong>der</strong>setzung über den Artikel 16 <strong>der</strong><br />

Augsburgischen Konfession bis hin zu aktuellen Debatten<br />

um die Heidelberger Thesen von 1959 und <strong>der</strong> Diskussion<br />

über die Kundgebung <strong>der</strong> EKD-Synode von 2019.<br />

Die Bibelarbeit zu Epheser 2 ist für eine Tagung zur<br />

Auswertung und Weiterarbeit <strong>der</strong> EKD-Synode von 2019 im<br />

Herbst 2021 in <strong>der</strong> Woltersburger Mühle entstanden und ergänzt<br />

den ersten Beitrag mit einer dezidiert ekklesiologischen<br />

Perspektive.<br />

Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die<br />

Ukraine und die Debatte um eine »neue <strong>Frieden</strong>sethik« hat<br />

mich zu einem Beitrag herausgefor<strong>der</strong>t und bewogen, <strong>der</strong><br />

die Linien <strong>der</strong> Denkschrift von 2007 und <strong>der</strong> darin enthaltenen<br />

Figur <strong>der</strong> »rechtserhaltenden Gewalt« einerseits und einen<br />

Weg <strong>der</strong> Gewaltfreiheit an<strong>der</strong>seits betrachtet. Wie sich<br />

die Situation in <strong>der</strong> Ukraine bei Erscheinen des Buches darstellt,<br />

kann beim Abfassen <strong>der</strong> Texte im Herbst 2022 nicht<br />

vorhergesagt werden. Dennoch sollen die Gedanken ein Beitrag<br />

zu <strong>der</strong> grundsätzlichen friedensethischen Debatte sein.<br />

Zwei Predigten aus dem Frühjahr 2022 sollen auch die<br />

homiletische Herausfor<strong>der</strong>ung durch den Krieg beleuchten.<br />

Eine Betrachtung zu 13 Jahren <strong>Frieden</strong>sbeauftragung beschließt<br />

dieses Buch, das auch als Ausdruck des Dankes für<br />

alle Unterstützung in dieser Aufgabe verstanden werden<br />

soll.<br />

<strong>Renke</strong> <strong>Brahms</strong>, Ende Oktober 2022<br />

14


I »<strong>Allein</strong> <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>«<br />

Gerechter <strong>Frieden</strong> aus dem Geist <strong>der</strong><br />

Reformation<br />

In <strong>der</strong> evangelischen <strong>Frieden</strong>sethik wird auf theologische<br />

Topoi und Muster aus <strong>der</strong> Reformationszeit zurück gegriffen.<br />

In diesem Beitrag geht es darum, einige dieser für selbstverständlich<br />

gehaltenen Muster kritisch zu hinterfragen, zu ergänzen<br />

o<strong>der</strong> neu zu deuten. Das betrifft die Rechtfertigungstheologie,<br />

die im Lichte einer »new perspective on Paul« um<br />

eine umfassen<strong>der</strong>e Beziehungsgerechtigkeit zu ergänzen ist,<br />

die immer wie<strong>der</strong>kehrende Argumentationsfigur des »simul<br />

iustus et peccator«, die differenziert und kritisch auf ihre<br />

Bedeutung in <strong>der</strong> friedensethischen Debatte zu befragen ist,<br />

o<strong>der</strong> die bleibende Diskussion um den Artikel 16 <strong>der</strong> Confessio<br />

Augustana. Darüber hinaus sollen die sogenannten<br />

»Exklusivpartikel« als Struktur weiterer Themen herausgearbeitet<br />

werden, wobei ich sie allerdings als einladende »Inklusivpartikel«<br />

verstehe. Dabei geht es u. a. auch um die Fragen<br />

<strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sverantwortung <strong>der</strong> Religionen, die Frage<br />

eines biblisch begründbaren Pazifismus, die Einordnung<br />

<strong>der</strong> sogenannten »konstantinischen Wende« o<strong>der</strong> die Frage<br />

des »Genug« angesichts <strong>der</strong> Gnade, die uns geschenkt ist.<br />

Am Ende stehen Gedanken zu »sola pax – allein <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>«<br />

als Kennzeichen einer Kirche auf dem Weg <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

und des <strong>Frieden</strong>s. Dabei geht u. a. um eine kritische<br />

Betrachtung zu den Heidelberger Thesen von 1959 und<br />

um die Kundgebung <strong>der</strong> EKD-Synode von 2019 »Kirche auf<br />

dem Weg <strong>der</strong> Gerechtigkeit und des <strong>Frieden</strong>s«.<br />

15


1. Das Leitbild des Gerechten <strong>Frieden</strong>s als<br />

ökumenischer Konsens<br />

Das Jahr 2017 mit seiner dankbaren Erinnerung an die Reformation<br />

bot die Chance zur Vergewisserung, was denn<br />

eigentlich refor mator ischer o<strong>der</strong> evangelischer Glaube heute<br />

bedeutet. Das Reformationsjubliäum wurde dabei nicht gegen<br />

die römisch-katholische Kirche o<strong>der</strong> gegen an<strong>der</strong>e<br />

K i rch e n ge fe i e r t u n d b e g a n ge n , s o n d e r n m i t i h n e n . I n s o -<br />

fern konnte man getrost von einem »Christusfest« sprechen,<br />

bei dem das Evangelium von Jesus Christus im Mittelpunkt<br />

und als einigendes Band <strong>der</strong> Konfessionen an erster Stelle<br />

stand.<br />

Im Sinne einer versöhnten Verschiedenheit darf und soll<br />

dennoch das je Eigene und Beson<strong>der</strong>e benannt werden können,<br />

denn nur aus und mit <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> konfessionellen<br />

Ausprägungen werden wir sowohl <strong>der</strong> Geschichte als auch<br />

den Menschen heute gerecht. Schon in den biblischen Texten<br />

wird eine Vielfalt <strong>der</strong> Glaubensstimmen deutlich. Die<br />

Vielfalt ist deshalb kein Makel <strong>der</strong> Kirchen, son<strong>der</strong>n Wirklichkeit,<br />

manchmal ein Schmerz und manchmal ein Schatz –<br />

auch wenn <strong>der</strong> Weg zu dieser Einsicht lang war. Die gegenseitigen<br />

Verletzungen, die Streitigkeiten und Konfessionskriege<br />

haben das Zeugnis des Evangeliums von Jesus Christus<br />

verdunkelt und <strong>der</strong> Einheit <strong>der</strong> Kirchen auf das Äußerste<br />

geschadet. Der Prozess <strong>der</strong> wachsenden Ökumene ist deshalb<br />

selbst eine Lerngeschichte des <strong>Frieden</strong>s.<br />

In <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sethik gibt es heute eine große Übereinstimmung<br />

<strong>der</strong> Kirchen. Im Jahr 2000 veröffentlichte die Katholische<br />

Bischofskonferenz in Deutschland ihre friedens-<br />

16


ethische Positionierung unter dem Titel »Gerechter Friede«. 1<br />

2007 folgte die Evangelische Kirche in Deutschland mit <strong>der</strong><br />

Denkschrift des Rates <strong>der</strong> EKD »Aus Gottes <strong>Frieden</strong> leben –<br />

für gerechten <strong>Frieden</strong> sorgen«. 2 Das Leitbild des »Gerechten<br />

<strong>Frieden</strong>s« prägt heute die weltweite ökumenische Debatte.<br />

Die <strong>Frieden</strong>skonvokation des Ökumenischen Rates <strong>der</strong> Kirchen<br />

(ÖRK) in Kingston/Jamaika 2011 und die 10. Vollversammlung<br />

des ÖRK in Busan/Südkorea im Jahr 2013 haben<br />

dieses Leitbild bestätigt und im »Pilgerweg <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

und des <strong>Frieden</strong>s« aufgenommen, <strong>der</strong> bis zur Vollversammlung<br />

im Jahr 2022 in Karlsruhe führte. Und auch wenn die<br />

römisch-katholische Kirche »nur« Gast des Ökumenischen<br />

Rates <strong>der</strong> Kirchen ist, so besteht doch ein weitgehen<strong>der</strong> Konsens<br />

in <strong>der</strong> Betonung des Gerechten <strong>Frieden</strong>s – auch wenn<br />

es weiter eine Bandbreite gibt, was dessen spezifische Auslegung<br />

ist. Das aber ist keine Frage des katholisch-evangelischen<br />

Verständnisses, son<strong>der</strong>n greift darüber hinaus. Wenn<br />

es hier schon etwas typisch Evangelisches festzuhalten gilt,<br />

dann ist schon hier die Vielfalt <strong>der</strong> Positionierung allein unter<br />

den evangelischen o<strong>der</strong> protestantischen Kirchen zu nennen.<br />

Wer sich dem spezifisch Reformatorischen nähern<br />

möchte, begibt sich auf zwei Wege <strong>der</strong> Annäherung: Einmal<br />

ist es <strong>der</strong> historische Blick in die Entstehungsgeschichte <strong>der</strong><br />

evangelischen Kirchen. Zum an<strong>der</strong>en ist es ein inhaltlicher<br />

1<br />

Gerechter Friede, hrsg. v. Sekretariat <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz,<br />

Bonn 2000.<br />

2<br />

Aus Gottes <strong>Frieden</strong> leben – für gerechten <strong>Frieden</strong> sorgen. Eine Denkschrift<br />

des Rates <strong>der</strong> EKD, Gütersloh 2007.<br />

17


Weg, <strong>der</strong> sich an den Grundsätzen <strong>der</strong> Reformation orientiert.<br />

Beide Wege will ich gehen, wobei <strong>der</strong> Schwerpunkt<br />

auf dem inhaltlich-theologischen Zugang liegen soll. Aber<br />

ohne eine kurze historische Einordnung kann es nicht gehen.<br />

So liefert <strong>der</strong> erste Teil einen groben Überblick über<br />

die Positionen <strong>der</strong> reformatorischen Bewegungen und ihrer<br />

Vertreter – ohne damit einen Anspruch auf Vollständigkeit<br />

zu erheben. Keiner <strong>der</strong> Reformatoren hat ein eigenes Konzept<br />

einer Theologie des <strong>Frieden</strong>s erarbeitet. Es sind vielmehr<br />

in konkreten Auseinan<strong>der</strong>setzungen entstandene Positionierungen,<br />

die hier zum Tragen kommen.<br />

Im zweiten Teil sollen Grundzüge einer reformatorischen<br />

Theologie des <strong>Frieden</strong>s entwickelt werden. »Reformatorisch«<br />

bedeutet dabei einerseits, dass sich Gedanken an den<br />

Grun<strong>der</strong>kenntnissen <strong>der</strong> Reformationen des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

orientieren, an<strong>der</strong>erseits aber auch dahinter zurückund<br />

darüber hinausgehen werden, um einen Blick dafür zu<br />

bekommen, was denn im Sinne einer Orientierung »ad<br />

fontes« und was »reformatorisch« im heutigen Kontext bedeuten<br />

kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass es keine<br />

einlinige Begründung heutiger friedensethischer Positionierungen<br />

aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Reformation geben kann. Dazu ist<br />

zu viel Zeit vergangen und sind die Kontexte zu verschieden.<br />

Dennoch soll versucht werden, reformatorische Grundgedanken<br />

für die friedensethische Diskussion heute fruchtbar<br />

zu machen. 3<br />

3<br />

Vgl. zum Grundsätzlichen Ulrich H. J. Körtner, Reformatorische<br />

Theologie im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t. Theologische Studien, Neue Folge 1 –<br />

2010, Zürich 2010.<br />

18


2. Die Reformationen und <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong><br />

2.1 Eine Zeit <strong>der</strong> Umbrüche<br />

Wer die Zeit <strong>der</strong> Reformationen und Reformatoren auf ihre<br />

Haltung zum <strong>Frieden</strong> verstehen will, muss sich zuallererst<br />

vergegenwärtigen, dass die Zeit des ausgehenden Mittel -<br />

alters und die Zeit <strong>der</strong> Reformation eine Zeit massiver Umbrüche<br />

war. Die reformatorischen Gedanken Luthers, Calvins,<br />

Zwinglis, Melanchthons und an<strong>der</strong>er Reformatoren<br />

neben o<strong>der</strong> vor ihnen waren eingebettet in an<strong>der</strong>e Entwicklungen,<br />

die die Gedanken vorbereitet o<strong>der</strong> auch bedingt<br />

haben o<strong>der</strong> die die Reformationen wie<strong>der</strong>um beschleunigt<br />

haben.<br />

Auch wenn eine pauschale Bewertung des 14. und 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

als »Krisenzeit« eine eher mo<strong>der</strong>ne Betrachtung<br />

ist und das Krisenbewusstsein des 20. und 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

w i d e r s p i e g e l t 4 , sind die beiden Jahrhun<strong>der</strong>te im Vorfeld<br />

<strong>der</strong> Reformation von vielen krisenhaften Phänomenen<br />

geprägt.<br />

Zu Beginn des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts trat ein Ende des wirtschaftlichen<br />

Wachstums ein. Entwickelte sich bis dahin die<br />

Landwirtschaft mit großen Erträgen, die zu einem großen<br />

Bevölkerungswachstum führten, so verän<strong>der</strong>te sich ab 1310<br />

das Klima. Eine »kleine Eiszeit« führte zu extrem kalten und<br />

4<br />

Siehe Peter Schuster, Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz<br />

eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in <strong>der</strong> Geschichtsschreibung<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, in: Historische Zeitschrift<br />

269 (1999), S.19–55.<br />

19


langen Wintern, zu Überschwemmungen und dem Verlust<br />

von Land. Es gab Hungersnöte, Teuerungen <strong>der</strong> Getreidepreise<br />

und damit eine wachsende Armut in bestimmten Regionen<br />

Europas. Zwischen 1347 und 1352 breitete sich die<br />

Pest mit hoher Geschwindigkeit aus und for<strong>der</strong>te unzählige<br />

Menschenleben. Sie kam in immer wie<strong>der</strong> neuen Wellen<br />

über fast alle Län<strong>der</strong> Europas. Schätzungen gehen davon<br />

aus, dass etwa ein Drittel <strong>der</strong> Bevölkerung Europas an <strong>der</strong><br />

Pest gestorben ist. Die durch die klimatischen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

und durch die Pest ausgelöste »Agrarkrise« 5 führte zu<br />

»Wüstungen«, also zu verlassenen Dörfern und Landstrichen.<br />

Zugleich häuften sich Katastrophen wie Überflutungen,<br />

Erdbeben und Heuschreckenplagen. Verschärft wurde<br />

die Situation durch eine hohe Zahl kleinerer Fehden und<br />

regionaler Konflikte und Kriege.<br />

Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts betrafen<br />

die Konflikte verschiedene europäische Staaten und kleinstaatliche<br />

Konstellationen. Erasmus von Rotterdam konnte<br />

in seiner »Klage des <strong>Frieden</strong>s« deshalb formulieren: »Der<br />

Englän<strong>der</strong> ist dem Franzosen feind, aus keinem an<strong>der</strong>en<br />

Grund, als weil er Franzose ist. Über den Schotten ist <strong>der</strong><br />

Brite aufgebracht, aus keinen an<strong>der</strong>en Ursache, als weil er<br />

Schotte ist. Der Deutsche ist mit dem Franzosen zerstritten,<br />

<strong>der</strong> Spanier mit beiden. O Verrücktheit.« 6 Als größte Bedrohung<br />

aber wurde <strong>der</strong> Vormarsch <strong>der</strong> Türken unter Sultan<br />

5<br />

Siehe Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg/<br />

Berlin 1978.<br />

6<br />

Erasmus von Rotterdam, Die Klage des <strong>Frieden</strong>s, übertragen von<br />

Kurt Steinmann, Frankfurt 2001, S. 69f.<br />

20


Suleimann dem Prächtigen bis nach Wien im Jahr 1529 empfunden.<br />

Dies war auch Anlass für Luther, sich für den Krieg<br />

gegen die Türken mit scharfen Worten einzusetzen.<br />

Eine Reaktion auf die verschiedenen Krisenphänomene<br />

war wie schon in <strong>der</strong> Geschichte vorher die Judenverfolgung.<br />

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wurde ihnen, die<br />

sie aus den Zünften ausgeschlossen und ins Geldgeschäft<br />

abgedrängt waren, <strong>der</strong> Vorwurf des Zinswuchers und <strong>der</strong><br />

Ausbeutung gemacht. Dieses führte zu den größten mittelalterlichen<br />

Judenpogromen.<br />

Diese wenigen Andeutungen über die Zeit müssen genügen,<br />

um deutlich zu machen, dass die Zeit <strong>der</strong> Reformation<br />

eine Zeit enormer Umbrüche war. Und wie es immer war<br />

und ist, sind solche Zeiten auch Phasen größter Unsicherheit<br />

und Ängste <strong>der</strong> Menschen. Da das ganze Leben religiös geprägt<br />

war, war es also auch kein Wun<strong>der</strong>, dass die Gottesfrage<br />

intensiv gestellt wurde – wie Luthers Frage nach einem<br />

gnädigen Gott.<br />

Der Blick auf die Krisenphänomene des Mittelalters und<br />

<strong>der</strong> Vor-Reformationszeit bliebe allerdings einseitig, würde<br />

nicht die an<strong>der</strong>e prägende Entwicklung <strong>der</strong> um 1350 be -<br />

ginnenden und die Geschichte tief prägende Renaissance<br />

mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung <strong>der</strong> Antike, seinem Bildungs -<br />

gedanken und dem Humanismus in den Blick genommen.<br />

Diese Entwicklung kann einerseits als Gegenbewegung<br />

gegen die krisenhaften Phänomene des Mittelalters und die<br />

dadurch geprägte Lebenshaltung und -stimmung und die<br />

Bevormundung durch eine in die Krise geratene Kirche verstanden<br />

werden. An<strong>der</strong>erseits war es auch eine Art Fluchtbewegung<br />

in die als Ideal verstandene Schönheit <strong>der</strong> An-<br />

21


II Modellgesellschaft des <strong>Frieden</strong>s<br />

Bibelarbeit zu Epheser 2<br />

Bibelarbeit zur Werkstatt: »Kirche auf dem Weg <strong>der</strong> Ge -<br />

rechtigkeit und des <strong>Frieden</strong>s, Bibel, Ökumene, Kirchenbild«<br />

in <strong>der</strong> Woltersburger Mühle 2021. Eine Kooperation<br />

<strong>der</strong> Evangelischen <strong>Frieden</strong>sarbeit und <strong>der</strong> Woltersburger<br />

Mühle.<br />

Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden,<br />

in denen ihr früher gewandelt seid nach <strong>der</strong> Art dieser<br />

Welt, unter dem Mächtigen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Luft herrscht, nämlich<br />

dem Geist, <strong>der</strong> zu dieser Zeit am Werk ist in den<br />

Kin<strong>der</strong>n des Ungehorsams. Unter ihnen haben auch wir<br />

alle einst unser Leben geführt in den Begierden unsres<br />

Fleisches und taten den Willen des Fleisches und <strong>der</strong> Vernunft<br />

und waren Kin<strong>der</strong> des Zorns von Natur wie auch<br />

die an<strong>der</strong>n.<br />

Aber Gott, <strong>der</strong> reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner<br />

großen Liebe, mit <strong>der</strong> er uns geliebt hat, auch uns, die<br />

wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht<br />

– aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit<br />

auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus,<br />

damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen<br />

Reichtum seiner Gnade durch seine Güte<br />

gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr gerettet<br />

durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe<br />

ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.<br />

125


Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu<br />

guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin<br />

wandeln sollen.<br />

Darum denkt daran, dass ihr, die ihr einst nach dem<br />

Fleisch Heiden wart und »Unbeschnittenheit« genannt<br />

wurdet von denen, die genannt sind »Beschneidung«, die<br />

am Fleisch mit <strong>der</strong> Hand geschieht, dass ihr zu jener<br />

Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht<br />

Israels und den Bundesschlüssen <strong>der</strong> Verheißung<br />

fremd; daher hattet ihr keine Hoffnung und wart ohne<br />

Gott in <strong>der</strong> Welt. Jetzt aber in Christus Jesus seid ihr,<br />

die ihr einst fern wart, nahe geworden durch das Blut<br />

Christi.<br />

Denn er ist unser Friede, <strong>der</strong> aus beiden eins gemacht hat<br />

und hat den Zaun abgebrochen, <strong>der</strong> dazwischen war, indem<br />

er durch sein Fleisch die Feindschaft wegnahm. Er<br />

hat das Gesetz, das in Gebote gefasst war, abgetan, damit<br />

er in sich selber aus den zweien einen neuen Menschen<br />

schaffe und <strong>Frieden</strong> mache und die beiden versöhne mit<br />

Gott in einem Leib durch das Kreuz, indem er die Feindschaft<br />

tötete durch sich selbst. Und er ist gekommen und<br />

hat im Evangelium <strong>Frieden</strong> verkündigt euch, die ihr fern<br />

wart, und Friede denen, die nahe waren. Denn durch ihn<br />

haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum<br />

Vater.<br />

So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, son<strong>der</strong>n<br />

Mitbürger <strong>der</strong> Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut<br />

auf den Grund <strong>der</strong> Apostel und Propheten, da Jesus Christus<br />

<strong>der</strong> Eckstein ist, auf welchem <strong>der</strong> ganze Bau ineinan<strong>der</strong>gefügt<br />

wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.<br />

126


Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung<br />

Gottes im Geist.<br />

Epheser 2,1–22<br />

Ausgangsthese: Epheser 2,1–22 ist ein hochpolitischer Text<br />

und höchst relevant für eine Kirche auf dem Weg <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

und des <strong>Frieden</strong>s.<br />

Der Text wird in <strong>der</strong> Auslegungsgeschichte als eine grundsätzliche<br />

Erwägung zum Verhältnis von Juden und Heiden<br />

betrachtet, die ihren Hintergrund in einer konkreten Ausein -<br />

an<strong>der</strong>setzung in <strong>der</strong> Gemeinde in Ephesus hatte. Dabei ging<br />

es auch um die Frage, wie es mit <strong>der</strong> Einhaltung des jüdischen<br />

Gesetzes gehalten werden sollte.<br />

Der Epheserbrief stammt nicht von Paulus. Vielmehr versuchen<br />

Schüler des Paulus nun in ihrem Schreiben an die<br />

Gemeinde im Sinne des Apostels Paulus, diesen Streit zu<br />

befrieden. Sie malen das Bild einer Kirche, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Unterschied<br />

zwischen Juden und Nichtjuden anerkannt, aber<br />

nicht zu Lasten <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en aufgelöst wird. Vielmehr<br />

werden Juden und Heiden in einem Leib integriert.<br />

Durch Christus geschehen die Befriedung und die Einheit<br />

<strong>der</strong> Gemeinde.<br />

Die Tragweite und Sprengkraft dieses Textes aber wird<br />

erst deutlich, wenn die Bedeutung über diese mögliche konkrete<br />

Situation hinaus betrachtet wird, <strong>der</strong> politische Kontext<br />

in den Blick gerät und dadurch die Gemeinde in Ephesus<br />

zur exemplarischen Gestalt einer Kirche des <strong>Frieden</strong>s wird.<br />

Was ich nun vortrage, ist nicht vollkommen neu, sollte<br />

aber im Hinblick auf unser Thema stärker ins Licht gerückt<br />

werden. Ich will es in vier Punkten entfalten:<br />

127


1. Pax romana und pax christi<br />

Der Tag [...] hat <strong>der</strong> ganzen Welt ein andres Aussehen gegeben;<br />

sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem<br />

nun Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Glück<br />

aufgestrahlt wäre ...<br />

Richtig urteilt, wer in diesem Geburtstag den Anfang des<br />

Lebens und aller Lebenskräfte für sich erkennt; nun endlich<br />

ist die Zeit vorbei, da man es bereuen musste, geboren zu sein.<br />

Von keinem an<strong>der</strong>n Tage empfängt <strong>der</strong> einzelne und die<br />

Gesamtheit soviel Gutes als von diesem allen gleich glücklichen<br />

Geburtstage.<br />

Die Vorsehung, die über allem im Leben waltet, [...] hat<br />

diesen Mann zum Heile <strong>der</strong> Menschen mit solchen Gaben<br />

erfüllt, dass sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern<br />

als Heiland gesandt hat; aller Fehde wird er ein Ende machen<br />

und alles herrlich ausgestalten ...<br />

In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen <strong>der</strong> Vorfahren<br />

[...] erfüllt; er hat nicht nur die früheren Wohltäter <strong>der</strong><br />

Menschheit sämtlich übertroffen, son<strong>der</strong>n es ist auch unmöglich,<br />

dass je ein Größerer käme.<br />

Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich<br />

knüpfenden Freudenbotschaften [Evangelien] heraufgeührt. 1<br />

Man könnte diesen Text für einen Ausschnitt aus einem apokryphen<br />

Evangelium o<strong>der</strong> Brief halten. Tatsächlich ist es ein<br />

1<br />

Adolf von Harnack, Als die Zeit erfüllet war, in: Ders., Reden und<br />

Aufsätze, Erster Band, Gießen 1906, S. 301–306.<br />

128


Text, <strong>der</strong> von zwei Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts in Priene, in<br />

<strong>der</strong> heutigen Westtürkei, entdeckten Steintafeln stammt. Es<br />

ist sozusagen eine steinerne Ausgabe eines Amtsblattes, in<br />

dem die Geburt des Kaiser Augustus gefeiert wird und gleichzeitig<br />

bekannt gemacht wird, dass damit eine neue Zeitrechnung<br />

beginnt. Denn Augustus führt im Jahr 8 v. Chr. mit diesen<br />

Tafeln überall im Reich eine Korrektur des julianischen<br />

Kalen<strong>der</strong>s ein, <strong>der</strong> nun in einigen Provinzen mit seinem<br />

e i ge n e n G e b u r t s t a g a m 2 3 . S e pte m b e r b e g i n n t u n d i h n z u<br />

e i n e m u n ü b e r b i et b a r e n H e r r s c h e r u n d K a i s e r m a c h t . Un d<br />

diese Nachricht wird als »Evangelium«, als gute Nachricht<br />

und Freudenbotschaft, bezeichnet.<br />

So gehört dieser Text in den Kontext <strong>der</strong> pax Augustana,<br />

des <strong>Frieden</strong>s des Augustus, bzw. später in den umfassenden<br />

pax romana. Von diesem <strong>Frieden</strong> aber wissen wir, wie er<br />

zustande kommt und wie weit dieses <strong>Frieden</strong>sverständnis<br />

von wahrem <strong>Frieden</strong> entfernt ist. Denn es ist ein militärisch<br />

erzwungener <strong>Frieden</strong>, <strong>der</strong> zu Unterdrückung und Ausbeutung<br />

führte. Es war nach vielen blutigen Bürgerkriegen auch<br />

tatsächlich eine Zeit des relativen <strong>Frieden</strong>s, gestärkt und zusammengehalten<br />

durch militärische Macht, eine starke Verwaltung<br />

und einen starken Kaiserkult. Das Reich expandierte,<br />

und es gab wirtschaftlichen Aufschwung – allerdings<br />

um den Preis <strong>der</strong> Freiheit für viele.<br />

Die gesamte Weihnachtsgeschichte des Lukas und auch<br />

das gesamte Doppelwerk des Lukas muss auf diesem Hintergrund<br />

gelesen werden – was ich hier nicht im Einzelnen<br />

ausführen kann. Aber auch <strong>der</strong> Text aus dem Epheserbrief<br />

ist auf diesem Hintergrund zu lesen. Wer den Text von den<br />

Tafeln von Priene im Ohr hat und die Verse 4 bis 10 des<br />

129


2. Kapitels liest, bekommt schon eine Ahnung von dem Gegenbild,<br />

das <strong>der</strong> Epheserbrief zeichnet:<br />

Und es gipfelt in <strong>der</strong> Zuspitzung »Christus ist unser<br />

Friede«. In diesen Worten wird ein kategorialer Unterschied<br />

deutlich zwischen dem Kaiser in Rom und dem Christus<br />

Gottes, zwischen pax romana und pax christi. Das entfaltet<br />

sich in unserem Text weiter.<br />

2. Advent Christi<br />

Habe ich eben gesagt, dass die pax romana eine Zeit des relativen<br />

<strong>Frieden</strong>s darstellte, so war ein Konflikt nie gelöst –<br />

nämlich <strong>der</strong> mit dem jüdischen Volk, also <strong>der</strong> Konflikt von<br />

Juden und Heiden, von Jerusalem und Rom, von Kaiserkult<br />

und Gottesverehrung des einen Gottes Israels – ein Konflikt,<br />

<strong>der</strong> weit über einen Gemeindekonflikt über Glaubensfragen<br />

hinausging.<br />

Der Konflikt, <strong>der</strong> ja in den Evangelien und auch manchen<br />

Briefen deutlich hervortritt, eskaliert im »Jüdischen Krieg«,<br />

<strong>der</strong> im Jahr 66 n. Chr. begann, im Jahr 70 mit <strong>der</strong> Eroberung<br />

Jerusalems und <strong>der</strong> Zerstörung des Tempels endete und sein<br />

endgültiges Ende erst mit <strong>der</strong> Eroberung Massadas am Toten<br />

Meer im Jahr 73/74 fand.<br />

Kaiser Titus zog daraufhin in einem Triumphal-Advent<br />

in Rom als Sieger ein und wurde gefeiert – <strong>der</strong> Titusbogen<br />

im Forum Romanum erinnert daran –, obwohl es gar kein<br />

äußerer Feind war, son<strong>der</strong>n ein Bürgerkrieg. Daran ist auch<br />

zu erkennen, wie sehr dieser Konflikt das Reich und auch<br />

die Kirche beschäftigte.<br />

130


III Gerechter <strong>Frieden</strong> und <strong>der</strong> Krieg<br />

in <strong>der</strong> Ukraine<br />

»... beten und das Gerechte tun und auf Gottes<br />

Zeit warten.«<br />

Dietrich Bonhoeffer<br />

Der Angriff <strong>der</strong> russischen Truppen auf die Ukraine am<br />

24. Februar 2022 stellt einen eklatanten Bruch des Völkerrechts<br />

mit weitreichenden Folgen dar. Tausende Opfer des<br />

militärischen Angriffs sind zu beklagen. Die Zahl <strong>der</strong> getöteten<br />

Zivilisten – unter ihnen zahlreiche Kin<strong>der</strong> – und die<br />

zerstörten Wohnhäuser machen deutlich, dass Russland<br />

nicht nur militärische Einrichtungen beschießt, son<strong>der</strong>n gezielt<br />

zivile Opfer in Kauf nimmt und absichtlich angreift,<br />

um Angst zu schüren und die Souveränität und Integrität<br />

<strong>der</strong> Ukraine zu zerstören. Die offene Drohung mit dem Einsatz<br />

nuklearer Waffen stellt eine Eskalation dar, die alle vertraglichen<br />

Vereinbarungen <strong>der</strong> letzten Jahrzehnte infrage<br />

stellt. Der Krieg in <strong>der</strong> Nähe von Atomkraftwerken erhöht<br />

das Risiko einer atomaren Katastrophe. Der Krieg bedroht<br />

und zerstört nicht nur die Ukraine, son<strong>der</strong>n das Leben vieler<br />

Menschen in an<strong>der</strong>en Erdteilen. Es kommt zu einem Ernteausfall<br />

bei Getreide und an<strong>der</strong>en Gütern, <strong>der</strong> zum Hungertod<br />

vieler Menschen insbeson<strong>der</strong>e auf dem afrikanischen<br />

Kontinent führt.<br />

Die Bil<strong>der</strong> aus Butscha, Mariupol und an<strong>der</strong>en Orten <strong>der</strong><br />

Ukraine sind deutliche Indizien für Kriegsverbrechen und<br />

lassen befürchten, dass es auch in an<strong>der</strong>en Regionen <strong>der</strong><br />

137


Ukraine zu solchen Verbrechen gekommen ist. Die Schwelle<br />

zum Völkermord scheint überschritten.<br />

Ein Angriffskrieg<br />

Die Situation ist eindeutig: Der Krieg Russlands gegen die<br />

Ukraine ist ein Angriffskrieg ohne irgendeine Bedrohung<br />

Russlands durch die Ukraine. Alle von <strong>der</strong> russischen Seite<br />

genannten Begründungen haben sich als falsch und Lüge<br />

erwiesen. Es gab keinen Angriff <strong>der</strong> Ukraine auf russisches<br />

Territorium, die Kämpfe an <strong>der</strong> Frontlinie zu den besetzten<br />

Gebieten im Osten <strong>der</strong> Ukraine stellen ebenfalls keinen Angriff<br />

auf Russland dar, beschränken sich vielmehr auf ukrainisches<br />

Gebiet. Daran än<strong>der</strong>t auch die russische Anerkennung<br />

<strong>der</strong> besetzten Gebiete als eigenständige Staaten nichts.<br />

Eine vermeintliche Bedrohung Russlands durch die NATO-<br />

Osterweiterung ist kein legitimer Grund für einen Angriff<br />

auf die Ukraine. Daran än<strong>der</strong>n auch die offensichtlichen<br />

Fehler <strong>der</strong> NATO in <strong>der</strong> Osterweiterung und die Versäumnisse<br />

in <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit Russland nach 1990 nichts.<br />

Allerdings müssen diese Entwicklungen aufgearbeitet werden,<br />

will man in <strong>der</strong> im Moment nicht absehbaren Zukunft<br />

wie<strong>der</strong> mit einem wie auch immer aufgestellten Russland<br />

an einer <strong>Frieden</strong>sordnung arbeiten.<br />

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird mit ungeheurer<br />

Brutalität geführt, die offensichtlich ihre Vorbereitung<br />

in den russischen Kriegen in Tschetschenien und in<br />

Syrien gefunden hat. Die Bil<strong>der</strong> aus Mariupol gleichen denen<br />

aus Grosny und Aleppo.<br />

138


Die Ukraine hat als Ausnahme vom Gewaltverbot das<br />

Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 <strong>der</strong> Charta <strong>der</strong><br />

Vereinten Nationen und hat entschieden, sich mit allen ihr<br />

zur Verfügung stehenden Mitteln – auch militärischen – zu<br />

verteidigen und die staatliche Souveränität und Integrität zu<br />

bewahren. Dabei muss sie sich auch an die Bestimmungen<br />

des Völkerrechts halten, z. B. im Umgang mit Gefangenen.<br />

Der Krieg in <strong>der</strong> Ukraine ist nicht nur eine friedensethische<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, son<strong>der</strong>n stellt auch geistlich-theologisch<br />

einen tiefen Einschnitt dar, <strong>der</strong> zur Umkehr und zum<br />

Handeln ruft.<br />

Buße tun und zur Buße rufen<br />

Der Krieg, das Leid <strong>der</strong> dort gebliebenen Menschen und <strong>der</strong><br />

Flüchtenden und die scheinbare Ausweglosigkeit aus <strong>der</strong><br />

Gewalt stellt mich als Christenmenschen und uns als Kirche<br />

zuallererst vor die Frage, ob wir die Zeichen <strong>der</strong> Zeit (Lk<br />

24,54ff.) 1 richtig wahrgenommen und gedeutet haben, ob<br />

wir genug getan haben und tun, um den Krieg o<strong>der</strong> weitere<br />

Gewalt zu verhin<strong>der</strong>n. Wir Christenmenschen und Verantwortliche<br />

in <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland – für<br />

meine Person muss ich es jedenfalls so sagen – müssen ein-<br />

1<br />

»Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen.<br />

Und es kommt so. Und wenn <strong>der</strong> Südwind weht, dann sagt ihr:<br />

Es wird heiß. Und es trifft ein. Ihr Heuchler! Das Aussehen <strong>der</strong> Erde<br />

und des Himmels könnt ihr deuten, warum könnt ihr dann die Zeichen<br />

dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von<br />

selbst das rechte Urteil?« (Lk 12,54ff.).<br />

139


sehen und bekennen, dass wir wie viele an<strong>der</strong>e auch die<br />

Situation falsch eingeschätzt haben. Wir müssen einsehen<br />

und bekennen, dass wir nicht genug auf Schwestern und<br />

Brü<strong>der</strong> gehört haben, die uns auf die Gefahr eines Krieges<br />

hingewiesen und uns vor Russland unter Putins Herrschaft<br />

gewarnt haben. Wir müssen einsehen und bekennen, dass<br />

wir uns in den vergangenen Jahren sehr stark mit den Kriegen<br />

in Afghanistan und Mali, in Libyen und Syrien beschäftigt<br />

haben, die gewalttätigen Konflikte und Kriege in Tschet -<br />

schenien, Georgien, <strong>der</strong> Ukraine und an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n des<br />

Ostens und ihre Folgen nicht genug wahrgenommen und<br />

daraus Konsequenzen gezogen haben.<br />

Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir an dem<br />

Tanz um das goldene Kalb <strong>der</strong> wirtschaftlichen Vorteile teilgenommen<br />

und davon profitiert haben und nicht vehement<br />

genug wi<strong>der</strong>sprochen haben, als es immer nur um wirtschaftliche<br />

Interessen und den eigenen Wohlstand ging, <strong>der</strong> nicht<br />

gefährdet werden durfte – und so gerade in Deutschland in<br />

eine beson<strong>der</strong>e Abhängigkeit von Russland gekommen sind.<br />

Jesus Christus ruft uns und die Kirchen in <strong>der</strong> Ökumene<br />

zur Umkehr. Wir müssen einsehen und bekennen, dass es<br />

uns nicht gelungen ist, in <strong>der</strong> Ökumene die Grenzen zu<br />

überwinden und ein gemeinsames Zeugnis für den <strong>Frieden</strong><br />

zu geben. Beson<strong>der</strong>s schmerzlich ist die Haltung des russischen<br />

Teils <strong>der</strong> Russisch-Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats<br />

und ihres Patriarchen, die in einer unheilvollen<br />

Vermischung des Geistlichen und Politischen die Narrative<br />

des russischen Präsidenten unterstützt und verstärkt.<br />

Jesus Christus ruft zur Umkehr auch <strong>der</strong> politisch Verantwortlichen<br />

auf, zuallererst den russischen Präsiden-<br />

140


ten und seine Regierung. Das wäre die Aufgabe <strong>der</strong> Russisch-Orthodoxen<br />

Kirche Moskauer Patriarchats in diesen<br />

Tagen.<br />

Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit<br />

»... aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte<br />

tun und auf Gottes Zeit warten.« 2 Diesen Dreiklang<br />

hat Dietrich Bonhoeffer als Aufgabe <strong>der</strong> Kirche in seinem<br />

Brief aus dem Gefängnis im Mai 1944 beschrieben. Dieser<br />

Dreiklang sollte auch das kirchliche Reden und Handeln<br />

prägen.<br />

In <strong>der</strong> Ökumene machen wir die Erfahrung, wie wichtig<br />

den Schwestern und Brü<strong>der</strong> unser Gebet ist. Es hält die Solidarität<br />

mit den Leidenden wach, schärft die Aufmerksamkeit<br />

für ihre Situation und bringt sie vor Gott. Indem wir im<br />

Gebet eine Sprache für das Leid <strong>der</strong> Betroffenen und auch<br />

für unsere eigenen Ängste und die eigene Ohnmacht finden,<br />

können wir die Schrecknisse aussprechen, ohne daran zu<br />

zerbrechen, zu resignieren o<strong>der</strong> in Feindbil<strong>der</strong> zu verfallen.<br />

Die Kraft des Gebetes ist eine Kraft des Wi<strong>der</strong>stands und<br />

<strong>der</strong> Resilienz in schweren Zeiten. Deshalb gilt in diesen Zeiten<br />

<strong>der</strong> Ruf, nicht vom Gebet abzulassen (Eph 6,18) 3 . In dieses<br />

Gebet sind auch diejenigen eingeschlossen, die z. B. in<br />

2<br />

Dietrich Bonhoeffer, Wi<strong>der</strong>stand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen<br />

aus <strong>der</strong> Haft, hrsg. v. Eberhard Bethge, München 1977, S. 328.<br />

3<br />

»Betet allezeit mit allem Bitten und Flehen im Geist und wacht dazu<br />

mit Beharrlichkeit und Flehen für alle Heiligen« (Eph 6,18).<br />

141


Russland o<strong>der</strong> in Belarus gegen die Machthaber und ihre<br />

Politik demonstrieren und arbeiten.<br />

Mit dem Gebet geht das konkrete Tun einher. Humanitäre<br />

Hilfe für die Menschen in <strong>der</strong> Ukraine in jeglicher Form gehört<br />

genauso dazu wie die Unterstützung <strong>der</strong> Flüchtenden.<br />

Die Spendenbereitschaft ist groß, und Organisationen und<br />

einzelne Menschen setzen sich in vorbildlicher und selbstloser<br />

Weise ein. Die Zahl <strong>der</strong> Flüchtenden und die Geschwindigkeit<br />

<strong>der</strong> Fluchtbewegung aus <strong>der</strong> Ukraine, die<br />

selbst die Situation im Zweiten Weltkrieg übersteigt, stellt<br />

eine enorme Herausfor<strong>der</strong>ung dar. Dabei geht es in <strong>der</strong><br />

Langzeitperspektive um eine dauerhafte und nachhaltige<br />

Aufnahme und Unterstützung <strong>der</strong> Flüchtenden. Es geht in<br />

<strong>der</strong> Folge um Kita- und Schulplätze, Arbeitsmöglichkeiten<br />

und Wohnungen. Wachsam müssen wir bleiben für mögliche<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen in <strong>der</strong> eigenen Gesellschaft, dürfen<br />

nicht zulassen, dass extremistische Gruppen darauf ihr<br />

Süppchen kochen, und auch nicht, dass Spaltungen zwischen<br />

Menschen aus <strong>der</strong> Ukraine und Russland in unserem<br />

Land verschärft werden.<br />

Beten und Tun des Gerechten geschieht in <strong>der</strong> Hoffnung<br />

auf das sich durchsetzende Reich Gottes, das schon jetzt<br />

unter uns ist und seine Spuren hinterlässt. Es ist ein Reich<br />

des <strong>Frieden</strong>s und <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Diese Hoffnung lebendig<br />

zu halten, ist Aufgabe <strong>der</strong> Kirche. Es ist etwas vollkommen<br />

an<strong>der</strong>es als eine Hoffnung auf einen Sieg im Krieg. Es<br />

ist mehr als eine Vertröstung auf das Jenseits. Es ist auf<br />

schmerzliche Weise weniger als die vollständige Herstellung<br />

von <strong>Frieden</strong> und Gerechtigkeit jetzt und heute. Vielmehr ist<br />

diese Hoffnung eine kritische Kraft gegenüber allen Macht-<br />

142


ansprüchen weltlicher Herrschaften und schützt vor jeg -<br />

licher Form <strong>der</strong> Gewaltverherrlichung o<strong>der</strong> eines falsch verstandenen<br />

Heldentums. Die Hoffnungsperspektive geht<br />

schon jetzt über die gegenwärtige Situation hinaus und bedenkt<br />

die Folgen <strong>der</strong> Kriege und die heute kaum vorstellbaren,<br />

aber dennoch notwendigen Versöhnungsprozesse.<br />

<strong>Frieden</strong>sethisch orientieren<br />

Was ist das »Gerechte« in dieser konkreten Situation des<br />

Krieges in <strong>der</strong> Ukraine? Diese Frage führt uns in die friedensethische<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung auf dem Hintergrund des<br />

Leitbilds des »Gerechten <strong>Frieden</strong>s«, wie es in <strong>der</strong> Evangelischen<br />

Kirche in Deutschland formuliert worden ist. 4<br />

Dabei geht es nicht darum, vermeintlich gewohnte Positionen<br />

<strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sethik grundsätzlich zu überdenken, eine<br />

grundlegende Reform <strong>der</strong> <strong>Frieden</strong>sethik anzustreben o<strong>der</strong><br />

gar eine neue <strong>Frieden</strong>sethik zu entwickeln. Es geht darum,<br />

4<br />

Aus Gottes <strong>Frieden</strong> leben – für gerechten <strong>Frieden</strong> sorgen. Eine Denkschrift<br />

des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh<br />

2007. Referenzdokumente sind auch: Kirche auf dem Weg <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

und des <strong>Frieden</strong>s. Kundgebung <strong>der</strong> 12. Synode <strong>der</strong> Evangelischen<br />

Kirche in Deutschland auf ihrer 6. Tagung o<strong>der</strong> auch die<br />

Reihe »Gerechter <strong>Frieden</strong>« aus dem Konsultationsprozess zum gerechten<br />

<strong>Frieden</strong>: »Orientierungswissen zum gerechten <strong>Frieden</strong> – Im<br />

Spannungsfeld zwischen ziviler gewaltfreier Konfliktprävention und<br />

rechtserhalten<strong>der</strong> Gewalt«, dokumentiert in »Gerechter <strong>Frieden</strong>«,<br />

hrsg. v. Ines-Jacqueline Werkner und Sarah Jäger, 22 Bände, Wiesbaden<br />

2018–2022.<br />

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<strong>Renke</strong> <strong>Brahms</strong>, Jahrgang 1956, studierte Evangelische Theologie in<br />

Münster, Tübingen und Göttingen. Er war Gemeindepfarrer in Bremen<br />

und Pastor für Religionspädagogik beim Landesverband Evangelischer<br />

Tageseinrichtungen für Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bremischen Evangelischen Kirche.<br />

Von 2007 bis 2019 war er Schriftführer (Leiten<strong>der</strong> Geistlicher) <strong>der</strong> Bremischen<br />

Evangelischen Kirche, von 2019 bis 2021 Theologischer Direktor<br />

<strong>der</strong> Evangelischen Wittenbergstiftung und von 2008 bis 2021 neben -<br />

amtlicher <strong>Frieden</strong>sbeauftragter des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland (EKD).<br />

Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong><br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

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Jede Verwertung außerhalb <strong>der</strong> Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

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insbeson<strong>der</strong>e für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover -<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: Steffi Glauche, Leipzig<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07340-5 // eISBN (PDF) 978-3-374-07341-2<br />

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