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Glaube hinter Gittern - Ev. Konferenz für Gefängnisseelsorge in ...

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<strong>Ev</strong>. <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

<strong>in</strong> Deutschland<br />

Mitteilungsblatt<br />

Nr. 78 – Oktober 2010<br />

Der neue Vorstand der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> wurde am 29. April dieses<br />

Jahres auf der Bundeskonferenz <strong>in</strong> Waldfischbach-Burgalben gewählt: Barbara Zöller (JVA Butzbach/Angehörigenarbeit),<br />

Schatzmeister<strong>in</strong>; Ulli Schönrock (JVA Meppen), Vorsitzender; Richard<br />

Strodel (JVA München-Stadelheim), stellv. Vorsitzender, Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit; Birgit<br />

Braun (JVKH Asperg und SoThA BW), stellv. Vorsitzende, Schwerpunkt ökumenische Kontakte;<br />

Jens-Peter Preis (JVA Siegburg), Schriftführer. (Von l<strong>in</strong>ks nach rechts. Foto vom 30. September<br />

2010 <strong>in</strong> Hannover). Barbara Zöller und Birgit Braun s<strong>in</strong>d aus dem alten Vorstand wiedergewählt worden.


Editorial Mart<strong>in</strong> Faber Seite 1<br />

Aus dem Vorstand Jens-Peter Preis Seite 2<br />

Rückblicke auf die Jahrestagung<br />

Eröffnung der Jahrestagung 26.4.2010 Seite 4<br />

Mart<strong>in</strong> Faber<br />

Ansprache des neugewählten Vorsitzenden 29.4.2010 Seite 5<br />

Ulli Schönrock<br />

Grußwort des rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen Justizm<strong>in</strong>isters Seite 7<br />

Dr. He<strong>in</strong>z Georg Bamberger<br />

Grußwort des Kirchenpräsidenten der evangelischen Kirche der Pfalz Seite 9<br />

Kirchenpräsident Christian Schad<br />

Grußwort des Kirchenpräsidenten der EKHN Seite 11<br />

Dr. Volker Jung<br />

Grußwort des Präses der Synode der EKHN und Vorsitzenden der EKS Seite 13<br />

Prof. Dr. Karl He<strong>in</strong>rich Schäfer<br />

Grußwort aus dem Kirchenamt der EKD Seite 15<br />

Oberkirchenrat Dr. Erhard Berneburg<br />

Unter dem Feigenbaum Seite 16<br />

Elmo Due<br />

Aus Rumänien Seite 18<br />

Eg<strong>in</strong>ald N.F. Schlattner<br />

„H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt“ – <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> den sieben Bergen Seite 19<br />

Hanna Haupt<br />

epd Landesdienst Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz Seite 21<br />

Dr. Alexander Lang<br />

Impressionen von der Jahrestagung Seite 22<br />

Aus Arbeitskreisen und Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaften – <strong>in</strong>ternational<br />

Schottlandexkursion der AG UHaft im Juni 2010 Seite 25<br />

Frank Baumeister<br />

Cornton Vale – Prayer June 2010 Seite 27<br />

AK Restorativ Justice Seite 28<br />

Friedrich Schwenger<br />

„Forgotten People“ - Bericht von der IV. IPCA Worldwide <strong>Konferenz</strong> Seite 30<br />

Felix Walter<br />

Bericht und Deklaration der IPCAWeltkonferenz Seite 35<br />

Forgotten people – forgotten colleagues<br />

IPCA democracy – look<strong>in</strong>g for transparency Seite 37<br />

Mischi Philippi<br />

H<strong>in</strong>ter <strong>Gittern</strong>, und dennoch… Seite 39<br />

Eg<strong>in</strong>ald Schlattner, Rumänien<br />

Zu Recht und Gesetz<br />

Neuregelung der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR Seite 40<br />

Mart<strong>in</strong> Faber<br />

Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs <strong>für</strong> Menschenrechte zur SV Seite 41<br />

Greifswalder Appell zur Reform der Sicherungsverwahrung Seite 43<br />

Anmerkungen zum Gesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses – SeelGG Seite 47<br />

Harro Hefendehl<br />

Emerititreffen 2010 im Kloster Schöntal Hans Freitag Seite 51<br />

Buchbesprechung Prof. Dr. Re<strong>in</strong>hart Lempp Seite 55<br />

H<strong>in</strong>weis auf zwei Ausstellungen Seite 56<br />

Gedichte Ulrich Tietze Seite 57<br />

Impressum Seite 57<br />

Term<strong>in</strong>e Seite 58


Editorial<br />

Mart<strong>in</strong> Faber<br />

Um dieses Mitteilungsblatt zu lesen, muss man<br />

und frau sich Zeit nehmen – nicht alle<strong>in</strong> wegen<br />

des Umfangs. In den vergangenen Monaten seit<br />

der Jahrestagung hat sich soviel ereignet, oder<br />

besser, ist soviel entschieden worden oder muss<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Entscheidung vorbereitet werden, dass<br />

dies eben auch <strong>in</strong> den Beiträgen zu diesem Mitteilungsblatt<br />

zum Ausdruck kommt.<br />

Der neue Vorstand – er stellt sich mit den neuen<br />

und den wiedergewählten Mitgliedern <strong>in</strong> Bild<br />

und gleichzeitig mit e<strong>in</strong>em ersten Arbeitsbericht<br />

vor.<br />

Der Rückblick auf die Jahrestagung <strong>in</strong> Waldfischbach/Burgalben<br />

nimmt breiten Raum e<strong>in</strong>.<br />

Nicht nur die Grußworte, die alle Anwesenden<br />

<strong>in</strong>haltlich als ausgesprochen po<strong>in</strong>tiert und gehaltvoll<br />

empfanden, sollen den an der Teilnahme<br />

geh<strong>in</strong>derten Mitgliedern empfohlen se<strong>in</strong>.<br />

Der Beitrag von Elmo Due aus Dänemark und<br />

der Abschiedsgruß von Hanna Haupt sowie die<br />

Absage des Kollegen Eg<strong>in</strong>ald Schlattner aus<br />

Rumänien geben unterschiedliche Facetten dieser<br />

Tagung weiter.<br />

Die Notwendigkeit der Diskussion der Menschenrechte<br />

gerade im Bereich des Justizvollzuges<br />

hat <strong>in</strong> diesem Jahr mit Bezug zu Deutschland<br />

neue Nahrung bekommen. Die Entscheidung<br />

des EGMR zur Sicherungsverwahrung, die<br />

daraus folgenden öffentlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

um Entlassungen sowie die zukünftige<br />

Ausgestaltung bzw. Regelung der Sicherungsverwahrung<br />

darf auch uns als Teil von Kirche<br />

und Gesellschaft nicht unberührt lassen. Die<br />

große Stellungnahme der <strong>Konferenz</strong> und ihrer<br />

Schwesterorganisationen „Gegen Menschenverwahrung“<br />

aus dem Jahr 2003 hat vieles, was<br />

der Gerichtshof <strong>für</strong> nicht rechtmäßig erklärt hat,<br />

damals benannt, nun ist das Thema wieder zurück.<br />

Der Bevollmächtigte des Rates der EKD<br />

sowie das Katholische Büro <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> haben <strong>für</strong><br />

die Erstellung e<strong>in</strong>er Kommentierung der Gesetzesvorhaben<br />

der Bundesregierung zur Neuregelung<br />

der Sicherungsverwahrung die Vertreter<br />

der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> und Straffälligenhilfen<br />

zur Beratung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> h<strong>in</strong>zugezogen. Um die<br />

Mitglieder der <strong>Konferenz</strong> zu diesem Thema auf<br />

dem Laufenden zu halten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Ausgabe<br />

die Pressemitteilung des EGMR zu der<br />

Entscheidung der Kammer, der Greifswalder<br />

Appell, den der bekannte Krim<strong>in</strong>ologe Frieder<br />

Dünkel verantwortet und den viele KollegInnen<br />

aus der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> unterschrieben haben,<br />

sowie e<strong>in</strong>e Buchbesprechung zum Fall<br />

„Pommerenke“, den se<strong>in</strong> Autor <strong>in</strong> den gleichen<br />

Zusammenhang stellt, dokumentiert. Wir werden<br />

im nächsten MB voraussichtlich weitere<br />

Texte zu diesem Thema veröffentlichen.<br />

Ebenfalls auf der IPCA Worldwide Tagung <strong>in</strong><br />

Stockholm spielte das Thema „Menschenrechte“<br />

e<strong>in</strong>e prägende Rolle. Wer s<strong>in</strong>d die<br />

„Forgotten People“? Welche Rechte haben sie?<br />

Vivien Stern und Andrew Coyle haben auf der<br />

IPCA Tagung e<strong>in</strong>en deutlichen H<strong>in</strong>weis gegeben<br />

- es s<strong>in</strong>d die gesellschaftlichen M<strong>in</strong>derheiten,<br />

die Bildungsfernen und die Armen, die, die<br />

<strong>in</strong> Teilen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen<br />

s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d die Mehrheit <strong>in</strong> den<br />

Gefängnissen, ob es nun Roma <strong>in</strong> Rumänien,<br />

Aborig<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Australien oder Schwarze <strong>in</strong> den<br />

USA s<strong>in</strong>d. Der IPCA Arbeitskreis hat im Nachgang<br />

die These diskutiert, ob das geme<strong>in</strong>same<br />

Bemühen um die E<strong>in</strong>haltung der Menschenrechte<br />

<strong>in</strong> den Gefängnissen dieser Welt und die Suche<br />

nach der besseren Alternative (restorative<br />

justice) e<strong>in</strong>e Klammer ist, die konfessionelle<br />

Grenzen überw<strong>in</strong>den kann. Da passte es gut,<br />

dass während des IPCA Arbeitskreistreffens <strong>in</strong><br />

Hannover der neue Referent <strong>für</strong> Menschenrechte<br />

im Kirchenamt der EKD sich vorstellte und<br />

Zusammenarbeit angeboten hat.<br />

So richtet dieses Mitteilungsblatt den Blick nach<br />

außen, über die Grenzen unseres Landes und<br />

se<strong>in</strong>es Justizsystems h<strong>in</strong>aus.<br />

Gleichzeitig sollen die nicht aus dem Blickfeld<br />

geraten, die e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

tätig waren, die es auch <strong>in</strong> diesem Jahr geschafft<br />

haben, e<strong>in</strong> Stück von der beruflichen Geme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>in</strong> die Zeit nach dem Beruf mit h<strong>in</strong>über zu<br />

nehmen und uns Aktive daran teilhaben lassen.<br />

Auch die von Frau Roziewski bei Ersche<strong>in</strong>en<br />

des letzten Mitteilungsblattes gestartete Umfrage,<br />

welche/r der Ehemaligen denn gerne weiter<br />

das Mitteilungsblatt erhalten möchte, und die


überraschend positive Reaktion darauf zeigt<br />

deren/eure Anteilnahme an den aktuellen Themen<br />

und Problemen der <strong>Gefängnisseelsorge</strong>.<br />

So freut es mich und me<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> und<br />

Freund<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong>, die wir das Mitteilungsblatt<br />

und den Reader <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

im Auftrag des Vorstandes geme<strong>in</strong>sam gestalten,<br />

wie treffend das Lied der IPCA Worldwide<br />

<strong>Konferenz</strong> vor fünf Jahren <strong>in</strong> Kanada war und<br />

ist: We are not alone – wir s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong> -<br />

auch wenn es manchmal <strong>in</strong> der alltäglichen Arbeit<br />

so ersche<strong>in</strong>t.<br />

Aus dem Vorstand<br />

Von Jens-Peter Preis, Schriftführer<br />

Seit den Vorstandswahlen auf der Bundeskonferenz<br />

im April ist der neue Vorstand im Dienst.<br />

Mit regem E-Mailkontakt und bisher zwei Vorstandssitzungen<br />

haben wir versucht, uns zusammenzuraufen.<br />

Es geht darum e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen<br />

Arbeitsstil <strong>für</strong> die vor uns liegende<br />

Amtszeit zu f<strong>in</strong>den. Da drei von fünf Vorstandsmitgliedern<br />

neu im Amt s<strong>in</strong>d, ist dies natürlich<br />

aufwendiger als wenn nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelner<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gespieltes<br />

Team h<strong>in</strong>zukommt.<br />

Dabei versuchen wir<br />

e<strong>in</strong>e gute Balance zu<br />

f<strong>in</strong>den dar<strong>in</strong>: wir wollen<br />

Bewährtes aus dem<br />

alten Team weiterführen<br />

(und nicht neu erf<strong>in</strong>den<br />

müssen) und<br />

gleichzeitig die Ideen<br />

und Impulse der Neuen<br />

aufnehmen und <strong>für</strong> die<br />

Vorstandsarbeit fruchtbar<br />

machen.<br />

In der ersten Sitzung g<strong>in</strong>g es zunächst darum,<br />

unser Arbeitsfeld zu sichten und die Zuständig-<br />

2<br />

keiten <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb des Vorstands<br />

wahrzunehmen oder neu zu klären. Es gibt so<br />

viele, die sich um bestimmte Themen kümmern<br />

oder Verantwortung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en bestimmten Aufgabenbereich<br />

übernommen haben und damit die<br />

Vorstandsarbeit dankenswerterweise unterstützen.<br />

Vier seien an dieser Stelle herausgegriffen:<br />

- Dr. Tobias Müller-Monn<strong>in</strong>g, der als rechtspolitischer<br />

Beobachter weiterh<strong>in</strong> beratend<br />

an den Vorstandssitzungen teilnimmt,<br />

- Angelika Knaak-Sareyko, die neu von Dieter<br />

Wever die Beauftragung <strong>für</strong> Fortbildung<br />

übernommen hat,<br />

- und Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong> und Mart<strong>in</strong> Faber,<br />

die sich nun um das Mitteilungsblatt kümmern<br />

wollen.<br />

Zur Septembersitzung hatten wir uns auf Anregung<br />

von Oberkirchenrat Dr. Berneburg mit ihm<br />

im Kirchenamt der EKD <strong>in</strong> Hannover verabredet.<br />

Im Sommer erreichte uns allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Information, dass durch e<strong>in</strong>e Verschiebung der<br />

Zuständigkeiten im Kirchenamt nicht mehr Dr.<br />

Berneburg, sondern ab sofort Oberkirchenrät<strong>in</strong><br />

Inken Richter-Rethwisch unsere Ansprechpartner<strong>in</strong><br />

sei. So trafen wir am 30. September mit<br />

beiden zusammen. Von Dr. Berneburg haben<br />

wir uns verabschiedet. Besonderer Dank g<strong>in</strong>g an<br />

ihn nochmals <strong>für</strong> die Unterstützung bei der Herausgabe<br />

unserer Leitl<strong>in</strong>ien. Dr. Berneburg sagte<br />

zu, <strong>für</strong> uns noch den Umzug der Fachbibliothek<br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong> von Celle <strong>in</strong>s Kirchenamt<br />

nach Hannover noch <strong>in</strong><br />

diesem Jahr vertraglich<br />

abzuwickeln. Alle Weichen<br />

se<strong>in</strong>en hier<strong>für</strong> gestellt.<br />

Damit soll <strong>für</strong><br />

Interessierte aus unseren<br />

Reihen e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facherer<br />

Zugriff auf die<br />

Literatur ermöglicht<br />

werden.<br />

Bei Oberkirchenrät<strong>in</strong><br />

Richter-Rethwisch liegt<br />

nun - als e<strong>in</strong> Bereich<br />

ihres Dienstauftrages -<br />

die Zuständigkeit <strong>für</strong> alle Felder der Seelsorge<br />

(ausgenommen Seelsorge <strong>in</strong> der Bundeswehr


und der Bundespolizei). Wir haben sie gebeten,<br />

sich bei unserer nächsten Bundeskonferenz der<br />

großen Runde vorzustellen. E<strong>in</strong>e ihrer Aufgaben<br />

ist es zurzeit, die „Ständige <strong>Konferenz</strong> Seelsorge“<br />

zu <strong>in</strong>stallieren, deren Geschäfte sie künftig<br />

führen soll. Da es im Rahmen des Reformprozesses<br />

nicht zur E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es „Zentrums<br />

Seelsorge“ auf EKD-Ebene gekommen ist (parallel<br />

den Zentren <strong>für</strong> Mission, Gottesdienst und<br />

Predigtkultur), soll diese <strong>Konferenz</strong> die Plattform<br />

se<strong>in</strong>, um die sich immer weiter ausdifferenzierenden<br />

Seelsorgefelder zusammenzubr<strong>in</strong>gen<br />

und das Thema „Seelsorge“ auf EKD-<br />

Ebene präsent zu halten. Dort soll nicht nur<br />

nach Berührungspunkten gesucht, sondern auch<br />

nach aktuellen Themen und politischen Dimensionen<br />

von Seelsorge gefragt werden. Auch<br />

Überlegungen zu Ausbildungsstandards werden<br />

e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Bei der erstmaligen Besetzung,<br />

die durch den Rat der EKD <strong>in</strong>zwischen<br />

erfolgt ist, ist die <strong>Gefängnisseelsorge</strong> vertreten:<br />

Matthias Ste<strong>in</strong>leitner wird aus unsern Reihen<br />

mitarbeiten.<br />

Das andere große Thema dieses Sommers und<br />

unserer Sitzung: die anstehenden Änderungen<br />

bei der Sicherungsverwahrung. Unsere <strong>Konferenz</strong><br />

(vertreten durch Mart<strong>in</strong> Faber, Adrian<br />

Tillmanns und Ulli Schönrock) ist mit der Katholischen<br />

<strong>Konferenz</strong> und der <strong>Ev</strong>. <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong><br />

Straffälligenhilfe im Sommer vom Bevollmächtigten<br />

des Rates der EKD bei der Bundesregierung<br />

und vom Katholischen Büro nach Berl<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>geladen worden. Mit Hilfe der dort erzielten<br />

Diskussionsergebnisse verfassen der EKD-<br />

Bevollmächtigte und das Katholische Büro <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Stellungnahme und leiten diese ans<br />

Justizm<strong>in</strong>isterium, das um Rückmeldungen gebeten<br />

hatte. Unser Vorstand hat beschlossen,<br />

noch e<strong>in</strong> eigenes knappes Positionspapier zu<br />

verfassen und anlassbezogen zu veröffentlichen.<br />

Dieses soll sich perspektivisch an den beiden<br />

Vorgaben des Bundesgerichtshofes orientieren:<br />

Bemühung um Resozialisierung und das Abstandsgebot<br />

der SV zum Strafvollzug.<br />

Ansonsten bleibt anzumerken, dass aus Sicht<br />

der EKD der Status der <strong>Konferenz</strong> aus steuerlichen<br />

Gründen ke<strong>in</strong>er Satzungsänderung bedarf<br />

und so die ausgezahlten Mittel von uns weiterh<strong>in</strong><br />

bewirtschaftet werden können.<br />

Zum anderen hat der Vorstand beschlossen, die<br />

von Peter Rassow erstellte Sammlung der unsere<br />

Arbeit betreffenden Gesetzestexte und Landeskirchlichen<br />

Vere<strong>in</strong>barungen, den sogenannten<br />

„Blauen Rassow“, zu aktualisieren und zu<br />

digitalisieren. Dazu s<strong>in</strong>d die Regionalkonferenzen<br />

gebeten, wichtige aufzunehmende Texte,<br />

die <strong>in</strong> ihren Regionen und Landeskirchen <strong>in</strong> den<br />

letzten Jahren <strong>in</strong> Kraft gesetzt worden s<strong>in</strong>d, zu<br />

recherchieren und Barbara Zöller zuzuleiten.<br />

Wie aus dem oben Berichteten zu ersehen, haben<br />

wir im ersten halben Jahr schon e<strong>in</strong>en recht<br />

weiten Bogen geschlagen von <strong>in</strong>neren zu äußeren<br />

Themen, von Strukturellem zum Inhaltlichen.<br />

Auch wenn noch manches holpert <strong>in</strong> unserer<br />

Kommunikation, die ja jetzt von Meppen <strong>in</strong><br />

Niedersachsen über den Schwarzwald bis nach<br />

München reichen muss: die Perspektive <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />

motivierte und ordentliche Zusammenarbeit ist<br />

da!<br />

Rückblicke auf die Jahrestagung<br />

3


Eröffnung der Jahrestagung<br />

26. April 2010<br />

Mart<strong>in</strong> Faber, Waldfischbach-Burgalben<br />

Liebe Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen!<br />

Ich begrüße Euch hier im Bildungshaus Maria<br />

Rosenberg zur 83. Jahrestagung unserer <strong>Konferenz</strong><br />

im Pfälzer Wald.<br />

E<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong>s Thema, das lautet:<br />

H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt: das Feigenblatt, e<strong>in</strong><br />

notdürftiger Schutz um etwas zu verbergen, das<br />

nicht zu verbergen ist und doch irgendwann ans<br />

Licht kommt.<br />

Schuld: wir begegnen Tätern (<strong>in</strong> der Regel<br />

Männern), die Schuld auf sich geladen haben,<br />

wir hören derzeit von Tätern, die nicht <strong>h<strong>in</strong>ter</strong><br />

Gitter kommen, weil sie bisher durch ihre gesellschaftliche<br />

Stellung geschützt waren.<br />

Scham: manche von uns begegnen Opfern im<br />

Gefängnis (häufig aber nicht nur Frauen), deren<br />

Schuld auch die Folge von erlittenem Leid und<br />

Unrecht ist, oder die zum<strong>in</strong>dest mit ihm <strong>in</strong> Zusammenhang<br />

steht. Ihre Scham konserviert ihre<br />

Qual<br />

Beschämung: Es sche<strong>in</strong>t, als sei dies e<strong>in</strong> anderes<br />

Wort <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e erneute Verletzung durch altes<br />

Unrecht, durch Bloßstellung.<br />

Wir haben e<strong>in</strong> Programm vor uns, von dessen<br />

Titel wir nicht ahnen konnten, <strong>in</strong> welchem Kontext<br />

gesellschaftlicher Diskussion er derzeit stehen<br />

würde. Aber wir können und werden uns<br />

dem nicht entziehen,<br />

- weil auch wir Kirche s<strong>in</strong>d und ke<strong>in</strong>e Berechtigung<br />

haben, auf die andere zu verweisen,<br />

erleichtert oder gar schadenfroh.<br />

- weil uns Täter und Opfer im Knast oft <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Person begegnen<br />

4<br />

- weil der Knast wie e<strong>in</strong> Feigenblatt der Gesellschaft<br />

vor ungelösten Problemen ist und<br />

wir dort arbeiten<br />

- weil die Hoffnung auf Versöhnung derzeit<br />

manchmal zynisch kl<strong>in</strong>gt und wir sie doch<br />

nicht aufgeben wollen, besonders <strong>für</strong> die<br />

Menschen, <strong>für</strong> die wir verantwortlich s<strong>in</strong>d,<br />

ohne die zu vergessen, die draußen Opfer<br />

geworden s<strong>in</strong>d<br />

Mögen uns diese Tage helfen, die richtigen<br />

Worte zu f<strong>in</strong>den, wenn wir später, zurück an je<br />

unserem Ort, daraufh<strong>in</strong> befragt werden.<br />

Wie alle vier Jahre so ist auf dieser Tagung die<br />

Mitgliederversammlung e<strong>in</strong>e Wahlversammlung.<br />

E<strong>in</strong>ige werden <strong>für</strong> erhaltenes Vertrauen<br />

danken, andere erneut oder erstmals um Vertrauen<br />

werben. Wahlen s<strong>in</strong>d spannend, sie entscheiden<br />

mit über die Zukunft unserer <strong>Konferenz</strong>.<br />

Ich bitte Euch hier schon um Engagement<br />

<strong>für</strong> die <strong>Konferenz</strong>, die auch das Sprachrohr derjenigen<br />

se<strong>in</strong> soll, die uns um Begleitung <strong>in</strong> ihrer<br />

jeweiligen Lebenssituation bitten.<br />

No estamos solos, das Lied der IPCA <strong>Konferenz</strong><br />

2005 <strong>in</strong> Kanada, Wir s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e<br />

Hoffnung ist mir schon vorher <strong>in</strong> allen me<strong>in</strong>en<br />

20 bisherigen Jahrestagungen e<strong>in</strong>e hilfreiche<br />

Stärkung <strong>für</strong> die (all)tägliche Arbeit gewesen<br />

und soll es auch hier wieder se<strong>in</strong>. Danke an dieser<br />

Stelle der vorbereitenden Regionalkonferenz,<br />

dass dies wieder so se<strong>in</strong> kann.<br />

Bevor wir <strong>in</strong> diese Tagung starten noch e<strong>in</strong> letztes,<br />

e<strong>in</strong> Anhängsel – nur der Ideensuche <strong>für</strong> diese<br />

Begrüßung geschuldet.<br />

Am vergangenen Samstag fand hier im Haus<br />

e<strong>in</strong>e Veranstaltung mit folgendem Titel statt:<br />

Die Oper „Nabucco“ von Guiseppe Verdi als<br />

<strong>Glaube</strong>nsdrama. Trotz bürgerlicher Erziehung,<br />

wohl auch wegen anderer Musikvorlieben,<br />

kannte ich auch diese Oper nicht. Aber als Leiter<br />

des Gefangenenchores <strong>in</strong> Weiterstadt natürlich<br />

den H<strong>in</strong>weis auf den Gefangenenchor von<br />

Nabucco. Ich habe nun gelernt: es ist das Lied<br />

der versklavten Hebräer nach dem Sieg Baby-


lons, bevor sie <strong>in</strong> die Gefangenschaft geführt<br />

werden. Es ist e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Liebes- und<br />

Macht- und Missbrauchsdrama.<br />

Das Lied ist Ausdruck der Sehnsucht nach Heimat<br />

und Freiheit. Wohl zuerst rückwärtsgewandt<br />

<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, <strong>in</strong> der Interpretation vielleicht<br />

auch Ausdruck der Sehnsucht nach zukünftiger<br />

Freiheit, von Gott geschenkt, mit uns<br />

erkämpft.<br />

Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügeln,<br />

Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen!<br />

Lasst euch nieder auf sonnigen Hügeln,<br />

Dort, wo Zions Türme blicken <strong>in</strong>s Tal!<br />

Um die Ufer des Jordan zu grüßen,<br />

Zu den teuren Gestaden zu eilen,<br />

Zur verlorenen Heimat, der süßen,<br />

Zieht Gedanken, l<strong>in</strong>dert der Knechtschaft Qual!<br />

Warum hängst du so stumm an der Weide,<br />

Goldene Harfe der göttlichen Seher?<br />

Spende Trost, süßen Trost uns im Leide<br />

und erzähle von glorreicher Zeit.<br />

(Pahlen 1999, 99).<br />

Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht,<br />

lass' dich nieder <strong>in</strong> jenen Gefilden,<br />

wo <strong>in</strong> Freiheit wir glücklich e<strong>in</strong>st lebten,<br />

wo die Heimat uns'rer Seele - ist.<br />

…<br />

Was die Seher uns e<strong>in</strong>st weissagten,<br />

wer zerschlug uns die tröstliche Kunde?<br />

Die Er<strong>in</strong>n'rung alle<strong>in</strong> gibt uns Stärke<br />

zu erdulden, was uns hier bedroht.<br />

Was an Qualen und Leid unser harret,<br />

uns´rer Heimat bewahr'n wir die Treue!<br />

Unser letztes Gebet gilt dir, teure Heimat,<br />

leb wohl teure Heimat, leb wohl.<br />

…<br />

Diese Sehnsucht soll uns begleiten, beim Beten,<br />

beim Nachdenken, beim Zuhören, bei unseren<br />

Entscheidungen und nicht zuletzt beim Feiern<br />

und Tanzen.<br />

Ansprache des neugewählten<br />

Vorsitzenden der evangelischen<br />

<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

<strong>in</strong> Deutschland<br />

Ulli Schönrock<br />

zur Eröffnung des öffentlichen Abends am 29.<br />

April 2010 im Diakonissenmutterhaus <strong>in</strong> Speyer<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern<br />

und Brüder!<br />

Ich begrüße Sie ganz herzlich zum öffentlichen<br />

Abend auf der Jahrestagung der <strong>Ev</strong>angelischen<br />

<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

und danke der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche der<br />

Pfalz, der ev. Kirche <strong>in</strong> Hessen und Nassau und<br />

der ev. Kirche im Rhe<strong>in</strong>land dass sie die Tagung<br />

und diesen Abend ermöglicht haben.<br />

Ich freue mich, dass Sie, die Gäste, unserer E<strong>in</strong>ladung<br />

gefolgt s<strong>in</strong>d:<br />

Ich begrüße:<br />

• Den Kirchenpräsidenten der evangelischen<br />

Kirche der Pfalz, Herrn Christian Schad,<br />

und den Kirchenpräsidenten der evangelischen<br />

Kirche <strong>in</strong> Hessen/Nassau, Herrn Dr.<br />

Volker Jung,<br />

• Den M<strong>in</strong>ister der Justiz des Landes Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz,<br />

Herrn Dr. He<strong>in</strong>z Georg Bamberger,<br />

• Vom M<strong>in</strong>isterium der Justiz des Landes<br />

Saarland, Herrn Dr. Manfred Kost,<br />

• Den Präses der Synode der EKHN und<br />

Vorsitzenden der evangelischen <strong>Konferenz</strong><br />

<strong>für</strong> Straffälligenhilfe, Herrn Prof. Dr. Karl-<br />

He<strong>in</strong>rich Schäfer,<br />

• Den <strong>für</strong> die <strong>Gefängnisseelsorge</strong> zuständigen<br />

Referenten im Kirchenamt der EKD, Herrn<br />

OKR Dr. Erhard Berneburg,<br />

• Vom M<strong>in</strong>isterium der Justiz des Landes<br />

Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz, Herrn Gerhard Meiborg,<br />

• Herrn OKR Manfred Sutter von der evangelischen<br />

Kirche der Pfalz,<br />

• Herrn OKR Christoph Schuster von der<br />

EKHN,<br />

5


• Den Beauftragen der evangelischen Kirchen<br />

bei der Landesregierung von Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz,<br />

Herr Kirchenrat Dr. Jochen<br />

Buchter,<br />

• Den Vertreter des Vorstandes unserer kath.<br />

Schwesterkonferenz, Herrn Pastoralreferent<br />

Philip Fuchs,<br />

• Die Leiter<strong>in</strong> der JVA Saarbrücken, Frau ltd.<br />

Reg-Dir. Birgit Junker,<br />

• Den Leiter der JVA Frankenthal, Herrn ltd.<br />

Reg-Dir. Klaus Schipper,<br />

• Den Leiter der JVA Zweibrücken, Herrn<br />

ltd. Reg-Dir. Albert Stürmer,<br />

• Den Leiter der JSA Schifferstadt, Herrn ltd.<br />

Reg-Dir. Klaus Beyerle.<br />

Grüße vom Vertreter der Bundesvere<strong>in</strong>igung der<br />

Anstaltsleiter, Herrn Jürgen Buchholz. Er ist<br />

leider erkrankt und kann deswegen nicht hier<br />

se<strong>in</strong>. Gute Besserung!<br />

• Ich begrüße an dieser Stelle noch e<strong>in</strong>mal<br />

unsere ausländischen Gäste, <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen<br />

und -seelsorger aus Österreich,<br />

aus Ungarn und Tschechien, aus den Niederlanden<br />

und Frankreich, aus Dänemark<br />

und Schweden.<br />

• Pfarrer Dr. Werner Schwartz, Leiter des<br />

Diakonissenmutterhauses,<br />

Herzlichen Dank <strong>für</strong> die freundliche Aufnahme,<br />

Ober<strong>in</strong> Wiehn, Isabelle.<br />

Und ich begrüße, soweit erschienen auch die<br />

Vertreter der Presse.<br />

Bevor wir zu den Grußworten kommen, erlauben<br />

Sie mir e<strong>in</strong>ige Sätze zum Thema unserer<br />

diesjährigen Bundeskonferenz.<br />

Sie steht unter dem Thema „… <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> dem Feigenblatt“<br />

- Schuld, Scham, Beschämung.<br />

Auf verschiedene Arten haben wir Zugang gesucht<br />

und ich möchte sagen auch gefunden, zu<br />

e<strong>in</strong>em zutiefst menschlichen Affekt, über den<br />

man eigentlich nicht redet.<br />

Obwohl jeder und jede von uns diese menschliche<br />

Regung nicht nur kennt, sondern auch schon<br />

am eigenen Leib erfahren hat, ist sie so etwas<br />

wie das „Aschenputtel unter den Gefühlen“:<br />

man redet nicht darüber, zeigt sie auch nicht,<br />

verbirgt sie und hält sie geheim. Ja, Scham<br />

6<br />

sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> unserer Gesellschaft selbst etwas geworden<br />

zu se<strong>in</strong>, dessen sich viele schämen.<br />

Oft verbirgt sie sich <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> anderen Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />

wie Zorn, Wut, Gewalt, Angst,<br />

Neid und wird oft mit Schuld verwechselt.<br />

Mit e<strong>in</strong>er sehr gelungenen, und emotional ansprechenden<br />

E<strong>in</strong>führung, <strong>in</strong> der KollegInnen<br />

Bilder und Texte Inhaftierter als multimediale<br />

Collage zusammengeführt haben, haben wir uns<br />

auf das Thema e<strong>in</strong>gestimmt.<br />

Theologisch nahm uns Prof. Dr. Michael<br />

Klessmann unter dem Thema „Ich armer, elender,<br />

sündiger Mensch…“ mit unter den Focus<br />

von Christentum, Schuld und Scham.<br />

Dr. Stephan Marks vom Freiburger Institut <strong>für</strong><br />

Menschenrechtspädagogik hat aus sozialwissenschaftlich–psychologischer<br />

Sicht beschrieben<br />

und erläutert, wie Scham entsteht, welche<br />

Auswirkungen sie hat und wie wir konstruktiv<br />

mit ihr umgehen können. Dabei wurde deutlich,<br />

welche unterschiedlichen Ausprägungen von<br />

Scham es gibt, und dass viele zwischenmenschliche<br />

Konflikte auf diesem H<strong>in</strong>tergrund gesehen<br />

werden müssen.<br />

In unterschiedlichen Arbeitsgruppen haben wir<br />

uns mit Scham und Schuld <strong>in</strong> unserem Arbeitsfeld<br />

<strong>in</strong> der Arbeit mit Inhaftierten ause<strong>in</strong>andergesetzt.<br />

Alles an Erfahrungen und Informationen wiederzugeben,<br />

ist natürlich an dieser Stelle nicht<br />

möglich. Deshalb möchte ich nur dazu ermuntern,<br />

an dieser Stelle „schamlos“ zu se<strong>in</strong>, und<br />

sich nicht zu scheuen die Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen<br />

anzusprechen.<br />

Ich selber habe an der AG 2 teilgenommen unter<br />

dem Titel „Du gehörst doch auch zu dem da“<br />

– Wenn Angehörige sich schämen und habe<br />

dabei e<strong>in</strong>drücklich erfahren was es bedeutet, wie<br />

sehr es Menschen beschämt, wenn sie von der<br />

Inhaftierung e<strong>in</strong>es Angehörigen betroffen s<strong>in</strong>d.<br />

In diesem Zusammenhang kam im Gespräch <strong>in</strong><br />

der AG die Situation von <strong>in</strong>haftierten schwange-


en Frauen <strong>in</strong> den Blick. Dabei wurde deutlich,<br />

dass die Bundesrepublik e<strong>in</strong>es der wenigen<br />

Länder ist, <strong>in</strong> denen schwangere <strong>in</strong>haftierte<br />

Frauen meist <strong>in</strong> Hand- und/oder Fußfesseln ihre<br />

K<strong>in</strong>der zur Welt br<strong>in</strong>gen müssen; lediglich im<br />

Kreissaal, direkt unter der Geburt werden die<br />

Fesseln gelöst. E<strong>in</strong> zutiefst beschämender und<br />

aus me<strong>in</strong>er Sicht unhaltbarer Zustand, der dr<strong>in</strong>gend<br />

unserer Aufmerksamkeit bedarf.<br />

„H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt“ - Schuld, Scham und<br />

Beschämung.<br />

Wir können dieser tabuisierten Emotion nur<br />

angemessen begegnen, wenn wir ihr e<strong>in</strong> Gesicht<br />

geben und sie aus der Sprachlosigkeit herausholen.<br />

Ich b<strong>in</strong> überzeugt, dass die Jahrestagung dazu<br />

e<strong>in</strong>en wesentlichen Beitrag geleistet hat und ich<br />

danke allen, die sich dem gestellt haben.<br />

Und nun freue ich mich nach der nächsten Musik<br />

auf die Grußworte. Vielen Dank.<br />

Grußwort des rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen<br />

Justizm<strong>in</strong>isters am öffentlichen<br />

Abend <strong>in</strong> Speyer<br />

Dr. He<strong>in</strong>z Georg Bamberger<br />

Unkorrigiertes Redemanuskript<br />

Sperrfrist: Redebeg<strong>in</strong>n<br />

Es gilt das gesprochene Wort<br />

Menschen <strong>in</strong> Haft<br />

______________________________________<br />

Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender Pfarrer<br />

Schönrock,<br />

sehr geehrte Herren Kirchenpräsidenten Schad<br />

und Dr. Jung,<br />

sehr geehrter Herr Präses der Synode der <strong>Ev</strong>angelischen<br />

Kirche <strong>in</strong> Hessen und Nassau, Professor<br />

Schäfer,<br />

verehrte, liebe Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorger,<br />

me<strong>in</strong>e sehr geehrten Damen und Herren,<br />

ich freue mich, heute hier <strong>in</strong> Speyer zu Ihnen<br />

sprechen zu dürfen. Herzlich Willkommen! Wir<br />

freuen uns und s<strong>in</strong>d geehrt, dass Sie Ihre Jahrestagung<br />

- die Jahrestagung der <strong>Ev</strong>angelischen<br />

<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> - <strong>in</strong> der Pfalz<br />

abhalten.<br />

Ihr Thema heißt "H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt<br />

…Scham … Schuld … Beschämung".<br />

I<br />

Die Gefängnisse: Das bedeutet Untersuchungshaftvollzug,<br />

Jugendstrafvollzug, Erwachsenenstrafvollzug.<br />

Kühle technische Begriffe.<br />

Immer geht es um Menschen <strong>in</strong> Unfreiheit. Die<br />

Zwecke s<strong>in</strong>d verschieden: Der Untersuchungshaftvollzug<br />

dient der Sicherung des Strafverfahrens,<br />

der Jugendstrafvollzug der Erziehung und<br />

Prävention, der Erwachsenenstrafvollzug dem,<br />

was wir Resozialisierung nennen. Immer geht es<br />

auch um die Sicherheit der Gesellschaft.<br />

Zuallererst s<strong>in</strong>d Menschen betroffen. Menschen<br />

mit unterschiedlichen seelischen Beschädigungen,<br />

Menschen mit katastrophalen Lebensläufen,<br />

schwache Menschen, meist schwierige<br />

Menschen, manchmal auch gefährliche Menschen.<br />

Wir, das heißt die Justizverwaltung, die Leitungen<br />

der Gefängnisse, die Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und<br />

Mitarbeiter dort, wir bemühen uns. Wir versuchen<br />

beispielsweise Resozialisierung. Das ist<br />

e<strong>in</strong>e schwierige Angelegenheit.<br />

Gewiss: Wir haben heute - wenige - neue, moderne<br />

Gefängnisse; hier <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz <strong>in</strong><br />

Schifferstadt die Jugendstrafanstalt, <strong>in</strong> Rohrbach<br />

die neue Anstalt, e<strong>in</strong>e solche jetzt auch <strong>in</strong> Wittlich.<br />

Weitere Neubauten sollen folgen. Überwiegend<br />

haben wir aber Gefängnisse, die aus<br />

dem späten 19. oder dem frühen 20. Jahrhundert<br />

stammen und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e ganz andere Art von<br />

Vollzug gebaut worden s<strong>in</strong>d.<br />

Für Resozialisierung ist wichtig, dass die Menschen<br />

<strong>in</strong> Haft sich durch Ausbildung, durch Arbeit,<br />

auch durch e<strong>in</strong>en strukturierten Tag, an die<br />

7


Verhältnisse <strong>in</strong> Freiheit gewöhnen können. Geht<br />

das <strong>in</strong> unseren Anstalten? Wie viel Demütigung<br />

empf<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Gefangener mit oder bei manchem,<br />

das er dort vorf<strong>in</strong>det und erlebt und an<br />

dem er wenig zu ändern vermag.<br />

Heute s<strong>in</strong>d die Länder zuständig <strong>für</strong> die Gesetzgebung<br />

zum Strafvollzug. Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz hat<br />

<strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong> neues Jugendstrafvollzugsgesetz,<br />

e<strong>in</strong> neues Gesetz zum Vollzug der Untersuchungshaft.<br />

Wir s<strong>in</strong>d dabei, im Verbund mit<br />

anderen Ländern, <strong>für</strong> den Erwachsenenstrafvollzug<br />

e<strong>in</strong> neues Gesetz zu schaffen. Wir bemühen<br />

uns um e<strong>in</strong>en humanen und modernen Strafvollzug.<br />

Da<strong>für</strong> bemühen wir uns besonders um Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />

und Mitarbeiter mit der richtigen<br />

menschenfreundlichen Haltung.<br />

8<br />

II<br />

Seelsorge im Gefängnis ist wichtig, ist me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens zentral, bleibt bedeutend, gew<strong>in</strong>nt<br />

zukünftig an Bedeutung. Das hat auch damit zu<br />

tun, dass der ganze Strafprozess <strong>in</strong> sich problematisch<br />

ist. Konkret birgt er beständig die Gefahr<br />

von Beschädigungen.<br />

1) Wir veranstalten <strong>in</strong> zwei Wochen <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Tagung zu dem Thema "Schuld und<br />

Strafe - Neue Fragen". Dabei geht es um die<br />

Frage von Konsequenzen <strong>für</strong> das Strafrecht, den<br />

Strafprozess und die Strafpraxis aus neuen Erkenntnissen<br />

der Erforschung des menschlichen<br />

Gehirns. Wir wissen heute, dass <strong>in</strong> vielen Fällen<br />

Gewaltstraftaten, aber auch K<strong>in</strong>desmissbrauch,<br />

sich erklären aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher<br />

Ursachen: Das s<strong>in</strong>d genetische Dispositionen,<br />

vor allem aber Misshandlung, beständige<br />

Missachtung, Missbrauch <strong>in</strong> früher<br />

K<strong>in</strong>dheit. Alles, was <strong>in</strong> späteren Jahren geschieht,<br />

hat auch zu tun mit den sehr frühen<br />

Prägungen unseres zentralen Nervensystems,<br />

das ja vielleicht doch auch e<strong>in</strong> Sitz der Seele ist.<br />

Es geht um Störungen und Verletzungen,<br />

manchmal schon vor der Geburt, nicht selten<br />

nach der Geburt, durch das Verhalten von Menschen,<br />

auch durch Verhältnisse, denen wir aus-<br />

gesetzt s<strong>in</strong>d. Im Alter zwischen 15 und 18 Jahren<br />

ist der Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wesentlichen Zügen,<br />

Verhaltensweisen, Charaktermerkmalen<br />

weitgehend festgelegt.<br />

Wir sehen <strong>in</strong> vielen Strafverfahren die desaströsen<br />

Lebensläufe der Beschuldigten, die lange<br />

vor Vollendung des 14. Lebensjahres beg<strong>in</strong>nen<br />

und wir müssen oft sagen, dass dieser Mensch<br />

geprägt worden ist durch andere, und er selbst<br />

<strong>für</strong> diese Prägung nichts kann.<br />

2) Sie stellen <strong>in</strong> Ihrer Tagung die Frage der<br />

Schuld, der Scham und der Beschämung. Der<br />

Schuldbegriff hat gewiss auch e<strong>in</strong>en theologischen<br />

Bezug. Juristisch war Schuld immer e<strong>in</strong><br />

Phänomen, bei dem das Anders-Handeln-<br />

Können e<strong>in</strong>e Rolle spielte. Wir haben heute die<br />

Erkenntnis, dass sich diese Frage im konkreten<br />

Fall oft nicht lösen lässt. Es gibt nicht selten<br />

Sachverhalte, bei denen wir annehmen müssen<br />

oder jedenfalls begründete Zweifel haben, dass<br />

der Beschuldigte - aus se<strong>in</strong>en Prägungen heraus<br />

- überhaupt nicht anders handeln konnte. Aber<br />

wir bestrafen ihn dann doch.<br />

Wir schreiben ihm die Schuld sozusagen zu.<br />

Schuld, so sagen heute Strafrechtswissenschaftler,<br />

ist Verletzung der Norm, mehr nicht. Wozu<br />

dient aber dann das Strafrecht? Viele sagen, wir<br />

brauchen die Sanktion <strong>für</strong> den Bestand der Gesellschaft.<br />

Sie nennen das positive Generalprävention.<br />

Vieles spricht da<strong>für</strong>, dass dieses so ist.<br />

Aber ist der, den es getroffen hat und den wir<br />

dann e<strong>in</strong>sperren, nicht auch e<strong>in</strong> Opfer? Was<br />

bedeutet dann aber Scham? Und wer muss sich<br />

schämen?<br />

Es gibt nicht selten Urteile, <strong>in</strong> denen gegen den<br />

Verurteilten e<strong>in</strong>e längere Freiheitsstrafe und<br />

anschließend Sicherungsverwahrung verhängt<br />

wird. Was soll hier die Freiheitsstrafe bewirken,<br />

wenn das Gericht von Anfang an e<strong>in</strong>e fortdauernde<br />

Gefährlichkeit annimmt. Das hängt damit<br />

zusammen, dass, wie wir auch wissen, die Möglichkeit<br />

von Resozialisierung begrenzt ist, weil<br />

erwachsene Menschen nur <strong>in</strong> Grenzen noch änderbar<br />

s<strong>in</strong>d.


3) Wir müssen uns sehr grundsätzlich fragen:<br />

Was ist eigentlich Wahrheit im Strafprozess?<br />

Was erfahren wir dort wirklich - <strong>in</strong> den wenigen<br />

Tagen e<strong>in</strong>er Hauptverhandlung - über den Angeklagten,<br />

se<strong>in</strong> Leben, se<strong>in</strong>e Vorstellungen,<br />

se<strong>in</strong>e Motive - und was s<strong>in</strong>d Konstruktion und<br />

Ritualisierung, nicht nur im Erkenntnisverfahren,<br />

sondern auch im Vollzug.<br />

Wir müssen uns auch fragen, wenn es schon<br />

nicht der wahre Sachverhalt ist, über den wir<br />

entscheiden, sondern es letztlich um das Normative<br />

und die Beurteilung geht: Was ist dieses<br />

Normative und wer bestimmt über die Norm?<br />

Wir müssen uns nach dem S<strong>in</strong>n der Freiheitsstrafe<br />

fragen.<br />

Der Strafprozess und der Strafvollzug s<strong>in</strong>d ohne<br />

e<strong>in</strong>e empathische, den Menschen, ihren Nöten<br />

und ihren Leiden zugewandte E<strong>in</strong>stellung der<br />

Richter<strong>in</strong>nen und Richter und der Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />

und Mitarbeiter im Vollzug nicht gut vorstellbar.<br />

III<br />

Zum Schluss möchte ich Ihnen, liebe Seelsorger<strong>in</strong>nen<br />

und Seelsorger, herzlich danken. Ich<br />

danke Ihnen allen, die Sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen<br />

und belastenden Aufgabe tätig s<strong>in</strong>d. Ich darf den<br />

rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorgern<br />

<strong>für</strong> Ihre <strong>Gefängnisseelsorge</strong> danken.<br />

Ihrer aller Tätigkeit, Ihre Aufgabe ist wichtig.<br />

Es gibt im Gefängnis und <strong>in</strong> den dort herrschenden<br />

Verhältnissen der Unfreiheit überhaupt<br />

nichts Wichtigeres als die Sorge <strong>für</strong> die Seele.<br />

Sie erleben jeden Tag sehr nahe worum es geht<br />

und worauf es ankommt, wo die Nöte s<strong>in</strong>d, wo<br />

im Gespräch geholfen werden kann und wo Hilfe<br />

und Begleitung auch <strong>für</strong> den Umkreis des<br />

Gefangenen, <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Angehörigen etwa notwendig<br />

s<strong>in</strong>d. Sie stehen schließlich auch <strong>für</strong> das<br />

Gespräch mit unseren Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und<br />

Mitarbeitern zur Verfügung. Auch diese haben<br />

e<strong>in</strong>en schweren und verantwortungsvollen<br />

Dienst.<br />

Ihre Tätigkeit als Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorger<br />

ist auch deshalb so wertvoll, weil sie nicht<br />

aus der Justiz kommt. Sie lernen die Verhältnisse<br />

<strong>in</strong> den Gefängnissen kennen, aber Sie kommen<br />

von außen. Sie haben sich e<strong>in</strong>en anderen<br />

Blick bewahrt. Das gibt Ihnen im Verhältnis zu<br />

den Menschen <strong>in</strong> Haft auch e<strong>in</strong>e andere und<br />

höhere Autorität. Und es begründet Vertrauen.<br />

Ihnen allen noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> herzliches Dankeschön<br />

und<br />

vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.<br />

Grußwort des Kirchenpräsidenten<br />

der evangelischen Kirche der<br />

Pfalz<br />

Kirchenpräsident Christian Schad<br />

Me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herren,<br />

liebe Schwestern und Brüder!<br />

Ich freue mich, Sie heute hier, <strong>in</strong> Speyer, der<br />

Stadt der Protestation, zu begrüßen!<br />

Mündige Laien haben sich im April 1529 auf<br />

dem 2. Speyerer Reichstag selbstbewusst geäußert<br />

und damit Geschichte geschrieben. „In Sachen<br />

Gottes Ehr und unser Seelenheil und Seligkeit<br />

belangend, muss e<strong>in</strong> jeglicher <strong>für</strong> sich<br />

selber vor Gott stehen und Rechenschaft geben.“<br />

Das ist der Kernsatz der Protestation vom<br />

20. April 1529. Zu deren Gedenken übrigens<br />

wurde 1904 die Speyerer Gedächtniskirche erbaut.<br />

Sechs Fürsten und die Vertreter von vierzehn<br />

freien Reichsstädten protestierten gegen den<br />

Beschluss des Reichstags, mit dem das Wormser<br />

Edikt wieder <strong>in</strong> Kraft gesetzt und die Anhänger<br />

der lutherischen Reformation nach e<strong>in</strong>er<br />

Phase der Duldung doch noch mundtot gemacht<br />

werden sollten.<br />

9


E<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit nahm selbstbewusst das Recht<br />

<strong>für</strong> sich <strong>in</strong> Anspruch, sich unter Berufung auf<br />

das eigene, an das <strong>Ev</strong>angelium gebundene Gewissen,<br />

gegen die Mehrheitsentscheidung <strong>in</strong><br />

<strong>Glaube</strong>nsd<strong>in</strong>gen auszusprechen. Sie setzten damit<br />

e<strong>in</strong>e Entwicklung <strong>in</strong> Gang, die allmählich<br />

der religiösen Toleranz und dann auch der <strong>in</strong>dividuell<br />

verstandenen Gewissens- und <strong>Glaube</strong>nsfreiheit<br />

den Weg ebnete.<br />

Die Freiheit des Gewissens, das ist e<strong>in</strong>e Fragestellung,<br />

mit der Sie gerade als <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen<br />

und <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r tagtäglich<br />

befasst s<strong>in</strong>d. Zum Beispiel wenn es darum geht,<br />

belastete Gewissen zu entlasten. Sie schaffen<br />

den Rahmen, <strong>in</strong>nerhalb dessen „Scham – Schuld<br />

– Beschämung“, so lautet ja das Thema Ihrer<br />

Tagung, angesprochen und ausgesprochen werden<br />

können.<br />

Ich weiß sehr wohl um die Zwitterstellung, der<br />

Sie immer wieder ausgesetzt s<strong>in</strong>d: e<strong>in</strong>erseits<br />

e<strong>in</strong>gespannt <strong>in</strong> den Prozess der Strafvollzugs<strong>in</strong>stitutionen,<br />

andererseits Vertrauensperson <strong>für</strong><br />

die Gefangenen, auch <strong>für</strong> die Bediensteten, unter<br />

Respektierung der Sonderstellung, die sich<br />

aus der B<strong>in</strong>dung an Kirche und Ord<strong>in</strong>ation<br />

ergibt. In diesem Zusammenhang ist <strong>für</strong> mich<br />

die strenge E<strong>in</strong>haltung der Schweigepflicht seitens<br />

der Geistlichen von gar nicht hoch genug<br />

zu schätzender Bedeutung! Sie erst eröffnet den<br />

Schutzraum der Bewahrung, den Raum zur Annahme<br />

von Schuld und Versöhnung.<br />

Sie, liebe Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen, stehen als<br />

Repräsentanten der Kirche da<strong>für</strong>, dass der<br />

Mensch als Gottes Geschöpf und Gottes Ebenbild<br />

unendlich viel mehr ist, als die Summe se<strong>in</strong>er<br />

Taten und Untaten. Die reformatorische<br />

Unterscheidung von Person und Werk, die Sie<br />

<strong>in</strong> Ihrer Praxis unentwegt vollziehen, sie zeugt<br />

von der Art und Weise, mit der Gott uns Menschen<br />

ansieht und annimmt. Unter diesem Vorzeichen<br />

allererst lässt sich e<strong>in</strong>e heilsame Perspektive<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong> Leben – gerade auch mit Schuld<br />

– erahnen. Sie ermöglichen den Menschen <strong>in</strong><br />

der Seelsorge, sich mit den Augen Gottes wahrzunehmen.<br />

Was daraus wird, ist e<strong>in</strong> offener Prozess.<br />

10<br />

E<strong>in</strong>e weitere Spannung ist <strong>für</strong> Ihren Dienst typisch:<br />

nämlich die zwischen dem Sicherheitsbedürfnis<br />

der Gesellschaft e<strong>in</strong>erseits und der Verantwortung<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en humanen Umgang mit<br />

Straffälligen andererseits, der Voraussetzung ist<br />

<strong>für</strong> deren s<strong>in</strong>nvolle Wiedere<strong>in</strong>gliederung. Wie<br />

heißt es im Paragrafen 2 des Strafvollzugsgesetzes:<br />

"Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der<br />

Gefangene fähig werden, künftig <strong>in</strong> sozialer<br />

Verantwortung e<strong>in</strong> Leben ohne Straftaten zu<br />

führen."<br />

Das also ist der S<strong>in</strong>n, die primäre Aufgabe des<br />

Vollzugs. Die Sicherung ist dabei nur e<strong>in</strong>e<br />

Funktion, e<strong>in</strong> Vehikel auf diesem Weg. "Der<br />

Vollzug", so heißt es weiter, "dient auch dem<br />

Schutz der Allgeme<strong>in</strong>heit vor weiteren Straftaten."<br />

Schlichtes Wegschließen löst demnach die<br />

Probleme nicht – ganz im Gegenteil! Wer Del<strong>in</strong>quenten<br />

zu sozial adäquatem Verhalten führen<br />

will, muss alles unterlassen, was auch nur<br />

im Entferntesten die Verhaltensmuster bestätigt,<br />

die gerade zu überw<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Wer gewaltbereiten<br />

Menschen mit Gewalt begegnet, fördert<br />

die Gewalt. Er überw<strong>in</strong>det sie nicht, sondern<br />

baut sie auf. Daran zu er<strong>in</strong>nern und dies auch<br />

öffentlich zu sagen, ist die geme<strong>in</strong>same Aufgabe<br />

von Kirche und Politik.<br />

Deshalb beteiligen wir uns als <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

aktiv an allen Maßnahmen, die der Wiedere<strong>in</strong>gliederung<br />

dienen: seien es Drogenberatung<br />

und Anonyme Alkoholiker-Gruppen, soziale<br />

und Anti-Gewalt-Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs oder Ehe- und<br />

Partnersem<strong>in</strong>are.<br />

Das Hauptmerkmal e<strong>in</strong>er christlichen Kultur des<br />

Helfens ist also nicht das Ab- und Wegschließen,<br />

vielmehr die persönliche Zuwendung, die<br />

Begegnung <strong>in</strong> Achtung und Würde, die kritische<br />

Solidarität. Menschen nicht auf ihre Defizite zu<br />

fixieren, sondern ihre Talente, ihre Möglichkeiten<br />

und Fähigkeiten zu entdecken, um ihnen zu<br />

helfen, e<strong>in</strong> eigener Mensch zu se<strong>in</strong> und dies <strong>in</strong><br />

der Haltung des aufrechten Gangs, darum geht<br />

es.<br />

Die Gottesdienste <strong>in</strong> Justizvollzugsanstalten, sie<br />

erlebe ich immer wieder als Oasen, als Zufluchtsstätten<br />

<strong>für</strong> Gehetzte und Gedemütigte,<br />

auch <strong>für</strong> Stolze, <strong>in</strong> denen diese sich e<strong>in</strong>e fremde


Sprache leihen und sich <strong>in</strong> fremden Gesten bergen<br />

können. Und oft geschieht es, dass sie <strong>in</strong> der<br />

Begegnung mit christlichen S<strong>in</strong>ntraditionen das<br />

Alphabet der Hoffnung entweder erstmals –<br />

oder ansatzweise wieder – erlernen. Hier f<strong>in</strong>det<br />

das brüchige Leben vor Gott se<strong>in</strong>en Platz und<br />

se<strong>in</strong> Recht. Menschen erfahren Sammlung und<br />

Wegzehrung, Orientierung und Segen <strong>in</strong> der<br />

Geme<strong>in</strong>schaft, im Namen des rechtfertigenden<br />

Gottes. Ja, Ihr Dienst ist e<strong>in</strong> durch und durch<br />

geistlicher! Selten habe ich die E<strong>in</strong>heit von Liturgie<br />

und Diakonie so stimmig erlebt, wie <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>em Dabeise<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ihren Gottesdiensten und<br />

Gesprächskreisen.<br />

Dennoch muss ehrlicherweise auch gesagt werden:<br />

die Gefängnisgeme<strong>in</strong>de ist e<strong>in</strong>e Herberge<br />

am Rand. Und Sie, als Seelsorger<strong>in</strong>nen und<br />

Seelsorger, Sie teilen über weite Strecken h<strong>in</strong>weg<br />

diese Randexistenz. Ständig pendeln Sie<br />

zwischen dem Leben "dr<strong>in</strong>nen" und dem Leben<br />

"draußen". Vieles müssen Sie mit sich alle<strong>in</strong>e<br />

ausmachen. Oft fühlen Sie sich von anderen<br />

unbeachtet und unverstanden. Umso wichtiger<br />

s<strong>in</strong>d die Jahrestagungen dieser <strong>Konferenz</strong>. Was<br />

dagegen fehlt, ist der ernsthafte Wille von denen<br />

"draußen", sich <strong>in</strong>tensiv mit Ihnen und Ihren<br />

Erfahrungen ause<strong>in</strong>anderzusetzen. Dabei g<strong>in</strong>ge<br />

es doch darum, das oftmals Fremde und Andere<br />

und Sperrige, aber auch das Überraschende und<br />

Ungeahnte wahrzunehmen und <strong>in</strong> die Reflexion<br />

über <strong>Glaube</strong> und Kirche mit e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

Deutlich ist: die strukturelle Verankerung dieses<br />

Erfahrungsaustausches steht – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>nerkirchlich<br />

– noch aus.<br />

Umso hörbarer will ich Ihnen heute <strong>für</strong> Ihren<br />

Dienst danken; auch <strong>für</strong> die Impulse, die von<br />

dieser <strong>Konferenz</strong> immer wieder ausgehen. In<br />

Ihrem Dase<strong>in</strong> <strong>für</strong> andere helfen Sie mit – wie es<br />

e<strong>in</strong> Kollege <strong>in</strong> Anlehnung an Mart<strong>in</strong> Buber formulierte<br />

hat – "mit bereiter Seele zu beharren,<br />

bis der Morgen dämmert und e<strong>in</strong> Weg sichtbar<br />

wird, wo niemand ihn ahnte."<br />

Seien Sie hier, <strong>in</strong> Speyer und <strong>in</strong> der Pfalz, herzlich<br />

willkommen!<br />

Grußwort des Kirchenpräsidenten<br />

der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong><br />

Hessen und Nassau<br />

Dr. Volker Jung<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Liebe <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r und –seelsorger<strong>in</strong>nen!<br />

Liebe Schwestern und Brüder!<br />

„Christen s<strong>in</strong>d überzeugt: Gott steht auf der Seite<br />

der Opfer, doch er verlässt auch die Täter und<br />

Täter<strong>in</strong>nen nicht. Gott sagt Ja zum Menschen<br />

und Ne<strong>in</strong> zu dessen bösen Taten.“<br />

So beschreiben die „Leitl<strong>in</strong>ien <strong>für</strong> die <strong>Ev</strong>angelische<br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong>“ e<strong>in</strong>e wichtige Grundüberzeugung<br />

unseres christlichen <strong>Glaube</strong>ns.<br />

Diese Grundüberzeugung aus der Mitte des<br />

<strong>Ev</strong>angeliums trägt Ihre Arbeit <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

ganz wesentlich.<br />

Sie gehen im Auftrag unserer evangelischen<br />

Kirche dorth<strong>in</strong>, wo Menschen <strong>in</strong>haftiert s<strong>in</strong>d.<br />

Sie besuchen Menschen, die nur sehr e<strong>in</strong>geschränkt<br />

besucht werden können. Sie br<strong>in</strong>gen<br />

Zeit mit. Sie hören zu und reden mit denen, die<br />

das wollen. Sie br<strong>in</strong>gen Gebete und Lieder mit.<br />

Sie laden damit e<strong>in</strong> zur Begegnung mit Gott –<br />

<strong>h<strong>in</strong>ter</strong> den verschlossenen Türen.<br />

Mit Ihrem Dienst lassen Sie das Ja Gottes zu<br />

den Menschen lebendig werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umgebung,<br />

die von e<strong>in</strong>em vielfachen Ne<strong>in</strong> bestimmt<br />

wird.<br />

Für die <strong>Ev</strong>angelische Kirche <strong>in</strong> Hessen und<br />

Nassau überbr<strong>in</strong>ge ich der „<strong>Ev</strong>angelischen<br />

<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong><br />

Deutschland“ anlässlich ihrer Jahrestagung<br />

herzliche Grüße. Ich danke Ihnen allen - auch<br />

im Namen unserer Kirchenleitung – <strong>für</strong> Ihren<br />

Dienst. Ihre Besuche bei den Gefangenen, Ihre<br />

Gespräche, die Gottesdienste <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> Mauern,<br />

Ihre Zuwendung zu den Gefangenen und Ihren<br />

Angehörigen und zu den Bediensteten <strong>in</strong> den<br />

Gefängnissen werden von uns sehr geschätzt!<br />

11


Ich erlaube mir auch, mich ganz besonders bei<br />

den Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrern aus der EKHN zu<br />

bedanken, die sich <strong>in</strong> der Vorstandsarbeit Ihrer<br />

<strong>Konferenz</strong> engagiert haben. Ich danke Pfarrer<br />

Mart<strong>in</strong> Faber, Pfarrer<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong> und<br />

Pfarrer<strong>in</strong> Barbara Zöller herzlich <strong>für</strong> Ihr Engagement<br />

über die EKHN h<strong>in</strong>aus!<br />

Liebe Schwestern und Brüder <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong>!<br />

Sie nehmen <strong>in</strong> Ihrem Dienst gewissermaßen<br />

stellvertretend <strong>für</strong> uns als Kirche das wahr, was<br />

uns von Christus her <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nachfolge aufgetragen<br />

ist. In se<strong>in</strong>er Rede vom Weltgericht hat er<br />

gesagt: „Ich b<strong>in</strong> im Gefängnis gewesen und ihr<br />

seid zu mir gekommen.“ Und: „Was ihr getan<br />

habt e<strong>in</strong>em von diesen me<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gsten Brüdern,<br />

das habt ihr mir getan.“ Der Besuch der<br />

Menschen <strong>in</strong> Gefängnissen ist <strong>für</strong> uns Auftrag<br />

Christi. Mehr noch: Der Besuch ist auch Christusbegegnung.<br />

Es ist e<strong>in</strong> „Werk der Barmherzigkeit“.<br />

Und es nimmt die Menschen, die wir<br />

besuchen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Lebensperspektive, die<br />

Christus uns erschlossen hat. Es ist die Perspektive<br />

der Vergebung von Schuld, der Versöhnung<br />

und des Friedens.<br />

Von dieser Perspektive aus sehen wir die Grenzen<br />

aller menschlichen Urteile und Verurteilungen<br />

und Strafen. Wir stehen da<strong>für</strong> e<strong>in</strong>, dass<br />

Christus will, dass allen Menschen geholfen<br />

wird. Weil er ke<strong>in</strong>en Menschen verloren gibt,<br />

geben wir ke<strong>in</strong>en Menschen verloren. Das heißt<br />

nicht, dass Schuld nicht beim Namen genannt<br />

wird. Das heißt nicht, dass damit das Recht der<br />

Strafe bestritten wird. Es heißt aber sehr wohl,<br />

dass immer nach der Perspektive <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Menschen<br />

gefragt wird: nach Umkehr, nach Versöhnung,<br />

nach e<strong>in</strong>em neuen Anfang. Dies tun wir –<br />

und behalten auch das Leid der Opfer im Blick,<br />

genauso wie das berechtigte Sicherheitsbedürfnis<br />

der Gesellschaft.<br />

Lassen Sie mich von diesen theologischen Gedanken<br />

aus zwei Punkte ansprechen, die Ihre<br />

Arbeit der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> gegenwärtig beschäftigen.<br />

12<br />

1. Der Schutz der seelsorgerlichen Schweigepflicht<br />

Wir erkennen auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verurteilten Täter<br />

zuerst den Menschen. Ihm gilt die Seelsorge.<br />

Wenn wir auch unter den Bed<strong>in</strong>gungen von<br />

Haftzellen am Auftrag zur Zuwendung festhalten,<br />

dann muss ebenso der Schutz der seelsorgerlichen<br />

Schweigepflicht gewährleistet se<strong>in</strong>.<br />

Die EKD hat ja im vergangenen Oktober das<br />

Kirchengesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses<br />

beschlossen. Die <strong>Ev</strong>angelische Kirche<br />

<strong>in</strong> Hessen und Nassau begrüßt die damit<br />

def<strong>in</strong>ierten Regelungen. Wir s<strong>in</strong>d froh, dass nun<br />

e<strong>in</strong> <strong>für</strong> alle nachvollziehbarer, juristischer Rahmen<br />

gegeben ist.<br />

Seelsorge ist e<strong>in</strong> unmittelbares Geschehen und<br />

braucht e<strong>in</strong>en geschützten Raum zum vertraulichen<br />

Gespräch. Es gibt Inhalte und Themen<br />

seelsorgerlicher Gespräche, die außer den zwei<br />

Beteiligten nur Gott angehen. Über Seelsorgegespräche<br />

darf niemand auskunftspflichtig se<strong>in</strong>,<br />

auch nicht gegenüber staatlichen Behörden. Darauf<br />

müssen sowohl der Häftl<strong>in</strong>g oder die Gefangene<br />

als auch die Seelsorger<strong>in</strong> oder der Seelsorger<br />

vertrauen können.<br />

Die EKHN will und wird das „EKD-<br />

Seelsorgegeheimnisgesetz“ <strong>in</strong> den nächsten<br />

Monaten übernehmen. Detailfragen s<strong>in</strong>d noch<br />

zu regeln. Aber wir begrüßen ausdrücklich das<br />

Anliegen des gesetzlich verbrieften Schutzes der<br />

Seelsorge.<br />

2. Das Thema Sicherungsverwahrung<br />

Ich nehme die Sorge Ihrer „<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong>“<br />

wahr, dass das Instrument der<br />

Sicherungsverwahrung derzeit ausgeweitet<br />

wird. Ich teile diese Sorge.<br />

Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>en kaum zu lösenden Widerspruch<br />

zu geben zwischen dem Wunsch <strong>in</strong> unserer Gesellschaft,<br />

bei bestimmten Straftätern vor möglichen,<br />

zukünftigen Straftaten geschützt zu werden.<br />

Und e<strong>in</strong>er rechtlich e<strong>in</strong>deutigen Regelung,<br />

die auch dem Verurteilten angemessene Perspektiven<br />

bietet. Offensichtlich klaffen Täterperspektive<br />

und die Seite der Opfer, ihrer Fami-


lien und ihrer Umgebung äußerst weit ause<strong>in</strong>ander.<br />

Dazu begegnet man extrem komplexen juristischen<br />

Vorgängen. Zwischen Bundesländern und<br />

Europa s<strong>in</strong>d alle Ebenen der Gesetzgebung und<br />

der Rechtsprechung seit Jahren beteiligt.<br />

Ich verstehe das Bedürfnis nach Sicherheit <strong>in</strong><br />

unserer Gesellschaft. Es ist nachvollziehbar,<br />

wenn Menschen bei bestimmten Verbrechen<br />

misstrauisch oder ängstlich gegenüber e<strong>in</strong>em<br />

Täter s<strong>in</strong>d. . Dennoch ist die Ausweitung der<br />

Sicherungsverwahrung auch kritisch anzufragen:<br />

Welchen Neuanfang traut man e<strong>in</strong>em Menschen<br />

zu, der se<strong>in</strong>e Strafe abgebüßt hat? Tun wir<br />

genug, um Straftätern zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e Chance<br />

zur Resozialisierung zu geben? Welche persönliche<br />

Begleitung gibt es <strong>für</strong> Gefangene bereits<br />

vor ihrer Entlassung und nach ihrer Entlassung?<br />

Deutlich ist allerd<strong>in</strong>gs: die Frage der Unterbr<strong>in</strong>gung<br />

e<strong>in</strong>er immer größer werdenden Zahl von<br />

Sicherungsverwahrten wird drängender. Da<strong>für</strong><br />

braucht es bald e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige gesetzliche<br />

Grundlage, die von allen Beteiligten bereitwillig<br />

umgesetzt wird. Und es muss gel<strong>in</strong>gen, dabei<br />

die Perspektive der Opfer schwerer Straftaten<br />

e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

Ich komme zum Schluss:<br />

Sie, als <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen und Seelsorger,<br />

haben e<strong>in</strong>e schwierige Aufgabe. Sie sollen<br />

den Menschen sehen, dem Gott Ja sagt, trotz<br />

aller Schuld. Sie sollen E<strong>in</strong>sicht wecken und zu<br />

Umkehr helfen. Sie sollen die Hoffnung auf<br />

Friede und Gerechtigkeit weitergeben.<br />

Das ist viel, sehr viel. Ich habe <strong>in</strong> etlichen Begegnungen<br />

erfahren können, wie engagiert und<br />

beharrlich Sie arbeiten. Manche Gespräche mit<br />

e<strong>in</strong>zelnen von Ihnen und deren Berichte haben<br />

mich sehr bee<strong>in</strong>druckt.<br />

Ich spüre großen Realismus und dennoch Zuversicht.<br />

Ich erlebe hohes Engagement und –<br />

trotz manch großer Belastung – Freude an und<br />

<strong>in</strong> Ihrem Dienst.<br />

Gebe Gott Ihnen weiter viel Kraft. Stärke Gott<br />

Sie selbst <strong>in</strong> Ihrer Hoffnung und <strong>in</strong> Ihrem <strong>Glaube</strong>n!<br />

Ich wünsche Ihnen e<strong>in</strong>e gute Zeit hier <strong>in</strong> Speyer<br />

und sage Ihnen e<strong>in</strong> herzliches „Gott befohlen!“<br />

Grußwort des Präses der Synode<br />

der EKHN und Vorsitzenden der<br />

<strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong><br />

Straffälligenhilfe<br />

Prof. Dr. Karl He<strong>in</strong>rich Schäfer, Speyer<br />

Sehr geehrter Herr Vorsitzender Schönrock,<br />

me<strong>in</strong>e Herren Kirchenpräsidenten Schad und<br />

Dr. Jung, Herr M<strong>in</strong>ister Dr. Bamberger, me<strong>in</strong>e<br />

Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,<br />

herzlichen Dank <strong>für</strong> die freundliche Aufnahme<br />

und Begrüßung und besonderen Dank <strong>für</strong> die<br />

Gelegenheit, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Es<br />

gibt <strong>für</strong> mich drei Gründe, das Wort an Sie zu<br />

richten. Vorher will ich jedoch der Tatsache<br />

Rechnung tragen, dass die <strong>Ev</strong>angelische <strong>Konferenz</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

e<strong>in</strong>en neuen Vorstand gewählt hat. Daher zunächst<br />

herzliche Gratulation und alle guten<br />

Wünsche <strong>für</strong> Sie, sehr geehrter Herr Vorsitzender<br />

Schönrock, und <strong>für</strong> die Mitglieder des neuen<br />

Vorstands, dem noch - wie ich hörte – mit Frau<br />

Braun und Frau Zöller zwei Mitglieder des alten<br />

Vorstands angehören und somit <strong>für</strong> e<strong>in</strong> wenig<br />

Kont<strong>in</strong>uität sorgen können. Me<strong>in</strong>e Glückwünsche<br />

verb<strong>in</strong>de ich mit dem herzlichen Dank an<br />

den „alten“ Vorstand <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e geleistete Arbeit,<br />

<strong>in</strong>sbesondere – aus me<strong>in</strong>er EKHN- Sicht natürlich<br />

– an den Vorsitzenden Mart<strong>in</strong> Faber und die<br />

stellvertretende Vorsitzende Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong>.<br />

Ich sprach von drei Gründen <strong>für</strong> mich, hier etwas<br />

zu sagen.<br />

13


1.<br />

Ausrichter der Jahrestagung ist die Regionalkonferenz<br />

Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz/Saarland. E<strong>in</strong> Drittel<br />

des Kirchengebietes der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche<br />

<strong>in</strong> Hessen und Nassau mit dem Propsteibereich<br />

Rhe<strong>in</strong>hessen sowie mit etlichen Dekanaten im<br />

Taunus und im Westerwald liegen <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<br />

Pfalz. Also darf ich als Präses der Kirchensynode<br />

der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong> Hessen und<br />

Nassau zu Ihnen sprechen, auch wenn der hiesige<br />

Tagungsort <strong>in</strong> Speyer nicht <strong>in</strong> unserem Kirchengebiet<br />

liegt wie bei Ihrer Tagung <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z<br />

2002, als ich auch bei Ihnen zu Gast war. Aber:<br />

Wir bef<strong>in</strong>den uns hier <strong>in</strong> Speyer im „Plenarsaal“<br />

der Synode der Protestantischen Kirche der<br />

Pfalz. Dazu passt, dass die Jahrestagung 2008 <strong>in</strong><br />

Hofgeismar (auch damals war ich Ihr Gast) im<br />

Synodensaal der Landessynode der <strong>Ev</strong>angelischen<br />

Kirche von Kurhessen- Waldeck stattfand.<br />

Und: Die Tagung 2002 <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z fand<br />

zwar im katholischen Tagungshaus Erbacher<br />

Hof statt. Aber auch dort haben wir mit unserer<br />

EKHN- Synode bereits getagt. Was ich damit<br />

andeuten will, ist, dass die Plenarsäle der Landessynoden<br />

gute und beziehungsreiche Orte<br />

s<strong>in</strong>d, um vollzugspolitische D<strong>in</strong>ge oder spezielle<br />

Themen der Seelsorge und Behandlung der Gefangenen<br />

anzusprechen. So hat sich unsere Synode<br />

zuletzt im Rahmen der Föderalismusdebatte<br />

entschieden, wenn auch letztendlich vergeblich,<br />

gegen die Verlagerung der Strafvollzugsgesetzgebung<br />

<strong>in</strong> die Kompetenz der Bundesländer<br />

ausgesprochen.<br />

2.<br />

Wenn ich Ende Mai 2010 nach 16-jähriger Tätigkeit<br />

aus me<strong>in</strong>em Präsesamt ausscheide, bleibe<br />

ich Ihnen und der <strong>Konferenz</strong> dennoch weiter<br />

erhalten aus dem zweiten Grund me<strong>in</strong>es Hierse<strong>in</strong>s:<br />

Seit Herbst 2008 b<strong>in</strong> ich Vorsitzender der<br />

<strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> Straffälligenhilfe<br />

auf Bundesebene. Und die <strong>Ev</strong>angelische <strong>Konferenz</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> ist – wie viele von<br />

Ihnen wissen – Mitglied <strong>in</strong> diesem „me<strong>in</strong>em“<br />

Vere<strong>in</strong>. Thomas Gotthilf aus Ihren Reihen ist<br />

ständiger Gast bei unseren Versammlungen und<br />

bei den Vorstandssitzungen. Ich darf <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang erwähnen, dass wir geme<strong>in</strong>sam<br />

14<br />

mit der Katholischen Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Straffälligenhilfe e<strong>in</strong>e Neuauflage des Orientierungsrahmens<br />

von 2001 <strong>für</strong> die Arbeit der<br />

Straffälligenhilfe im Justizvollzug vorbereitet<br />

haben. E<strong>in</strong>e Veröffentlichung ist noch <strong>in</strong> diesem<br />

Jahr vorgesehen.<br />

3.<br />

Schließlich b<strong>in</strong> und bleibe ich der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

und dem Justizvollzug weiterh<strong>in</strong> verbunden<br />

durch me<strong>in</strong>e Honorarprofessur an der<br />

<strong>Ev</strong>angelischen Fachhochschule <strong>in</strong> Darmstadt.<br />

Wichtiger aber noch: Ich habe 2009 die<br />

Kommentierung der Seelsorgebestimmungen<br />

des Strafvollzugsgesetzes bzw. der vorliegenden<br />

Länderregelungen <strong>in</strong> der 5. Auflage des renommierten<br />

Werks von Schw<strong>in</strong>d/Böhm/Jehle/Laubenthal<br />

übernehmen dürfen. Ich verb<strong>in</strong>de diese<br />

Information mit e<strong>in</strong>em Gedenken an Peter<br />

Rassow, der vor rund e<strong>in</strong>em Monat verstorben<br />

ist. Es war zweifellos bewegend <strong>für</strong> mich, als<br />

Peter Rassow mich anrief und mir se<strong>in</strong>e Nachfolge<br />

als Kommentator antrug. Es war e<strong>in</strong>e große<br />

Freude und besondere Ehre <strong>für</strong> mich, denn<br />

Peter Rassow hatte mit se<strong>in</strong>er bisherigen<br />

Kommentierung bewundernswerte Maßstäbe<br />

gesetzt. Die herzlichen Begegnungen mit ihm<br />

über die Jahre h<strong>in</strong>weg haben mir nicht nur<br />

Freude gemacht, sondern mich auch gestärkt im<br />

gesellschaftlich, politisch, vollzuglich, aber<br />

auch <strong>in</strong>nerkirchlich stets umkämpften E<strong>in</strong>satz<br />

<strong>für</strong> die Belange e<strong>in</strong>es rechts- und sozialstaatlich<br />

ausgerichteten Strafvollzugs und <strong>für</strong> die Bedeutung<br />

und Rolle der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> diesem<br />

Bereich. Ich denke an ihn mit großer Dankbarkeit.<br />

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, liebe Schwestern<br />

und Brüder des neu gewählten Vorstands,<br />

Sie haben e<strong>in</strong>e wichtige und zugleich leichte<br />

Aufgabe übernommen.<br />

Wichtig ist sie deshalb, weil die <strong>in</strong>haltliche Beschäftigung<br />

mit Grundsatzfragen von Theologie,<br />

Recht und gesellschaftlicher Verantwortung und<br />

daraus folgend öffentliche Verlautbarungen<br />

Markenzeichen dieser <strong>Konferenz</strong> s<strong>in</strong>d. Dass <strong>in</strong><br />

diesem Kontext <strong>Gefängnisseelsorge</strong> etwas zu<br />

sagen hat und sich auch immer wieder zu Wort


melden sollte, steht <strong>für</strong> mich außer Frage.<br />

Schließlich s<strong>in</strong>d viele grundlegende und positive<br />

Veränderungen im Strafvollzug erst durch Initiative<br />

von <strong>Gefängnisseelsorge</strong>rn entstanden. Für<br />

Verantwortliche im Strafvollzug und <strong>für</strong> die<br />

Politik war <strong>Gefängnisseelsorge</strong> daher auch früher<br />

nie „bequem“, wenn es um Fragen des Umgangs<br />

mit straffällig gewordenen Menschen<br />

g<strong>in</strong>g.<br />

E<strong>in</strong>fach ist sie andererseits deshalb, weil Sie<br />

sich von tüchtigen und engagierten Kolleg<strong>in</strong>nen<br />

und Kollegen unterstützt und getragen wissen<br />

dürfen. Ich habe vorh<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Stadt schon mit<br />

etlichen gesprochen. Und die haben mir gleich<br />

gesagt: „Wir haben e<strong>in</strong>en prima Vorstand gewählt!“.<br />

Kann man sich e<strong>in</strong>en besseren Start<br />

wünschen?<br />

Ich jedenfalls wünsche der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

auch <strong>für</strong> die kommenden Jahre Gottes Segen <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e fruchtbare und engagierte Arbeit.<br />

Grußwort aus dem Kirchenamt<br />

der EKD<br />

Oberkirchenrat Dr. Erhard Berneburg<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

ich überbr<strong>in</strong>ge Ihnen ganz herzliche Grüße seitens<br />

der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, an dieser<br />

Stelle den Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorgern im<br />

Justizvollzug zu danken <strong>für</strong> ihren Dienst, den<br />

sie im Namen und im Auftrag der Kirche tun. In<br />

der Feier von Gottesdiensten, <strong>in</strong> der Zusage der<br />

Vergebung Gottes und im Gespräch mit Menschen<br />

im Gefängnis lassen sie die Menschenfreundlichkeit<br />

unseres Gottes und das Geschenk<br />

der Erlösung durch Jesus Christus erfahrbar<br />

werden. Sie bauen Brücken zu Menschen, die<br />

der Kirche eher fern stehen und <strong>in</strong> der Situation<br />

des Gefangense<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>e neue Orientierung <strong>für</strong><br />

ihr Leben suchen.<br />

E<strong>in</strong> besonderer Dank geht an die jetzt ausscheidenden<br />

Vorstandsmitglieder <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sehr gute<br />

und effektive Zusammenarbeit.<br />

Danke.<br />

Die EKD hat sich <strong>in</strong> den vergangenen Monaten<br />

auf unterschiedlichen Ebenen mit Herausforderungen<br />

und Entwicklungen um die Seelsorge<br />

befasst.<br />

Dabei wurde erneut deutlich:<br />

Seelsorge als Muttersprache der Kirche gehört<br />

zu den zentralen Lebensäußerungen der Kirche.<br />

Dabei muss man Seelsorge <strong>in</strong> ihrer ganzen Breite<br />

wahrnehmen: von der Notfallseelsorge bis zur<br />

Geme<strong>in</strong>deseelsorge, von der Hospizarbeit bis<br />

zur <strong>Gefängnisseelsorge</strong> ist das Gespräch der<br />

Menschen <strong>in</strong> Sorge um ihre Seele auf der Basis<br />

e<strong>in</strong>es christlichen Menschenbildes und <strong>in</strong> Absicht<br />

e<strong>in</strong>er gestärkten und geheilten Seele e<strong>in</strong><br />

Grundangebot der Kirche, gerade auch außerhalb<br />

ihrer Kerngeme<strong>in</strong>de. Seelsorgerliche Handlungsfelder<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel Kirche an anderem<br />

Ort, e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> die verschiedensten gesellschaftlichen<br />

Felder. Sie wissen aus täglicher<br />

Erfahrung wie hochkomplex die Zusammenhänge<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefängnis s<strong>in</strong>d. Und nicht selten<br />

s<strong>in</strong>d sie die e<strong>in</strong>zige Stimme <strong>in</strong> diesem Konzert,<br />

die nicht klar funktionale Interessen verfolgt.<br />

E<strong>in</strong> gewisses Unbehagen, dass Seelsorge ke<strong>in</strong><br />

eigenes Leuchtfeuer im Impulspapier „Kirche<br />

der Freiheit“ hat, sondern mehr e<strong>in</strong> Querschnittthema<br />

durch die verschiedenen Handlungsfelder<br />

geworden ist. Anlässlich e<strong>in</strong>er solchen Kritik<br />

hat es verschiedene Bemühungen <strong>in</strong> der EKD<br />

gegeben, die pastoralpsychologische bzw. seelsorgerliche<br />

Szene der Kirche anzusprechen und<br />

e<strong>in</strong>zuladen, am Reformprozess der Kirche aktiv<br />

teilzunehmen. Vorträge, Gespräche, Workshop,<br />

weitere Schritt <strong>in</strong> Vorbereitung.<br />

In den Diskussionen der letzten Monate wurde<br />

mehrfach danach gefragt, wie bei der immer<br />

rascher sich vollziehenden Ausdifferenzierung<br />

der Feldkontexte der geme<strong>in</strong>same Auftrag und<br />

15


das <strong>in</strong>haltliche Profil evangelischer Seelsorge zu<br />

beschreiben wäre. E<strong>in</strong>e neue Bes<strong>in</strong>nung auf den<br />

theologischen Grund, aus dem heraus evangelische<br />

Seelsorge geschieht, wird von vielen Beteiligten<br />

erwünscht und als hilfreich empfunden.<br />

Auch im Wettbewerb mit anderen Anbietern<br />

spiritueller Begleitung s<strong>in</strong>d die Kirchen gefragt,<br />

ihr Proprium deutlich werden zu lassen. Gegen<br />

den allgeme<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Trend wird<br />

die Kirche ihr Selbstbestimmungsrecht nicht nur<br />

e<strong>in</strong>fordern können, sondern wird ihr spezifisch<br />

<strong>in</strong>haltliches Profil darlegen müssen. Daher s<strong>in</strong>d<br />

folgende Perspektiven angedacht worden:<br />

• Das spezifische Handlungsfeld Seelsorge ist <strong>in</strong><br />

den gesamtkirchlichen Auftrag e<strong>in</strong>zubetten:<br />

• Kirchliche Seelsorge sollte ihre Erkennbarkeit<br />

am anderen Ort etwa im Gefängnis<br />

deutlich, aber stilsicher sichtbar machen.<br />

• Seelsorge als „Kirche an anderem Ort“ ist<br />

e<strong>in</strong> Beitrag zur e<strong>in</strong>ladenden und überzeugenden<br />

Kirche, Seelsorge wird auf ihre spezifische<br />

Weise am missionarischen Grundauftrag<br />

der Kirche Anteil haben.<br />

• Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge<br />

und Verkündigung ist im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Bemühung<br />

um „ansprechende“ Kirche neu zu<br />

buchstabieren.<br />

• Die geistliche Dimension der Seelsorge sollte<br />

qualifiziert zum Zuge kommen: Im geistlichen<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong> der Seelsorgenden, <strong>in</strong><br />

der Bemühung um geistliche Vertiefung der<br />

realen Situation, <strong>in</strong> der Zielbestimmung von<br />

Seelsorge als e<strong>in</strong> Ankommen bei Gott. Seelsorge<br />

versteht sich dann nicht als re<strong>in</strong>es Begleiten,<br />

sondern sieht ihren Auftrag dar<strong>in</strong>,<br />

„Gutes von Gott <strong>in</strong> der Welt zu reden“.<br />

• Neben pastoralpsychologischer Kompetenz<br />

und unterschiedlichen Feldkompetenzen<br />

würden die geistlichen Schätze der Kirche <strong>in</strong><br />

der Seelsorge zum Tragen kommen, wie<br />

geistliche Lieder, Bibel und Gebet.<br />

Diese Impulse aufzunehmen möchte ich Sie<br />

bitten - auch gerade <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong>.<br />

Nah bei den Menschen – Ja<br />

Kompetent <strong>für</strong> das besondere Arbeitsfeld – Ja<br />

Und mit e<strong>in</strong>em geistlichen Auftrag - Ja<br />

16<br />

Unter dem Feigenbaum<br />

Elmo Due<br />

Das Thema war: Schuld, Scham und Beschämung<br />

- “…<strong>h<strong>in</strong>ter</strong> dem Feigenblatt“; aber die<br />

Jahrestagung <strong>in</strong> Waldfischbach verlief unter<br />

dem schützenden Feigenbaum, dem gleichen<br />

Baum, der Zachäus hilfreich gewesen war (Lukas<br />

19.1-10). Diesmal sollte es darum gehen,<br />

besser der zu sehen, was es mit unserem „Feigenblatt“<br />

auf sich hat. Dieser “ Zachäus-<br />

Ausblick“ wurde uns nicht nur durch den Abschlussgottesdienst<br />

<strong>in</strong> der Römischkatholischen<br />

Wallfahrtskirche gegeben, sondern<br />

auch durch die Bearbeitung der mannigfaltigen<br />

Gesichtspunkte zum Themenkomplex<br />

Schuld, Scham und Beschämung.<br />

Die Tagung wurde mit Humor eröffnet, was<br />

demonstrierte, dass der Humor uns - bis zu e<strong>in</strong>em<br />

gewissen Grade - mit unserer Scham versöhnen<br />

kann. Humor br<strong>in</strong>gt uns auch näher zue<strong>in</strong>ander,<br />

Lächerlichmachung oder Sarkasmus


dagegen trennen uns. Der Unterschied kann<br />

delikat se<strong>in</strong>. Humor ist sich der eigenen Unvollkommenheit<br />

bewusst, der <strong>Glaube</strong> ist sich<br />

dem entsprechend der eigenen Sündhaftigkeit<br />

bewusst.<br />

Mir als dänischem Theologen aus derselben<br />

Stadt und dem selben Vaterland wie Søren<br />

Kierkegaard, liegt es nahe daran zu denken, wie<br />

er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Betrachtung der verschiedenen Lebenshaltungen,<br />

erkannt hat, dass Humor und<br />

Religiosität so eng mite<strong>in</strong>ander verbunden s<strong>in</strong>d.<br />

Beide können - auf verschiedene Weise - Versöhnung<br />

br<strong>in</strong>gen.<br />

Am nächsten Morgen hat e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>druckender<br />

Videofilm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Stimmung versetzt:<br />

von Humor zu dem, was nach e<strong>in</strong>er stärkeren<br />

Mediz<strong>in</strong> ruft, d.h. Berichte über Schuld, Scham<br />

und Beschämung.<br />

Prof. Michael Klessmann hat dieses Thema weitergeführt<br />

mit e<strong>in</strong>er Analyse von liturgischen<br />

Sündenbekenntnissen (Confiteor). Schaffen<br />

diese pauschalen Bekenntnisse uns e<strong>in</strong>e wahre<br />

E<strong>in</strong>sicht, oder s<strong>in</strong>d sie nur e<strong>in</strong>e Verleumdung<br />

unseres fröhlichen Lebens laut Nietzsche? Für<br />

E<strong>in</strong>e theologische Selbstbes<strong>in</strong>nung ist es maßgeblich,<br />

dass wir Existentialschuld (debitum)<br />

von Tatschuld (culpa) trennen. Wo<strong>für</strong> b<strong>in</strong> ich<br />

wirklich verantwortlich und wo<strong>für</strong> nicht? Und<br />

im Verhältnis zu welcher Instanz? E<strong>in</strong> Über-Ich,<br />

das nicht zwischen Gedanke und Werk unterscheiden<br />

kann? - „Ich bekenne dass ich gesündigt<br />

habe mit Gedanken, Worten und Werken“?!<br />

Oder muss man zwischen Über-Ich und dem<br />

Gewissen unterscheiden laut Mart<strong>in</strong> Buber<br />

(Schuld und Schuldgefühle)?<br />

Dr. Claus Müller differenziert den Begriff<br />

Scham durch systematische Betrachtungen über<br />

mehrere biblische Texte: die Vertreibung aus<br />

dem Paradies, Davids Demütigung von Saul,<br />

Ahitofels Selbstmord aber besonders Jesu dreifältige<br />

Frage an Petrus: „ Liebst du mich?“ E<strong>in</strong><br />

biblisches Hauptthema ist es, dass Gott e<strong>in</strong>e<br />

Grenze <strong>für</strong> die Auswirkungen der Sünde gesetzt<br />

hat, und dem Menschen neue Lebensmöglichkeiten<br />

gibt. Vielleicht könnte man von“ Felix<br />

culpa“ (August<strong>in</strong>) oder “Pecca fortiter“ (Luther)<br />

sprechen? In jedem Fall wäre es möglich, Sün-<br />

denbekenntnisse als Sehnsucht nach dem verloren<br />

gegangenen Paradies aufzufassen.<br />

Das Sündenbekennen würde damit e<strong>in</strong> wenig<br />

mehr Goodwill bekommen als das, was Prof.<br />

Klessmann ihr mitgegeben hatte. Außerdem,<br />

wie es gesagt war, ist e<strong>in</strong> Gottesdienst ohne<br />

Sündenbekennen vor Gott - und das ist etwas<br />

anders als e<strong>in</strong> Bekenntnis zum eigenen M<strong>in</strong>derwertigkeitsgefühl<br />

<strong>für</strong> den Psychologen – <strong>in</strong> der<br />

Gefahr der religiösen Selbsterhöhung (Barth!)<br />

und bequemer „Wellness-Theologie“.<br />

Und dann war es Dr. Stephan Marks und das<br />

Glas übervoll vom Wasser wie e<strong>in</strong>e Gesellschaft,<br />

die nicht ihre Scham fassen kann, und<br />

deswegen e<strong>in</strong>ige, die zum Beispiel <strong>in</strong> Holzhausen<br />

(!)wohnen, ausgrenzt. E<strong>in</strong>e charmante Vorlesung<br />

über e<strong>in</strong> uncharmantes Thema. Der vielfältige<br />

Ausdruck der Scham und des Reptil-<br />

Gehirns, und außerdem unsere Abwehrmechanismen<br />

wurden beleuchtet. Alles andere ist besser<br />

als Scham! Deswegen die übergetriebene<br />

Diszipl<strong>in</strong> (Das Weiße Band?), deswegen „Coolness“<br />

und Arroganz. Wie können wir nun als<br />

Seelsorger/<strong>in</strong>nen mit Scham umgehen? E<strong>in</strong>e<br />

erste Hilfe hat Dr. Marks uns gegeben mit Hilfe<br />

e<strong>in</strong>er Reihe von klaren E<strong>in</strong>sichten, zum Beispiel,<br />

dass Scham monologisch ist, Schuld aber<br />

mehr dialogisch<br />

Unterwegs zur Jahrestagung hatte ich das kle<strong>in</strong>e<br />

Buch der Dänisch-Ungarisch-Deutschen<br />

Schriftsteller<strong>in</strong> Johanne Ardorjan „E<strong>in</strong>e exklusive<br />

Liebe“ (2009, Luchterhand Literaturverlag,<br />

München) gelesen. Es handelt von Liebe aber<br />

auch von Scham und all den vielen D<strong>in</strong>gen, über<br />

die man nicht sprechen kann.<br />

Ich hatte die literarische Arbeitsgruppe mitgemacht.<br />

Nur Männer! Aber trotzdem e<strong>in</strong>e glückliche<br />

Wahl. Pfarrer Erhard Domay ist nun verantwortlich<br />

da<strong>für</strong>, dass me<strong>in</strong> Sommerurlaub an<br />

dem Westküste nicht nur Schwimmen, Radeln<br />

oder Wandern se<strong>in</strong> wird, sondern vor allem Lesen,<br />

(Kafkas „Brief an dem Vater“, Bernhard<br />

Schl<strong>in</strong>ks „Der Vorleser“, Hans Ulrich Reichels<br />

„Der Verlorene“ und Philip Roths „Der menschliche<br />

Makel“).<br />

Und dann war es all das Andere. Insbesondere<br />

erfreute mich die große Geduld, mit der die<br />

„E<strong>in</strong>geborenen“ mit mir und me<strong>in</strong>em<br />

17


„Kopenhagenerdeutsch“ immer umg<strong>in</strong>gen. Für<br />

mich hat sprachliches Unvermögen auch etwas<br />

mit Scham zu tun. Aber die Gespräche unter<br />

dem Feigenbaum waren immer vertrauensbildend<br />

und gehören zu me<strong>in</strong>er Freude und Nachfreude<br />

über der Tagung.<br />

Und dann war es der Ausflug nach Speyer. Zum<br />

Nachdenken anregend war es, dass die Juden <strong>in</strong><br />

Speyer dieses unterirdische Re<strong>in</strong>igungsritual<br />

hatten als e<strong>in</strong> Arzneimittel gegen Schuld und<br />

Scham, genau als strenges Ritual durchgeführt.<br />

Vielleicht hätte „Rituale“ auch e<strong>in</strong> Thema auf<br />

der Tagung se<strong>in</strong> können? Rituale s<strong>in</strong>d doch unser<br />

Geschäft!<br />

Und dann der Gästeabend mit Pfälzer Buffet –<br />

und mit Festreden. Es waren viele, aber alle<br />

waren mit Inhalt und Me<strong>in</strong>ung. Und wer kann<br />

die Rede von dem Anstaltsleiter vergessen?<br />

Oder die schwedische <strong>Ev</strong>a und die himmlische<br />

Asche? Oder das vom niederländischen Sitse<br />

vorgetragene „hoochdramatische“ Mörderdrama<br />

über Rache: „Du Schuft, du Schuft, du<br />

Schuft!“<br />

Unterwegs zurück im Zug nach Hause hatte ich<br />

viel Zeit zum Lesen. Ich hatte e<strong>in</strong> neues Buch<br />

von dem dänischen Professor <strong>in</strong> Germanistik,<br />

Per Øhrgaard gefunden, es heißt „Deutschland,<br />

Europas Herz“ (2009) – das ist auch wahr, was<br />

Gastfreundschaft betrifft.<br />

Mange tak og forhåbentlig på gensyn.<br />

Elmo Due<br />

Aus Rumänien<br />

Eg<strong>in</strong>ald N.F. Schlattner,<br />

Gefängnispfarrer<br />

557210 ROSIA-Rothberg/SB<br />

Romania<br />

Lieber und verehrter Pfarrer Mart<strong>in</strong> Faber,<br />

post festum muss ich absagen. Ich habe e<strong>in</strong>en<br />

Monat lang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em orthodoxen Nonnenkloster<br />

18<br />

im Nord-Osten Siebenbürgens zugebracht, außerhalb<br />

der vernetzten Welt (ohne Telefon, TV,<br />

Internet, Hand. Radio). Allerd<strong>in</strong>gs von dort aus<br />

auch Gefängnisse besucht.<br />

Nun b<strong>in</strong> ich unbefristet wieder hier. Vor lauter<br />

Stakkato auf dem Pfarrhof kommt man kaum<br />

zum Beten und Schlafen. Andererseits habe<br />

ich zum zweiten Mal e<strong>in</strong>e Lesereise (D, A) storniert.<br />

Es genügt mir das abwegige Dreieck <strong>in</strong><br />

dem ich mich bewege:<br />

Rothberg - mit dem vere<strong>in</strong>samten Pfarrhof und<br />

mit der Kirche der leergebeteten Bänke. Aber:<br />

mit der Dritten Welt vor der Haustür und im<br />

Haus der offenen Tür (1200 Zigeuner im Dorf,<br />

die meisten <strong>in</strong> den Lehmhütten unten am Bach,<br />

<strong>für</strong> mich ke<strong>in</strong>e ethnische Kategorie, sondern<br />

Menschen, <strong>für</strong> die niemand spricht, niemand<br />

<strong>für</strong>spricht).<br />

Dann s<strong>in</strong>d es die Gefängnisse, die ich aufsuche<br />

landesweit, und zwar als Orte der ökumenischen<br />

Begegnungen mitten <strong>in</strong> der Zeitlosigkeit (es ist,<br />

wie Sie wissen, die Beauftragung von me<strong>in</strong>er<br />

Kirche her).<br />

Und immer wieder : das Kloster Sankt Spiridon<br />

am Saume des ewigen Lebens.<br />

Ich bedanke mich da<strong>für</strong>, dass Sie an mich gedacht<br />

haben.<br />

Fragt man mich, weshalb ich mir <strong>in</strong> 'diesem<br />

Alter das noch antue' (geb.1933), als Gefängnispfarrer<br />

unterwegs zu se<strong>in</strong> (RO - 44 Haftanstalten),<br />

dann, weil ich weiß und die Schutzbefohlenen<br />

es bestätigen: Ich b<strong>in</strong> der richtige<br />

Mann am rechten Ort.<br />

Anbei Materialien und INFOS, peu a peu zu<br />

lesen oder Archiv, darunter e<strong>in</strong>e Biographie<br />

jenseits von Internet und Wikipedia. *)<br />

Gott befohlen,<br />

Eg<strong>in</strong>ald Schlattner<br />

*) Siehe <strong>in</strong> diesem MB, S.39 ; e<strong>in</strong>e Aufnahme der übrigen<br />

Texte von E. Schlattner ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der nächsten Reader<br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong> geplant.


„H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt“<br />

– <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> den sieben Bergen –<br />

Jahrestagung 2010 <strong>in</strong> Waldfischbach<br />

- Burgalben<br />

Hanna Haupt, Halle<br />

„Waldfischbach – wo liegt denn das?“ – die<br />

erstaunte Frage des „Zugbegleiters“ (früher<br />

Schaffner genannt!) <strong>in</strong> der S-Bahn von Halle<br />

(Saale) Hbf. nach Halle-Zoo (diese Station gibt<br />

es wirklich!). Ich versuchte zu erklären, wo<br />

Waldfischbach liegt. Dann sagte er: „Da möchte<br />

ich auch gern irgendwann mal h<strong>in</strong>!“. Mal wieder<br />

wurde mir klar: unser Beruf hat viele Privilegien.<br />

Dazu gehört auch die Jahrestagung der<br />

<strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

jedes Jahr an e<strong>in</strong>em anderen Ort. Zudem wird<br />

die Teilnahme, soweit ich weiß, <strong>für</strong> (fast) jeden<br />

von uns von „irgendwem“ f<strong>in</strong>anziert. Was <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong> Privileg <strong>in</strong> diesen Zeiten!<br />

Wie viele tolle, <strong>in</strong>tensive, unvergessliche Jahrestagungen<br />

durfte ich erleben: Loccum, Kirkel,<br />

Löwenste<strong>in</strong>, Freis<strong>in</strong>g, Re<strong>in</strong>hardsbrunn, Villigst,<br />

Berl<strong>in</strong>, Bad Segeberg, Wiesbaden, Loccum,<br />

Magdeburg, Ma<strong>in</strong>z, Hesselberg, (Reuthe leider<br />

nicht, weil ich am Vorabend <strong>in</strong> der Charité <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> „landete“), Bad Honnef, Schmochtitz,<br />

Berl<strong>in</strong>, Hofgeismar, Plön ... Und nun als Abschluss:<br />

Waldfischbach – „wo liegt denn das?<br />

Da möchte ich auch mal h<strong>in</strong>...“<br />

Traumhaftes Wetter, unvergesslich freundlicher<br />

Empfang, so viele nette, kompetente KollegInnen,<br />

wunderbare „Küche“ – eben e<strong>in</strong>fach<br />

„Pfalz“. Und dann dazu das spannende, schwere<br />

Thema der Tagung: „H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt –<br />

Scham, Schuld, Beschämung“!<br />

Und das alles noch nicht genug; die Mitgliederversammlung<br />

und die Vorstandswahlen gab’s<br />

auch noch! Und ich danke Mart<strong>in</strong> Faber, Kar<strong>in</strong><br />

Greifenste<strong>in</strong> und Dieter Bethkowski <strong>für</strong> ihre<br />

tolle Arbeit im Vorstand – Ihr habt die „Leitl<strong>in</strong>ien“<br />

zustande gebracht und so vieles andere<br />

mehr. Mart<strong>in</strong> nenne ich „nur“ deshalb zuerst,<br />

weil ich mit ihm im Vorstand gearbeitet habe,<br />

ehe Kar<strong>in</strong> „me<strong>in</strong>en Part“ wesentlich professioneller<br />

übernommen hat.<br />

Glücklicherweise gab es viel zum Lachen –<br />

schon am ersten Abend mit den „Wollläusen“ –<br />

e<strong>in</strong> wunderbarer Kabarettabend (auch wenn zum<br />

Schluss bei so vielen lachenden Leuten die Luft<br />

etwas knapp wurde). Danke <strong>für</strong> das tolle Programm!<br />

Etwas ernster g<strong>in</strong>g es am Dienstag mit Prof.<br />

Michael Klessmann und se<strong>in</strong>em Referat “Ich<br />

armer, elender, sündiger Mensch...“ weiter. Und<br />

dann die Regionalkonferenzen – wie <strong>in</strong>tensiv,<br />

lustig, streng, arbeitsreich oder ernst die Regionalkonferenzen<br />

und auch die Arbeitsgruppen<br />

verliefen, kann ich nur begrenzt beurteilen.<br />

Inhaltlicher Mittelpunkt war <strong>für</strong> mich das Referat<br />

von Dr. Stephan Marks: „Scham – wie sie<br />

‚funktioniert’ und wie wir konstruktiv mit ihr<br />

umgehen können“. Ich konnte nicht nur gut zuhören,<br />

sondern habe auch sehr viel „mitgenommen“,<br />

das mich weiterbeschäftigt. Gerade lese<br />

ich mit großem Gew<strong>in</strong>n se<strong>in</strong> Buch „Scham –<br />

die tabuisierte Emotion“ (Patmos-Verlag)!<br />

19


Die <strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong> Waldfischbach bedeutete <strong>für</strong><br />

mich auch „Abschied“. Am 30. Juli wurde ich<br />

<strong>in</strong> die „passive Altersteilzeit“ verabschiedet.<br />

Zwanzig Jahre <strong>Gefängnisseelsorge</strong> haben mich<br />

geprägt! Ich habe wohl auch die <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

<strong>in</strong> den neuen Bundesländern mit aufgebaut<br />

und geprägt (so jedenfalls die „Bewertung“<br />

aus dem Justizm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Magdeburg!).<br />

Nun wünsche ich dem neuen Vorstand Gottes<br />

Segen, viel Humor, Gesundheit und Gelassenheit<br />

und gute Ideen! Ich bleibe mit allen Kolle-<br />

20<br />

g<strong>in</strong>nen und Kollegen <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

verbunden, denn diese Arbeit wird mich nicht<br />

so schnell loslassen! Es war irgendwie e<strong>in</strong> Privileg,<br />

dabei zu se<strong>in</strong>!<br />

Schalom! „Möge die Straße uns zusammenführen...“<br />

(aber bitte <strong>in</strong> der Fassung und Melodie,<br />

<strong>in</strong> der ich es e<strong>in</strong>mal – ich denke bei der Bundeskonferenz<br />

2002 – „e<strong>in</strong>gebracht“ habe)!<br />

Deshalb <strong>für</strong> Hanna und alle, die (nicht) zum<br />

letzten Mal bei der Jahrestagung waren:


<strong>Ev</strong>angelischer Pressedienst (epd)<br />

Landesdienst Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz<br />

Dr. Alexander Lang, Speyer<br />

Kirchen/Strafvollzug/Personalien<br />

Gefängnispfarrer wollen Täter-Opfer-Ausgleich<br />

fördern - <strong>Ev</strong>angelische <strong>Gefängnisseelsorge</strong> hat<br />

neuen Vorstand<br />

Speyer (epd). Die evangelischen <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<br />

<strong>in</strong> Deutschland wollen die Verständigung<br />

zwischen Tätern und Opfern fördern. Der Täter-<br />

Opfer-Ausgleich sei die s<strong>in</strong>nvollste Alternative<br />

zum Strafvollzug, der <strong>in</strong> vielen Bereichen mangelhaft<br />

sei, sagte Pfarrer<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong><br />

aus Frankfurt, die ehemalige stellvertretende<br />

Vorsitzende der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland, am Freitag<br />

dem epd <strong>in</strong> Speyer. Rund 140 evangelische <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<br />

kamen im pfälzischen Waldfischbach-Burgalben<br />

von Montag bis Freitag zu<br />

ihrer Jahreskonferenz zusammen. Tagungsthema<br />

war "Scham, Schuld, Beschämung".<br />

Zum Abschluss ihrer Bundestagung wählten die<br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong>r ihren fünfköpfigen Vor-<br />

stand auf vier Jahre neu. Neuer Vorsitzender ist<br />

Pfarrer Ulli Schönrock von der Justizvollzugsanstalt<br />

Meppen <strong>in</strong> Niedersachsen, se<strong>in</strong>e erste<br />

Vertreter<strong>in</strong> ist Pfarrer<strong>in</strong> Birgit Braun vom Justizvollzugskrankenhaus<br />

Hohenasperg <strong>in</strong> badenwürttembergischen<br />

Asperg. Zweiter stellvertretender<br />

Vorsitzender wurde der Diakon Richard<br />

Strodel von der Justizvollzugsanstalt München-<br />

Stadelheim. Neuer Schatzwart ist Pfarrer<strong>in</strong> Barbara<br />

Zöller von der Angehörigenseelsorge der<br />

Justizvollzugsanstalt im hessischen Butzbach,<br />

neuer Schriftführer ist Pfarrer Jens-Peter Preis<br />

von der nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Justizvollzugsanstalt<br />

Siegburg.<br />

Der neue Vorstand will den Angaben zufolge<br />

besondere Schwerpunkte setzen <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />

und bei Alternativen zum<br />

Strafvollzug, wozu auch der Täter-Opfer-<br />

Ausgleich gehört. Auch gegen das Fesseln von<br />

schwangeren Frauen im Strafvollzug wolle die<br />

evangelische <strong>Gefängnisseelsorge</strong> angehen. Die<br />

nächste Bundeskonferenz f<strong>in</strong>det im Mai 2011 <strong>in</strong><br />

Niedersachsen statt. In den rund 250 Strafanstalten<br />

<strong>in</strong> Deutschland arbeiten etwa 270 evangelische<br />

und ebenso viele katholische <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r.<br />

www.epd.de; www.evangelischerkirchenbote.de<br />

21


22<br />

Impressionen von der Jahrestagung <strong>in</strong> Waldfischbach-Burgalben


Schottlandexkursion der AG U-<br />

Haft im Juni 2010<br />

Frank Baumeister, Nürnberg<br />

Was werde ich zu Hause erzählen?<br />

So fragten wir uns am Ende von gut vier <strong>in</strong>haltsreichen<br />

Tagen. Acht <strong>in</strong> der Untersuchungshaft<br />

<strong>in</strong> deutschen Gefängnissen tätige Seelsorger<strong>in</strong>nen<br />

und Seelsorger waren unterwegs <strong>in</strong> Schottland.<br />

Noch vor e<strong>in</strong>igen Jahren wurde von <strong>in</strong>ternationalen<br />

Kommissionen das „Kübeln“ angeprangert.<br />

Mittlerweile gibt es abgetrennte Toiletten<br />

und mit e<strong>in</strong>er ganzen Menge Geld, das <strong>in</strong><br />

die Hände genommen wurde, s<strong>in</strong>d im Bereich<br />

der Ausstattung der Gefängnisse, dem Besucherbereich<br />

und den so genannten L<strong>in</strong>kcenters<br />

viele Verbesserungen entstanden. Es ist sicherlich<br />

schwierig <strong>in</strong> dieser Kürze den Strafvollzug<br />

zweier Länder zu vergleichen, doch bereits als<br />

vor ziemlich genau fünf Jahren Mart<strong>in</strong> Faber <strong>für</strong><br />

drei Monate <strong>in</strong> Schottland arbeitete, fanden sich<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em abschließenden Bericht die augenfällig<br />

anderen Details wieder, die auch uns bei<br />

dieser Reise bee<strong>in</strong>druckten:<br />

• E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> den künftigen Alltag <strong>in</strong><br />

Unfreiheit durch Film, mehrsprachig per<br />

Dauerübertragung direkt h<strong>in</strong> zum Zellenfernseher<br />

oder durch Tagesgruppenveranstaltung,<br />

bei der auch die Seelsorger/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e Chance<br />

haben sich an Gefangene zu wenden.<br />

• Auf den Zellengängen hängen Kartentelefone,<br />

freilich mit dem Wissen um die Aufzeichnung<br />

der Gespräche.<br />

• Täglich s<strong>in</strong>d Besuche möglich, am Wochenende<br />

Samstag oder Sonntag.<br />

• Post wird nicht auf Schrift sondern nur auf<br />

„Beipack“ kontrolliert, bei der Ausgabe nur<br />

<strong>in</strong> Gegenwart des Gefangenen.<br />

• Essen f<strong>in</strong>det geme<strong>in</strong>sam statt, Aufschluss ist<br />

den ganzen Tag über.<br />

• Es gibt das Listener-System, <strong>in</strong> dem Gefangene<br />

<strong>für</strong> Gefangene als speziell e<strong>in</strong>gewiesene<br />

und ausgewiesene Zuhörer arbeiten.<br />

• Bedienstete tragen Headset-Sprechfunk, mit<br />

Hilfe dessen e<strong>in</strong> <strong>für</strong> andere nicht hörbarer guter<br />

Kommunikationsweg besteht zum effektiveren<br />

Holen und Br<strong>in</strong>gen bzw. Mitnehmen<br />

von Gefangenen.<br />

Wer war nun unterwegs aus der Bundeskonferenz:<br />

Frank Baumeister (Nürnberg), Klaudia<br />

Gierke-He<strong>in</strong>rich (Limburg), Hanna Hirt (Hamburg),<br />

Christoph Nell-Wolters (Kleve), Peter<br />

Stetzelberger (Mannheim/Heidelberg), Richard<br />

Strodel (München), Rolf Watermann (Berl<strong>in</strong><br />

Moabit, Charlottenburg) und Mart<strong>in</strong> Faber<br />

(Weiterstadt).<br />

Bill Taylor Frank Baumeister<br />

Die Berichte zur gesamten Reise liegen vor und<br />

s<strong>in</strong>d im Intranet unter U-Haft abrufbar.<br />

An dieser Stelle mag der gekürzte Bericht von<br />

Hanna Hirt, die nunmehr Hamburg verlässt,<br />

dienen. Er br<strong>in</strong>gt exemplarisch e<strong>in</strong>iges, was<br />

auch <strong>in</strong> den anderen zu f<strong>in</strong>den ist. Für Menschen,<br />

die detaillierteres Interesse haben, seien<br />

aber auch alle anderen wärmstens empfohlen.<br />

Auch zur Arbeitsweise des e<strong>in</strong>zigen schottischen<br />

Privatgefängnisses <strong>in</strong> Kilmarnock.<br />

Ed<strong>in</strong>burgh – „Her Majestys Prison“ (HMP)<br />

Das Gefängnis ist 1925 <strong>in</strong> Betrieb genommen<br />

worden, hat kürzlich e<strong>in</strong>e modern gestaltete,<br />

lichte E<strong>in</strong>gangshalle erhalten: Durch die großen,<br />

sehr hochgezogenen, schrägen Glasfenster kann<br />

das Licht e<strong>in</strong>strömen. Wenn man dem Besuchsschalter<br />

den Rücken zudreht, schaut man <strong>in</strong> den<br />

weiten Himmel… Alles wirkt sauber. Das Personal<br />

empfängt nicht nur unsere Besuchergruppe<br />

freundlich.<br />

25


E<strong>in</strong> großes, gut ausgestattetes Besuchszentrum<br />

ist angegliedert.<br />

Es gibt ausreichend Parkplätze und e<strong>in</strong>e Kant<strong>in</strong>e<br />

<strong>für</strong> das Personal mit Sofabereich und TV, <strong>in</strong><br />

dem man mal abschalten kann. Die Kant<strong>in</strong>e bef<strong>in</strong>det<br />

sich außerhalb des Sicherheitsbereiches.<br />

HMP Barl<strong>in</strong>nie Hall<br />

In dem Knast s<strong>in</strong>d ca. 700 männliche Inhaftierte<br />

untergebracht, davon zur Zeit 187 Haftplätze<br />

<strong>für</strong> „remander“/U-Häftl<strong>in</strong>ge; die übrigen<br />

s<strong>in</strong>d „convicted“/Strafhäftl<strong>in</strong>ge. Nach Möglichkeit<br />

sollen Straf- und U-Haft getrennt untergebracht<br />

werden, ebenso Personen zwischen 16-21<br />

Jahren und „Gefährdete“. Das alles ist aber wegen<br />

der Überbelegung nur sehr bed<strong>in</strong>gt möglich.<br />

Im Gespräch mit der aufsichtführenden<br />

Beamt<strong>in</strong> wird die Arbeit auf den Stationen beschrieben:<br />

Die jungen Leute s<strong>in</strong>d laut, aggressiv,<br />

unbeherrscht und haben es nicht gelernt,<br />

sich sozial zu verhalten. Remander, convicted,<br />

segregates, longlifes, Jugendliche: Sie alle s<strong>in</strong>d<br />

auf e<strong>in</strong>en Blick zu unterscheiden an der Farbe<br />

ihres Shirts (orange, mauve, grau, grün…).<br />

26<br />

Strafhaft und U-Haft s<strong>in</strong>d gemixt vom ersten<br />

Tag an, der Aufschluss ist bis zu 15 - 17 Stunden<br />

täglich, das Telefonieren ist vom 1. Tag an<br />

möglich, allerd<strong>in</strong>gs werden Telefonate bis zu 90<br />

Tagen gespeichert. Bei Revisionen ist der Inhaftierte<br />

zugegen und weiß, wer se<strong>in</strong>e Sachen<br />

durchsucht hat. Selbstverständlich dürfen Briefe<br />

vom Personal nicht gelesen werden (Frucht e<strong>in</strong>er<br />

Intervention der Menschrechtskommission).<br />

Die Persönlichkeitsrechte s<strong>in</strong>d besser geschützt<br />

als <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Die grundlegenden sozialen Probleme der<br />

Häftl<strong>in</strong>ge werden im „l<strong>in</strong>k-center“ aufgenommen<br />

und zügig per Beratung bearbeitet,<br />

nachdem zuvor auf der Station über Fragebögen<br />

Selbstauskünfte zur Wohnsituation, dem Drogenkonsum,<br />

etc. e<strong>in</strong>geholt werden. Wie überall<br />

<strong>in</strong> den schottischen Haftanstalten wird die Beratung<br />

von externen Kräften geleistet - gern auch<br />

<strong>in</strong> Zusammenarbeit mit dem chapla<strong>in</strong>cy team.<br />

Die Inanspruchnahme des beraterischen Angebotes<br />

ist selbstverständlich freiwillig und f<strong>in</strong>det<br />

regen Zuspruch.<br />

Ed<strong>in</strong>burgh House – „Her Majestys Prison“<br />

Uns wird e<strong>in</strong>e Besonderheit des schottischen<br />

Rechtssystems erläutert: <strong>in</strong>nerhalb von 80 Tagen<br />

muss die Anklageschrift zugestellt werden<br />

(spätestens am 80. Tag mittags um 12 Uhr!)<br />

und nach 150 Tagen U-Haft muss das Verfahren<br />

eröffnet se<strong>in</strong>.<br />

The hub = die Nabe: Dreh- und Angelpunkt<br />

des Knastes ist „the hub“. Zu diesem Angebotsensemble<br />

gehört die mediz<strong>in</strong>ische Abteilung,<br />

die Sprechzimmer <strong>für</strong> Berater und Anwälte, das


„l<strong>in</strong>k-center“ und der „prison chapla<strong>in</strong> service-<br />

Bereich“.<br />

Die Zusammenarbeit von externen BeraterInnen,<br />

den chapla<strong>in</strong>s und bisweilen auch der Organisation<br />

„H O P E“ (e<strong>in</strong> nicht religiös orientiertes<br />

Freiwilligen-Helfersystem) f<strong>in</strong>det statt.<br />

Die Mitarbeit der chapla<strong>in</strong>s wird ausdrücklich<br />

vom schottischen Strafvollzug gefördert, angefragt<br />

und wertgeschätzt. Auch das Personal<br />

br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e Anerkennung zum Ausdruck.<br />

Die Sprechzimmer <strong>für</strong> die AnwältInnen und<br />

die externen BeraterInnen im l<strong>in</strong>k center s<strong>in</strong>d<br />

vollverglast und komplett e<strong>in</strong>sehbar.<br />

Das religiöse Zentrum liegt separat, nicht e<strong>in</strong>sehbar<br />

und ist ausgestattet mit e<strong>in</strong>er bequemen<br />

Sitzecke, großem e<strong>in</strong>deutig geprägtem Andachtsraum<br />

mit gepolsterten Stühlen, Büro und<br />

PC, Toilette, Gruppenraum und Pantry. Es gibt<br />

ke<strong>in</strong>e Kameraüberwachung dort.<br />

Die Organisation des multi faith teams verantwortet<br />

zur Zeit der Anglikaner Coll<strong>in</strong> Reid.<br />

Zum Team <strong>in</strong> Ed<strong>in</strong>burgh gehören der SPS-<br />

Supervisor Bill Taylor von der Church of<br />

Scottland, (der <strong>für</strong> die gesamte Arbeit <strong>in</strong> den<br />

schottischen Gefängnissen gegenüber dem<br />

Strafvollzug verantwortlich ist), e<strong>in</strong> katholischer<br />

Priester und Mitarbeiter der Heilsarmee. Der<br />

Koord<strong>in</strong>ator C. Reid koord<strong>in</strong>iert <strong>für</strong> den Knast<br />

das Angebot <strong>für</strong> Buddhisten, Moslems, H<strong>in</strong>dus…<br />

Alle neu Inhaftierten werden den Geistlichen<br />

gemeldet; über e<strong>in</strong>en Besuch wird abgeklärt, ob<br />

sie Begleitung wünschen. Kontakte zu speziellen<br />

Denom<strong>in</strong>ationen werden ggf. hergestellt.<br />

Jeder Inhaftierte erhält auf Wunsch e<strong>in</strong>en Flyer<br />

mit den Informationen.<br />

Neben den Gottesdiensten gehören <strong>Glaube</strong>nskurse<br />

(„christianity explore“) und e<strong>in</strong> Gruppenangebot<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Sexualdelikten zum<br />

derzeitigen Programm.<br />

Es wird erwähnt, dass manche Gefangene sich<br />

nicht gern mit Geistlichen sehen lassen und eher<br />

versteckt um Gespräch, Kontakt und Beistand<br />

bitten. Wer Kontakt zum Geistlichen aufnimmt,<br />

könnte als schwächlich angesehen werden. Die<br />

Inhaftierten lassen sich auf den Stationen <strong>in</strong><br />

Bücher e<strong>in</strong>tragen und bitten um Besuche.<br />

Ausstattungsbesonderheit: Grundsätzlich<br />

verfügt jede Zelle im schottischen Strafvollzug<br />

über e<strong>in</strong> fest montiertes TV-Gerät; Inhaftierte<br />

mit E<strong>in</strong>kommen oder Bargeld s<strong>in</strong>d gesetzlich<br />

verpflichtet, sich mit 60 Cent pro Woche an<br />

den Kosten zu beteiligen.<br />

Die Verschleuderung von Arbeitskraft über das<br />

Here<strong>in</strong>- und H<strong>in</strong>ausbr<strong>in</strong>gen von Fernsehgeräten<br />

ist beendet; Reparaturen, etc. alles bleibt kontrolliert<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand. Nachrichten können aufgespielt<br />

werden. U-Häftl<strong>in</strong>ge bleiben über die<br />

Vorgänge <strong>in</strong> der Welt <strong>in</strong>formiert.<br />

Cornton Vale – Prayer June 2010<br />

Frauenhaftanstalt Cornton Vale<br />

Heavenly Father,<br />

In these times of holidays we ask that all staff<br />

will f<strong>in</strong>d times of rest, relaxation, refreshment,<br />

renewal and recreation: give rest to tired m<strong>in</strong>ds<br />

and bodies, and to weary spirits; give relaxation<br />

from care, responsibility, tension, pressure or<br />

worry; give refreshment to energy, enthusiasm,<br />

good humour, <strong>in</strong>itiative and imag<strong>in</strong>ation, and<br />

positive th<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g; give renewal to sensitivity,<br />

patience, hope, and the will<strong>in</strong>gness to listen<br />

carefully; recreate our vision of our service for<br />

effective teamwork, personal commitment, the<br />

welfare of co-workers and prisoners, the good<br />

of our community; and, so give us the satisfaction<br />

that only comes from faithfulness.<br />

27


We pray for families both of staff and of prisoners.<br />

We thank you for the gift of family and for<br />

the tests of family life.<br />

We thank you that family l<strong>in</strong>ks us <strong>in</strong> our humanity<br />

as a common factor we share; that beh<strong>in</strong>d<br />

our official role and public identities, we have<br />

personal roles and identities. We thank you for<br />

the joys, contentments and celebrations of family<br />

life – birthdays, anniversaries, wedd<strong>in</strong>gs,<br />

gather<strong>in</strong>gs and parties.<br />

We thank you also for the tests of family life,<br />

the times of illness, sorrow, worry, part<strong>in</strong>g, see<strong>in</strong>g<br />

change and new stages of life. We ask you<br />

to lead us and strengthen us through these times<br />

as we learn about ourselves, discover unknown<br />

resources, and f<strong>in</strong>d wisdom, maturity and acceptance.<br />

Help us <strong>in</strong> all these to be free of bitterness, despair,<br />

and from just giv<strong>in</strong>g up, but help us to<br />

grow <strong>in</strong> grace, to f<strong>in</strong>d the rich mean<strong>in</strong>g of love,<br />

and the richest mean<strong>in</strong>g of your love.<br />

We pray for those we know whose families or<br />

whose family lives are difficult or stressful. We<br />

ask for no quick fix nor an <strong>in</strong>stant cure but for<br />

those qualities of character that help them to<br />

endure and to work through together. Let us be<br />

wise to wait, ready to help, always to understand<br />

and faithful to pray.<br />

We pray for the medical, psychological, support<br />

and rehabilitation services <strong>in</strong> our prison that<br />

they overcome any disappo<strong>in</strong>tment <strong>in</strong> their<br />

work, be delivered from rout<strong>in</strong>e, and th<strong>in</strong>k always<br />

of the value of their work and the human<br />

value of those they m<strong>in</strong>ister to.<br />

We pray for prison chapla<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Germany,<br />

thankful for what we have shared with and<br />

learned from them, remember<strong>in</strong>g the many<br />

challenges opportunities, and privileges we<br />

have <strong>in</strong> common, and ask that our ties of fellowship<br />

and friendship may cont<strong>in</strong>ue and<br />

grow.<br />

We pray for our fellow chapla<strong>in</strong> Col<strong>in</strong> Shreenan<br />

and his wife Laura as they m<strong>in</strong>ister <strong>in</strong> Zimbabwe<br />

br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g help to the vulnerable and<br />

weak, the young and the elderly, the sick and<br />

the hungry; visit<strong>in</strong>g prisons, schools, hospitals,<br />

and care homes, br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g your presence and<br />

your word. May they be joyful <strong>in</strong> their service,<br />

28<br />

faithful <strong>in</strong> their witness, provided for their needs<br />

and m<strong>in</strong>istry, and safe <strong>in</strong> all their journeys and<br />

<strong>in</strong> their return.<br />

Lord, you have made us to be Citizens of<br />

Heaven and of Earth: make us good citizens of<br />

our country and community, work<strong>in</strong>g for our<br />

common good, liv<strong>in</strong>g peaceably and lawfully<br />

together, and prepare us for life with you and all<br />

the sa<strong>in</strong>ts, and let that eternal life beg<strong>in</strong> now <strong>in</strong><br />

worship, service, faith, hope, and love, through<br />

Jesus Christ our Lord.<br />

AK Restorative Justice<br />

Friedrich Schwenger<br />

Auf der BUKO <strong>in</strong> Hofgeismar 2008 wurde der<br />

AK „Restorative Justice“ (AKRJ) <strong>in</strong>s Leben<br />

gerufen. Aufgabe des AKRJ war <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

die Ausarbeitung e<strong>in</strong>es Projektes, um im S<strong>in</strong>n<br />

des Zieles von „Restorative Justice“ etwas zur<br />

Versöhnung von Opfer-Täter beizutragen. Dieses<br />

<strong>in</strong>zwischen vorliegende Projektkonzept verstehen<br />

wir als Bauste<strong>in</strong>, um Empathie des Täters<br />

mit dem Opfer zu fördern und bieten dieses<br />

ausgearbeitete Projekt allen KollegInnen <strong>für</strong> die<br />

eigene Praxis an (Kontakt: Friedrich Schwenger,<br />

f.schwenger@t-onl<strong>in</strong>e.de ).<br />

Unter dem Titel „auf Dich kommt es an – wiederherstellende<br />

Gerechtigkeit – Versöhnung<br />

mit sich selbst, mit den anderen, mit der Gesellschaft“<br />

bietet der Kurs e<strong>in</strong>e Gelegenheit, über<br />

Beziehungsgestaltung, Gefühle und Bedürfnisse<br />

nachzudenken und dabei Neues <strong>für</strong> sich zu entdecken<br />

– e<strong>in</strong>e ernste Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />

sich, se<strong>in</strong>er Persönlichkeit und se<strong>in</strong>em sozialen<br />

Verhalten. Täter-Opfer? – Opfer-Täter? Wer<br />

braucht Was? – Wer fühlt wen? – Was braucht<br />

die Gesellschaft? – Ich aber kann mehr! – Ich<br />

kann verstehen! – Ich kann mitfühlen! – Ich<br />

kann mich ändern!<br />

Der Kurs umfasst ca. 14 E<strong>in</strong>heiten, die jeweils<br />

auf zwei Stunden angelegt s<strong>in</strong>d. Die ersten Pro-


eläufe <strong>in</strong> der JVA-Meppen und im MRV-<br />

Mor<strong>in</strong>gen haben deutlich gemacht, dass sich<br />

dieses Projekt lohnt.<br />

Bei unserem letzten AK-Treffen haben wir<br />

überlegt, ob und wie es weitergehen kann mit<br />

der Arbeit im AK. E<strong>in</strong> möglicher weiterer<br />

Schritt könnte die Planung und Durchführung<br />

e<strong>in</strong>es Symposium-Tages zum Thema<br />

„Restorative Justice“ se<strong>in</strong>, zu dem u.a. Vertreter<br />

der Justiz, des Justizvollzugs, der Straffälligen-<br />

und Bewährungshilfe e<strong>in</strong>geladen werden sollen.<br />

E<strong>in</strong> solcher Tag könnte wichtig se<strong>in</strong>, um Verantwortlichen<br />

der Justiz, des Justizvollzugs und<br />

der Straffälligen- und Bewährungshilfe Brücken<br />

zu dem neuen Paradigma des „Restorative Justice“<br />

zu bauen.<br />

In Niedersachsen haben wir den Versuch unternommen,<br />

e<strong>in</strong>en AK „Restorative Justice“ zu<br />

gründen. Dieser erste Versuch ist nicht gelungen.<br />

Grund da<strong>für</strong> war m.E. vor allem, dass die<br />

Grundgedanken und Anliegen des „Restorative<br />

Justice“ zu wenig bekannt s<strong>in</strong>d und erstmal<br />

nicht <strong>in</strong> das uns gewohnte Paradigma des Vergeltens<br />

und der Strafe passen.<br />

Auf der anderen Seite ist es aber so, dass es <strong>in</strong><br />

Europa e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Projekten und<br />

Programme des „Restorative Justice“ gibt und<br />

es von daher S<strong>in</strong>n macht, dass auch wir <strong>in</strong> der<br />

BRD uns damit beschäftigen.<br />

Auf der IPCA-Worldwide Conference vom<br />

20.-25. August 2010 <strong>in</strong> Stockholm wurde<br />

berichtet, das es „Restorative Justice“ -<br />

Modelle bzw. „Restorative Justice“ -<br />

Projekte <strong>in</strong> den baltischen Ländern, <strong>in</strong><br />

Ungarn und <strong>in</strong> Armenien (mit norwegischer<br />

Unterstützung; u.a. Nils Christi), <strong>in</strong><br />

Österreich und <strong>in</strong> Belgien gibt. Dazu<br />

kommen e<strong>in</strong> paar isolierte E<strong>in</strong>zelprojekte <strong>in</strong><br />

Südeuropa, die allerd<strong>in</strong>gs nicht näher<br />

bezeichnet wurden.<br />

Vor allem <strong>in</strong> Norwegen bemüht man sich, Täter-Opfer-Mediationen<br />

anstatt von Gefängnisstrafen<br />

zu <strong>in</strong>itiieren.<br />

Vieles lässt sich auf der Homepage<br />

http://www.euforumrj.org/ nachlesen und erfahren.<br />

Aus unserer Arbeit im AK und aus dem, was<br />

wir <strong>in</strong> Niedersachsen erlebt bzw. was <strong>in</strong> Stockholm<br />

berichtet wurde, ergeben sich Fragen <strong>für</strong><br />

die Weiterarbeit im AK:<br />

• Wie ist der Begriff „community“ zu verstehen<br />

und zu übertragen?<br />

E<strong>in</strong> Kerngedanke im „Restorative Justice“ ist:<br />

Verbrechen ist e<strong>in</strong>e Wunde der Geme<strong>in</strong>schaft!<br />

Verbrechen braucht Heilung der Täter,<br />

der Opfer und des Geme<strong>in</strong>wesens (community)!<br />

E<strong>in</strong>e Idee aus der IPCA-AG <strong>in</strong> Stockholm<br />

war, unter „community“ die Familien der Täter/Opfer,<br />

das soziale Umfeld, die geschädigte<br />

oder <strong>in</strong> Mitleidenschaft gezogene Firma,<br />

die Freunde etc. zu verstehen.<br />

• Es gibt Delikte ohne personalisierte Opfer<br />

(z.B. bei Drogendelikten) – wer ist dann Opfer?<br />

• Es gibt Opfer sexueller Gewalt, die dem Täter<br />

<strong>in</strong> die Augen schauen wollen, was aber<br />

durch Justiz oder Therapeuten verh<strong>in</strong>dert<br />

wird. Hier braucht es neue Initiativen und e<strong>in</strong>e<br />

gute und lange Vorbereitung. Der Täter-<br />

Opfer-Ausgleich <strong>in</strong> der BRD hat wenig Erfahrung<br />

im Zusammenhang von schweren<br />

Gewalttaten. In Niedersachsen haben wir mit<br />

Teilnehmern des „Restorative Justice“ – AK<br />

Nds. vere<strong>in</strong>bart, e<strong>in</strong> und zwei Praxismodelle<br />

zu versuchen.<br />

• Interessant wäre es, e<strong>in</strong>en RJ-Prozess <strong>für</strong> den<br />

Bereich der „Sicherungsverwahrung“ zu<br />

entwickeln (das würde auch dem „to heal the<br />

community“ gut entsprechen).<br />

• Als Praxiselement ist „to shame“ oder als<br />

Programm „re<strong>in</strong>tegrative sham<strong>in</strong>g“ zentral<br />

<strong>für</strong> “Restorative Justice”-Prozesse. Geprägt<br />

wurde dieses Konzept von J. Braithwaite<br />

(weltweit bekannter australischer Krim<strong>in</strong>ologe<br />

und Soziologe; geb. 1951 <strong>in</strong> Ipswich).<br />

Braithwaite verknüpft verschiedene traditionelle<br />

soziologische Erklärungsansätze (wie<br />

Subkulturtheorie, B<strong>in</strong>dungstheorie u.a.) mit<br />

dem „Label<strong>in</strong>g Approach“ (bedeutet zunächst<br />

Reaktionsansatz, Etikettierungsansatz<br />

beziehungsweise Def<strong>in</strong>itionsansatz). Er stellt<br />

e<strong>in</strong>en neueren Ansatz der Soziologie abweichenden<br />

Verhaltens dar, der das Phänomen<br />

Krim<strong>in</strong>alität vor allem von den Reaktionen<br />

29


30<br />

und Sanktionen der Gesellschaft her beschreibt.<br />

Devianz ist demnach ke<strong>in</strong>e im Handeln<br />

des betrachteten Täters auff<strong>in</strong>dbare Qualität.<br />

Sie ist vielmehr e<strong>in</strong>e Konsequenz der<br />

Anwendung von Regeln und Sanktionen auf<br />

den Täter. Dieser Täter wird damit etikettiert,<br />

also "gelabelt". Der zentrale Begriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Theorie ist das „sham<strong>in</strong>g“ (Beschämung).<br />

Dadurch wird im Individuum e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne<br />

Kontrolle erzeugt, die ihm die Richtung <strong>für</strong><br />

sozial akzeptiertes Verhalten vorgibt. Beschämung<br />

dient dazu, Empathie, tiefe<br />

Schulde<strong>in</strong>sicht, echte Reue und ehrliche<br />

Wiedergutmachung erst möglich zu machen<br />

– soll also re-<strong>in</strong>tegrativ wirken. Ziel des<br />

„re<strong>in</strong>tegrative sham<strong>in</strong>g“ ist, dass der Täter<br />

Fehler erkennt, gesellschaftlichen und moralischen<br />

Normen vertraut, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Kontrolle<br />

erzeugt und die soziale Missbilligung<br />

se<strong>in</strong>er Tat akzeptiert und empathische Reue<br />

zeigt.<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle und gute Verb<strong>in</strong>dung<br />

des „resham<strong>in</strong>g“ und Seelsorge? Wie könnte<br />

e<strong>in</strong>e Praxis des „resham<strong>in</strong>g“ aussehen?<br />

Im AKRJ gibt es Lust und Bereitschaft, diese<br />

Fragen weiter zu bearbeiten und andere Projekte<br />

zu planen.<br />

„Forgotten People“ - Bericht von<br />

der sechsten IPCA Worldwide<br />

<strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong> Stockholm vom 20.<br />

bis 25. August 2010<br />

Felix Walter<br />

„E<strong>in</strong> weltweites Netzwerk von <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen<br />

und Seelsorgern knüpfen, stärken<br />

und ausrüsten, <strong>für</strong> all diejenigen, die Gottes<br />

Liebe weitergeben und sich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e heilende<br />

Gerechtigkeit (restorative justice) e<strong>in</strong>setzen“ so<br />

lautet die Mission oder der Auftrag von IPCA -<br />

International Prison Chapla<strong>in</strong>s Association.<br />

1985 wurde IPCA als „movement“/ als Bewegung<br />

auf dem Gelände des Ökumenischen Rates<br />

der Kirchen im Schweizer Bossey gegründet.<br />

Seitdem treffen sich alle fünf Jahre die „prisonchapla<strong>in</strong>s“<br />

dieser Welt bei e<strong>in</strong>er von IPCA organisierten<br />

und durchgeführten <strong>Konferenz</strong>.<br />

Dieses Jahr fand die <strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong> Schweden<br />

statt, und ich fuhr als e<strong>in</strong>er der sechs Delegierten<br />

<strong>für</strong> Deutschland h<strong>in</strong>. Relativ kurzfristig nom<strong>in</strong>iert,<br />

war es <strong>für</strong> mich die erste IPCA-<br />

<strong>Konferenz</strong>. So wusste ich nicht, was mich erwarten<br />

würde. Wie ist das, wenn die christlichen<br />

Geistlichen aus aller Herren Länder auf e<strong>in</strong>ander<br />

treffen?<br />

Erwartungsgemäß war es e<strong>in</strong> bunter Haufen,<br />

nicht nur die Afrikaner mit ihren bunten Kleidern<br />

und Hüten, auch die osteuropäischen Talare<br />

und Trachten und die vielfarbigen skand<strong>in</strong>a-


vischen Kollarhemden (hier fiel mir die große<br />

Zahl der Pfarrer<strong>in</strong>nen auf!) sorgten <strong>für</strong> Farbe.<br />

Genauso schillernd wie die Farben, waren die<br />

Menschen<br />

„Where do you come from?“ wurde immer wie-<br />

der und wieder und wieder gefragt, wenn man<br />

bei Tisch zusammen saß, sich im Gang traf, im<br />

<strong>Konferenz</strong>raum nebene<strong>in</strong>ander saß. Und meistens<br />

war diese Frage wie e<strong>in</strong> Schlüssel, der e<strong>in</strong>em<br />

die Tür zu e<strong>in</strong>er ganz neuen Welt auftat.<br />

Denn 320 Delegierte aus 70 Ländern waren gekommen.<br />

Und wenn sie von ihrer Heimat und<br />

„ihren“ Gefängnissen berichteten, dann war<br />

Vieles ganz ganz anders und Vieles war auch<br />

erschreckend gleich. Ich kann hier nur e<strong>in</strong> paar<br />

persönliche Begegnungen schildern.<br />

- Etwa e<strong>in</strong> Gespräch mit e<strong>in</strong>er Geistlichen aus<br />

Sierra Leona, wo Seelsorge schlicht und e<strong>in</strong>fach<br />

bedeutet, zu verh<strong>in</strong>dern, dass Menschen ohne<br />

familiäre Unterstützung im Gefängnis verhungern<br />

oder an Krankheiten sterben.<br />

- E<strong>in</strong> Kollege aus Irland hat mir von se<strong>in</strong>er Zerrissenheit<br />

im Umgang mit IRA Gefangenen<br />

erzählt, die wieder drohen sich tot zu hungern.<br />

Und jetzt, wo das Fe<strong>in</strong>dbild der harten Margaret<br />

Thatcher fehlt, ist der Umgang mit diesen Menschen,<br />

ihrem fanatischen Hass und ihrer wüten-<br />

den Todessehnsucht fast noch schwerer geworden.<br />

- Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong> Gespräche mit e<strong>in</strong>em<br />

amerikanischen Chapla<strong>in</strong>, der war total witzig<br />

und konnte wunderbare Anekdoten mit Gefangenen<br />

zum Besten geben. Aber dann war er auf<br />

e<strong>in</strong>mal sehr ernst und erzählte von se<strong>in</strong>em Land,<br />

das Menschen so zügellos e<strong>in</strong>sperrt wie ke<strong>in</strong><br />

anderes, das angeblich so fromm und doch so<br />

gnadenlos ist.<br />

- Der Kollege aus Pakistan zeigte Bilder von der<br />

Flut, die er selber vor e<strong>in</strong> paar Tagen gemacht<br />

hatte. Auf e<strong>in</strong>mal war die Flut ke<strong>in</strong>e unpersönliche<br />

Katastrophe aus dem Heute-Journal mehr,<br />

sondern hatte Gesichter. Klar warb er auch um<br />

f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung. Um mich und me<strong>in</strong>e<br />

Geme<strong>in</strong>de zu motivieren, sagte er, er helfe auch<br />

Moslems - so e<strong>in</strong>e Notlage wäre e<strong>in</strong>e gute Gelegenheit<br />

zur Mission. Me<strong>in</strong> Befremden darüber<br />

verstand er nicht.<br />

„Forgotten People“ war das Thema der <strong>Konferenz</strong>.<br />

Im Grunde g<strong>in</strong>g es um Menschenrechte.<br />

Und mit e<strong>in</strong>em Tiefschlag <strong>in</strong> Sachen Menschenrechte<br />

nahm die <strong>Konferenz</strong> ihren Anfang. 320<br />

Delegierte aus 70 Ländern, das kl<strong>in</strong>gt nach viel,<br />

allerd<strong>in</strong>gs waren weitaus mehr angemeldet.<br />

31


Doch die Schwedische Regierung hatte über<br />

100 Teilnehmern - zumeist aus Afrika - das E<strong>in</strong>reisevisa<br />

verweigert. Zu groß war angeblich die<br />

Sorge, sie würden nicht mehr nach Hause wollen.<br />

Sogar e<strong>in</strong>er der beiden IPCA Repräsentanten<br />

<strong>für</strong> Afrika - Jean Didier Mboyo aus dem<br />

Kongo - durfte nicht kommen. Die „Festung<br />

Europa“ mit dem Schengener-Abkommen als<br />

Festungswall war auf e<strong>in</strong>mal nicht nur e<strong>in</strong> politischer<br />

Begriff, sondern Tatsache. Pfarrer<br />

Leißer, Referent <strong>für</strong> Menschenrechte und Migration<br />

bei der EKD, bestätigte diese Entwicklung<br />

beim letzten Treffen des IPCA Arbeitskreises.<br />

Deutschland wäre bei der Visa-Vergabe<br />

voraussichtlich ebenso restriktiv gewesen wie<br />

Schweden.<br />

Sister Hedwig, Kamerun Mart<strong>in</strong> Faber, D<br />

Die Vorträge der <strong>Konferenz</strong> werden im Laufe<br />

des Oktobers auf der IPCA website<br />

(www.ipcaworldwide.org) ersche<strong>in</strong>en, manche<br />

vielleicht sogar <strong>in</strong> deutscher Übersetzung im<br />

nächsten Reader <strong>Gefängnisseelsorge</strong>. Deshalb<br />

hier e<strong>in</strong> paar persönliche E<strong>in</strong>drücke, um das<br />

Interesse zum Weiterlesen zu wecken:<br />

Den höchsten Bekanntheitsgrad unter den Referenten<br />

hatte sicherlich die englische Baronesse<br />

Vivian Stern, die sich als Mitglied des engli-<br />

32<br />

schen Parlamentes sowie durch zahlreiche Publikationen<br />

schon seit Jahren <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en menschenwürdigen<br />

und gerechten Strafvollzug e<strong>in</strong>setzt.<br />

In aller Welt bilden - so Vivian Stern - bestimmte<br />

Bevölkerungsgruppen e<strong>in</strong>en überproportionalen<br />

Anteil an den Gefangenen: Arme, (psychisch)<br />

Kranke, Arbeitslose oder Angehörige<br />

e<strong>in</strong>er bestimmten M<strong>in</strong>orität. Ihre zentrale These<br />

ist, dass wir uns weltweit im Strafvollzug nur zu<br />

e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil mit wirklich Krim<strong>in</strong>ellen<br />

beschäftigen. Zumeist ist der Strafvollzug e<strong>in</strong>e<br />

grausame, unprofessionelle und ungerechte<br />

Weise, wie Gesellschaften mit wenig oder gar<br />

nicht <strong>in</strong>tegrierten Bevölkerungsgruppen umgehen.<br />

Missl<strong>in</strong>gt Integration, steigt der Anteil der<br />

Inhaftierten an der Gesamtbevölkerung.<br />

Schlusslicht s<strong>in</strong>d hier die USA, Russland und<br />

Ch<strong>in</strong>a. Deutschland steht mit 0,9 Promille noch<br />

relativ gut da, die Gesamtanalyse trifft aber<br />

auch bei uns <strong>in</strong>s Schwarze.<br />

Andrew Coyle - Professor am K<strong>in</strong>g´s College<br />

der Londoner Universität und ehemaliger Gefängnisleiter<br />

- stellte sich der Frage, ob Gefängnis<br />

und Menschenwürde vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d. Es gibt<br />

immer wieder Äußerungen, dass Gefangene mit<br />

ihrer Verurteilung alle bürgerlichen Rechte<br />

verwirkt hätten. E<strong>in</strong>er Entscheidung des Obersten<br />

Gerichtshofes von England folgend vertritt<br />

er die Auffassung, dass Gefangenen nur diejenigen<br />

Rechte entzogen werden dürfen, die mit<br />

ihrer Haft absolut unvere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d - etwa Bewegungsfreiheit.<br />

Wahlrecht, Me<strong>in</strong>ungsfreiheit<br />

u.ä. dürfen nicht angetastet werden. Coyle me<strong>in</strong>te,<br />

Menschenrechte und Strafvollzug s<strong>in</strong>d nicht<br />

nur vere<strong>in</strong>bar, sie müssen Hand <strong>in</strong> Hand e<strong>in</strong>hergehen.<br />

Botschafter Hans Corell als ehemaliger Untersekretär<br />

<strong>für</strong> Rechtsfragen und Rechtsberatung<br />

(Legal Affairs und Legal Counsel) bei den UN<br />

widersprach der geläufigen Ansicht, man solle<br />

beim Pochen auf E<strong>in</strong>haltung der Menschenrechte<br />

auf die Situation des e<strong>in</strong>zelnen Landes Rücksicht<br />

nehmen (wirtschaftliche Lage, junge Demokratie,<br />

Gefahr von Bürgerkrieg...). Menschenrechte,<br />

wie sie <strong>in</strong> den verschiedenen Char-


tas der UN proklamiert und verabschiedet wurden,<br />

s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> ihn fundamentale Rechte und von<br />

daher ist grundsätzlich und ohne Ausnahme auf<br />

ihrer E<strong>in</strong>haltung zu bestehen.<br />

Dr. Chuleepran Srisoontorn-Persons, Pfarrer<strong>in</strong><br />

und Professor<strong>in</strong> aus Thailand, gab e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick<br />

<strong>in</strong> den Strafvollzug und die „Forgotten<br />

people“ Thailands. Die jungen Mädchen der<br />

sogenannten mounta<strong>in</strong> tribes, e<strong>in</strong>er durch Bildung,<br />

Sprache und Tradition („ich habe mich<br />

<strong>für</strong> das Wohl der Familie zu opfern“) benachteiligten<br />

M<strong>in</strong>orität im thailändischen H<strong>in</strong>terland,<br />

werden von Zuhältern gnadenlos ausgenützt und<br />

missbraucht. Auch <strong>in</strong> Gefängnissen ist ihr Anteil<br />

überproportional hoch. Sie werden von der<br />

Gesellschaft wirklich vergessen, lebendig begraben.<br />

E<strong>in</strong>drücklich bei Prof. Scisoontorn-<br />

Persons Vortrag waren die Bilder aus den Gefängnissen<br />

- Dutzende von Gefangenen zusammengepfercht<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Turnhalle, kaum Platz<br />

um sich h<strong>in</strong>zulegen - oder etwa ihre Beschreibung,<br />

wie junge Frauen im Gefängnis ihre K<strong>in</strong>der<br />

nur e<strong>in</strong>mal im Jahr sehen dürfen. Pfarrer<strong>in</strong><br />

Scisoontorn-Persons begleitet dieses „Ritual“<br />

und erzählte <strong>in</strong> ihrem Vortrag sehr bewegend<br />

davon.<br />

Ergänzend zu den Vorträgen wurden zahlreiche<br />

Workshops angeboten, etwa über K<strong>in</strong>der im<br />

Gefängnis (ja, es gibt Länder, da ist das auch <strong>für</strong><br />

die Altersgruppe weit unter 14 e<strong>in</strong> Thema!),<br />

Todesstrafe und Menschenrechte, die Messbarkeit<br />

des Erfolges von Seelsorge, Alternativen zu<br />

<strong>Ev</strong>a Kirkeby, Schweden Friedrich Schwenger, D<br />

Haftstrafen oder Restorative Justice.<br />

Neben den persönlichen Begegnungen und <strong>in</strong>haltlichen<br />

Veranstaltungen prägten auch Gottesdienste<br />

und religiöse Zeiten die <strong>Konferenz</strong>.<br />

So war rund um die Uhr e<strong>in</strong> „prayer-room“ geöffnet<br />

und jeder Tag wurde mit e<strong>in</strong>er Andacht<br />

begonnen. Der schwedische Musiker und Gefängnispfarrer<br />

Anders Car<strong>in</strong>ger schrieb e<strong>in</strong> Lied<br />

<strong>für</strong> die <strong>Konferenz</strong>, das mit den Worten beg<strong>in</strong>nt:<br />

„Forgotten people, beloved children,<br />

men and women round the world.<br />

We are your voices, we are your bodies,<br />

God is one...“<br />

(Vergessene Menschen, geliebte K<strong>in</strong>der, Männer<br />

und Frauen auf dieser Welt. Wir s<strong>in</strong>d eure<br />

Stimmen, wir s<strong>in</strong>d euer Körper, Gott ist e<strong>in</strong>er...<br />

Das Lied ist auch auf der IPCA website zu f<strong>in</strong>den).<br />

Natürlich gab es auch nicht so ernste und nachdenkliche<br />

Stunden. „Bunter Abend“ ist <strong>in</strong>zwischen<br />

e<strong>in</strong> schrecklich altbackenes Wort. Für die<br />

Veranstaltung der <strong>Konferenz</strong>, als alle <strong>Konferenz</strong>teilnehmer<br />

aufgerufen waren etwa Unterhaltsames<br />

beizusteuern, passt dieser altertümelnde<br />

Begriff jedoch wortwörtlich. Weil ich<br />

niemanden mit trockenen Beschreibungen<br />

langweilen will, nur e<strong>in</strong> Beispiel, das sich jeder<br />

anschauen kann: die amerikanischen Kollegen<br />

beschrieben die Arbeit e<strong>in</strong>es <strong>Gefängnisseelsorge</strong>rs/e<strong>in</strong>er<br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong> humorvoll mit<br />

dem Versuch „Katzen“ statt R<strong>in</strong>dern zu hüten<br />

und zeigten e<strong>in</strong>en Clip dazu, den man auch auf<br />

Youtube unter „cowboys herd<strong>in</strong>g cats“ f<strong>in</strong>det.<br />

Unterhaltsam war auch der mit „open stage“<br />

betitelte Abend, wo die MusikerInnen und SängerInnen<br />

unter den Delegierten den Ton angaben.<br />

Eher was zum Angeben daheim war der<br />

festliche Empfang im Stockholmer Rathaus,<br />

denn dort d<strong>in</strong>nieren, feiern und tanzen auch die<br />

Nobelpreisträger jedes Jahr.<br />

Überhaupt war die gesamte <strong>Konferenz</strong> sehr professionell<br />

und souverän vom schwedischen<br />

Vorbereitungsteam organisiert und durchgeführt<br />

worden. Nach der Wahl der Schwed<strong>in</strong> Brigitta<br />

W<strong>in</strong>berg auf der IPCA Worldwide <strong>Konferenz</strong><br />

33


2005 <strong>in</strong> Südafrika zur Präsident<strong>in</strong> von IPCA hat<br />

die schwedische Kirche IPCA auch f<strong>in</strong>anziell<br />

enorm gesponsert. So war der Tagungsort - das<br />

Clarion Hotel im Zentrum von Stockholm -<br />

wirklich nobel. Manchem Teilnehmer (auch<br />

mir) zu nobel, denn nach e<strong>in</strong>er Weile schlich<br />

man fast mit schlechtem Gewissen zum üppigen<br />

Buffet, nachdem e<strong>in</strong>em immer wieder und wieder<br />

von den menschenunwürdigen Zuständen <strong>in</strong><br />

vielen Gefängnissen und Regionen berichtet<br />

wurde. Nichtsdestotrotz verdienen die scheidende<br />

Präsident<strong>in</strong> Brigitta W<strong>in</strong>berg, die Koord<strong>in</strong>ator<strong>in</strong><br />

Doris Bernhardson und ihr Vorbereitungsteam<br />

aus KollegInnen und Ehrenamtlichen e<strong>in</strong>en<br />

großen Dank.<br />

34<br />

Das neugewählte Steer<strong>in</strong>gcommittee 2010<br />

Wahlen gehören ebenfalls zu so e<strong>in</strong>er <strong>Konferenz</strong>.<br />

Zum neuen Präsidenten wählten die Delegierten<br />

per Akklamation (es gab ke<strong>in</strong>en Gegenkandidaten!)<br />

den Kanadier Dr. Dwight Cuff von<br />

der Heilsarmee. Für die Region Europa wurden<br />

Mart<strong>in</strong> Faber und als Stellvertreter<strong>in</strong> die<br />

Schwed<strong>in</strong> Doris Bernhardson (Pfarrer<strong>in</strong> der<br />

Baptisten) <strong>in</strong> das Steer<strong>in</strong>g Committee - der Lenkungsausschuss,<br />

der IPCA Worldwide die<br />

nächsten fünf Jahre leiten wird - gewählt.<br />

E<strong>in</strong>e der nächsten Aufgaben des neuen Steer<strong>in</strong>g<br />

Committee´s wird sicherlich se<strong>in</strong>, die Bemühungen<br />

zu vollenden, IPCA bei der UN den<br />

Rang e<strong>in</strong>er „Nichtregierungsorganisation“ zu<br />

geben, den sog. NGO Status (Non-<br />

Governmental Organization). Dies würde Informationsfluss<br />

und E<strong>in</strong>flussnahme bei den<br />

Gremien der UN sehr erleichtern. Die <strong>in</strong> der<br />

ICCPPC (International Commission of Catholic<br />

Prison Pastoral Care) zusammengeschlossenen<br />

katholischen <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r haben diesen<br />

Status schon länger - ihre Organisation ist auch<br />

35 Jahre älter.<br />

Der Abschlussgottesdienst mit Segnung des<br />

neugewählten Präsidenten und des Steer<strong>in</strong>g<br />

Committee´s fand <strong>in</strong> der Storkyrkan, der Kathedrale<br />

von Stockholm statt (<strong>für</strong> alle, die nicht<br />

das Goldene Blatt lesen: das ist die Kirche, wo<br />

Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong> Viktoria von Schweden dieses Jahr<br />

ihren Fitnesstra<strong>in</strong>er Daniel Westl<strong>in</strong>g geheiratet<br />

hat, dem dabei e<strong>in</strong>e Träne die Wange herabfloss,<br />

was alle romantischen Herzen weltweit<br />

höher schlagen ließ...). Auch diesen Gottes-


dienst muss man bunt nennen oder zum<strong>in</strong>dest<br />

vielfältig. Der bei der <strong>Konferenz</strong> gegründete<br />

„Chapla<strong>in</strong>s´ Choir“ sang zwar englisch, hatte<br />

jedoch Mitglieder aus allen Herren (und Frauen)<br />

Länder. Die Liturgie reichte von e<strong>in</strong>er fernöstlich<br />

anmutenden Litanei der orthodoxen Geistlichen<br />

bis zum (so sicher nicht geplanten) Zungenreden<br />

e<strong>in</strong>er Teilnehmer<strong>in</strong>.<br />

Mit der Feier des 25. Jubiläums am letzten Tag<br />

klang die <strong>Konferenz</strong> aus. Dabei wurde Rückblick<br />

gehalten. Es war der F<strong>in</strong>ne Pekka Viirre<br />

gewesen, der die Vision e<strong>in</strong>er länderübergreifenden<br />

Organisation von <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r-<br />

Innen hatte. Er erzählte der <strong>Konferenz</strong>, wie er<br />

mit e<strong>in</strong>em Interrail-Ticket quer durch Europa<br />

gereist war und mit verschiedensten Leuten geredet<br />

hatte. Das Ergebnis war jene <strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong><br />

Bossey am Genfer See, die zur Gründung von<br />

IPCA führte. Der erste Präsident war Peter<br />

Rassow, an dessen Tod <strong>in</strong> diesem Jahr er<strong>in</strong>nert<br />

wurde. Mart<strong>in</strong> Faber würdigte ihn bei der Jubiläumsfeier<br />

- ihn und se<strong>in</strong>e Arbeit <strong>für</strong> IPCA.<br />

Wer jetzt Lust bekommen hat, über den eigenen<br />

Tellerrand bzw. die eigene Gefängnismauer<br />

h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> die weite Welt zu sehen, der ist zur<br />

Mitarbeit beim IPCA Arbeitskreis herzlich e<strong>in</strong>geladen.<br />

Die nächste <strong>Konferenz</strong> von IPCA<br />

Worldwide wird erst <strong>in</strong> fünf Jahren stattf<strong>in</strong>den<br />

und sicher nicht Europa (Australien ist im Gespräch).<br />

Näherliegend ist die nächste IPCA-<br />

Europe <strong>Konferenz</strong>. Sie wird vom 4. bis 8. Juni<br />

2012 <strong>in</strong> Rumänien stattf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der Ökumenischen<br />

Akademie von Sambata de Sus.<br />

IPCA VI has now taken place<br />

Offizieller Bericht und Deklaration der IPCA-<br />

Weltkonferenz<br />

www.ipcaworldwide.org 8/27/2010 9:21 PM<br />

Years of work are almost completed -<br />

there are still a few th<strong>in</strong>gs that need to be completed.<br />

320 delegates from 69 countries have<br />

been gathered <strong>in</strong> Stockholm, to learn and to listen,<br />

to share and to network. Old friends have<br />

met aga<strong>in</strong>, and new friendships have been established.<br />

It has been a great conference, though<br />

with a shadow of sorrow that so many of those<br />

who had registered to come, did not get their<br />

visa - denied or too late to be able to participate.<br />

This is <strong>in</strong> spite of many contacts with embassies<br />

around the world. Sweden is part of the Schengen<br />

countries, which seems to have become a<br />

wall to protect the borders of the member countries.<br />

Of course a report from the conference, can't<br />

replace the experience of hav<strong>in</strong>g been there. But<br />

anyhow, <strong>in</strong> October you will f<strong>in</strong>d speeches<br />

from key note speakers and material from workshops<br />

at this website.<br />

One way to use it, is to gather with colleague<br />

chapla<strong>in</strong>s, read and discuss and talk about how<br />

it can be implemented <strong>in</strong> your local, national or<br />

even regional m<strong>in</strong>istry.<br />

DECLARATION OF THE<br />

6th WORLDWIDE CONFERENCE<br />

OF THE INTERNATIONAL PRISON<br />

CHAPLAINS’ ASSOCIATION<br />

August 20-25, 2010<br />

Clarion Hotel, Stockholm<br />

Sweden<br />

The 6TH International Prison Chapla<strong>in</strong>s’ Association<br />

Worldwide Conference held at the Clarion<br />

Hotel <strong>in</strong> Stockholm, Sweden from 20-25<br />

August 2010, attended by 320 participants from<br />

35


69 countries represent<strong>in</strong>g all regions <strong>in</strong> the<br />

world, with the theme ”Forgotten People”<br />

Bear<strong>in</strong>g <strong>in</strong> m<strong>in</strong>d the wonderful biblical stories<br />

that reveale the unconditional love of God and<br />

His Mercy and Compassion and who fulfills His<br />

promises;<br />

Consider<strong>in</strong>g that the 25th year of IPCA is a<br />

time of thanksgiv<strong>in</strong>g and gratefulness for the<br />

bless<strong>in</strong>gs that it receives, it is challenged to proclaim<br />

justice that heals and restoration to the<br />

prisoners, to the victims and to the community.<br />

Recall<strong>in</strong>g the various <strong>in</strong>ternational and national<br />

standards on the treatment of persons deprived<br />

of their liberty and <strong>in</strong> particular the laws that<br />

recognize the right to life, the dignity of the<br />

human person and the laws affect<strong>in</strong>g the youth.<br />

Com<strong>in</strong>g together as one community under the<br />

guidance of the spirit committed to unit<strong>in</strong>g, encourag<strong>in</strong>g<br />

and equipp<strong>in</strong>g a global network of<br />

prison chapla<strong>in</strong>s; and pursu<strong>in</strong>g the creation of a<br />

better environment for those affected by crime,<br />

hav<strong>in</strong>g deepened our solidarity and hav<strong>in</strong>g been<br />

awakened to a more creative way of do<strong>in</strong>g<br />

prison m<strong>in</strong>istry;<br />

Be<strong>in</strong>g deeply concerned with the <strong>in</strong>creas<strong>in</strong>g<br />

urgency of the need to revitalize our prison m<strong>in</strong>istry<br />

programs to respond <strong>in</strong> pro-active ways to<br />

the follow<strong>in</strong>g issues and concerns:<br />

– THE PATHETIC SITUATIONS IN THE<br />

PRISONS IN MANY COUNTRIES<br />

– THE DESPERATE AND RETRIBUTIVE<br />

SYSTEM OF OUR CRIMINAL JUSTICE<br />

SYSTEMS<br />

– THE CONDITION OF THE CHILDREN IN<br />

CONFLICT WITH THE LAW<br />

– THE DEATH PENALTY ISSUE<br />

– THE DEARTH OF PROGRAMS FOR<br />

HEALING AND RESTORATION<br />

Observ<strong>in</strong>g the common issues and concerns<br />

presented dur<strong>in</strong>g the conference, we especially<br />

take note of the follow<strong>in</strong>g violations of the<br />

36<br />

rights of the persons deprived of liberty <strong>in</strong> many<br />

countries:<br />

– CONGESTION, POOR HYGIENE, VEN-<br />

TILATION AND FOOD IN PRISONS<br />

– NON-SEPARATION OF YOUTH OF-<br />

FENDERS FROM ADULT OFFENDERS.<br />

– HARSH DISCIPLINE, PUNISHMENT<br />

AND TORTURE<br />

– PROLIFERATION OF DRUGS AND<br />

OTHER SUBSTANCE ABUSE.<br />

– PROSTITUTION IN PRISONS AND SEX-<br />

UAL ABUSE<br />

– LACK OF ACCESS TO A GOOD DE-<br />

FENSE OF THE CASES<br />

– CORRUPTION IN THE CRIMINAL JUS-<br />

TICE SYSTEM NOT TO MENTION THE<br />

BIASES AND DISCRIMINATION<br />

AGAINST VULNERABLE SECTORS OF<br />

SOCIETY<br />

– LONG SENTENCES AND LIFE SEN-<br />

TENCES<br />

– EXECUTIONS AND THE DEATH PEN-<br />

ALTY<br />

– IMPACT ON THEIR FAMILIES<br />

– INCREASING NUMBER OF FOREIGN<br />

PRISONERS DUE TO DRUG TRAFFICK-<br />

ING AND LARGE SCALE MIGRATION<br />

TRENDS.<br />

Believ<strong>in</strong>g that the problems of the prison situation<br />

are far more serious now than at any other<br />

time <strong>in</strong> the long history of our <strong>in</strong>volvement <strong>in</strong><br />

prison m<strong>in</strong>istry.<br />

Feel<strong>in</strong>g an <strong>in</strong>escapable responsibility to br<strong>in</strong>g to<br />

a higher form of struggle the need for a renewed<br />

solidarity among all those work<strong>in</strong>g towards a<br />

more humane treatment of prisoners and build<strong>in</strong>g<br />

an environment where conversion and reconciliation<br />

can happen.<br />

We, the 320 Prison Chapla<strong>in</strong>s and Prison Workers:<br />

• CALL UPON the government of each country<br />

to give high priority <strong>in</strong> improv<strong>in</strong>g prison<br />

environments and ensure the observance of the


UN Standards, Pr<strong>in</strong>ciples, Covenants and Recommendations<br />

on the Treatment of Prisoners,<br />

the “Forgotten People”;<br />

• CALL UPON all churches and other agencies,<br />

to take effective steps to respond to the<br />

needs of those affected by crime.<br />

• CALL UPON the MEDIA to report accurately<br />

and truthfully news on crim<strong>in</strong>ality and<br />

avoid sensationalism.<br />

• URGE NGOs and Government agencies who<br />

are <strong>in</strong>volved <strong>in</strong> the care of the forgotten people<br />

to constantly meet for network<strong>in</strong>g and strong<br />

collaboration.<br />

• RE-ITERATE our plea to our church leaders<br />

to s<strong>in</strong>cerely address the emerg<strong>in</strong>g concerns<br />

of the forgotten people, especially <strong>in</strong> assign<strong>in</strong>g<br />

m<strong>in</strong>isters as prison chapla<strong>in</strong>s and <strong>in</strong> sett<strong>in</strong>g up<br />

structures that will pull together resources of the<br />

community <strong>in</strong> their service.<br />

• REALIZE THE URGENT NEED to reassess<br />

and re-formulate plans of action and programs<br />

reflected <strong>in</strong> our Declarations.<br />

• REAFFIRM our option for Life and we appeal<br />

to leaders of government with laws on<br />

death penalty for a stay of execution and to<br />

promote the culture of life.<br />

• URGE the leaders of all nations to seriously<br />

consider the question of the death penalty and to<br />

make a s<strong>in</strong>cere effort to abolish it.<br />

• CALL on all sectors that value life and have<br />

a high regard for it, to jo<strong>in</strong> efforts, to <strong>in</strong>crease<br />

public awareness on the evils of the death penalty<br />

and to constantly pressure our governments<br />

to denounce cruel, <strong>in</strong>humane and degrad<strong>in</strong>g<br />

punishment that dim<strong>in</strong>ishes the person.<br />

As we go back and return to our prison mission<br />

areas we br<strong>in</strong>g with us new sources of energy<br />

born out of our own experiences of be<strong>in</strong>g loved<br />

by God.<br />

Equipped with this strength and refreshed by the<br />

<strong>in</strong>teraction with co-workers, we are now more<br />

confident to be witnesses of God’s Unconditional<br />

Love to all, especially the FORGOTTEN<br />

PEOPLE - THE PRISONERS.<br />

Forgotten people – forgotten<br />

colleagues<br />

IPCA democracy – look<strong>in</strong>g for<br />

transparency<br />

Mischi Philippi<br />

Bei allem Wichtigen und Gutem, das uns auf<br />

der 6. IPCA Weltkonferenz geschehen und begegnet<br />

ist, neben der Dankbarkeit, dabei gewesen<br />

se<strong>in</strong> zu dürfen, und dem Dank an das (alte)<br />

Ipca-worldwide Steer<strong>in</strong>g Committee und die<br />

unzähligen HelferInnen aus Schweden <strong>für</strong> die<br />

Planung und Durchführung der <strong>Konferenz</strong>, gab<br />

es auch E<strong>in</strong>iges, was uns nicht gefallen hat, wie<br />

ich am Beispiel des Zustandekommens der Abschlusserklärung<br />

der Weltkonferenz erläutern<br />

will.<br />

Dabei ist dies schon Teil des Problems. Wir<br />

wissen im Grund nicht, wie sie zustande gekommen<br />

ist, wie das Redaktionsteam <strong>für</strong> die<br />

Erklärung zustande kam und wer alles dabei<br />

war. Das <strong>Konferenz</strong>plenum wurde (und war)<br />

nicht gefragt und wurde auch nicht <strong>in</strong>formiert.<br />

Die Abschlusserklärung der Weltkonferenz ist<br />

beileibe nicht falsch. Sie enthält viele gute und<br />

wichtige Erkenntnisse und Forderungen (nachzulesen<br />

<strong>in</strong> diesem Heft oder unter www.ipca<br />

worldwide), die <strong>für</strong> die Arbeit der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

vor Ort und gegenüber nationalen und<br />

<strong>in</strong>ternationalen Institutionen wichtig s<strong>in</strong>d oder<br />

se<strong>in</strong> können. Aber: sie ist sehr allgeme<strong>in</strong> formuliert<br />

und spiegelt die Diskussionen auf der <strong>Konferenz</strong><br />

nur unbefriedigend wieder.<br />

37


Auch das will ich an nur e<strong>in</strong>em Beispiel erklären,<br />

das viele von uns TeilnehmerInnen betraf,<br />

betroffen machte und auch, besonders uns Europäer,<br />

beschämte.<br />

Forgotten People: Dazu gehörten von Beg<strong>in</strong>n<br />

der <strong>Konferenz</strong> an nicht nur die Millionen Gefangenen<br />

aus aller Welt, sondern seit der Eröffnung,<br />

als deutlich wurde, dass über 100 ! <strong>Gefängnisseelsorge</strong>rInnen<br />

aus Ländern des Südens<br />

ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>reisevisum <strong>für</strong> Schweden bekamen,<br />

auch diese. Darunter auch der Repräsentant des<br />

Afrikanischen Kont<strong>in</strong>ents im Ipca-worldwide<br />

Steer<strong>in</strong>g Committee aus dem Kongo.<br />

Forgotten People s<strong>in</strong>d diese KollegInnen <strong>für</strong> uns<br />

auch deshalb geworden, weil wir den E<strong>in</strong>druck<br />

bekamen, dass e<strong>in</strong>e öffentliche Diskussion und<br />

Empörung, geschweige denn e<strong>in</strong> wirklicher Protest<br />

<strong>in</strong> Richtung der schwedischen Behörden<br />

nicht erwünscht war und mit Verweis auf Zeitmangel<br />

und e<strong>in</strong>e entsprechende Presseerklärung,<br />

die dazu veröffentlicht werden sollte, nicht zustande<br />

kam.<br />

Außer den folgenden drei Sätzen auf der ipcaworldwide<br />

homepage ist uns ke<strong>in</strong>e Presseerklärung<br />

und Veröffentlichung bekannt geworden:<br />

„ … Es war e<strong>in</strong>e großartige <strong>Konferenz</strong>, wenn<br />

auch mit e<strong>in</strong>em Schatten des Bedauerns, dass so<br />

viele, die sich angemeldet hatten, ke<strong>in</strong>e Visa<br />

bekamen – sie wurden verweigert oder die Anträge<br />

wurden <strong>für</strong> die Teilnahme zu spät gestellt.<br />

Dies trotz vieler Kontakte mit Botschaften rund<br />

um die Welt. Schweden ist Teil der Schengen<br />

Länder, die sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>e Mauer zum Schutz<br />

der Grenzen ihrer Mitgliedsstaaten wurde. “<br />

So g<strong>in</strong>gen wir und viele Andere davon aus, dass<br />

diese besonders uns Europäer auch beschämende<br />

Tatsache, die ja auch etwas mit der „Krim<strong>in</strong>alisierung“<br />

von Menschen des Südens bei uns<br />

zu tun hat, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der Schlusserklärung<br />

e<strong>in</strong>en deutlichen Platz e<strong>in</strong>nimmt. Und das war<br />

im Vorfeld der Erklärung <strong>in</strong> vielen Gesprächen,<br />

auch mit den Organisatoren und mit Steer<strong>in</strong>g<br />

Committee Mitgliedern deutlich.<br />

38<br />

Nachdem am Dienstagnachmittag, also am 5.<br />

Tag der <strong>Konferenz</strong>, die „Erklärung“ kurz vor<br />

ihrer Verlesung verteilt wurde, waren wir schon<br />

sehr erstaunt und es war klar, dass wir das nicht<br />

undiskutiert h<strong>in</strong>nehmen wollten.<br />

Nach der Verlesung der Erklärung sollte diese<br />

diskutiert werden und ich behaupte schon, dass<br />

ich e<strong>in</strong>er der ersten war, die sich meldeten und<br />

stehend <strong>in</strong> der ersten Reihe mit gestrecktem<br />

Arm von Kieran Garvey (OFM, Steer<strong>in</strong>g<br />

Committee Mitglied <strong>für</strong> Ozeanien bis zu diesem<br />

Tag) und „Diskussionsleiter“, mit dem ich auch<br />

mehrfach im Vorfeld über die Notwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>es Protestes wegen der „forgotten<br />

colleagues“ sprach, „übersehen“ wurde, bevor<br />

er nach 5 M<strong>in</strong>uten die Diskussion aus Zeitgründen<br />

beendete.<br />

Ich b<strong>in</strong> dann direkt zu Rodolfo Diamante (aus<br />

den Philipp<strong>in</strong>en) gegangen, dem e<strong>in</strong>zigen öffentlichen<br />

Mitglied des Redaktionsteams, er<br />

verlas die Erklärung nämlich, um ihn zu fragen,<br />

wie die Erklärung entstand und um nochmals zu<br />

<strong>in</strong>sistieren, dass wir uns zu den ausgeladenen<br />

Brüdern und Schwestern auch politisch verhalten<br />

müssten. Dieser verwies mich an Kieran<br />

Garvey (s.o), der mich an den neuen Präsidenten<br />

von Ipca worldwide, Dwight Cuff (Canada)<br />

verwies. Alle hörten mich freundlich an und<br />

Dwight Cuff verwies mich wieder an Kieran<br />

Garvey und Rodolfo Diamante, die dann nochmals<br />

auf die Presseerklärung zu diesem Thema<br />

(s.o.) verwiesen und mir zusicherten, das Thema<br />

der „forgotten colleagues“ im Organisations-<br />

und Redaktionsteam der <strong>Konferenz</strong> nochmals zu<br />

besprechen.<br />

Auf das Ergebnis warten wir noch, auf mehr<br />

Transparenz und Demokratie dürfen wir hoffen,<br />

nicht zuletzt durch die Vertreter im neuen<br />

Steer<strong>in</strong>g Committee.


H<strong>in</strong>ter <strong>Gittern</strong>, und dennoch…<br />

Eg<strong>in</strong>ald Schlattner, Rumänien<br />

Betrachtungen zu fünf Porträts aus dem rumänischen<br />

Gefängnis Aiud, Straßburg am<br />

Mieresch, Siebenbürgen, die ich immer wieder<br />

betrachte, auch vor dem Altar me<strong>in</strong>er Kirche<br />

von 1225.<br />

Als ich vor 17 Jahren die Beauftragung e<strong>in</strong>es<br />

Gefängnispfarrers der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche<br />

Augsburger Bekenntnisses <strong>in</strong> Rumänien, mit<br />

deutscher Verkündigungs- und Amtssprache<br />

übernommen hatte, sagte ich unter anderem bei<br />

me<strong>in</strong>er ersten Ansprache im Gefängnis:<br />

"Ich werde euch nicht wegen Eurer Straftaten<br />

befragen. Die büßt ihr ab. Ich b<strong>in</strong> nicht wegen<br />

der Vergangenheit hier, sondern wegen Eurer<br />

Zukunft. Aber Ihr könnt Euch mir anvertrauen.<br />

Ich alle<strong>in</strong> höre, höre zu, und vielleicht auch<br />

Gott im Himmel."<br />

Die meisten berichten, schütten ihr Herz aus.<br />

Sagte unter anderem auch:<br />

"Die Grenze zwischen Bösen und Guten ist<br />

nicht die Mauer des Gefängnisses."<br />

Und sagte:<br />

"Habt den Mut, das Gute <strong>in</strong> Euch aufzuspüren.<br />

Auch biblisch gesehen ist der Mensch nicht radikal<br />

böse, sondern radikal gut. Me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

als Theologe nicht bis <strong>in</strong> die Wurzelspitzen<br />

se<strong>in</strong>es Wesens gut, aber GUT <strong>in</strong> den Wurzelspitzen,<br />

das heißt radikal. Wieso?<br />

Als Geschöpf Gottes, geschaffen als Ebenbild<br />

Gottes, der erste Mensch, und mit dem e<strong>in</strong>gehauchten<br />

Geist Gottes - durch die Nase!<br />

Drei Frauen.<br />

Vier Tote. Jede von ihnen hat ihre eigenen Toten.<br />

E<strong>in</strong>e ist unschuldig. E<strong>in</strong> Geistlicher hat<br />

Wege, die Wahrheit zu erfahren, die Wahrheit,<br />

die alle<strong>in</strong> vor Gott gilt.<br />

Elisabeta N.<br />

In grenzenloser Verzweiflung hat sie mit den<br />

erwachsenen Töchtern ihren Mann umgebracht,<br />

der die Familie tödlich terrorisiert hat, ihn verbrannt,<br />

e<strong>in</strong>gescharrt. Die Erleichterung sieht<br />

man ihr an. Sie lacht, wiewohl über den Zahn,<br />

denn 'zahnlucket' wird man im Gefängnis mit<br />

hohen Haftstrafen, aber sie lacht. Sie kommt aus<br />

me<strong>in</strong>em Dorf. Ihre Tochter hat vier K<strong>in</strong>der von<br />

vier Vätern. Zigeuner-Milieu. Es wird geholfen,<br />

z.B. habe ich die Taxen <strong>für</strong> Taufen beglichen,<br />

beim orthodoxen Kollegen.<br />

Viele der <strong>in</strong>haftierten Frauen haben ihre Männer<br />

umgebracht: Nu este alta solutzie, e<strong>in</strong> Late<strong>in</strong>er<br />

versteht das: ke<strong>in</strong>e andere Lösung. Ich kann das<br />

nicht gutheißen, aber durchaus verstehen.<br />

Der Topos fast immer der nämliche: Die Geme<strong>in</strong>schaftstat<br />

mit den erwachsenen Töchtern,<br />

Söhnen nimmt die Mutter auf sich.<br />

Ibi K:<br />

Die Jüngste, sie ersche<strong>in</strong>t als die Unschuld <strong>in</strong><br />

Person, k<strong>in</strong>dlich im Habitus, mädchenhaft im<br />

Ausdruck; heiter und gelassen.<br />

Sie hat mit dem Partner e<strong>in</strong> Bauernhaus angezündet.<br />

Altes Ehepaar. M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er der<br />

Insassen ist verbrannt, erstickt, zu Tode gekommen.<br />

Realisiert die Schuld nicht.<br />

Sie ist mir ans Herz gewachsen.<br />

Maria Elena M.<br />

Ihre zwei K<strong>in</strong>der soll sie umgebracht haben.<br />

Schon der Gesichtsausdruck verrät, dass sie<br />

schuldlos ist. Sie hat sich nicht abgefunden,<br />

geschweige dass sie erleichtert oder heiter<br />

dre<strong>in</strong>schaut, ausschaut. Ihr Schicksal geht mir<br />

nahe. Täglich begleite ich sie im Gebet. Vielleicht<br />

gel<strong>in</strong>gt es, den Prozess aufzurollen. Zwei<br />

Personen habe ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en 17 Jahren Amtszeit<br />

zu Gerechtigkeit verholfen.<br />

Das zerknitterte Gesicht von Michael Z.<br />

Michael Z. gehört der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong><br />

Rumänien an. Er wurde von unserem jetzigen<br />

Bischof D. Dr. Christoph Kle<strong>in</strong> konfirmiert,<br />

damals Stadtpfarrer von Hermannstadt. Als e<strong>in</strong><br />

Nachbar, den er besuchte, Michaels Mutter <strong>in</strong><br />

ord<strong>in</strong>ärer Manier auf Rumänisch verfluchte -<br />

solche abartigen Flüche und Verfluchungen s<strong>in</strong>d<br />

unübersetzbar - schlug er zu. Der Mann der<br />

Verwünschungen fiel auf die Türschwelle und<br />

brach sich das Genick. Von den fünfzehn Jahren<br />

Gefängnis hat Michael Z. elf abgesessen.<br />

Ob es ihm gelungen ist, se<strong>in</strong>e Tat zu begreifen?<br />

Von den zehn Geboten be<strong>in</strong>haltet der Ver-<br />

39


stoß gegen das sechste Gebot : "Du sollst nicht<br />

töten!" die e<strong>in</strong>zige Untat, die am Opfer nicht<br />

mehr gutgemacht werden kann. Als ich ihn aus<br />

gegebenen Anlass mahnte, er möge nicht vergessen,<br />

dass er e<strong>in</strong>en Menschen auf dem Gewissen<br />

habe, dazu <strong>in</strong> der Kneipe erschlagen,<br />

reagierte er gekränkt: Nicht <strong>in</strong> der Kneipe, sondern<br />

zu Hause sei das alles geschehen.<br />

In den Gesprächen und im Briefwechsel wird<br />

von ihm <strong>in</strong> glaubwürdiger Weise Christus und<br />

das <strong>Ev</strong>angelium bemüht. Gefängnisse s<strong>in</strong>d Orte<br />

der S<strong>in</strong>neswandlung. Der Teufel lauert jenseits<br />

der Gitter, Eisentore und Mauern. "Und wollt<br />

uns gar verschl<strong>in</strong>gen...", wie Mart<strong>in</strong> Luther<br />

dichtet.<br />

Adrian N.<br />

Hochtätowiert das Gesicht! So me<strong>in</strong>t er, sich<br />

da<strong>h<strong>in</strong>ter</strong> verstecken zu können. Begreift nicht,<br />

dass er viel eher auffällt.<br />

Dreimal verurteilt und ist schon wieder <strong>in</strong> Haft.<br />

E<strong>in</strong> Selbstmordversuch. Er schnitt sich <strong>in</strong> Treppen<br />

die Adern der l<strong>in</strong>ken Hand auf.<br />

Ich warnte die Gefängnisleitung, er hatte mir<br />

von se<strong>in</strong>em Vorhaben berichtet. Trotzdem wollte<br />

man es als Selbstverstümmelung klassifizieren.<br />

Das hätte das Strafmaß verlängert. Es gelang<br />

mir, das zu verh<strong>in</strong>dern.<br />

Die Strafgefangenen nenne ich me<strong>in</strong>e Schutzbefohlenen.<br />

In Pfarrerskreisen moniert man hie und da, dass<br />

ich mich zu stark mit den TÄTERN solidarisiere.<br />

Me<strong>in</strong>e Auftrag und me<strong>in</strong>e Zuwendung gilt den<br />

Tätern.<br />

Schuld ist schwer quantifizierbar. Begreifbar,<br />

benennbar aber ist das Leiden, das man dem<br />

anderen zugefügt hat, vom Opfer bis zur Familie.<br />

Auf das h<strong>in</strong> spreche ich sie an.<br />

Nachdem sie sich <strong>in</strong> den biblischen Geschichten<br />

und Texten positioniert haben, erkannt haben -<br />

als Person, <strong>in</strong> ihrer Bef<strong>in</strong>dlichkeit, sich <strong>in</strong> Handlung<br />

und Haltung haben e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen können.<br />

40<br />

Für e<strong>in</strong>en Reader zum Thema „Roma“<br />

bitten wir unsere LeserInnen um Beiträge,<br />

Erfahrungsberichte, Praxisbeispiele<br />

o.ä..<br />

Die Redaktion<br />

Zu den Vorschlägen des BMJ zur<br />

Neuregelung der Sicherungsverwahrung<br />

nach dem Urteil des<br />

EGMR<br />

Mart<strong>in</strong> Faber, Wiesbaden<br />

In guter Tradition aus den Jahren der Entwürfe<br />

<strong>für</strong> Jugendstrafvollzugsgesetze und U-Haftvollzugsgesetze<br />

waren im September Vertreter<br />

der beiden <strong>Gefängnisseelsorge</strong>konferenzen und<br />

der Straffälligenhilfen <strong>in</strong> das Katholische Büro<br />

des Kommissariats der deutschen Bischöfe nach<br />

Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geladen, um ihre Positionen zur Neuregelung<br />

der Sicherungsverwahrung zu benennen<br />

und dem Vertreter des Bevollmächtigten<br />

des Rates der EKD bei der Bundesregierung,<br />

Herrn David Gill, und se<strong>in</strong>er katholischen Kolleg<strong>in</strong><br />

Frau Uta Losem so Grundlagen <strong>für</strong> die<br />

vom Bundesm<strong>in</strong>isterium der Justiz (BMJ) erbetene<br />

Stellungnahme zu liefern.<br />

Pr<strong>in</strong>zipiell haben alle Teilnehmenden mit unterschiedlicher<br />

Po<strong>in</strong>tierung darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

dass die Stellungnahme „Gegen Menschenverwahrung“<br />

weiterh<strong>in</strong> ihre Gültigkeit behält und<br />

gleichzeitig e<strong>in</strong>e Umsetzung des Urteils des<br />

Europäischen Gerichtshofs <strong>für</strong> Menschenrechte<br />

(EGMR) mit se<strong>in</strong>en Folgen bedacht und kommentiert<br />

werden muss.<br />

Insgesamt wurden die Vorschläge des BMJ sehr<br />

kritisch beleuchtet. Es ist noch nicht geklärt, ab<br />

wann die noch nicht vorliegende Stellungnahme<br />

der Kirchen <strong>in</strong> unserem Mitteilungsblatt veröffentlicht<br />

werden kann.


Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs<br />

<strong>für</strong> Menschenrechte<br />

zur Sicherungsverwahrung<br />

Pressemitteilung des Kanzlers vom 17.12.2009<br />

http://www.coe.<strong>in</strong>t/T/D/Menschenrechtsgerichts<br />

hof/Dokumente_auf_Deutsch/<br />

Kammerurteil 1 (Beschwerde-Nr. 19359/04)<br />

NACHTRÄGLICHE VERLÄNGERUNG<br />

DER SICHERUNGSVERWAHRUNG<br />

ÜBER DIE ZULÄSSIGE HÖCHSTDAUER<br />

ZUR TATZEIT HINAUS NICHT GE-<br />

RECHTFERTIGT<br />

Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit)<br />

und Artikel 7 § 1 (Ke<strong>in</strong>e Strafe ohne Gesetz)<br />

der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

Zusammenfassung des Sachverhalts<br />

Der Beschwerdeführer, M., ist deutscher Staatsbürger,<br />

1957 geboren, und derzeit <strong>in</strong> der JVA<br />

Schwalmstadt <strong>in</strong> Haft. Er ist wegen schwerer<br />

Verbrechen vielfach vorbestraft und wurde zuletzt<br />

im November 1986 vom Landgericht Marburg<br />

wegen versuchten Mordes <strong>in</strong> Tate<strong>in</strong>heit<br />

mit Raub zu e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe von fünf Jahren<br />

verurteilt. Zugleich ordnete das Gericht se<strong>in</strong>e<br />

Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />

an. Es stützte sich dabei auf e<strong>in</strong> neurologisches<br />

und psychiatrisches Expertengutachten, das den<br />

Beschwerdeführer als gefährlichen Straftäter<br />

e<strong>in</strong>stufte und feststellte, dass se<strong>in</strong> Hang zur Gewalttätigkeit<br />

http://www.coe.<strong>in</strong>t/T/D/Menschenrechtsgerichts<br />

hof/Dokumente_auf_Deutsch/weitere schwere<br />

Körperverletzungsdelikte wahrsche<strong>in</strong>lich machte.<br />

Nach Verbüßung se<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe beantragte<br />

der Beschwerdeführer zwischen 1992 und<br />

1998 mehrmals erfolglos die Aussetzung se<strong>in</strong>er<br />

Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung zur<br />

Bewährung. In ihrer Ablehnung stützten sich die<br />

zuständigen Gerichte auf e<strong>in</strong> Expertengutachten<br />

und beriefen sich auf das gewalttätige und aggressive<br />

Verhalten des Beschwerdeführers <strong>in</strong><br />

der Haft. Im April 2001 lehnte das Landgericht<br />

Marburg e<strong>in</strong>en entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers<br />

unter Verweis auf se<strong>in</strong>e Gefährlichkeit<br />

erneut ab und ordnete se<strong>in</strong>e Unterbr<strong>in</strong>gung<br />

<strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung über die<br />

Gesamtdauer von zehn Jahren h<strong>in</strong>aus an. Das<br />

Oberlandesgericht Frankfurt am Ma<strong>in</strong> bestätigte<br />

die Entscheidung.<br />

Beide Gerichte beriefen sich auf § 67 d Absatz 3<br />

des Strafgesetzbuches (StGB) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Fassung<br />

nach der Änderung von 1998. Mit der Änderung,<br />

die auch auf die vor der Neuregelung angeordneten<br />

Fälle anzuwenden ist, wurde die<br />

früher vorgeschriebene Höchstgrenze von zehn<br />

Jahren bei e<strong>in</strong>er erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung<br />

gestrichen. Damit betrifft sie<br />

auch Straftäter, wie den Beschwerdeführer, die<br />

bei ihrer Verurteilung noch mit e<strong>in</strong>em sicheren<br />

Ende der Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren<br />

rechnen konnten.<br />

Im Februar 2004 wies das Bundesverfassungsgericht<br />

die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers<br />

gegen diese Gerichtsentscheidungen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausführlichen Leiturteil zurück,<br />

das auf die grundlegende Unterscheidung<br />

zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung<br />

und Sicherung nach dem StGB verwies. Das<br />

absolute Rückwirkungsverbot <strong>für</strong> Strafen nach<br />

Artikel 103, Absatz 2 GG sei auf Maßregeln der<br />

Besserung und Sicherung, wie die Sicherungsverwahrung,<br />

nicht anwendbar.<br />

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung<br />

des Gerichtshofs<br />

Der Beschwerdeführer beklagte sich unter Berufung<br />

auf Artikel 5 § 1, dass se<strong>in</strong>e fortwährende<br />

Haft se<strong>in</strong> Recht auf Freiheit verletze. Insbesondere<br />

trug er vor, dass es ke<strong>in</strong>en ausreichenden<br />

Kausalzusammenhang zwischen se<strong>in</strong>er Verurteilung<br />

1986 und se<strong>in</strong>er weiter andauernden<br />

41


Haft nach zehn Jahren <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />

gebe. Weiter beklagte er sich unter Berufung<br />

auf Artikel 7 § 1, dass die rückwirkende<br />

Verlängerung se<strong>in</strong>er Sicherungsverwahrung das<br />

Verbot der nachträglichen Verhängung e<strong>in</strong>er<br />

schwereren als die zur Tatzeit angedrohten Strafe<br />

verletze.<br />

Die Beschwerde wurde am 24. Mai 2004 beim<br />

Europäischen Gerichtshof <strong>für</strong> Menschenrechte<br />

e<strong>in</strong>gelegt.<br />

Das Urteil wurde von e<strong>in</strong>er Kammer mit sieben<br />

Richtern gefällt, die sich wie folgt zusammensetzte:<br />

Peer Lorenzen (Dänemark), Präsident,<br />

Renate Jaeger (Deutschland),<br />

Karel Jungwiert (Tschechien),<br />

Mark Villiger (Liechtenste<strong>in</strong>),<br />

Isabelle Berro-Lefèvre (Monaco),<br />

Mirjana Lazarova Trajkovska (“ehemalige jugoslawische<br />

Republik Mazedonien”),<br />

Zdravka Kalaydjieva (Bulgarien), Richter<br />

und Claudia Westerdiek, Sektionskanzler<strong>in</strong>.<br />

Entscheidung des Gerichtshofs<br />

Artikel 5 § 1<br />

Der Gerichtshof unterstrich zunächst, dass die<br />

Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers<br />

vor Ablauf der Zehnjahresfrist als Freiheitsentzug<br />

„nach Verurteilung“ durch e<strong>in</strong> zuständiges<br />

Gericht im S<strong>in</strong>ne von Artikel 5 § 1 (a) zulässig<br />

war.<br />

Im H<strong>in</strong>blick auf die Sicherungsverwahrung über<br />

die Zehnjahresfrist h<strong>in</strong>aus stellte der Gerichtshof<br />

h<strong>in</strong>gegen fest, dass es ke<strong>in</strong>en ausreichenden<br />

Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung<br />

des Beschwerdeführers und se<strong>in</strong>em fortdauernden<br />

Freiheitsentzug gab. Als das zuständige<br />

Gericht 1986 die Sicherungsverwahrung<br />

des Beschwerdeführers anordnete, bedeutete<br />

diese Entscheidung, dass er nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e klar<br />

festgeschriebene Höchstdauer <strong>in</strong> dieser Form<br />

der Haft bleiben konnte. Ohne die Änderung des<br />

42<br />

StGB 1998 hätte die Strafvollstreckungskammer<br />

des zuständigen Gerichts die Dauer der Sicherungsverwahrung<br />

nicht verlängern können.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus befand der Gerichtshof, dass die<br />

von den Gerichten festgestellte Gefahr, dass der<br />

Beschwerdeführer im Falle se<strong>in</strong>er Freilassung<br />

weitere schwere Straftaten begehen könnte,<br />

nicht konkret und spezifisch genug war, um<br />

Artikel 5 § 1 (c) zu genügen. Weiterh<strong>in</strong> konnte<br />

der Beschwerdeführer nicht als „psychisch<br />

Kranker“ im S<strong>in</strong>ne von Artikel 5 § 1 (e) <strong>in</strong> der<br />

Sicherungsverwahrung bleiben, da das Oberlandesgericht<br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, im Gegensatz zu<br />

den früheren Gerichtsentscheidungen, festgestellt<br />

hatte, dass der Beschwerdeführer an ke<strong>in</strong>er<br />

krankhaften seelischen Störung leide.<br />

Der Gerichtshof kam daher e<strong>in</strong>stimmig zu dem<br />

Schluss, dass die Sicherungsverwahrung des<br />

Beschwerdeführers über die Zehnjahresfrist<br />

h<strong>in</strong>aus Artikel 5 § 1 verletzt.<br />

Artikel 7 § 1<br />

Der Gerichtshof hatte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie darüber zu<br />

bef<strong>in</strong>den, ob die Sicherungsverwahrung als<br />

Strafe im S<strong>in</strong>ne von Artikel 7 § 1 zu gelten hat.<br />

Dazu berücksichtigte er zunächst, dass diese<br />

Form der Haft genau wie e<strong>in</strong>e gewöhnliche<br />

Haftstrafe e<strong>in</strong>en Freiheitsentzug bedeutet und<br />

dass <strong>in</strong> der Praxis Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />

<strong>in</strong> gewöhnlichen Gefängnissen untergebracht<br />

s<strong>in</strong>d. Zwar werden ihnen Verbesserungen<br />

bei den Haftbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>geräumt,<br />

was jedoch nichts an der grundlegenden Ähnlichkeit<br />

zwischen dem Vollzug e<strong>in</strong>er normalen<br />

Haftstrafe und e<strong>in</strong>er Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />

ändert. Dies wird auch<br />

dar<strong>in</strong> deutlich, dass nach dem Strafvollzugsgesetz<br />

beide Formen der Haft dem doppelten<br />

Zweck dienen, die Öffentlichkeit zu schützen<br />

und den Strafgefangenen auf e<strong>in</strong> verantwortliches<br />

Leben <strong>in</strong> Freiheit vorzubereiten.<br />

Weiterh<strong>in</strong> nahm der Gerichtshof zur Kenntnis,<br />

dass derzeit <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e ausreichende


psychologische Betreuung speziell <strong>für</strong> die Bedürfnisse<br />

von Häftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />

angeboten wird, die ihre Haftbed<strong>in</strong>gungen<br />

grundlegend von denen normaler Langzeithäftl<strong>in</strong>ge<br />

unterscheiden würde. Der Gerichtshof<br />

berief sich dabei auf die Ergebnisse<br />

zweier jüngerer Berichte des Menschenrechtskommissars<br />

des Europarats und des Europäischen<br />

Komitees zur Verhütung von Folter und<br />

unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung<br />

oder Strafe (CPT) über die Sicherungsverwahrung<br />

<strong>in</strong> Deutschland.<br />

Der Gerichtshof unterstrich, dass es nach der<br />

gesetzlichen Neuregelung von 1998 ke<strong>in</strong>e<br />

Höchstdauer mehr <strong>für</strong> die Sicherungsverwahrung<br />

gibt und dass die Bed<strong>in</strong>gung <strong>für</strong> ihre Aussetzung<br />

zur Bewährung – nämlich, dass vom<br />

Straftäter ke<strong>in</strong>e Gefahr mehr ausgehen darf –<br />

schwer zu erfüllen ist. Mith<strong>in</strong> handelt es sich um<br />

e<strong>in</strong>e der härtesten Maßnahmen, die nach dem<br />

StGB angewendet werden können. Der Gerichtshof<br />

schlussfolgerte, dass es sich bei der<br />

Sicherungsverwahrung um e<strong>in</strong>e Strafe im S<strong>in</strong>ne<br />

von Artikel 7 § 1 handelt.<br />

Ferner war der Gerichtshof nicht davon überzeugt,<br />

dass es sich bei der Verlängerung der<br />

Sicherungsverwahrung lediglich um den Vollzug<br />

der Strafe handelte, die das zuständige Gericht<br />

ursprünglich verhängt hatte. Da der Beschwerdeführer<br />

nach der Rechtslage zur Tatzeit<br />

nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Höchstdauer von zehn Jahren <strong>in</strong> der<br />

Sicherungsverwahrung hätte bleiben können,<br />

stellte die Verlängerung vielmehr e<strong>in</strong>e zusätzliche<br />

Strafe dar, die ihm nachträglich auferlegt<br />

worden war.<br />

Der Gerichtshof kam daher e<strong>in</strong>stimmig zu dem<br />

Schluss, dass e<strong>in</strong>e Verletzung von Artikel 7 § 1<br />

vorlag.<br />

Artikel 41 (gerechte Entschädigung)<br />

Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer<br />

50.000 Euro <strong>für</strong> den erlittenen immateriellen<br />

Schaden zu.<br />

***<br />

Das Urteil liegt auf Englisch und Französisch<br />

vor. Diese Pressemitteilung ist von der Kanzlei<br />

erstellt und ist <strong>für</strong> den Gerichtshof nicht b<strong>in</strong>dend.<br />

1 Gemäß Artikel 43 der Konvention kann jede Partei <strong>in</strong>nerhalb<br />

von drei Monaten nach dem Datum e<strong>in</strong>es Urteils<br />

der Kammer <strong>in</strong> Ausnahmefällen die Verweisung der<br />

Rechtssache an die Große Kammer mit siebzehn Richtern<br />

beantragen. In diesem Fall berät e<strong>in</strong> Ausschuss von fünf<br />

Richtern, ob die Rechtssache e<strong>in</strong>e schwerwiegende Frage<br />

der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder<br />

ihrer Zusatzprotokolle, oder e<strong>in</strong>e schwerwiegende Frage<br />

von allgeme<strong>in</strong>er Bedeutung aufwirft; <strong>in</strong> diesem Fall entscheidet<br />

die Große Kammer durch endgültiges Urteil.<br />

Wenn ke<strong>in</strong>e solche Frage aufgeworfen wird, lehnt der<br />

Ausschuss den Antrag ab, womit das Urteil rechtskräftig<br />

wird.<br />

Pressemitteilung des Kanzlers 11.05.2010:<br />

E<strong>in</strong> Ausschuss von fünf Richtern hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Sitzung am 10. Mai 2010 den Antrag der deutschen<br />

Bundesregierung auf Verweisung der<br />

Rechtssache M. gegen Deutschland an die Große<br />

Kammer vom 16. März 2010 abgelehnt. Damit<br />

ist das Kammerurteil des Gerichtshofs <strong>in</strong><br />

dieser Sache vom 17. Dezember 2009 rechtskräftig<br />

(Artikel 44 der Europäischen Menschenrechtskonvention).<br />

Greifswalder Appell zur Reform<br />

der Sicherungsverwahrung<br />

Vor wenigen Tagen hat der Europäische Gerichtshof<br />

<strong>für</strong> Menschenrechte (EGMR) e<strong>in</strong>e<br />

erneute Überprüfung se<strong>in</strong>er Entscheidung zur<br />

Sicherungsverwahrung vom 17. Dezember 2009<br />

abgelehnt. Damit ist rechtskräftig festgestellt,<br />

dass die nachträgliche Verlängerung e<strong>in</strong>er zunächst<br />

auf zehn Jahre begrenzten Sicherungsverwahrung<br />

gegen das Rückwirkungsverbot aus<br />

Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

verstößt. Die Unterzeichnenden,<br />

Teilnehmer<strong>in</strong>nen und Teilnehmer e<strong>in</strong>er<br />

zwischen dem 13. und 15. Mai 2010 <strong>in</strong> Greifswald<br />

durchgeführten <strong>in</strong>ternationalen krim<strong>in</strong>olo-<br />

43


gischen Forschungstagung und weitere Unterstützer<strong>in</strong>nen<br />

und Unterstützer, begrüßen diese<br />

Entscheidung sehr.<br />

Schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entscheidung vom 17. Dezember<br />

2009 betonte der EGMR die Geltung der <strong>für</strong><br />

„Strafen“ verb<strong>in</strong>dlichen Vorschriften der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention <strong>für</strong> das<br />

deutsche Instrument der Sicherungsverwahrung.<br />

Damit setzte sich der EGMR <strong>in</strong> offenen Widerspruch<br />

zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,<br />

das alle<strong>in</strong> auf die präventive Orientierung<br />

der Maßregel abstellt und e<strong>in</strong>e rückwirkende<br />

Anwendung von Gesetzen zu nachträglicher<br />

oder zeitlich entgrenzter Sicherungsverwahrung<br />

zulässt. In der Praxis unterscheidet<br />

sich die Sicherungsverwahrung <strong>in</strong> der Tat kaum<br />

vom Vollzug e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe, obwohl sie<br />

erst stattf<strong>in</strong>det, nachdem die schuldangemessene<br />

Strafe bereits vollzogen ist. Problematisch s<strong>in</strong>d<br />

<strong>für</strong> den Vollzug der Sicherungsverwahrung vor<br />

allem die Unsicherheiten bei Rückfallprognosen.<br />

E<strong>in</strong> hoher Prozentsatz der Inhaftierten verbleibt<br />

so <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung, obwohl<br />

diese Menschen tatsächlich <strong>in</strong> Freiheit wohl<br />

nicht wieder rückfällig geworden wären.<br />

E<strong>in</strong>ige Sicherungsverwahrte (vorläufige Analysen<br />

schätzen ihre Zahl auf 70-160) warten nun<br />

auf ihre Entlassung, e<strong>in</strong>e Entlassung, auf die sie<br />

nicht angemessen vorbereitet worden s<strong>in</strong>d.<br />

Kaum e<strong>in</strong>er von ihnen hat nach den langen Jahren<br />

im Freiheitsentzug noch tragfähige familiäre<br />

oder freundschaftliche Kontakte außerhalb der<br />

Haftanstalt. Kaum e<strong>in</strong>er hat e<strong>in</strong>e Wohnung oder<br />

e<strong>in</strong>e Arbeitsstelle. Und kaum e<strong>in</strong>er hatte bislang<br />

<strong>in</strong> wirklich qualifizierter Form die Möglichkeit,<br />

sich im Vollzug mithilfe e<strong>in</strong>es anstaltsunabhängigen<br />

Therapeuten mit den <strong>in</strong> der Regel schweren,<br />

früher begangenen Straftaten ause<strong>in</strong>anderzusetzen<br />

und Strategien zu entwickeln, mit denen<br />

e<strong>in</strong>e etwaige Wiederholungsgefahr deutlich<br />

reduziert oder ausgeschlossen werden könnte.<br />

Es wurde <strong>in</strong> den vergangenen Jahren e<strong>in</strong> erheb-<br />

44<br />

licher Aufwand zur kurz- bis mittelfristigen<br />

Sicherung dieser Menschen betrieben. Für e<strong>in</strong>e<br />

nachhaltige Arbeit an ihrer langfristigen Wiedere<strong>in</strong>gliederung<br />

<strong>in</strong> die Gesellschaft wurden<br />

dagegen kaum Ressourcen aufgewendet.<br />

Besonders betroffen von dieser Entscheidung<br />

s<strong>in</strong>d die früheren Opfer der zu Entlassenden.<br />

Er<strong>in</strong>nerungen an teilweise furchtbare Erlebnisse<br />

brechen wieder auf und alte Ängste werden neu<br />

entfacht. Den Opfern gehören unser Mitgefühl<br />

und unsere Solidarität.<br />

Die Innen- und Justizm<strong>in</strong>isterien der Länder und<br />

die Bundesregierung f<strong>in</strong>den sich nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

bitteren Dilemma. Wir fordern sie, aber auch die<br />

Kirchen und Wohlfahrtsverbände, die Wissenschaft<br />

und die gesamte Gesellschaft auf, besonnen<br />

und verantwortungsvoll mit dieser großen<br />

Aufgabe umzugehen.<br />

Besonnen und verantwortungsvoll zu handeln<br />

kann beispielsweise bedeuten<br />

� <strong>für</strong> die ehemaligen Opfer qualitativ hochwertige,<br />

ggf. auch therapeutische Unterstützung<br />

bereitzustellen und ihre Ängste <strong>in</strong> der<br />

öffentlichen Diskussion nicht kle<strong>in</strong>zureden,<br />

� den jetzt kurz vor der Entlassung stehenden<br />

Menschen dabei zu helfen, Wohnung und<br />

Arbeit zu f<strong>in</strong>den,<br />

� ihnen zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> den schwierigen Übergang<br />

<strong>in</strong> die Freiheit (aber bei Bedarf auch<br />

langfristig) schnell e<strong>in</strong>e sozialpädagogische<br />

oder therapeutische Begleitung anzubieten,<br />

� die jeweils zuständige Führungsaufsicht<br />

angemessen <strong>für</strong> wirkungsvolle Arbeit auszustatten<br />

� sowie Unterstützung und Beratung zu gewähren<br />

durch geeignete Stellen bei der<br />

Aufnahme neuer vorurteilsfreier Kontakte.<br />

Auf der Basis e<strong>in</strong>er qualifizierten Gefahrenprognose<br />

wird man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen um e<strong>in</strong>e<br />

Überwachung nicht herumkommen. Zu verh<strong>in</strong>-


dern ist dabei, dass die zu entlassenden Sicherungsverwahrten<br />

an den Pranger gestellt, diffamiert<br />

und erneut ausgegrenzt werden. Informiert<br />

werden dürfen bzw. müssen unter den Voraussetzungen<br />

des § 406 d Abs. 2 StPO nur frühere<br />

Opfer der Untergebrachten.<br />

Die aktuelle Situation verdeutlicht die krim<strong>in</strong>alpolitischen<br />

Defizite im Bereich der Entlassung<br />

aus geschlossenen Anstalten. E<strong>in</strong>e gute und<br />

fundierte Vorbereitung auf die Entlassung und<br />

der Aufbau e<strong>in</strong>es tragfähigen und strukturierten<br />

Übergangsmanagements hätten viel früher e<strong>in</strong>geleitet<br />

werden müssen. Dies gilt <strong>für</strong> die <strong>in</strong>sgesamt<br />

etwa fünfhundert Sicherungsverwahrten <strong>in</strong><br />

den bundesdeutschen Haftanstalten genauso wie<br />

<strong>für</strong> die e<strong>in</strong>e Freiheits- oder Jugendstrafe verbüßenden<br />

Inhaftierten allgeme<strong>in</strong>. Für die aktuelle<br />

Gefangenenpopulation ist es noch nicht zu spät.<br />

Deshalb appellieren wir nachdrücklich an die<br />

Verantwortlichen <strong>in</strong> den Ländern, endlich e<strong>in</strong>e<br />

strategische und evidenzbasierte Entlassungsvorbereitung<br />

flächendeckend zu entwickeln!<br />

Rückwärtsgewandte Schuldzuweisungen helfen<br />

weder den Opfern noch den jetzt zu Entlassenden.<br />

Uns alle trifft die Verantwortung, <strong>für</strong> die<br />

Zukunft zu e<strong>in</strong>em neuen Umgang mit stark auffälligen<br />

und gewalttätigen Jugendlichen und<br />

Erwachsenen zu kommen – auch mit denen, die<br />

schwerste Straftaten begangen haben. Wir brauchen<br />

endlich e<strong>in</strong>en wirklich resozialisierungsorientierten<br />

Strafvollzug und e<strong>in</strong>e grundsätzliche<br />

Reform der Sicherungsverwahrung mit e<strong>in</strong>er<br />

deutlich stärkeren Ausrichtung der Arbeit<br />

auch mit Sexual- und Gewalttätern auf Resozialisierung<br />

und auf die Verh<strong>in</strong>derung von erneuten<br />

Straftaten – im Interesse der Sicherheit der<br />

Bevölkerung!<br />

Auch wenn es nicht leicht ist, muss unsere Gesellschaft<br />

zum Schutz unserer verfassungsrechtlichen<br />

Grundwerte mit der kritischen Situation<br />

leben, dass vere<strong>in</strong>zelt Menschen <strong>in</strong> die Freiheit<br />

entlassen werden, auch wenn sie im H<strong>in</strong>blick<br />

auf ihre Rückfallgefahr nicht als vollkommen<br />

unbedenklich e<strong>in</strong>gestuft werden können. Generell<br />

jedoch – so die Ergebnisse krim<strong>in</strong>ologischer<br />

Forschung – bewahrheiten sich negative Rückfallprognosen<br />

bei Menschen, die schwere Straftaten<br />

begangen haben, oft nicht.<br />

Wir sollten uns davor hüten, diese und andere<br />

Ängste und Unsicherheiten auf die kle<strong>in</strong>e Gruppe<br />

der nun zu entlassenden Sicherungsverwahrten<br />

zu konzentrieren. Stattdessen müssen wir<br />

gegen Entsolidarisierung und gesellschaftliche<br />

Verrohung e<strong>in</strong>treten, Tabuisierungen überw<strong>in</strong>den,<br />

uns mit den Ursachen del<strong>in</strong>quenten Verhaltens<br />

ause<strong>in</strong>andersetzen und problematischen<br />

Entwicklungen frühzeitig, aber klug und <strong>in</strong>tegrativ<br />

entgegenwirken. Dabei müssen wir Ausgrenzungen<br />

vermeiden und auch mit denjenigen,<br />

die anderen großes Leid zugefügt haben,<br />

verantwortungsvoller umgehen als bislang geschehen<br />

und ihnen e<strong>in</strong>e realistische Chance auf<br />

Wiedere<strong>in</strong>gliederung geben.<br />

E<strong>in</strong>e gel<strong>in</strong>gende Resozialisierung ist die beste<br />

Rückfallprävention. Die Entscheidung des<br />

EGMR als Anstoß <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Reform der Resozialisierungsstruktur<br />

zu erkennen, würde die Chance<br />

auf mehr und nachhaltigere Sicherheit ganz<br />

erheblich verbessern. Auch wenn die Entscheidung<br />

des EGMR vordergründig Ängste und<br />

Unsicherheiten auslöst, so ist sie doch <strong>in</strong> Wahrheit<br />

e<strong>in</strong> wichtiger Schritt <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es flächendeckenden<br />

und effektiven Schutzes der<br />

Menschenrechte <strong>in</strong> Europa. Am Umgang unserer<br />

Gesellschaft mit den Menschen, die erhebliche<br />

Straftaten begangen haben, zeigt sich, ob<br />

wir bereit s<strong>in</strong>d, die Forderungen des Grundgesetzes<br />

nach Schutz der Menschenwürde, Gerechtigkeit<br />

und Teilhabe <strong>für</strong> alle Bürger<strong>in</strong>nen<br />

und Bürger ernst zu nehmen.<br />

Verantwortlich i. S. d. Presserechts:<br />

Prof. Dr. Frieder Dünkel,<br />

Universität Greifswald<br />

Kontaktadresse: duenkel@uni-greifswald.de<br />

Der Appell ist auch unter http://jura.unigreifswald.de/duenkel<br />

veröffentlicht.<br />

45


Die 98 Unterzeichner des Appells:<br />

Thomas Aehnelt, <strong>Ev</strong>. <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r an der JVA Sehnde,<br />

Hannover<br />

Tim Angerer, Regierungsdirektor, Hamburg<br />

Stefan Allgeier, Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht, Mannheim<br />

Dr. Tillmann Bartsch, Rechtsreferendar, Fernwald<br />

Harald Baumann-Hasske, Rechtsanwalt, Bundesvorsitzender<br />

der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Sozialdemokratischer Jurist<strong>in</strong>nen und<br />

Juristen<br />

Prof. Dr. Werner Beulke, Universitätsprofessor, Passau<br />

Klaus Breymann, Oberstaatsanwalt, Magdeburg<br />

Prof. Dr. He<strong>in</strong>z Cornel, Hochschullehrer, Berl<strong>in</strong><br />

Dr. András Csúri, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-<br />

Planck-Institut <strong>für</strong> ausländisches und <strong>in</strong>ternationales Strafrecht,<br />

Freiburg<br />

Pascal Déscarpes, Krim<strong>in</strong>ologischer Dienst, Wiesbaden<br />

Bastian Dorenburg, Wissenschaftlicher Angestellter und Doktorand,<br />

Greifswald und Berl<strong>in</strong><br />

Pater Kamillus Drazkowski, OP, Gefängnispfarrer an der JVA<br />

Moabit, Berl<strong>in</strong><br />

Dr. Kirst<strong>in</strong> Drenkhahn, Wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong>,<br />

Greifswald<br />

Dr. med. Manuela Dudeck, Fachärzt<strong>in</strong> <strong>für</strong> Nervenheilkunde<br />

TFP/Forensische Psychiatrie,<br />

Greifswald und Stralsund<br />

Prof. Dr. Frieder Dünkel, Lehrstuhl <strong>für</strong> Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />

Dr. Re<strong>in</strong>hart Enßl<strong>in</strong>, Rechtsanwalt, Mannheim<br />

Hans-Dieter Ewe, Richter am Amtsgericht a.D., Hamburg<br />

Mart<strong>in</strong> Faber, <strong>Ev</strong>. Pfarrer an der JVA Weiterstadt/Hessen,<br />

Wiesbaden<br />

Prof. Dr. Johannes Feest, Hochschullehrer (i.R.), Universität<br />

Bremen<br />

Josef Fe<strong>in</strong>dt, Kath. Seelsorger an der JVA Krefeld und der JVA<br />

Willich 2, Krefeld<br />

Christoph Flügge, Richter am Internationalen Strafgerichtshof<br />

<strong>für</strong> das frühere Jugoslawien, Den Haag<br />

Helmut Frenzel, Richter am Amtsgericht a.D., Berl<strong>in</strong><br />

Andrea Gens<strong>in</strong>g, Rechtsreferendar<strong>in</strong>, Lübeck; Doktorand<strong>in</strong>,<br />

Greifswald<br />

Prof. Dr. Esther Gimenez-Sal<strong>in</strong>as i Colomer, Rektor<strong>in</strong>, Ramon<br />

LLull Universität, Barcelona<br />

Jochen Goerdeler, Staatsanwalt, Hannover/Itzehoe<br />

Joanna Grzywa, LL.M., Wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong>,<br />

Lehrstuhl <strong>für</strong> Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />

Dr. Mart<strong>in</strong> Hagenmaier, Pastor an der JVA Kiel, Kiel<br />

Thomas Harms, <strong>Ev</strong>. Pastor an der JVA Rosdorf, Gött<strong>in</strong>gen<br />

Katr<strong>in</strong> Hartmann, Wissenschaftliche Angestellte, Universität<br />

Heidelberg<br />

Dr. Dierk Helmken, Richter, Heidelberg<br />

Claus-Gerd Hoes, <strong>Ev</strong>. Gefängnispfarrer, Vechta<br />

Dr. Hartmuth Horstkotte, Richter am Bundesgerichtshof a.D.,<br />

Berl<strong>in</strong><br />

Dr. Theresia Höynck, LL.M., Krim<strong>in</strong>ologisches Forschungs<strong>in</strong>stitut<br />

Niedersachsen e.V., Hannover<br />

46<br />

Otfried Junk, Geschäftsführer Schwarzes Kreuz, Christliche<br />

Straffälligenhilfe e.V., Celle<br />

Werner Kaser, kath. Gefängnispfarrer an der JVA Siegburg,<br />

Siegburg<br />

Burkhard K<strong>in</strong>d, Vorstandsmitglied <strong>in</strong> "Kirche im Gefängnis"<br />

e.V., Berl<strong>in</strong><br />

Prof. Dr. Jörg K<strong>in</strong>zig, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht und<br />

Strafprozessrecht, Eberhard Karls Universität Tüb<strong>in</strong>gen<br />

Ra<strong>in</strong>er Köttgen, Jurist, Hamburg<br />

Prof. em. Dr. Detlef Krauß, Humboldt-Universität, Berl<strong>in</strong><br />

Ralph Kreutzer, Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Willich 1, Willich<br />

Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer, Universität Gießen, Gießen<br />

Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber, Professor <strong>für</strong> Forensische<br />

Psychiatrie, Charité, Berl<strong>in</strong><br />

Dr. Maik Krüger, Rechtsreferendar, Lübeck<br />

Johannes Kühl, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl <strong>für</strong><br />

Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />

Dr. Jürgen Kühl<strong>in</strong>g, Richter des Bundesverfassungsgerichts<br />

a.D.<br />

Prof. Dr. Karl-Ludwig Kunz, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht und<br />

Krim<strong>in</strong>ologie, Bern<br />

Ltd. Reg. Dir. a.D. Klaus Lange-Lehngut, ehem. Leiter der<br />

JVA Berl<strong>in</strong>-Tegel, Berl<strong>in</strong><br />

Manfred Lösch, Pfarrer i.R., ehem. Beauftragter des Rates der<br />

EKD <strong>für</strong> JVA-Seelsorge, Berl<strong>in</strong><br />

Angelika Menz, <strong>Ev</strong>. <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong> der JVA Oldenburg,<br />

Oldenburg<br />

Jerzy Montag, MdB, Rechtspolitischer Sprecher Fraktion<br />

Bündnis 90 / Die Grünen, Berl<strong>in</strong><br />

Dr. Tobias Müller-Monn<strong>in</strong>g, <strong>Ev</strong>. Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Butzbach<br />

Dr. Christ<strong>in</strong>e Morgenstern, wiss. Mitarbeiter<strong>in</strong>, Lehrstuhl <strong>für</strong><br />

Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />

Ltd. Reg. Dir. Thomas Müller, Leiter der JVA Bruchsal,<br />

Bruchsal<br />

Prof. Werner Nickolai, Katholische Fachhochschule Freiburg<br />

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, Forschungsstelle <strong>für</strong> Jugendstrafrecht<br />

und Krim<strong>in</strong>alprävention, Kiel<br />

Andrea Parosanu, LL.M. , Doktorand<strong>in</strong>, Leipzig<br />

Prof. Dr. Lorenzo Picotti, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht, Verona<br />

Univ.-Doz. Dr. Arno Pilgram, Institut <strong>für</strong> Rechts- und Krim<strong>in</strong>alsoziologie,<br />

Wien<br />

Angelika Pitsela, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht und Krim<strong>in</strong>ologie,<br />

Thessaloniki<br />

Anna Pohl, Rechtsanwält<strong>in</strong>, Mannheim<br />

Reg. Dir. Anke Pörksen, Stellv. Bundesvorsitzender der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Sozialdemokratischer Jurist<strong>in</strong>nen und Juristen,<br />

Hamburg<br />

Jens-Peter Preis, <strong>Ev</strong>. Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Siegburg<br />

Dr. Harald Preusker, M<strong>in</strong>isterialdirigent a. D., Dresden<br />

Dr. Ineke Pru<strong>in</strong>, Wissenschaftliche Angestellte, Greifswald und<br />

Heidelberg<br />

Ra<strong>in</strong>er Rex, Ärztlicher Vorsitzender der Bundesarbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

der Ärzte und Psychologen <strong>in</strong> der Straffälligenhilfe,<br />

Berl<strong>in</strong><br />

Alexandra A. Rittershaus, Rechtsanwält<strong>in</strong>, Mannheim


Diakon Alexander Rudolf, kath. Seelsorger an der JVA Weiterstadt,<br />

Weiterstadt<br />

Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz Sack, Universität Hamburg, Hamburg<br />

Dr. G<strong>in</strong>tautas Sakalauskas, Vorsitzender des litauischen Instituts<br />

<strong>für</strong> Recht, Vilnius<br />

Alexander Sauer, Rechtsanwalt, Mannheim<br />

Axel Schmidt-Gödelitz, Mitglied des "Gödelitzer Kreises“ im<br />

Ost-West-Forum, Gut Gödelitz<br />

Ulli Schönrock, <strong>Ev</strong>. Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Meppen, Vors. der <strong>Ev</strong>.<br />

<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland, L<strong>in</strong>gen<br />

Friedrich Schwenger, Pastor, Vors. der <strong>Ev</strong>. Konf. <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

<strong>in</strong> Nds/HB, Northeim<br />

Ver<strong>in</strong>a Speck<strong>in</strong>, Rechtsanwält<strong>in</strong>, Vorsitzende des Strafverteidiger<strong>in</strong>nen-<br />

und Strafverteidigervere<strong>in</strong>s Mecklenburg-<br />

Vorpommern e.V., Rostock<br />

M<strong>in</strong>isterialdirigent Johannes Spieker, M<strong>in</strong>isterium der Justiz<br />

des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg<br />

Dr. Ra<strong>in</strong>er Steffens, Rechtsanwalt, Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht,<br />

Greifswald<br />

Mart<strong>in</strong> Steller, Pastor i.R., langjähriger Gefangenenseelsorger<br />

an der JVA Hamburg-Fuhlsbüttel<br />

Prof. Dr. Anette Storgaard, Universität zu Aarhus, Dänemark<br />

Dr. Angela Strätker, Oberregierungsrät<strong>in</strong>, Schwer<strong>in</strong><br />

Hans-He<strong>in</strong>rich Thormeyer, Rechtsanwalt u. Notar, Berl<strong>in</strong><br />

Prof. Dr. Carlos Tiffer, Universität von Costa Rica, San José<br />

Adrian Tillmanns, Pfarrer, Vors. der <strong>Ev</strong>. Konf. <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />

<strong>in</strong> NRW, Werl<br />

Günter Urbanczyk, Rechtsanwalt und Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht,<br />

Vorsitzender der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Strafrecht im<br />

Mannheimer Anwaltsvere<strong>in</strong>, Mannheim<br />

Prof. Dr. Dirk van Zyl Smit, School of Law, Nott<strong>in</strong>gham, UK<br />

Prof. Horst Viehmann, M<strong>in</strong>isterialdirigent im Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />

der Justiz a.D., Neunkirchen<br />

Prof. Dr. Philipp Walkenhorst, Lehrstuhl Erziehungshilfe und<br />

Soziale Arbeit, Köln<br />

Prof. Dr. Tonio Walter, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht, Strafprozessrecht,<br />

Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht, Regensburg<br />

Dr. Joachim Walter, Ltd. Regierungsdirektor a.D., Adelsheim<br />

Carl Werner Wendland, Verleger, Mönchengladbach<br />

Prof. Dr. Peter Wetzels, Institut <strong>für</strong> Krim<strong>in</strong>ologie, Hamburg<br />

Frank H. Weyel, Vorsitzender der Landesgruppe Hessen der<br />

Deutschen Vere<strong>in</strong>igung <strong>für</strong> Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen<br />

Wolfgang Wieland, MdB, Berl<strong>in</strong><br />

Axel Wiesbrock, Kath. <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r an der JVA Tegel,<br />

Berl<strong>in</strong><br />

Annette Wilmes, Journalist<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />

W<strong>in</strong>fried W<strong>in</strong>gert, Pastoralreferent, Katholische Seelsorge bei<br />

der JVA Hannover<br />

Vorsitzender He<strong>in</strong>z-Bernd Wolters, Meppen, <strong>für</strong> die <strong>Konferenz</strong><br />

der Katholischen Seelsorge bei den Justizvollzugsanstalten <strong>in</strong><br />

der Bundesrepublik Deutschland<br />

Manfred Zipper, Rechtsanwalt und Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht,<br />

Schwetz<strong>in</strong>gen<br />

Barbara Zöller, <strong>Ev</strong>. Pfarrer<strong>in</strong> bei der JVA Butzbach, Oberursel<br />

Anmerkungen e<strong>in</strong>es emeritierten<br />

<strong>Gefängnisseelsorge</strong>rs zum Gesetz<br />

zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses<br />

- SeelGG<br />

Harro Hefendehl, Dortmund<br />

Das Mitteilungsblatt Nr.77 begrüßt se<strong>in</strong>e Leser-<br />

Innen mit e<strong>in</strong>em Foto von Peter Rassow, wie<br />

wir ihn <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung behalten werden, im selben<br />

Blatt wird das „Seelsorgegeheimnisgesetz-<br />

SeelGG“ vorgestellt. Peter Rassow und das<br />

Nachdenken über die Seelsorge im Gefängnis,<br />

das ist untrennbar mite<strong>in</strong>ander verbunden, diese<br />

Verbundenheit zeigt sich symbolisch auch im<br />

„Mitteilungsblatt“, das die Nachricht über Peters,<br />

aber auch Erw<strong>in</strong> Kurmanns Tod mit der<br />

Veröffentlichung des Gesetzes verb<strong>in</strong>det. Für<br />

mich war und ist Peter Rassow unser „Vordenker“<br />

<strong>in</strong> Sachen Seelsorge gerade im Spannungsfeld<br />

zwischen Kirche und Justiz.<br />

Das „Seelsorgegeheimnis“ – gerade <strong>in</strong> unserem<br />

Arbeitsfeld – ist e<strong>in</strong> Dauerthema, das mich über<br />

20 Jahre beschäftigt hat und als Diskussionsthema<br />

sicherlich nicht mit dem „SeelGG“ vom<br />

28. Oktober 2009 beendet ist. Anfang der 80er<br />

Jahre des vergangenen Jahrhunderts war es<br />

Thema e<strong>in</strong>er Bundeskonferenz, die sogar die<br />

manchem absurd ersche<strong>in</strong>ende Frage aufwarf,<br />

ob es nicht auch e<strong>in</strong> Seelsorgegeheimnis dem<br />

Gesprächspartner (!) gegenüber geben müsse, <strong>in</strong><br />

dem man ihn nicht auf Inhalte vergangener Gespräche<br />

ansprechen dürfe. Die Zeiten haben sich<br />

geändert, das SeelGG sieht sich mittlerweile<br />

genötigt, dem Umstand Rechnung zu tragen,<br />

dass Seelsorgegespräche abgehört werden können<br />

(das Gespräch von He<strong>in</strong>rich Albertz mit<br />

Christian Klar <strong>in</strong> Stammheim wurde heimlich<br />

mitgeschnitten) und Unterlagen beschlagnahmt<br />

werden können und Seelsorge auch mit technischen<br />

Kommunikationsmitteln wahrgenommen<br />

werden kann.<br />

Das SeelGG ist das Ergebnis e<strong>in</strong>es jahrelangen<br />

Diskussionsprozesses, <strong>in</strong> dem vermutlich alle<br />

47


möglichen Gesichtspunkte erörtert wurden. Diese<br />

Anmerkungen wollen nicht nachkarten und<br />

alte Diskussionen wiederbeleben, sie s<strong>in</strong>d aber<br />

Reaktionen e<strong>in</strong>es mit der Sache verbunden gebliebenen<br />

Pensionärs auf die kirchengesetzlichen<br />

Vorgaben <strong>für</strong> die Seelsorge im<br />

Allgeme<strong>in</strong>en, auf ihre möglichen Implikationen<br />

<strong>für</strong> die Seelsorgenden im Gefängnis.<br />

1) Formale Anfragen:<br />

1.1 Zur Frage des zeitlichen Geltungsbereiches<br />

bzw. der Verb<strong>in</strong>dlichkeit: dieses Gesetz trat<br />

am 1. Januar 2010 <strong>in</strong> Kraft (§ 14,1), es tritt aber<br />

erst <strong>in</strong> Kraft, sobald die Gliedkirchen oder der<br />

jeweilige kirchliche gliedkirchliche Zusammenschluss<br />

es übernommen haben (§14,2 ). Danach<br />

erfolgt e<strong>in</strong>e erneute Inkraftsetzung durch Verordnung<br />

des Rates der EKD. Zudem können die<br />

Gliedkirchen dieses Gesetz jederzeit wieder<br />

außer Kraft setzen (§14,3).<br />

1.2 Abstimmungsfragen: das SeelGG soll<br />

abgestimmt se<strong>in</strong> mit den jeweiligen Dienstgesetzen<br />

<strong>für</strong> Seelsorgende der Gliedkirchen bzw.<br />

gliedkirchlicher Zusammenschlüsse. Zudem<br />

haben die evangelischen Kirchen <strong>in</strong> NRW e<strong>in</strong>e<br />

kirchliche Dienstordnung <strong>für</strong> die Seelsorge <strong>in</strong><br />

Justizvollzugsanstalten erarbeitet. Diese Dienstordnung<br />

beschreibt konkret die Seelsorge <strong>in</strong><br />

diesem Bereich und verleiht dem Seelsorgegeheimnis<br />

e<strong>in</strong> besonderes Gewicht. Diese Dienstordnung<br />

wird (wurde?) im Amtsblatt des Justizm<strong>in</strong>isteriums<br />

veröffentlicht und somit durch<br />

die Landesregierung anerkannt. Zudem hat die<br />

Regionalkonferenz NRW <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em langen Diskussionsprozess<br />

e<strong>in</strong>e Konzeption <strong>für</strong> Ihre Arbeit<br />

entworfen (nachzulesen auf der Internet-<br />

Homepage www.ekir.de/<strong>Gefängnisseelsorge</strong>).<br />

In anderen Kirchen wird es ähnlich se<strong>in</strong>: soweit<br />

dies nicht schon im Vorfeld der Erörterungen<br />

um das SeelGG geschehen ist, müsste an diesem<br />

Punkt <strong>für</strong> mehr Klarheit gesorgt werden. Sollten<br />

sich hier Spannungen auftun, wäre unter<br />

Umständen der Zustimmungsprozess zum<br />

SeelGG durch die Gliedkirchen bzw. gliedkirchlichen<br />

Zusammenschlüsse gefährdet.<br />

48<br />

2) Inhaltliche Anfragen:<br />

2.1 Begrifflichkeit: Beichtgeheimnis, Seelsorgegeheimnis,<br />

Schweigepflicht, seelsorgerliche<br />

Verschwiegenheit, Aussageverweigerungsrecht,<br />

Zeugnisverweigerungsrecht s<strong>in</strong>d Begriffe, die<br />

teilweise synonym verwendet werden und <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander<br />

übergehen. Die Begriffe „Zeugnisverweigerungsrecht“<br />

bzw. „Aussageverweigerungsrecht“<br />

s<strong>in</strong>d juristische Begriffe. Sie gestehen<br />

dem bzw. der Seelsorgenden die Möglichkeit<br />

zu, auf Befragen nichts zu sagen, erwarten<br />

aber, dass e<strong>in</strong>e Aussage – falls es dazu kommt –<br />

wahrheitsgemäß und vollständig ist. Insofern ist<br />

es zu begrüßen, dass das SeelGG sich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Begriff: Seelsorgegeheimnis entschieden hat.<br />

Der Begriff Seelsorgegeheimnis (mysterion)<br />

geht weit über das Recht der Aussage- bzw.<br />

Zeugnisverweigerung des/der E<strong>in</strong>zelnen h<strong>in</strong>aus,<br />

er kennzeichnet das seelsorgerische Geschehen<br />

<strong>in</strong>sgesamt als e<strong>in</strong>en geschützten Bereich, <strong>in</strong> den<br />

von außen nicht e<strong>in</strong>gedrungen werden darf. Das<br />

SeelGG nimmt <strong>für</strong> sich <strong>in</strong> Anspruch, „auch zur<br />

Klärung des Begriffs der Seelsorge auch im<br />

staatlichen Recht beizutragen“. Der Begriff<br />

„Geheimnis“ ist dem staatlichen Recht durchaus<br />

geläufig, zum Beispiel <strong>in</strong> den Bereichen Bankgeheimnis<br />

oder Steuergeheimnis, aber gerade<br />

der Geheimnischarakter <strong>in</strong> diesen profanen Bereichen<br />

wird ja zunehmend <strong>in</strong>frage gestellt, da<br />

dürfte es e<strong>in</strong>e lohnende Aufgabe des SeelGG<br />

se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en neuen, zudem noch religiös fundierten<br />

Geheimnisbegriff <strong>in</strong> das juristische Denken<br />

e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.<br />

2.2 Gibt es Grenzen des Seelsorgegeheimnisses?<br />

§2 (4) SeelGG hat den Verfasser dazu gebracht,<br />

sich auch aus dem Ruhestand heraus noch e<strong>in</strong>mal<br />

zu Wort zu melden. Er lautet: „Jede Person,<br />

die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Seelsorgegespräch e<strong>in</strong>er Seelsorger<strong>in</strong><br />

oder e<strong>in</strong>em Seelsorger anvertraut, muss<br />

darauf vertrauen können, dass daraus ohne ihren<br />

Willen ke<strong>in</strong>e Inhalte Dritten bekannt werden.<br />

Das Beichtgeheimnis ist unverbrüchlich zu wahren.“<br />

Eigentlich e<strong>in</strong> Satz, an dem <strong>in</strong>haltlich<br />

nichts auszusetzen ist, aber er reicht nicht aus,<br />

um das Seelsorgegeheimnis zu def<strong>in</strong>ieren. Das


Beichtgeheimnis bleibt zwar unverbrüchlich,<br />

das Seelsorgegeheimnis wird dadurch differenziert,<br />

dass es durch die Formulierung „ohne<br />

ihren Willen“ <strong>in</strong> das Ermessen des Gesprächsteilnehmers<br />

gestellt wird. Dieser wird bei e<strong>in</strong>er<br />

E<strong>in</strong>verständniserklärung (verständlicherweise)<br />

immer davon ausgehen, dass die/der Seelsorgende<br />

ausschließlich Positives über ihn aussagt.<br />

Die Seelsorge muss ständig e<strong>in</strong>en Weg zwischen<br />

der Skylla suchen, nämlich den Gesprächspartner<br />

zu entmündigen, <strong>in</strong>dem sie besser<br />

zu wissen glaubt, was der Seelsorge-<br />

Suchende wirklich braucht und der Charybtis,<br />

vom Gesprächspartner <strong>in</strong>strumentalisiert zu<br />

werden.<br />

Das Seelssorgegeheimnis des/der Seelsorgenden<br />

Es ist unbed<strong>in</strong>gt positiv festzuhalten, dass weder<br />

das SeelGG noch andere kirchlichen Bestimmungen<br />

die/ den Seelsorgende(n) nötigen, e<strong>in</strong>e<br />

Aussage zu machen, wenn sie/er dies nicht will,<br />

das ist unbestritten und sollte nicht weiter erörtert<br />

werden.<br />

Ebenso ist es unstrittig, dass der/die Seelsorgende<br />

im Rahmen der kirchlichen Vorgaben selbst<br />

bestimmen kann, was Seelsorge ist. Nicht alles,<br />

was e<strong>in</strong> Seelsorger tut, ist Seelsorge, aber er tut<br />

es als Seelsorger. Trotzdem hat es immer wieder<br />

seitens der Justiz Infragestellungen des Seelsorgegeheimnisses<br />

gegeben, der Verfasser weiß<br />

dies aus eigener Anschauung als zeitweiser<br />

<strong>Konferenz</strong>vorsitzender der RK NRW. Von<br />

manchen Anstaltsleitern wurde es als selbstverständlich<br />

vorausgesetzt, dass die Schweigepflicht<br />

bei „Sicherheit und Ordnung“ ihre Grenzen<br />

f<strong>in</strong>det (vielleicht hatte er die Figur des Anstaltsgeistlichen<br />

aus Hans Falladas Roman „Wer<br />

e<strong>in</strong>mal aus dem Blechnapf fraß“ vor Augen.)<br />

Jede noch so sche<strong>in</strong>bar <strong>in</strong>teressierte Diskussion<br />

um die Verschwiegenheit der Seelsorge diente<br />

nur dem e<strong>in</strong>en Zweck: nämlich Grenzen der<br />

Verschwiegenheit aufzuzeigen, meist an konstruierten<br />

spektakulären Fällen, von denen man<br />

dann auch auf weniger spektakuläre übergehen<br />

kann. Gerade der mehr als fragwürdige Umgang<br />

der Kirchen mit den Missbrauchsfällen <strong>in</strong> ihrem<br />

Bereich bieten e<strong>in</strong>e willkommene Angriffsfläche<br />

auf das Seelsorgegeheimnis. Ich behaupte:<br />

gerade unter Wahrung des Seelsorgegeheimnis-<br />

ses hätten bessere Lösungen <strong>für</strong> Opfer und Täter<br />

gefunden werden können als durch Vertuschen,<br />

Verschweigen, aber auch durch Strafanzeigen.<br />

Das Seelsorgegeheimnis ist <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Kritiker<br />

e<strong>in</strong>e Nebelkerze, <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> der man sich als Seelsorgende(r)<br />

verstecken kann, aber es bietet dessen<br />

ungeachtet sonst nicht vorhandene Chancen,<br />

e<strong>in</strong>en Konflikt abzuarbeiten.<br />

Die Ermessensfrage (im Bereich <strong>Gefängnisseelsorge</strong>)<br />

These: e<strong>in</strong> Seelsorgegespräch ist nur dann e<strong>in</strong><br />

seelsorgerliches Gespräch, wenn es das Gewicht<br />

des Beichtgeheimnisses hat, also nichts davon<br />

an Dritte geht. Das hat zunächst ganz praktische<br />

Gründe: e<strong>in</strong> Gespräch bekommt se<strong>in</strong>en eigenen<br />

Drive, wenn von vorne here<strong>in</strong> klar ist, dass nur<br />

die Gesprächsteilnehmer <strong>für</strong> sich e<strong>in</strong>en Nutzen<br />

daraus ziehen können ohne dass Dritte davon<br />

erfahren. Von daher halte ich es <strong>für</strong> mehr als<br />

bedenklich, dass das SeelGG <strong>in</strong>direkt die Möglichkeit<br />

eröffnet, mit Wissen und E<strong>in</strong>verständnis<br />

des Gesprächspartners Gesprächs<strong>in</strong>halte an<br />

Dritte weiterzugeben. Das würde dem Gespräch<br />

entweder den Charakter e<strong>in</strong>es Anwaltsgespräches<br />

(das Positive wird herausgestellt, das Negative<br />

wird verschwiegen), oder e<strong>in</strong>es Gutachtens<br />

geben. Beides s<strong>in</strong>d Seelsorgende nicht: im<br />

Grunde s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> diesen Fragen <strong>in</strong>kompetent,<br />

denn sie verfügen über ke<strong>in</strong>e justizrelevanten<br />

Instrumentarien und Kriterien. Es mag ja durchaus<br />

so etwas wie e<strong>in</strong>en „seelsorgerlichen Befund“<br />

geben, aber dieser darf schon aus Gründen<br />

der religiösen und weltanschaulichen Neutralität<br />

des Staates ke<strong>in</strong>e Rolle spielen. Mir s<strong>in</strong>d<br />

Fälle bekannt, dass Kollegen sich vom Gefangenen<br />

wie von der Kirche e<strong>in</strong>e Aussageerlaubnis<br />

geben ließen, selbstverständlich mit vielleicht<br />

nicht bestem Wissen, wohl aber mit bestem<br />

Gewissen, die Unschuld des Angeklagten<br />

glaubhaft zu machen, leider erreichten sie das<br />

Gegenteil, weil die Gerichte nicht an dem <strong>in</strong>teressiert<br />

waren, was der Seelsorger sagen wollte,<br />

sondern was er nicht sagen wollte oder konnte.<br />

Also: mit dem Seelsorgegeheimnis verhält es<br />

sich wie mit der Schwangerschaft: entweder ja<br />

oder ne<strong>in</strong>, Mittelwege gibt es nicht.<br />

49


2.3 Diakonisches Handeln:<br />

Fritz Sperle schreibt <strong>in</strong> der „Er<strong>in</strong>nerung an Erw<strong>in</strong><br />

Kurmann“ (Mitteilungsblatt 77, S.2): dass<br />

„<strong>für</strong> ihn die Verzahnung von Diakonie und<br />

Seelsorge ... von maßgeblicher Bedeutung“ war.<br />

Seelsorge bedeutet also nicht ausschließlich das<br />

durch das SeelGG geschützte „Vier-<br />

Augengespräch“ über <strong>Glaube</strong>nsfragen, Schuld<br />

und Vergebung etc., sondern umfasst selbstverständlich<br />

auch diakonisches Handeln. Man kann<br />

davon ausgehen, dass jeder Wunsch nach konkreter<br />

Hilfe durch (e<strong>in</strong>en) Seelsorger mit e<strong>in</strong>em<br />

Gespräch beg<strong>in</strong>nt. So dürfte es selbstverständlich<br />

se<strong>in</strong>, dass diese Gespräche und mögliche<br />

daraus erwachsenen Hilfeleistungen unter den<br />

Schutz des SeelGG fallen.<br />

2.4 Teilnahme an Vollzugskonferenzen und<br />

Seelsorgegeheimnis:<br />

In der Diskussion um die neue Kirchliche<br />

Dienstordnung <strong>in</strong> NRW war dieser Punkt sehr<br />

umstritten. Es gibt KollegInnen, die großen<br />

Wert auf die Teilnahmemöglichkeiten an diesen<br />

<strong>Konferenz</strong>en legen. Die Dienstordnung ermöglicht<br />

diese Teilnahme, wenn auch unter der<br />

Maßgabe der Beachtung des Seelsorgegeheimnisses.<br />

Der Verfasser dieser Anmerkungen verhehlt<br />

nicht, dass er die Teilnahme an Vollzugskonferenzen<br />

<strong>für</strong> sich ablehnt. Er war Seelsorger<br />

u.a. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>weisungsanstalt, <strong>in</strong> der über die<br />

vollzugliche Zukunft verurteilter Straftäter entschieden<br />

wird, besonders darüber, ob e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung<br />

<strong>in</strong> den offenen Vollzug sofort oder später<br />

möglich ist. Bei entsprechenden und auch<br />

verständlichen Wünschen nach diesbezüglicher<br />

Hilfe machte er se<strong>in</strong>e Rolle wie folgt deutlich:<br />

„Sie s<strong>in</strong>d der Boxer, ich b<strong>in</strong> bereit, die Rolle<br />

Ihres Sekundanten zu übernehmen: Boxen müssen<br />

Sie im R<strong>in</strong>g, ich bleibe außerhalb des R<strong>in</strong>ges,<br />

kann Ihnen aber Tipps geben, wie Sie Blößen<br />

und damit Angriffsflächen vermeiden, vielleicht<br />

sogar <strong>für</strong> sich selber punkten können.“<br />

Der Seelsorger kann passiv an e<strong>in</strong>er <strong>Konferenz</strong><br />

teilnehmen, um sich e<strong>in</strong> Bild von dem zu machen,<br />

was über e<strong>in</strong>en oder mehrere Gefangene<br />

gesprochen und entschieden wird, problematisch<br />

wird es, wenn er/sie <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Gefangenen <strong>in</strong> die <strong>Konferenz</strong> geht. E<strong>in</strong>e Konfe-<br />

50<br />

renz erwartet, dass jeder Teilnehmer e<strong>in</strong>en Beitrag<br />

zur Beschlussf<strong>in</strong>dung leistet, eben auch der<br />

Seelsorger, wenn er/sie se<strong>in</strong> Recht wahrnimmt,<br />

an der <strong>Konferenz</strong> teilzunehmen.<br />

2.5: Grenzfälle:<br />

Das SeelGG ist ke<strong>in</strong> Selbstzweck, es dient dem<br />

Schutz der Gesprächspartner und darüber h<strong>in</strong>aus<br />

der Gesellschaft. Damit lässt sich sche<strong>in</strong>bar alles<br />

bisher Gesagte relativieren, im Folgenden<br />

soll aber gezeigt werden, wie auch <strong>in</strong> Extremsituationen<br />

das Seelsorgegeheimnis gewahrt werden<br />

kann und muss:<br />

2.5.1: Suizidgefährdung<br />

In e<strong>in</strong>em Gespräch kann durchaus der E<strong>in</strong>druck<br />

entstehen, dass der Gesprächspartner suizidgefährdet<br />

ist, ohne dass dieser es direkt ausspricht.<br />

Häufig ist es so, dass der Betreffende schon<br />

durch die JVA „vorsorglich“ als gefährdet e<strong>in</strong>gestuft<br />

ist. Das Problem stellt sich aber dann,<br />

wenn dies nicht der Fall ist. An diesem Punkt<br />

wird das Seelsorgegeheimnis zu e<strong>in</strong>er großen<br />

Belastung <strong>für</strong> den/die Seelsorgende(n). Manche<br />

Seelsorgende behelfen sich mit e<strong>in</strong>em versteckten<br />

H<strong>in</strong>weis auf die Gefährdung des Gefangenen<br />

(„ich darf ja nichts sagen, aber es wäre gut,<br />

wenn Sie mal e<strong>in</strong> bisschen auf den…achten<br />

würden“). Das ist ke<strong>in</strong>e Lösung, dieser H<strong>in</strong>weis<br />

verlagert die Verantwortung des durch das<br />

SeelGG geschützten und damit privilegierten<br />

Seelsorgers auf den ungeschützten Abteilungsbeamten,<br />

der dann nicht weiß, wie er mit dem<br />

„versteckten“ H<strong>in</strong>weis umgehen soll. Das Seelsorgegeheimnis<br />

kann allenfalls dadurch gewahrt<br />

werden, dass der Seelsorger den Gesprächspartner<br />

offen auf se<strong>in</strong>e Be<strong>für</strong>chtungen h<strong>in</strong>weist und<br />

ihm die Entscheidung überlässt, ob entsprechende<br />

Schutzmaßnahmen <strong>für</strong> ihn getroffen<br />

werden oder ob die volle Vertraulichkeit des<br />

Gespräches gewahrt werden soll.<br />

2.5.2: Gefährdung durch (1) oder <strong>für</strong> (2) Dritte:<br />

2.5.2.1:<br />

E<strong>in</strong> Gefangener wendet sich an den/die Seelsorger(<strong>in</strong>)<br />

mit der Bitte um Hilfe, da er durch Mitgefangene<br />

<strong>in</strong> der Zelle körperlich bedroht oder<br />

sexuell missbraucht wird. Mit ihm muss das


Problem ausgiebig erörtert werden, vielleicht<br />

auch <strong>h<strong>in</strong>ter</strong>fragt werden, wieweit er selbst Anteile<br />

an dieser Bedrohung hat und ob und wenn<br />

wie er sich selbst schützen kann. Der Seelsorger<br />

kann den Gefangenen e<strong>in</strong> Telefongespräch mit<br />

dem Anwalt (falls vorhanden und erreichbar)<br />

führen lassen, damit dieser die Anstaltsleitung<br />

<strong>in</strong>formieren kann. Letztlich kann der/die SeelsorgerIn<br />

den Gefangenen fragen, ob er damit<br />

e<strong>in</strong>verstanden ist, das bis zu diesem Zeitpunkt<br />

immer noch vertrauliche Gespräch jetzt zu beenden<br />

und den Sicherheits<strong>in</strong>spektor dazu zu<br />

bitten, damit er diesem se<strong>in</strong> Anliegen direkt<br />

vortragen kann. Das Seelsorgegeheimnis bleibt<br />

<strong>in</strong>soweit gewahrt, dass nicht über den Gefangenen<br />

Dritten gegenüber gesprochen wird, sondern<br />

dass er die Möglichkeit hat, se<strong>in</strong> Anliegen<br />

selbst vorzutragen bzw. selbst zu entscheiden,<br />

wie damit umgegangen werden soll.<br />

2.5.2.2:<br />

E<strong>in</strong> Gefangener wendet sich an den/die SeelsorgerIn<br />

mit dem H<strong>in</strong>weis, er habe auf e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Person e<strong>in</strong>e derartige Wut, dass er sie<br />

bei nächster Gelegenheit angreifen werde. Gerade<br />

hier hat das Seelsorgegeheimnis se<strong>in</strong>e<br />

größte Chance: es bietet e<strong>in</strong>e sonst nicht gegebene<br />

Möglichkeit, etwas zu verh<strong>in</strong>dern; ohne<br />

Vertrauen auf das Seelsorgegeheimnis hätte sich<br />

der Betreffende nicht geäußert. Er hätte sich<br />

nicht geäußert, wenn <strong>für</strong> ihn die Sache feststünde,<br />

so kann die Sache noch e<strong>in</strong>gehend erörtert<br />

werden. Im Notfall bleibt immer noch die Möglichkeit,<br />

den Gefährdeten unter Wahrung des<br />

Seelsorgegeheimnisses zu warnen oder zu<br />

schützen, ohne die Quelle preiszugeben.<br />

FAZIT:<br />

Das Seelsorgegeheimnis ist ke<strong>in</strong> Anhängsel des<br />

Seelsorgegeschehens, sondern ist dessen Wesensmerkmal:<br />

Seelsorge wird erst durch das<br />

Seelsorgegeheimnis zur Seelsorge. So ist es zu<br />

begrüßen, dass die EKD mit dem SeelGG die<br />

Wichtigkeit gerade dieses „mysterion“ betont.<br />

(<strong>in</strong> memoriam Peter Rassow et Erw<strong>in</strong> Kurmann)<br />

Emerititreffen 2010 im Kloster<br />

Schöntal<br />

Hans Freitag<br />

An der Autobahn Würzburg – Heilbronn stehen<br />

stilisierte braune H<strong>in</strong>weisschilder „Kloster<br />

Schöntal“. Wir fuhren auch, wer weiß, wie oft<br />

schon, daran vorbei, ohne sie zu beachten.<br />

Diesmal war es anders. Als das erste Schild am<br />

Rand auftauchte, wussten wir, jetzt s<strong>in</strong>d wir<br />

bald am Ziel, und dann wird sich auch die Frage<br />

beantworten, wer sich zu unserem diesjährigen<br />

Treffen aufgemacht haben würde.<br />

Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger und Gerold Rieker hatten<br />

<strong>für</strong> unser „Schwäbisches Treffen“ vom 26. – 30.<br />

April 2010 <strong>in</strong> der kath. Bildungsstätte e<strong>in</strong> Programm<br />

vorbereitet, das verlockte, sich ganz darauf<br />

e<strong>in</strong>zulassen. Wir waren 45 Teilnehmer.<br />

Leider mussten e<strong>in</strong>ige aus Krankheits- oder Altersgründen<br />

absagen. Die fünf Witwen Erna<br />

Neddenriep, Heti Steffle, Elke Machwitz, Maria<br />

Kurmann und Helga Frede wurden besonders<br />

herzlich willkommen geheißen.<br />

Im barocken Festsaal des früheren Klosters begrüßte<br />

uns alle Gerold Rieker im „Hohenloher<br />

Land“. Dabei klärte er uns darüber auf, dass es<br />

<strong>in</strong> Abweichung vom Sammler der Sprüche im<br />

AT: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, <strong>in</strong><br />

Württemberg doch „Neues“ gibt: die Hohenloher<br />

s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Schwaben, sondern Franken. Sie<br />

kamen 1808 auf Beschluss Napoleons zum Königreich<br />

Württemberg. „Weil wir ja nun württembergisch<br />

geworden s<strong>in</strong>d, wollen wir uns<br />

auch dem Gebet <strong>für</strong> die neue Obrigkeit nicht<br />

verweigern“, sagte e<strong>in</strong> Prälat zu se<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>degliedern.<br />

E<strong>in</strong>e Anmerkung dazu: Die Mächtigen der Erde<br />

haben schon immer bei der „Neuordnung der<br />

Welt“ Bündnistreue mit der Zuteilung von Land<br />

und Leuten belohnt, den besiegten Fe<strong>in</strong>d mit der<br />

Wegnahme von Land und Leuten zusätzlich<br />

bestraft. So „belohnte“ Napoleon 1808 den verbündeten<br />

König von Württemberg mit dem Hohenloher<br />

Land, den verbündeten König von<br />

51


Bayern mit dem Frankenland. Es gibt genügend<br />

weitere Beispiele.<br />

Mit schwäbischen Bretzeln und Kaffee wurden<br />

wir weiter e<strong>in</strong>gestimmt auf den Ort, das Land,<br />

die Sprache und hatten zuletzt dann doch unsere<br />

Mühe, das „Schwäbische Hochdeutsch“ zu verstehen.<br />

Das lag aber nicht alle<strong>in</strong> an der Akustik<br />

des großen Barocksaales, der sich dann als Musiksaal<br />

hervorragend auszeichnete. E<strong>in</strong> Mikrofon<br />

schaffte dann Abhilfe.<br />

Dass wir uns dann am Abend <strong>in</strong> großer Runde<br />

trauten, uns sehr viel von uns selbst zu erzählen,<br />

e<strong>in</strong>ander an Freud und Leid unseres Lebens teilnehmen<br />

zulassen, darf als e<strong>in</strong> Zeichen der guten<br />

Geme<strong>in</strong>schaft gewertet werden, die uns im<br />

Grunde zusammenführt und zusammenhält. Im<br />

Gedenken an Erw<strong>in</strong> Kurmann sangen wir die<br />

letzten fünf Verse aus Paul Gerhardts Lied: Was<br />

sollt ich mich denn grämen, hab ich doch Christum<br />

noch, wer will den mir nehmen …<br />

Das war dann auch e<strong>in</strong> bewegender Abschluss<br />

dieses ersten Abends.<br />

Der Dienstag<br />

In der Morgenandacht <strong>in</strong> der kath. Hauskapelle<br />

erzählte Fritz Sperle u.a. von se<strong>in</strong>en gezielten<br />

Ausführungen mit Jugendlichen aus der JVA<br />

Adelsheim <strong>in</strong> diesen Klosterbereich und von<br />

den E<strong>in</strong>drücken auf die jungen Menschen.<br />

Die Führung durch das groß angelegte ehemalige<br />

Zisterzienserkloster war u.a. bestimmt von<br />

der alten Geschichte – gegründet 1157 – den<br />

großen Umbauten der Barockzeit, der großen<br />

Kirche und als Besonderheit von den vielen<br />

late<strong>in</strong>ischen Versen über den Türen, die der Abt<br />

Knittel (1650-1732) anbr<strong>in</strong>gen ließ. E<strong>in</strong> Beispiel:<br />

Über der Tür zum Speisesaal steht geschrieben<br />

– übersetzt – „Faste, bis knurret der<br />

Bauch dann schmeckt die Mehlsuppe dir auch“.<br />

Bis heute ist der Begriff „Knittel-Verse“ bekannt.<br />

Am Nachmittag machte e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Gruppe,<br />

die nicht so gut zu Fuß waren, e<strong>in</strong>e Ausfahrt <strong>in</strong>s<br />

Hohenloher Land. E<strong>in</strong>e größere Gruppe brach<br />

zu e<strong>in</strong>er Wanderung auf und erfuhr dabei, dass<br />

der angekündigte „leichte und ebene Weg“ ganz<br />

52<br />

schön bergauf und bergab führte; und doch sehr<br />

schön war.<br />

Das erste Ziel war die kle<strong>in</strong>e Wallfahrtskirche<br />

Neusatz, umgeben von der Pracht blühender<br />

Obstbäume. Was <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Anblick!<br />

Das weite Ziel führte uns – auf Umwegen durch<br />

die ausgetrockneten Felder – zum Waldfriedhof<br />

der „Hohenloher Landjuden“ mit hunderten von<br />

Grabste<strong>in</strong>en. 1959 fand hier die letzte Beerdigung<br />

statt. Die Juden auf dem Lande, die vor<br />

1938 nicht hatten fliehen können, wurden alle <strong>in</strong><br />

Auschwitz ermordet. Heute gibt es im Hohenloher<br />

Lande ke<strong>in</strong>e jüdischen Geme<strong>in</strong>den mehr.<br />

Der Abend, im Keller mit se<strong>in</strong>em bee<strong>in</strong>druckenden<br />

Gewölbe, hatte zwei sich ergänzende<br />

Mittelpunkte: Prälat Wille aus Heilbronn machte<br />

mit uns „literarische Spaziergänge“. Zuerst<br />

zum schwäbischen Dichter Eduard Mörike<br />

(1804-1875) und weiter zu den vielen Besonderheiten<br />

und Eigenheiten der schwäbischen<br />

Mundart, die wohl nur e<strong>in</strong> echter Schwabe<br />

formvollendet auszusprechen vermag und nie<br />

verleugnen kann.<br />

Se<strong>in</strong> Erzählen wurde durch e<strong>in</strong>e We<strong>in</strong>probe unterbrochen.<br />

Jürgen Hepperle stellte uns sechs<br />

We<strong>in</strong>e der Staatsdomäne Hohra<strong>in</strong>hof, angeschlossen<br />

an die JVA Heilbronn, so gekonnt<br />

und launig vor, das sechs We<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fach zu wenig<br />

gewesen s<strong>in</strong>d! Nach den vielen Mundart-<br />

Texten waren die drei Verse, die wir mite<strong>in</strong>ander<br />

gesungen haben: Der Mond ist aufgegangen<br />

… Wir stolzen Menschenk<strong>in</strong>der … So legt euch<br />

denn ihr Brüder … e<strong>in</strong> schöner und zugleich<br />

befriedeter Abschluss dieses ersten Tages.<br />

Der Mittwoch<br />

In der Morgenandacht <strong>in</strong> der <strong>Ev</strong>. Kirche, die<br />

heute zum erweiterten Klostera<br />

real gehört, gab uns Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong>en<br />

Satz von Dietrich Bonhoeffer mit auf den Weg<br />

durch diesen Tag <strong>für</strong> alle unseren Tage: „In se<strong>in</strong>em<br />

Leben empfängt der Mensch unendlich viel<br />

mehr als er geben kann.“ Die geplante Busfahrt<br />

führte uns dann auf Nebenstrecken durch das<br />

Hohenloher Land im Frühl<strong>in</strong>g nach Schwäbisch-Hall.<br />

An der St.Michaeliskirche, „der schönsten Stube<br />

von Hall“, erbaut vor 850 Jahren, wartete bereits


Prälat i.R. Dieterich auf uns. An der Büste von<br />

Dietrich Bonhoeffer, die neben der Kirche steht,<br />

dem Bonhoefferischen Haus gegenüber – se<strong>in</strong>e<br />

Vorfahren hatten <strong>in</strong> Schwäbisch-Hall hohe Ämter<br />

<strong>in</strong>ne, und <strong>in</strong> der Kirche wird an sie er<strong>in</strong>nert –<br />

sagte Prälat Dietrich Sätze des Gedenkens an<br />

ihn, und er er<strong>in</strong>nerte auch an die Verkennung<br />

Dietrich Bonhoeffers und an das Verschweigen<br />

se<strong>in</strong>er Person <strong>in</strong> der ev. Kirche <strong>in</strong> den ersten<br />

Jahrzehnten nach 1945.<br />

Die alte gotische Kirche, mit ihrem schönen<br />

Gewölbe im Chor und den vielen Grabmälern<br />

ist e<strong>in</strong> großartiges Zeugnis frommen Lebens und<br />

ehrwürdigen Gedenkens an die Toten.<br />

So lag es nahe, dass uns Prälat Dietrich <strong>in</strong> dieser<br />

Kirche <strong>in</strong> das Leben und das Werk des „württembergischen<br />

Reformators“, Johannes Brenz<br />

(1499-1570), den Sohn e<strong>in</strong>es Bürgermeisters,<br />

e<strong>in</strong>führte. Er hat uns den „Reformator Süddeutschlands“<br />

mit fundiertem kirchengeschichtlichem<br />

Wissen regelrecht „vor die Augen gemalt“.<br />

– Für manchen aus unserer Runde war<br />

Johannes Brenz bis zu dieser Stunde e<strong>in</strong> mehr<br />

oder weniger unbekannter Mann der Reformationszeit.<br />

E<strong>in</strong> paar Sätze und Gedanken:<br />

Johannes Brenz führte <strong>in</strong> Schwäbisch-Hall 1524<br />

die Reformation e<strong>in</strong>. Er verh<strong>in</strong>derte <strong>in</strong> Württemberg<br />

den „Bildersturm“ <strong>in</strong> den Kirchen. Im<br />

Bauernkrieg wollte er nicht, dass „Gewalt mit<br />

Gegengewalt“ beantwortet wird. Er „mahnte zur<br />

Milde“, wollte aber, „dass die Bauern zahlen<br />

sollen“ …<br />

Die Prediger des <strong>Ev</strong>angeliums mahnte: „Dem<br />

Brunnen ist es egal, wer daraus tr<strong>in</strong>kt. So soll<br />

auch der Prediger das <strong>Ev</strong>angelium nicht nach<br />

der Würdigkeit der Hörer fragen.“<br />

Johannes Brenz mahnte zur Toleranz gegen<br />

Schwärmer und Irrlehrer. In der Hexenfrage<br />

wollte er, dass die Frauen nicht vor den Richter<br />

gestellt werden. Johannes Brenz war e<strong>in</strong> fleißiger<br />

Mann. Er verfasste 18 Bibelkommentare,<br />

und <strong>in</strong> zwei Ehen zeugte er 19 K<strong>in</strong>der.<br />

Im alten Brauhaus, auf der Dachterrasse mit<br />

Blick auf die alte Stadt, war Mittagessen vorbereitet.<br />

Der schöne Weg dorth<strong>in</strong> führte an der<br />

Kocher entlang.<br />

Für den Nachmittag gab es mehrere Vorschläge:<br />

Wir entschieden uns mit anderen zusammen <strong>für</strong><br />

das „Hällisch-Fränkische Museum“. In alten<br />

renovierten Häusern, die ersten erbaut um 1240,<br />

wird u.a. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bee<strong>in</strong>druckenden Sammlung<br />

an die Geschichte des jüdischen Lebens <strong>in</strong><br />

Schwäbisch-Hall und an die Vernichtung des<br />

jüdischen Lebens im Dritten Reich er<strong>in</strong>nert. Bis<br />

heute gibt es <strong>in</strong> Schwäbisch-Hall ke<strong>in</strong>e jüdische<br />

Geme<strong>in</strong>de mehr. Die bemalte Vertäfelung zweier<br />

jüdischer Beträume von 1738/39 gehört zu<br />

den bedeutendsten erhaltenen Zeugnissen jüdischer<br />

Kultur <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Der Abend war ausgefüllt mit viel Musik und<br />

der Vorstellung des anderen schwäbischen<br />

Dichters, Friedrich Hölderl<strong>in</strong> (1770-1843).<br />

Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger hat diesen Part <strong>für</strong> den<br />

erkrankten Referenten mit Bravour wahrgenommen.<br />

„Der Dichter ist berufen, das `Göttliche´<br />

zu beschreiben, Gott und e<strong>in</strong> ehrlich Herz<br />

helfen immer …“<br />

Während Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger erzählte und uns<br />

e<strong>in</strong>en Zugang zu dem Dichter „mit e<strong>in</strong>em Leben<br />

voller Niederlagen“ zu bahnen versuchte,<br />

schrieb ich diesen Satz auf, den ich so wiedergebe:<br />

Frage: Bleibt bei Hölderl<strong>in</strong> die persönliche<br />

Antwort auf den Gott, wie der uns <strong>in</strong> der<br />

Heiligen Schrift bezeugt wird, offen? Im Gegensatz<br />

zu den dichterischen Gedankenhöhen<br />

und dem Vorsatz, das „Göttliche zu beschreiben“,<br />

wirken die <strong>Glaube</strong>nssätze von Paul Gerhardt,<br />

die wir gesungen haben … Ich b<strong>in</strong> de<strong>in</strong>,<br />

weil du de<strong>in</strong> Leben und de<strong>in</strong> Blut mir zugut <strong>in</strong><br />

den Tod gegeben … wie helle Sonnenstrahlen<br />

im Nebel, wie Sätze der Befreiung der Gedanken<br />

e<strong>in</strong>es Menschen, die ihn h<strong>in</strong>führen zu e<strong>in</strong>em<br />

frohen Bezeugen se<strong>in</strong>es <strong>Glaube</strong>ns an Jesus<br />

Christus.<br />

Der Donnerstag<br />

Während der Morgenandacht <strong>in</strong> der ev. Kirche<br />

zitierte Gerold Rieker Mörike: „An den Christus<br />

am Kreuz lehne ich mich an“, gedachten wir an<br />

die Verstorbenen Brüder. Es war bewegend,<br />

dass Gebhard von Biela als unser „Kontaktmensch“<br />

wohl zum letzten Mal die Namen<br />

nannte:<br />

He<strong>in</strong>z Lehmann, gest. 23.10.2008<br />

53


Erw<strong>in</strong> Kurmann, gest. 24.07.2009<br />

Peter Rassow, gest. 27.03.2010<br />

Wir sangen zum Gedenken: Christ ist erstanden<br />

von der Marter alle, des sollen wir alle froh se<strong>in</strong><br />

…<br />

Danach versammelten wir uns im Barocksaal<br />

zum Musizieren und geme<strong>in</strong>samen S<strong>in</strong>gen. Wir<br />

wurden so mehr und mehr zu e<strong>in</strong>em<br />

auftrittsreifen Chor!<br />

Daran schloss sich, so genannt, unsere „Mitgliederversammlung“<br />

an. Heere Busemann,<br />

L<strong>in</strong>gen, erklärte sich bereit, das Amt des neuen<br />

„Kontaktmenschen“ zu übernehmen. Horst<br />

Mantzel will die Kasse verwalten. Zu unser aller<br />

Freude konnten die beiden Wahlvorgänge e<strong>in</strong>stimmig<br />

und schnell vorgenommen werden.<br />

Heere Busemann will mit Eberhard Bornemann<br />

zusammen auch die Grüße zum Geburtstag der<br />

Kollegen schreiben.<br />

So darf sich unsere Geme<strong>in</strong>schaft nun mit unserem<br />

neuen „Kontaktmenschen“ und Verantwortlichen<br />

zu unser aller Freude weiter entwickeln.<br />

Gott mag es schenken; er hat die Gnad!<br />

Mit e<strong>in</strong>em herzlichen Gruß an Gebhard von<br />

Biela und an se<strong>in</strong>e Frau Kathar<strong>in</strong>a, wie auch an<br />

Ewald Bickelmann und se<strong>in</strong>e Frau Helga wurde<br />

die „Mitgliederversammlung“ beendet.<br />

Am Nachmittag machten wir dann e<strong>in</strong>e weitere<br />

Busreise zu zwei Zielen: <strong>in</strong> Cleversulzbach, wo<br />

Eduard Mörike vom 1834-1843 die Pfarrstelle<br />

<strong>in</strong>nehatte, wartete <strong>in</strong> der Kirche e<strong>in</strong>e ältere Dame<br />

auf uns, die sich als e<strong>in</strong>e profane Kenner<strong>in</strong><br />

Mörikes und als e<strong>in</strong>e grandiose Erzähler<strong>in</strong> auswies.<br />

Auf e<strong>in</strong>em Stuhl vor uns sitzend, erzählte<br />

sie „vom grandiosen Menschen Eduard Mörike“,<br />

Auffallendes, auch schockierend Befremdendes<br />

und Fragwürdiges aus se<strong>in</strong>em Leben –<br />

ohne dem Dichter Mörike dabei Abbruch zu<br />

tun! – wie es spannender wahrlich nicht erzählt<br />

werden kann. Wer hört von uns nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Ohren: „Me<strong>in</strong>e guten Bauern freuen mich sehr,<br />

e<strong>in</strong>e `scharfe Predigt´ ist ihr Begehr …“<br />

Das zweite Ziel des Ausfluges war wohl den<br />

allermeisten von uns schon vom Namen her<br />

unbekannt: das Haus von Just<strong>in</strong>us Kerner<br />

54<br />

(1786-1862), dem Arzt, dem Kunstsammler,<br />

dem Menschenfreund von We<strong>in</strong>sberg.<br />

Se<strong>in</strong> Haus, 1822 erbaut, am Fuß der Burg<br />

We<strong>in</strong>sberg, wurde zu e<strong>in</strong>em Treffpunkt der<br />

Romantik im Schwabenland, zu e<strong>in</strong>er Begegnungsstätte<br />

vieler großer und kle<strong>in</strong>er Persönlichkeiten.<br />

Das Gästebuch des Hauses weist<br />

1000 Gäste <strong>in</strong> 40 Jahren aus. „Der Reisende<br />

glaubte nicht, <strong>in</strong> Schwaben gewesen zu se<strong>in</strong>,<br />

wenn er nicht das Kernersche Haus besuchte“,<br />

schrieb der Theologe David Friedrich Strauss<br />

(1808-1874) <strong>in</strong>s Gästebuch.<br />

Der junge Historiker, Dr. Liebig, hat viel Wissenswertes<br />

über geschichtliche, gesellschaftliche<br />

und persönliche Zusammenhänge aus jener<br />

Zeit erzählt. Es war e<strong>in</strong>fach genial, was er und<br />

wie er erzählte!<br />

Zuvor gab es auf dem Parkplatz, unterhalb der<br />

Burgru<strong>in</strong>e, <strong>in</strong> der Frühl<strong>in</strong>gssonne, Kaffee und<br />

schwäbischen Hefezopf. Auf ke<strong>in</strong>er unserer<br />

bisherigen Busfahrten hat es so etwas „Erwähnenswertes<br />

und Neues“ gegeben. Es gibt halt im<br />

Schwabenland noch viel mehr „Neues“ zu sehen,<br />

zu hören und zu erleben: Die Burg<br />

We<strong>in</strong>sberg g<strong>in</strong>g durch e<strong>in</strong>e Begebenheit der<br />

„Weibertreue aus We<strong>in</strong>sberg“ <strong>in</strong> die Geschichte<br />

e<strong>in</strong>. Anlässlich der Belagerung der Burg um<br />

1140 gestattete der Staufferkönig Konrad III:<br />

den Frauen freien Abzug mit „soviel Habe, wie<br />

sie tragen konnten“ … Unerwartet trugen daraufh<strong>in</strong><br />

die Frauen ihre Männer aus der Burg –<br />

was der König großmütig duldete. Das „Weibertreumuseum“<br />

konnte aus zeitlichen Gründen<br />

leider von uns nicht auch noch besucht werden.<br />

Der Abend wurde von unseren beiden Musikern<br />

Gerold Rieker und Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger festlich<br />

gestaltet. Sie hatten dazu drei Musiker aus<br />

Heilbronn, mit denen sie regelmäßig musizieren,<br />

dazu geladen. Zuvor hatten sie schon<br />

mehrmals mit „Musikern“ aus unserem Kreis<br />

festlich aufgespielt. Das Musizieren wie auch<br />

das geme<strong>in</strong>same S<strong>in</strong>gen, waren – neben anderen<br />

D<strong>in</strong>gen, die jeder selbst dazusetzen kann – besondere<br />

Geschenke unseres diesjährigen Treffens.


„Den goldenen Sonnensche<strong>in</strong>, die Luft so klar<br />

und re<strong>in</strong>“, die blühenden Obstbäume, die gelben<br />

Rapsfelder und vieles andere mehr … gab es <strong>in</strong><br />

diesen Tagen umsonst. Auch wurden wir „reichlich<br />

und täglich“ versorgt.<br />

Die Offenheit des ersten Abends hat uns im<br />

Laufe der Tage weiter e<strong>in</strong>ander näher gebracht.<br />

Der Dank <strong>für</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft dieser Tage<br />

bleibt <strong>in</strong> der Mitte. Auch der Dank an Friedhelm<br />

Vöhr<strong>in</strong>ger und Gerold Rieker als die Vorbereiter<br />

dieses schönen „schwäbischen“ Treffens.<br />

Vom 02. – 06. Mai 2011 wird unser nächstes<br />

Treffen <strong>in</strong> Herrmannsburg stattf<strong>in</strong>den. Der Term<strong>in</strong><br />

steht also fest.<br />

Der Reisesegen am Freitag war der vom Segenswunsch<br />

von uns allen bestimmt: Bis wir<br />

uns <strong>in</strong> der Heide 2011 wieder sehen, halte Gott<br />

uns fest <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hand – damit wir auch an<br />

IHM festhalten können.<br />

Buchbesprechung<br />

Prof. Dr. Re<strong>in</strong>hart Lempp, K<strong>in</strong>der- und Jugendpsychiater<br />

Thomas Alexander Staisch: „He<strong>in</strong>rich<br />

Pommerenke, Frauenmörder. E<strong>in</strong> verschüttetes<br />

Leben“, Klöpfer & Meyer, Tüb<strong>in</strong>gen 2010.<br />

„He<strong>in</strong>rich Pommerenke, Frauenmörder. E<strong>in</strong><br />

verschüttetes Leben“ – wer unter diesem Titel<br />

e<strong>in</strong>en der Chronologie folgenden, biografischen<br />

Bericht erwartet, wird überrascht se<strong>in</strong>. Zweifellos<br />

handelt es sich zwar um e<strong>in</strong>e Biografie. Als<br />

solche jedoch ist Thomas Alexander Staischs<br />

„Frauenmörder“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unerwarteten und<br />

ungewöhnlichen Stil verfasst, sche<strong>in</strong>bar ohne<br />

äußere Ordnung. Es ist e<strong>in</strong> Buch, das fesselt, mit<br />

vielen kurzen Abschnitten spannend und flüssig<br />

zu lesen ist, das aber auch verstört, ja erschüttert.<br />

Wegen vierfachen Frauenmords, vielfach verübten<br />

und versuchten Vergewaltigungen und wegen<br />

unzähliger anderer Delikte war<br />

Pommerenke 1960, im Alter von 22 Jahren, zu<br />

sechsmal lebenslänglicher Zuchthausstrafe plus<br />

15 Jahren verurteilt worden. Er hatte Ende der<br />

50er Jahre <strong>in</strong> der ganzen Bundesrepublik, vor<br />

allem <strong>in</strong> Baden, Furcht und Schrecken verbreitet.<br />

Nach über 50 Jahren Haft ist er nun, vor<br />

zwei Jahren, knapp 70-jährig im Gefängnis gestorben.<br />

Für se<strong>in</strong>en Bericht hat der Autor alle ihm zugänglichen<br />

Akten studiert und detailliert ausgewertet,<br />

er hat sämtliche beschlagnahmten Briefe<br />

und noch viele andere mehr gelesen, <strong>in</strong> Archiven<br />

gesucht, die Medien der damaligen Zeit<br />

durchforstet und mit vielen Menschen gesprochen,<br />

vor allem mit dem Gefängnispfarrer Ernst<br />

Ergenz<strong>in</strong>ger. Der Pfarrer – neben den Mordopfern<br />

nennt Staisch nur ihn mit vollem Namen –<br />

hatte sich mit dem Mörder angefreundet:<br />

Pommerenke habe ihn tief bee<strong>in</strong>druckt. Die aus<br />

den Nachforschungen gewonnenen, kaum übersehbaren<br />

E<strong>in</strong>zelteile hat der Autor zu e<strong>in</strong>em<br />

Puzzle zusammengefügt, zu e<strong>in</strong>em Bild, das der<br />

Realität wohl sehr nahe kommt.<br />

Geprägt ist der besondere Stil dieses Buches<br />

von hartnäckig durchgehaltenen, stereotypen<br />

Wiederholungen immer derselben Formulierungen,<br />

die dem Leser oder der Leser<strong>in</strong> zugegebenermaßen<br />

bald auf die Nerven gehen. Dennoch<br />

lassen sie diejenigen, die sich e<strong>in</strong>mal auf den<br />

Text e<strong>in</strong>gelassen haben, nicht los: weil bald zu<br />

erkennen ist, dass der Autor ausdrücklich auf<br />

die Nerven gehen will, weil diese hartnäckige<br />

Stereotypie dem „lebenslänglichen“ Leben im<br />

Gefängnis tatsächlich entspricht und es den Lesern<br />

näher br<strong>in</strong>gt. Darum akzeptieren wir als<br />

Leser bereitwillig den ungewöhnlichen Stil.<br />

Im Grunde ist das Buch Pflicht <strong>für</strong> Juristen, die<br />

im Strafrecht und <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Strafvollzugsbehörde<br />

tätig s<strong>in</strong>d; e<strong>in</strong>e unverzichtbare<br />

Lektüre aber auch <strong>für</strong> Psychiater und Psychologen,<br />

vor allem <strong>für</strong> die forensischen Gutachter.<br />

Bee<strong>in</strong>druckend oder vielmehr bedrückend ist die<br />

Hilflosigkeit von psychiatrischen Gutachtern<br />

gegenüber e<strong>in</strong>em Probanden, der sich nicht <strong>in</strong><br />

55


e<strong>in</strong>e der diagnostischen Schubladen der psychiatrischen<br />

Lehrbücher e<strong>in</strong>ordnen lässt. Nachdenklich<br />

stimmt zudem, wie Gutachter oft an<br />

dem – immer vorhandenen – Risiko e<strong>in</strong>er guten<br />

Prognose scheitern. Aber auch die Leiter von<br />

Vollzugse<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d hilflos und oft überfordert<br />

im Bemühen, den richtigen Weg zwischen<br />

dem lauten Sicherheitsanspruch der Bevölkerung<br />

und den Geboten des Rechtsstaates<br />

zu f<strong>in</strong>den.<br />

Im H<strong>in</strong>blick auf die gegenwärtige Diskussion<br />

um die Neuordnung der Sicherheitsverwahrung<br />

H<strong>in</strong>weis<br />

auf zwei Ausstellungen<br />

Die Ausstellung wurde im Februar/März während der Passionszeit <strong>in</strong> der Jesuitenkirche, der<br />

Heiliggeistkirche und <strong>in</strong> der JVA Heidel-berg „Fauler Pelz“ gezeigt. Die Ausstellungs-zeitung ist im<br />

Internet abrufbar unter http://www.gott-im-gefaengnis.de/<br />

<strong>Glaube</strong> <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> <strong>Gittern</strong><br />

Im Juli wurde im Bochumer Gefängnis Krümmede e<strong>in</strong>e Ausstellung gezeigt über die Frömmigkeit von<br />

Häftl<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>en Artikel dazu f<strong>in</strong>det man im Internet unter<br />

http://www.derwesten.de/staedte/bochum/<strong>Glaube</strong>-<strong>h<strong>in</strong>ter</strong>-<strong>Gittern</strong>-id3347936.html<br />

56<br />

ist das Buch hochaktuell. Damals, als<br />

Pommerenke vor Gericht gestellt wurde und die<br />

Abschaffung der Todesstrafe durch das Grundgesetz<br />

erst zehn Jahre zurücklag, weckten die<br />

Massenmedien tiefsitzende Ängste und damit<br />

das Vergeltungsbedürfnis der Bevölkerung. Das<br />

hat sich seither nicht wesentlich geändert.<br />

Staischs „Pommerenke“ ist e<strong>in</strong> wichtiges Buch<br />

<strong>für</strong> alle, die sich <strong>für</strong> die – im positiven wie im<br />

negativen S<strong>in</strong>ne – weitreichenden Möglichkeiten<br />

des Menschen <strong>in</strong>teressieren und ebenso <strong>für</strong><br />

die, die sich <strong>in</strong>nerhalb der Gesellschaft mitverantwortlich<br />

fühlen.


Gedichte<br />

Ulrich Tietze<br />

E<strong>in</strong> Lebenslauf<br />

Mit sieben Jahren g<strong>in</strong>g er<br />

freiwillig <strong>in</strong>s Heim<br />

um den Schlägen des Vaters<br />

endlich zu entgehen<br />

Später erfuhr er<br />

dass se<strong>in</strong> Bruder<br />

durch e<strong>in</strong>e Vergewaltigung<br />

entstanden war<br />

Auf der Flucht vor so vielem<br />

wurde er Soldat<br />

und erlebte im Kosovokrieg<br />

unfassbare Grausamkeiten<br />

an K<strong>in</strong>dern und Erwachsenen<br />

Nur <strong>in</strong> den Drogen fand er<br />

<strong>für</strong> Momente sche<strong>in</strong>bar Zuflucht<br />

tatsächlich aber stürzte er durch sie<br />

noch tiefer als jemals zuvor<br />

nämlich <strong>in</strong> die Gefangenschaft<br />

außen und <strong>in</strong>nen<br />

Dann kam der Krebs<br />

und begann mit der Zerstörung<br />

se<strong>in</strong>es Körpers<br />

so wie die Seele schon zerstört schien<br />

Gott, aus de<strong>in</strong>en Händen<br />

kommt dieses Leben<br />

Von der anderen Seite<br />

(Gedanken zwischendurch)<br />

Die Sucht ließ ihn nicht los, und er<br />

suchte auf unerlaubte Weise<br />

nach Möglichkeiten, sie zu stillen<br />

er begab sich <strong>in</strong> die Stadt<br />

überfiel e<strong>in</strong>e alte Frau, schlug sie nieder<br />

und bestahl sie um das Wenige<br />

das sie bei sich hatte<br />

Was auf se<strong>in</strong>em Wege fast Normalfall war<br />

und <strong>in</strong> den täglichen Nachrichten<br />

unterzugehen droht<br />

wenn es nicht spektakulär genug war<br />

es war <strong>für</strong> die Überfallene<br />

so etwas wie e<strong>in</strong>e Katastrophe<br />

Denn jeder Schritt vor die Tür<br />

wurde zur Qual <strong>für</strong> sie<br />

die Angst vor erneuten Überfällen<br />

schlich sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihre Nächte<br />

und die Schmerzen <strong>in</strong> ihrer Seele<br />

hörten nicht auf, sie zu belasten<br />

und sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e noch schlimmere E<strong>in</strong>samkeit<br />

zu werfen als zuvor<br />

Gott, willst du wirklich solche Opfer<br />

von Menschen auf beiden Seiten?<br />

Impressum<br />

Mitteilungsblatt <strong>Gefängnisseelsorge</strong> 78/2010<br />

Herausgeber:<br />

Vorstand der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

Geschäftsstelle:<br />

Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Tel.: 0511-2796 406,<br />

Heike.Roziewski@ekd.de.<br />

Redaktion dieses Heftes:<br />

Verantwortlich: Mart<strong>in</strong> Faber, Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong><br />

Redaktionsanschrift:<br />

<strong>Ev</strong>angelische <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland,<br />

Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover.<br />

Druck: EKD-Druckerei Hannover


T e r m i n e<br />

Vorstand und Beirat:<br />

8./9. – 11. November 2010 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Ohrbeck<br />

7./8. – 09. Februar 2011 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Hannover<br />

2. und 6. Mai 2011 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Spr<strong>in</strong>ge (BuKo)<br />

7./8 – 10. November 2011 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Spr<strong>in</strong>ge<br />

Regionalkonferenzen und AGs:<br />

BadWü: 18. - 19. Oktober 2010 (ev. / <strong>in</strong> Ulm)<br />

Bayern: 20. - 21. Oktober 2010: ökumenische Tagung <strong>in</strong> Straub<strong>in</strong>g<br />

BlnBr:<br />

Nord:<br />

Nord-Ost:<br />

NRW: 8. November 2010, Gesamtkonferenz <strong>in</strong> Hagen<br />

RhPfS<br />

Sachsen<br />

Hessen 24. November 2010 mit VertreterInnen des HMdJ <strong>in</strong> Darmstadt<br />

AG U-Haft: 16. November 2010 Kirchenamt der EKD <strong>in</strong> Hannover<br />

AG Jug: 25.-29.Oktober 2010, Berl<strong>in</strong>er Stadtmission<br />

AG Frauen 17. – 21. Januar 2011, Schwäbisch Gmünd<br />

AG Angehörigenarbeit 23. November 2010 <strong>in</strong> Köln<br />

IPCA AK 17. März 2011, 11-16.00 Uhr, Kirchenamt der EKD Hannover<br />

Tagungen/ Fortbildungen:<br />

4. - 8. Oktober 2010: Kath. Jahrestagung <strong>in</strong> Trier . Thema: „SV...mit Sicherheit<br />

Menschlichkeit?“<br />

15./16. November 2010 Kolloquium des Bethelkurses<br />

29.11. – 1.12.2010 Fachwoche Straffälligenhilfe <strong>in</strong> Wittenberg. Thema: H<strong>in</strong>gehen,<br />

wo es weh tut<br />

27. und 28. Januar 2011 Auswahltagung <strong>für</strong> den neuen Bethel-Kurs<br />

14. – 18. Februar Kurswochen 2011 der Weiterbildung <strong>für</strong> Seelsorge <strong>in</strong> Justiz-<br />

11. – 15. April vollzugsanstalten, Bethel 2011/2012<br />

26. – 30. September 2011<br />

28.02. – 04.03.2011 Innehalten – Atem holen – weitergehen: <strong>in</strong> der JVA-Seelsorge<br />

Bethel, Auffrischungskurs<br />

02. – 6. Mai 2011 Jahrestagung der Bundeskonferenz <strong>in</strong> Spr<strong>in</strong>ge; Thema: „narben<br />

leben – Traumatisierten Menschen begegnen“ RKNiedersachsen<br />

01. – 05. Juni 2011 Deutscher <strong>Ev</strong>angelischer Kirchentag <strong>in</strong> Dresden zum Thema<br />

„ … da wird auch de<strong>in</strong> Herz se<strong>in</strong>“

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