Glaube hinter Gittern - Ev. Konferenz für Gefängnisseelsorge in ...
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<strong>Ev</strong>. <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
<strong>in</strong> Deutschland<br />
Mitteilungsblatt<br />
Nr. 78 – Oktober 2010<br />
Der neue Vorstand der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> wurde am 29. April dieses<br />
Jahres auf der Bundeskonferenz <strong>in</strong> Waldfischbach-Burgalben gewählt: Barbara Zöller (JVA Butzbach/Angehörigenarbeit),<br />
Schatzmeister<strong>in</strong>; Ulli Schönrock (JVA Meppen), Vorsitzender; Richard<br />
Strodel (JVA München-Stadelheim), stellv. Vorsitzender, Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit; Birgit<br />
Braun (JVKH Asperg und SoThA BW), stellv. Vorsitzende, Schwerpunkt ökumenische Kontakte;<br />
Jens-Peter Preis (JVA Siegburg), Schriftführer. (Von l<strong>in</strong>ks nach rechts. Foto vom 30. September<br />
2010 <strong>in</strong> Hannover). Barbara Zöller und Birgit Braun s<strong>in</strong>d aus dem alten Vorstand wiedergewählt worden.
Editorial Mart<strong>in</strong> Faber Seite 1<br />
Aus dem Vorstand Jens-Peter Preis Seite 2<br />
Rückblicke auf die Jahrestagung<br />
Eröffnung der Jahrestagung 26.4.2010 Seite 4<br />
Mart<strong>in</strong> Faber<br />
Ansprache des neugewählten Vorsitzenden 29.4.2010 Seite 5<br />
Ulli Schönrock<br />
Grußwort des rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen Justizm<strong>in</strong>isters Seite 7<br />
Dr. He<strong>in</strong>z Georg Bamberger<br />
Grußwort des Kirchenpräsidenten der evangelischen Kirche der Pfalz Seite 9<br />
Kirchenpräsident Christian Schad<br />
Grußwort des Kirchenpräsidenten der EKHN Seite 11<br />
Dr. Volker Jung<br />
Grußwort des Präses der Synode der EKHN und Vorsitzenden der EKS Seite 13<br />
Prof. Dr. Karl He<strong>in</strong>rich Schäfer<br />
Grußwort aus dem Kirchenamt der EKD Seite 15<br />
Oberkirchenrat Dr. Erhard Berneburg<br />
Unter dem Feigenbaum Seite 16<br />
Elmo Due<br />
Aus Rumänien Seite 18<br />
Eg<strong>in</strong>ald N.F. Schlattner<br />
„H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt“ – <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> den sieben Bergen Seite 19<br />
Hanna Haupt<br />
epd Landesdienst Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz Seite 21<br />
Dr. Alexander Lang<br />
Impressionen von der Jahrestagung Seite 22<br />
Aus Arbeitskreisen und Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaften – <strong>in</strong>ternational<br />
Schottlandexkursion der AG UHaft im Juni 2010 Seite 25<br />
Frank Baumeister<br />
Cornton Vale – Prayer June 2010 Seite 27<br />
AK Restorativ Justice Seite 28<br />
Friedrich Schwenger<br />
„Forgotten People“ - Bericht von der IV. IPCA Worldwide <strong>Konferenz</strong> Seite 30<br />
Felix Walter<br />
Bericht und Deklaration der IPCAWeltkonferenz Seite 35<br />
Forgotten people – forgotten colleagues<br />
IPCA democracy – look<strong>in</strong>g for transparency Seite 37<br />
Mischi Philippi<br />
H<strong>in</strong>ter <strong>Gittern</strong>, und dennoch… Seite 39<br />
Eg<strong>in</strong>ald Schlattner, Rumänien<br />
Zu Recht und Gesetz<br />
Neuregelung der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR Seite 40<br />
Mart<strong>in</strong> Faber<br />
Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs <strong>für</strong> Menschenrechte zur SV Seite 41<br />
Greifswalder Appell zur Reform der Sicherungsverwahrung Seite 43<br />
Anmerkungen zum Gesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses – SeelGG Seite 47<br />
Harro Hefendehl<br />
Emerititreffen 2010 im Kloster Schöntal Hans Freitag Seite 51<br />
Buchbesprechung Prof. Dr. Re<strong>in</strong>hart Lempp Seite 55<br />
H<strong>in</strong>weis auf zwei Ausstellungen Seite 56<br />
Gedichte Ulrich Tietze Seite 57<br />
Impressum Seite 57<br />
Term<strong>in</strong>e Seite 58
Editorial<br />
Mart<strong>in</strong> Faber<br />
Um dieses Mitteilungsblatt zu lesen, muss man<br />
und frau sich Zeit nehmen – nicht alle<strong>in</strong> wegen<br />
des Umfangs. In den vergangenen Monaten seit<br />
der Jahrestagung hat sich soviel ereignet, oder<br />
besser, ist soviel entschieden worden oder muss<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Entscheidung vorbereitet werden, dass<br />
dies eben auch <strong>in</strong> den Beiträgen zu diesem Mitteilungsblatt<br />
zum Ausdruck kommt.<br />
Der neue Vorstand – er stellt sich mit den neuen<br />
und den wiedergewählten Mitgliedern <strong>in</strong> Bild<br />
und gleichzeitig mit e<strong>in</strong>em ersten Arbeitsbericht<br />
vor.<br />
Der Rückblick auf die Jahrestagung <strong>in</strong> Waldfischbach/Burgalben<br />
nimmt breiten Raum e<strong>in</strong>.<br />
Nicht nur die Grußworte, die alle Anwesenden<br />
<strong>in</strong>haltlich als ausgesprochen po<strong>in</strong>tiert und gehaltvoll<br />
empfanden, sollen den an der Teilnahme<br />
geh<strong>in</strong>derten Mitgliedern empfohlen se<strong>in</strong>.<br />
Der Beitrag von Elmo Due aus Dänemark und<br />
der Abschiedsgruß von Hanna Haupt sowie die<br />
Absage des Kollegen Eg<strong>in</strong>ald Schlattner aus<br />
Rumänien geben unterschiedliche Facetten dieser<br />
Tagung weiter.<br />
Die Notwendigkeit der Diskussion der Menschenrechte<br />
gerade im Bereich des Justizvollzuges<br />
hat <strong>in</strong> diesem Jahr mit Bezug zu Deutschland<br />
neue Nahrung bekommen. Die Entscheidung<br />
des EGMR zur Sicherungsverwahrung, die<br />
daraus folgenden öffentlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />
um Entlassungen sowie die zukünftige<br />
Ausgestaltung bzw. Regelung der Sicherungsverwahrung<br />
darf auch uns als Teil von Kirche<br />
und Gesellschaft nicht unberührt lassen. Die<br />
große Stellungnahme der <strong>Konferenz</strong> und ihrer<br />
Schwesterorganisationen „Gegen Menschenverwahrung“<br />
aus dem Jahr 2003 hat vieles, was<br />
der Gerichtshof <strong>für</strong> nicht rechtmäßig erklärt hat,<br />
damals benannt, nun ist das Thema wieder zurück.<br />
Der Bevollmächtigte des Rates der EKD<br />
sowie das Katholische Büro <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> haben <strong>für</strong><br />
die Erstellung e<strong>in</strong>er Kommentierung der Gesetzesvorhaben<br />
der Bundesregierung zur Neuregelung<br />
der Sicherungsverwahrung die Vertreter<br />
der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> und Straffälligenhilfen<br />
zur Beratung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> h<strong>in</strong>zugezogen. Um die<br />
Mitglieder der <strong>Konferenz</strong> zu diesem Thema auf<br />
dem Laufenden zu halten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Ausgabe<br />
die Pressemitteilung des EGMR zu der<br />
Entscheidung der Kammer, der Greifswalder<br />
Appell, den der bekannte Krim<strong>in</strong>ologe Frieder<br />
Dünkel verantwortet und den viele KollegInnen<br />
aus der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> unterschrieben haben,<br />
sowie e<strong>in</strong>e Buchbesprechung zum Fall<br />
„Pommerenke“, den se<strong>in</strong> Autor <strong>in</strong> den gleichen<br />
Zusammenhang stellt, dokumentiert. Wir werden<br />
im nächsten MB voraussichtlich weitere<br />
Texte zu diesem Thema veröffentlichen.<br />
Ebenfalls auf der IPCA Worldwide Tagung <strong>in</strong><br />
Stockholm spielte das Thema „Menschenrechte“<br />
e<strong>in</strong>e prägende Rolle. Wer s<strong>in</strong>d die<br />
„Forgotten People“? Welche Rechte haben sie?<br />
Vivien Stern und Andrew Coyle haben auf der<br />
IPCA Tagung e<strong>in</strong>en deutlichen H<strong>in</strong>weis gegeben<br />
- es s<strong>in</strong>d die gesellschaftlichen M<strong>in</strong>derheiten,<br />
die Bildungsfernen und die Armen, die, die<br />
<strong>in</strong> Teilen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen<br />
s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d die Mehrheit <strong>in</strong> den<br />
Gefängnissen, ob es nun Roma <strong>in</strong> Rumänien,<br />
Aborig<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Australien oder Schwarze <strong>in</strong> den<br />
USA s<strong>in</strong>d. Der IPCA Arbeitskreis hat im Nachgang<br />
die These diskutiert, ob das geme<strong>in</strong>same<br />
Bemühen um die E<strong>in</strong>haltung der Menschenrechte<br />
<strong>in</strong> den Gefängnissen dieser Welt und die Suche<br />
nach der besseren Alternative (restorative<br />
justice) e<strong>in</strong>e Klammer ist, die konfessionelle<br />
Grenzen überw<strong>in</strong>den kann. Da passte es gut,<br />
dass während des IPCA Arbeitskreistreffens <strong>in</strong><br />
Hannover der neue Referent <strong>für</strong> Menschenrechte<br />
im Kirchenamt der EKD sich vorstellte und<br />
Zusammenarbeit angeboten hat.<br />
So richtet dieses Mitteilungsblatt den Blick nach<br />
außen, über die Grenzen unseres Landes und<br />
se<strong>in</strong>es Justizsystems h<strong>in</strong>aus.<br />
Gleichzeitig sollen die nicht aus dem Blickfeld<br />
geraten, die e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
tätig waren, die es auch <strong>in</strong> diesem Jahr geschafft<br />
haben, e<strong>in</strong> Stück von der beruflichen Geme<strong>in</strong>schaft<br />
<strong>in</strong> die Zeit nach dem Beruf mit h<strong>in</strong>über zu<br />
nehmen und uns Aktive daran teilhaben lassen.<br />
Auch die von Frau Roziewski bei Ersche<strong>in</strong>en<br />
des letzten Mitteilungsblattes gestartete Umfrage,<br />
welche/r der Ehemaligen denn gerne weiter<br />
das Mitteilungsblatt erhalten möchte, und die
überraschend positive Reaktion darauf zeigt<br />
deren/eure Anteilnahme an den aktuellen Themen<br />
und Problemen der <strong>Gefängnisseelsorge</strong>.<br />
So freut es mich und me<strong>in</strong>e Kolleg<strong>in</strong> und<br />
Freund<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong>, die wir das Mitteilungsblatt<br />
und den Reader <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
im Auftrag des Vorstandes geme<strong>in</strong>sam gestalten,<br />
wie treffend das Lied der IPCA Worldwide<br />
<strong>Konferenz</strong> vor fünf Jahren <strong>in</strong> Kanada war und<br />
ist: We are not alone – wir s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong> -<br />
auch wenn es manchmal <strong>in</strong> der alltäglichen Arbeit<br />
so ersche<strong>in</strong>t.<br />
Aus dem Vorstand<br />
Von Jens-Peter Preis, Schriftführer<br />
Seit den Vorstandswahlen auf der Bundeskonferenz<br />
im April ist der neue Vorstand im Dienst.<br />
Mit regem E-Mailkontakt und bisher zwei Vorstandssitzungen<br />
haben wir versucht, uns zusammenzuraufen.<br />
Es geht darum e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen<br />
Arbeitsstil <strong>für</strong> die vor uns liegende<br />
Amtszeit zu f<strong>in</strong>den. Da drei von fünf Vorstandsmitgliedern<br />
neu im Amt s<strong>in</strong>d, ist dies natürlich<br />
aufwendiger als wenn nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelner<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gespieltes<br />
Team h<strong>in</strong>zukommt.<br />
Dabei versuchen wir<br />
e<strong>in</strong>e gute Balance zu<br />
f<strong>in</strong>den dar<strong>in</strong>: wir wollen<br />
Bewährtes aus dem<br />
alten Team weiterführen<br />
(und nicht neu erf<strong>in</strong>den<br />
müssen) und<br />
gleichzeitig die Ideen<br />
und Impulse der Neuen<br />
aufnehmen und <strong>für</strong> die<br />
Vorstandsarbeit fruchtbar<br />
machen.<br />
In der ersten Sitzung g<strong>in</strong>g es zunächst darum,<br />
unser Arbeitsfeld zu sichten und die Zuständig-<br />
2<br />
keiten <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb des Vorstands<br />
wahrzunehmen oder neu zu klären. Es gibt so<br />
viele, die sich um bestimmte Themen kümmern<br />
oder Verantwortung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en bestimmten Aufgabenbereich<br />
übernommen haben und damit die<br />
Vorstandsarbeit dankenswerterweise unterstützen.<br />
Vier seien an dieser Stelle herausgegriffen:<br />
- Dr. Tobias Müller-Monn<strong>in</strong>g, der als rechtspolitischer<br />
Beobachter weiterh<strong>in</strong> beratend<br />
an den Vorstandssitzungen teilnimmt,<br />
- Angelika Knaak-Sareyko, die neu von Dieter<br />
Wever die Beauftragung <strong>für</strong> Fortbildung<br />
übernommen hat,<br />
- und Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong> und Mart<strong>in</strong> Faber,<br />
die sich nun um das Mitteilungsblatt kümmern<br />
wollen.<br />
Zur Septembersitzung hatten wir uns auf Anregung<br />
von Oberkirchenrat Dr. Berneburg mit ihm<br />
im Kirchenamt der EKD <strong>in</strong> Hannover verabredet.<br />
Im Sommer erreichte uns allerd<strong>in</strong>gs die<br />
Information, dass durch e<strong>in</strong>e Verschiebung der<br />
Zuständigkeiten im Kirchenamt nicht mehr Dr.<br />
Berneburg, sondern ab sofort Oberkirchenrät<strong>in</strong><br />
Inken Richter-Rethwisch unsere Ansprechpartner<strong>in</strong><br />
sei. So trafen wir am 30. September mit<br />
beiden zusammen. Von Dr. Berneburg haben<br />
wir uns verabschiedet. Besonderer Dank g<strong>in</strong>g an<br />
ihn nochmals <strong>für</strong> die Unterstützung bei der Herausgabe<br />
unserer Leitl<strong>in</strong>ien. Dr. Berneburg sagte<br />
zu, <strong>für</strong> uns noch den Umzug der Fachbibliothek<br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong> von Celle <strong>in</strong>s Kirchenamt<br />
nach Hannover noch <strong>in</strong><br />
diesem Jahr vertraglich<br />
abzuwickeln. Alle Weichen<br />
se<strong>in</strong>en hier<strong>für</strong> gestellt.<br />
Damit soll <strong>für</strong><br />
Interessierte aus unseren<br />
Reihen e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facherer<br />
Zugriff auf die<br />
Literatur ermöglicht<br />
werden.<br />
Bei Oberkirchenrät<strong>in</strong><br />
Richter-Rethwisch liegt<br />
nun - als e<strong>in</strong> Bereich<br />
ihres Dienstauftrages -<br />
die Zuständigkeit <strong>für</strong> alle Felder der Seelsorge<br />
(ausgenommen Seelsorge <strong>in</strong> der Bundeswehr
und der Bundespolizei). Wir haben sie gebeten,<br />
sich bei unserer nächsten Bundeskonferenz der<br />
großen Runde vorzustellen. E<strong>in</strong>e ihrer Aufgaben<br />
ist es zurzeit, die „Ständige <strong>Konferenz</strong> Seelsorge“<br />
zu <strong>in</strong>stallieren, deren Geschäfte sie künftig<br />
führen soll. Da es im Rahmen des Reformprozesses<br />
nicht zur E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es „Zentrums<br />
Seelsorge“ auf EKD-Ebene gekommen ist (parallel<br />
den Zentren <strong>für</strong> Mission, Gottesdienst und<br />
Predigtkultur), soll diese <strong>Konferenz</strong> die Plattform<br />
se<strong>in</strong>, um die sich immer weiter ausdifferenzierenden<br />
Seelsorgefelder zusammenzubr<strong>in</strong>gen<br />
und das Thema „Seelsorge“ auf EKD-<br />
Ebene präsent zu halten. Dort soll nicht nur<br />
nach Berührungspunkten gesucht, sondern auch<br />
nach aktuellen Themen und politischen Dimensionen<br />
von Seelsorge gefragt werden. Auch<br />
Überlegungen zu Ausbildungsstandards werden<br />
e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Bei der erstmaligen Besetzung,<br />
die durch den Rat der EKD <strong>in</strong>zwischen<br />
erfolgt ist, ist die <strong>Gefängnisseelsorge</strong> vertreten:<br />
Matthias Ste<strong>in</strong>leitner wird aus unsern Reihen<br />
mitarbeiten.<br />
Das andere große Thema dieses Sommers und<br />
unserer Sitzung: die anstehenden Änderungen<br />
bei der Sicherungsverwahrung. Unsere <strong>Konferenz</strong><br />
(vertreten durch Mart<strong>in</strong> Faber, Adrian<br />
Tillmanns und Ulli Schönrock) ist mit der Katholischen<br />
<strong>Konferenz</strong> und der <strong>Ev</strong>. <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong><br />
Straffälligenhilfe im Sommer vom Bevollmächtigten<br />
des Rates der EKD bei der Bundesregierung<br />
und vom Katholischen Büro nach Berl<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>geladen worden. Mit Hilfe der dort erzielten<br />
Diskussionsergebnisse verfassen der EKD-<br />
Bevollmächtigte und das Katholische Büro <strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Stellungnahme und leiten diese ans<br />
Justizm<strong>in</strong>isterium, das um Rückmeldungen gebeten<br />
hatte. Unser Vorstand hat beschlossen,<br />
noch e<strong>in</strong> eigenes knappes Positionspapier zu<br />
verfassen und anlassbezogen zu veröffentlichen.<br />
Dieses soll sich perspektivisch an den beiden<br />
Vorgaben des Bundesgerichtshofes orientieren:<br />
Bemühung um Resozialisierung und das Abstandsgebot<br />
der SV zum Strafvollzug.<br />
Ansonsten bleibt anzumerken, dass aus Sicht<br />
der EKD der Status der <strong>Konferenz</strong> aus steuerlichen<br />
Gründen ke<strong>in</strong>er Satzungsänderung bedarf<br />
und so die ausgezahlten Mittel von uns weiterh<strong>in</strong><br />
bewirtschaftet werden können.<br />
Zum anderen hat der Vorstand beschlossen, die<br />
von Peter Rassow erstellte Sammlung der unsere<br />
Arbeit betreffenden Gesetzestexte und Landeskirchlichen<br />
Vere<strong>in</strong>barungen, den sogenannten<br />
„Blauen Rassow“, zu aktualisieren und zu<br />
digitalisieren. Dazu s<strong>in</strong>d die Regionalkonferenzen<br />
gebeten, wichtige aufzunehmende Texte,<br />
die <strong>in</strong> ihren Regionen und Landeskirchen <strong>in</strong> den<br />
letzten Jahren <strong>in</strong> Kraft gesetzt worden s<strong>in</strong>d, zu<br />
recherchieren und Barbara Zöller zuzuleiten.<br />
Wie aus dem oben Berichteten zu ersehen, haben<br />
wir im ersten halben Jahr schon e<strong>in</strong>en recht<br />
weiten Bogen geschlagen von <strong>in</strong>neren zu äußeren<br />
Themen, von Strukturellem zum Inhaltlichen.<br />
Auch wenn noch manches holpert <strong>in</strong> unserer<br />
Kommunikation, die ja jetzt von Meppen <strong>in</strong><br />
Niedersachsen über den Schwarzwald bis nach<br />
München reichen muss: die Perspektive <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
motivierte und ordentliche Zusammenarbeit ist<br />
da!<br />
Rückblicke auf die Jahrestagung<br />
3
Eröffnung der Jahrestagung<br />
26. April 2010<br />
Mart<strong>in</strong> Faber, Waldfischbach-Burgalben<br />
Liebe Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen!<br />
Ich begrüße Euch hier im Bildungshaus Maria<br />
Rosenberg zur 83. Jahrestagung unserer <strong>Konferenz</strong><br />
im Pfälzer Wald.<br />
E<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong>s Thema, das lautet:<br />
H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt: das Feigenblatt, e<strong>in</strong><br />
notdürftiger Schutz um etwas zu verbergen, das<br />
nicht zu verbergen ist und doch irgendwann ans<br />
Licht kommt.<br />
Schuld: wir begegnen Tätern (<strong>in</strong> der Regel<br />
Männern), die Schuld auf sich geladen haben,<br />
wir hören derzeit von Tätern, die nicht <strong>h<strong>in</strong>ter</strong><br />
Gitter kommen, weil sie bisher durch ihre gesellschaftliche<br />
Stellung geschützt waren.<br />
Scham: manche von uns begegnen Opfern im<br />
Gefängnis (häufig aber nicht nur Frauen), deren<br />
Schuld auch die Folge von erlittenem Leid und<br />
Unrecht ist, oder die zum<strong>in</strong>dest mit ihm <strong>in</strong> Zusammenhang<br />
steht. Ihre Scham konserviert ihre<br />
Qual<br />
Beschämung: Es sche<strong>in</strong>t, als sei dies e<strong>in</strong> anderes<br />
Wort <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e erneute Verletzung durch altes<br />
Unrecht, durch Bloßstellung.<br />
Wir haben e<strong>in</strong> Programm vor uns, von dessen<br />
Titel wir nicht ahnen konnten, <strong>in</strong> welchem Kontext<br />
gesellschaftlicher Diskussion er derzeit stehen<br />
würde. Aber wir können und werden uns<br />
dem nicht entziehen,<br />
- weil auch wir Kirche s<strong>in</strong>d und ke<strong>in</strong>e Berechtigung<br />
haben, auf die andere zu verweisen,<br />
erleichtert oder gar schadenfroh.<br />
- weil uns Täter und Opfer im Knast oft <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Person begegnen<br />
4<br />
- weil der Knast wie e<strong>in</strong> Feigenblatt der Gesellschaft<br />
vor ungelösten Problemen ist und<br />
wir dort arbeiten<br />
- weil die Hoffnung auf Versöhnung derzeit<br />
manchmal zynisch kl<strong>in</strong>gt und wir sie doch<br />
nicht aufgeben wollen, besonders <strong>für</strong> die<br />
Menschen, <strong>für</strong> die wir verantwortlich s<strong>in</strong>d,<br />
ohne die zu vergessen, die draußen Opfer<br />
geworden s<strong>in</strong>d<br />
Mögen uns diese Tage helfen, die richtigen<br />
Worte zu f<strong>in</strong>den, wenn wir später, zurück an je<br />
unserem Ort, daraufh<strong>in</strong> befragt werden.<br />
Wie alle vier Jahre so ist auf dieser Tagung die<br />
Mitgliederversammlung e<strong>in</strong>e Wahlversammlung.<br />
E<strong>in</strong>ige werden <strong>für</strong> erhaltenes Vertrauen<br />
danken, andere erneut oder erstmals um Vertrauen<br />
werben. Wahlen s<strong>in</strong>d spannend, sie entscheiden<br />
mit über die Zukunft unserer <strong>Konferenz</strong>.<br />
Ich bitte Euch hier schon um Engagement<br />
<strong>für</strong> die <strong>Konferenz</strong>, die auch das Sprachrohr derjenigen<br />
se<strong>in</strong> soll, die uns um Begleitung <strong>in</strong> ihrer<br />
jeweiligen Lebenssituation bitten.<br />
No estamos solos, das Lied der IPCA <strong>Konferenz</strong><br />
2005 <strong>in</strong> Kanada, Wir s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e<br />
Hoffnung ist mir schon vorher <strong>in</strong> allen me<strong>in</strong>en<br />
20 bisherigen Jahrestagungen e<strong>in</strong>e hilfreiche<br />
Stärkung <strong>für</strong> die (all)tägliche Arbeit gewesen<br />
und soll es auch hier wieder se<strong>in</strong>. Danke an dieser<br />
Stelle der vorbereitenden Regionalkonferenz,<br />
dass dies wieder so se<strong>in</strong> kann.<br />
Bevor wir <strong>in</strong> diese Tagung starten noch e<strong>in</strong> letztes,<br />
e<strong>in</strong> Anhängsel – nur der Ideensuche <strong>für</strong> diese<br />
Begrüßung geschuldet.<br />
Am vergangenen Samstag fand hier im Haus<br />
e<strong>in</strong>e Veranstaltung mit folgendem Titel statt:<br />
Die Oper „Nabucco“ von Guiseppe Verdi als<br />
<strong>Glaube</strong>nsdrama. Trotz bürgerlicher Erziehung,<br />
wohl auch wegen anderer Musikvorlieben,<br />
kannte ich auch diese Oper nicht. Aber als Leiter<br />
des Gefangenenchores <strong>in</strong> Weiterstadt natürlich<br />
den H<strong>in</strong>weis auf den Gefangenenchor von<br />
Nabucco. Ich habe nun gelernt: es ist das Lied<br />
der versklavten Hebräer nach dem Sieg Baby-
lons, bevor sie <strong>in</strong> die Gefangenschaft geführt<br />
werden. Es ist e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Liebes- und<br />
Macht- und Missbrauchsdrama.<br />
Das Lied ist Ausdruck der Sehnsucht nach Heimat<br />
und Freiheit. Wohl zuerst rückwärtsgewandt<br />
<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, <strong>in</strong> der Interpretation vielleicht<br />
auch Ausdruck der Sehnsucht nach zukünftiger<br />
Freiheit, von Gott geschenkt, mit uns<br />
erkämpft.<br />
Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügeln,<br />
Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen!<br />
Lasst euch nieder auf sonnigen Hügeln,<br />
Dort, wo Zions Türme blicken <strong>in</strong>s Tal!<br />
Um die Ufer des Jordan zu grüßen,<br />
Zu den teuren Gestaden zu eilen,<br />
Zur verlorenen Heimat, der süßen,<br />
Zieht Gedanken, l<strong>in</strong>dert der Knechtschaft Qual!<br />
Warum hängst du so stumm an der Weide,<br />
Goldene Harfe der göttlichen Seher?<br />
Spende Trost, süßen Trost uns im Leide<br />
und erzähle von glorreicher Zeit.<br />
(Pahlen 1999, 99).<br />
Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht,<br />
lass' dich nieder <strong>in</strong> jenen Gefilden,<br />
wo <strong>in</strong> Freiheit wir glücklich e<strong>in</strong>st lebten,<br />
wo die Heimat uns'rer Seele - ist.<br />
…<br />
Was die Seher uns e<strong>in</strong>st weissagten,<br />
wer zerschlug uns die tröstliche Kunde?<br />
Die Er<strong>in</strong>n'rung alle<strong>in</strong> gibt uns Stärke<br />
zu erdulden, was uns hier bedroht.<br />
Was an Qualen und Leid unser harret,<br />
uns´rer Heimat bewahr'n wir die Treue!<br />
Unser letztes Gebet gilt dir, teure Heimat,<br />
leb wohl teure Heimat, leb wohl.<br />
…<br />
Diese Sehnsucht soll uns begleiten, beim Beten,<br />
beim Nachdenken, beim Zuhören, bei unseren<br />
Entscheidungen und nicht zuletzt beim Feiern<br />
und Tanzen.<br />
Ansprache des neugewählten<br />
Vorsitzenden der evangelischen<br />
<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
<strong>in</strong> Deutschland<br />
Ulli Schönrock<br />
zur Eröffnung des öffentlichen Abends am 29.<br />
April 2010 im Diakonissenmutterhaus <strong>in</strong> Speyer<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern<br />
und Brüder!<br />
Ich begrüße Sie ganz herzlich zum öffentlichen<br />
Abend auf der Jahrestagung der <strong>Ev</strong>angelischen<br />
<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />
und danke der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche der<br />
Pfalz, der ev. Kirche <strong>in</strong> Hessen und Nassau und<br />
der ev. Kirche im Rhe<strong>in</strong>land dass sie die Tagung<br />
und diesen Abend ermöglicht haben.<br />
Ich freue mich, dass Sie, die Gäste, unserer E<strong>in</strong>ladung<br />
gefolgt s<strong>in</strong>d:<br />
Ich begrüße:<br />
• Den Kirchenpräsidenten der evangelischen<br />
Kirche der Pfalz, Herrn Christian Schad,<br />
und den Kirchenpräsidenten der evangelischen<br />
Kirche <strong>in</strong> Hessen/Nassau, Herrn Dr.<br />
Volker Jung,<br />
• Den M<strong>in</strong>ister der Justiz des Landes Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz,<br />
Herrn Dr. He<strong>in</strong>z Georg Bamberger,<br />
• Vom M<strong>in</strong>isterium der Justiz des Landes<br />
Saarland, Herrn Dr. Manfred Kost,<br />
• Den Präses der Synode der EKHN und<br />
Vorsitzenden der evangelischen <strong>Konferenz</strong><br />
<strong>für</strong> Straffälligenhilfe, Herrn Prof. Dr. Karl-<br />
He<strong>in</strong>rich Schäfer,<br />
• Den <strong>für</strong> die <strong>Gefängnisseelsorge</strong> zuständigen<br />
Referenten im Kirchenamt der EKD, Herrn<br />
OKR Dr. Erhard Berneburg,<br />
• Vom M<strong>in</strong>isterium der Justiz des Landes<br />
Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz, Herrn Gerhard Meiborg,<br />
• Herrn OKR Manfred Sutter von der evangelischen<br />
Kirche der Pfalz,<br />
• Herrn OKR Christoph Schuster von der<br />
EKHN,<br />
5
• Den Beauftragen der evangelischen Kirchen<br />
bei der Landesregierung von Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz,<br />
Herr Kirchenrat Dr. Jochen<br />
Buchter,<br />
• Den Vertreter des Vorstandes unserer kath.<br />
Schwesterkonferenz, Herrn Pastoralreferent<br />
Philip Fuchs,<br />
• Die Leiter<strong>in</strong> der JVA Saarbrücken, Frau ltd.<br />
Reg-Dir. Birgit Junker,<br />
• Den Leiter der JVA Frankenthal, Herrn ltd.<br />
Reg-Dir. Klaus Schipper,<br />
• Den Leiter der JVA Zweibrücken, Herrn<br />
ltd. Reg-Dir. Albert Stürmer,<br />
• Den Leiter der JSA Schifferstadt, Herrn ltd.<br />
Reg-Dir. Klaus Beyerle.<br />
Grüße vom Vertreter der Bundesvere<strong>in</strong>igung der<br />
Anstaltsleiter, Herrn Jürgen Buchholz. Er ist<br />
leider erkrankt und kann deswegen nicht hier<br />
se<strong>in</strong>. Gute Besserung!<br />
• Ich begrüße an dieser Stelle noch e<strong>in</strong>mal<br />
unsere ausländischen Gäste, <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen<br />
und -seelsorger aus Österreich,<br />
aus Ungarn und Tschechien, aus den Niederlanden<br />
und Frankreich, aus Dänemark<br />
und Schweden.<br />
• Pfarrer Dr. Werner Schwartz, Leiter des<br />
Diakonissenmutterhauses,<br />
Herzlichen Dank <strong>für</strong> die freundliche Aufnahme,<br />
Ober<strong>in</strong> Wiehn, Isabelle.<br />
Und ich begrüße, soweit erschienen auch die<br />
Vertreter der Presse.<br />
Bevor wir zu den Grußworten kommen, erlauben<br />
Sie mir e<strong>in</strong>ige Sätze zum Thema unserer<br />
diesjährigen Bundeskonferenz.<br />
Sie steht unter dem Thema „… <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> dem Feigenblatt“<br />
- Schuld, Scham, Beschämung.<br />
Auf verschiedene Arten haben wir Zugang gesucht<br />
und ich möchte sagen auch gefunden, zu<br />
e<strong>in</strong>em zutiefst menschlichen Affekt, über den<br />
man eigentlich nicht redet.<br />
Obwohl jeder und jede von uns diese menschliche<br />
Regung nicht nur kennt, sondern auch schon<br />
am eigenen Leib erfahren hat, ist sie so etwas<br />
wie das „Aschenputtel unter den Gefühlen“:<br />
man redet nicht darüber, zeigt sie auch nicht,<br />
verbirgt sie und hält sie geheim. Ja, Scham<br />
6<br />
sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> unserer Gesellschaft selbst etwas geworden<br />
zu se<strong>in</strong>, dessen sich viele schämen.<br />
Oft verbirgt sie sich <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> anderen Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />
wie Zorn, Wut, Gewalt, Angst,<br />
Neid und wird oft mit Schuld verwechselt.<br />
Mit e<strong>in</strong>er sehr gelungenen, und emotional ansprechenden<br />
E<strong>in</strong>führung, <strong>in</strong> der KollegInnen<br />
Bilder und Texte Inhaftierter als multimediale<br />
Collage zusammengeführt haben, haben wir uns<br />
auf das Thema e<strong>in</strong>gestimmt.<br />
Theologisch nahm uns Prof. Dr. Michael<br />
Klessmann unter dem Thema „Ich armer, elender,<br />
sündiger Mensch…“ mit unter den Focus<br />
von Christentum, Schuld und Scham.<br />
Dr. Stephan Marks vom Freiburger Institut <strong>für</strong><br />
Menschenrechtspädagogik hat aus sozialwissenschaftlich–psychologischer<br />
Sicht beschrieben<br />
und erläutert, wie Scham entsteht, welche<br />
Auswirkungen sie hat und wie wir konstruktiv<br />
mit ihr umgehen können. Dabei wurde deutlich,<br />
welche unterschiedlichen Ausprägungen von<br />
Scham es gibt, und dass viele zwischenmenschliche<br />
Konflikte auf diesem H<strong>in</strong>tergrund gesehen<br />
werden müssen.<br />
In unterschiedlichen Arbeitsgruppen haben wir<br />
uns mit Scham und Schuld <strong>in</strong> unserem Arbeitsfeld<br />
<strong>in</strong> der Arbeit mit Inhaftierten ause<strong>in</strong>andergesetzt.<br />
Alles an Erfahrungen und Informationen wiederzugeben,<br />
ist natürlich an dieser Stelle nicht<br />
möglich. Deshalb möchte ich nur dazu ermuntern,<br />
an dieser Stelle „schamlos“ zu se<strong>in</strong>, und<br />
sich nicht zu scheuen die Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen<br />
anzusprechen.<br />
Ich selber habe an der AG 2 teilgenommen unter<br />
dem Titel „Du gehörst doch auch zu dem da“<br />
– Wenn Angehörige sich schämen und habe<br />
dabei e<strong>in</strong>drücklich erfahren was es bedeutet, wie<br />
sehr es Menschen beschämt, wenn sie von der<br />
Inhaftierung e<strong>in</strong>es Angehörigen betroffen s<strong>in</strong>d.<br />
In diesem Zusammenhang kam im Gespräch <strong>in</strong><br />
der AG die Situation von <strong>in</strong>haftierten schwange-
en Frauen <strong>in</strong> den Blick. Dabei wurde deutlich,<br />
dass die Bundesrepublik e<strong>in</strong>es der wenigen<br />
Länder ist, <strong>in</strong> denen schwangere <strong>in</strong>haftierte<br />
Frauen meist <strong>in</strong> Hand- und/oder Fußfesseln ihre<br />
K<strong>in</strong>der zur Welt br<strong>in</strong>gen müssen; lediglich im<br />
Kreissaal, direkt unter der Geburt werden die<br />
Fesseln gelöst. E<strong>in</strong> zutiefst beschämender und<br />
aus me<strong>in</strong>er Sicht unhaltbarer Zustand, der dr<strong>in</strong>gend<br />
unserer Aufmerksamkeit bedarf.<br />
„H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt“ - Schuld, Scham und<br />
Beschämung.<br />
Wir können dieser tabuisierten Emotion nur<br />
angemessen begegnen, wenn wir ihr e<strong>in</strong> Gesicht<br />
geben und sie aus der Sprachlosigkeit herausholen.<br />
Ich b<strong>in</strong> überzeugt, dass die Jahrestagung dazu<br />
e<strong>in</strong>en wesentlichen Beitrag geleistet hat und ich<br />
danke allen, die sich dem gestellt haben.<br />
Und nun freue ich mich nach der nächsten Musik<br />
auf die Grußworte. Vielen Dank.<br />
Grußwort des rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen<br />
Justizm<strong>in</strong>isters am öffentlichen<br />
Abend <strong>in</strong> Speyer<br />
Dr. He<strong>in</strong>z Georg Bamberger<br />
Unkorrigiertes Redemanuskript<br />
Sperrfrist: Redebeg<strong>in</strong>n<br />
Es gilt das gesprochene Wort<br />
Menschen <strong>in</strong> Haft<br />
______________________________________<br />
Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender Pfarrer<br />
Schönrock,<br />
sehr geehrte Herren Kirchenpräsidenten Schad<br />
und Dr. Jung,<br />
sehr geehrter Herr Präses der Synode der <strong>Ev</strong>angelischen<br />
Kirche <strong>in</strong> Hessen und Nassau, Professor<br />
Schäfer,<br />
verehrte, liebe Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorger,<br />
me<strong>in</strong>e sehr geehrten Damen und Herren,<br />
ich freue mich, heute hier <strong>in</strong> Speyer zu Ihnen<br />
sprechen zu dürfen. Herzlich Willkommen! Wir<br />
freuen uns und s<strong>in</strong>d geehrt, dass Sie Ihre Jahrestagung<br />
- die Jahrestagung der <strong>Ev</strong>angelischen<br />
<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> - <strong>in</strong> der Pfalz<br />
abhalten.<br />
Ihr Thema heißt "H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt<br />
…Scham … Schuld … Beschämung".<br />
I<br />
Die Gefängnisse: Das bedeutet Untersuchungshaftvollzug,<br />
Jugendstrafvollzug, Erwachsenenstrafvollzug.<br />
Kühle technische Begriffe.<br />
Immer geht es um Menschen <strong>in</strong> Unfreiheit. Die<br />
Zwecke s<strong>in</strong>d verschieden: Der Untersuchungshaftvollzug<br />
dient der Sicherung des Strafverfahrens,<br />
der Jugendstrafvollzug der Erziehung und<br />
Prävention, der Erwachsenenstrafvollzug dem,<br />
was wir Resozialisierung nennen. Immer geht es<br />
auch um die Sicherheit der Gesellschaft.<br />
Zuallererst s<strong>in</strong>d Menschen betroffen. Menschen<br />
mit unterschiedlichen seelischen Beschädigungen,<br />
Menschen mit katastrophalen Lebensläufen,<br />
schwache Menschen, meist schwierige<br />
Menschen, manchmal auch gefährliche Menschen.<br />
Wir, das heißt die Justizverwaltung, die Leitungen<br />
der Gefängnisse, die Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und<br />
Mitarbeiter dort, wir bemühen uns. Wir versuchen<br />
beispielsweise Resozialisierung. Das ist<br />
e<strong>in</strong>e schwierige Angelegenheit.<br />
Gewiss: Wir haben heute - wenige - neue, moderne<br />
Gefängnisse; hier <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz <strong>in</strong><br />
Schifferstadt die Jugendstrafanstalt, <strong>in</strong> Rohrbach<br />
die neue Anstalt, e<strong>in</strong>e solche jetzt auch <strong>in</strong> Wittlich.<br />
Weitere Neubauten sollen folgen. Überwiegend<br />
haben wir aber Gefängnisse, die aus<br />
dem späten 19. oder dem frühen 20. Jahrhundert<br />
stammen und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e ganz andere Art von<br />
Vollzug gebaut worden s<strong>in</strong>d.<br />
Für Resozialisierung ist wichtig, dass die Menschen<br />
<strong>in</strong> Haft sich durch Ausbildung, durch Arbeit,<br />
auch durch e<strong>in</strong>en strukturierten Tag, an die<br />
7
Verhältnisse <strong>in</strong> Freiheit gewöhnen können. Geht<br />
das <strong>in</strong> unseren Anstalten? Wie viel Demütigung<br />
empf<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Gefangener mit oder bei manchem,<br />
das er dort vorf<strong>in</strong>det und erlebt und an<br />
dem er wenig zu ändern vermag.<br />
Heute s<strong>in</strong>d die Länder zuständig <strong>für</strong> die Gesetzgebung<br />
zum Strafvollzug. Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz hat<br />
<strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong> neues Jugendstrafvollzugsgesetz,<br />
e<strong>in</strong> neues Gesetz zum Vollzug der Untersuchungshaft.<br />
Wir s<strong>in</strong>d dabei, im Verbund mit<br />
anderen Ländern, <strong>für</strong> den Erwachsenenstrafvollzug<br />
e<strong>in</strong> neues Gesetz zu schaffen. Wir bemühen<br />
uns um e<strong>in</strong>en humanen und modernen Strafvollzug.<br />
Da<strong>für</strong> bemühen wir uns besonders um Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
und Mitarbeiter mit der richtigen<br />
menschenfreundlichen Haltung.<br />
8<br />
II<br />
Seelsorge im Gefängnis ist wichtig, ist me<strong>in</strong>es<br />
Erachtens zentral, bleibt bedeutend, gew<strong>in</strong>nt<br />
zukünftig an Bedeutung. Das hat auch damit zu<br />
tun, dass der ganze Strafprozess <strong>in</strong> sich problematisch<br />
ist. Konkret birgt er beständig die Gefahr<br />
von Beschädigungen.<br />
1) Wir veranstalten <strong>in</strong> zwei Wochen <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Tagung zu dem Thema "Schuld und<br />
Strafe - Neue Fragen". Dabei geht es um die<br />
Frage von Konsequenzen <strong>für</strong> das Strafrecht, den<br />
Strafprozess und die Strafpraxis aus neuen Erkenntnissen<br />
der Erforschung des menschlichen<br />
Gehirns. Wir wissen heute, dass <strong>in</strong> vielen Fällen<br />
Gewaltstraftaten, aber auch K<strong>in</strong>desmissbrauch,<br />
sich erklären aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher<br />
Ursachen: Das s<strong>in</strong>d genetische Dispositionen,<br />
vor allem aber Misshandlung, beständige<br />
Missachtung, Missbrauch <strong>in</strong> früher<br />
K<strong>in</strong>dheit. Alles, was <strong>in</strong> späteren Jahren geschieht,<br />
hat auch zu tun mit den sehr frühen<br />
Prägungen unseres zentralen Nervensystems,<br />
das ja vielleicht doch auch e<strong>in</strong> Sitz der Seele ist.<br />
Es geht um Störungen und Verletzungen,<br />
manchmal schon vor der Geburt, nicht selten<br />
nach der Geburt, durch das Verhalten von Menschen,<br />
auch durch Verhältnisse, denen wir aus-<br />
gesetzt s<strong>in</strong>d. Im Alter zwischen 15 und 18 Jahren<br />
ist der Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wesentlichen Zügen,<br />
Verhaltensweisen, Charaktermerkmalen<br />
weitgehend festgelegt.<br />
Wir sehen <strong>in</strong> vielen Strafverfahren die desaströsen<br />
Lebensläufe der Beschuldigten, die lange<br />
vor Vollendung des 14. Lebensjahres beg<strong>in</strong>nen<br />
und wir müssen oft sagen, dass dieser Mensch<br />
geprägt worden ist durch andere, und er selbst<br />
<strong>für</strong> diese Prägung nichts kann.<br />
2) Sie stellen <strong>in</strong> Ihrer Tagung die Frage der<br />
Schuld, der Scham und der Beschämung. Der<br />
Schuldbegriff hat gewiss auch e<strong>in</strong>en theologischen<br />
Bezug. Juristisch war Schuld immer e<strong>in</strong><br />
Phänomen, bei dem das Anders-Handeln-<br />
Können e<strong>in</strong>e Rolle spielte. Wir haben heute die<br />
Erkenntnis, dass sich diese Frage im konkreten<br />
Fall oft nicht lösen lässt. Es gibt nicht selten<br />
Sachverhalte, bei denen wir annehmen müssen<br />
oder jedenfalls begründete Zweifel haben, dass<br />
der Beschuldigte - aus se<strong>in</strong>en Prägungen heraus<br />
- überhaupt nicht anders handeln konnte. Aber<br />
wir bestrafen ihn dann doch.<br />
Wir schreiben ihm die Schuld sozusagen zu.<br />
Schuld, so sagen heute Strafrechtswissenschaftler,<br />
ist Verletzung der Norm, mehr nicht. Wozu<br />
dient aber dann das Strafrecht? Viele sagen, wir<br />
brauchen die Sanktion <strong>für</strong> den Bestand der Gesellschaft.<br />
Sie nennen das positive Generalprävention.<br />
Vieles spricht da<strong>für</strong>, dass dieses so ist.<br />
Aber ist der, den es getroffen hat und den wir<br />
dann e<strong>in</strong>sperren, nicht auch e<strong>in</strong> Opfer? Was<br />
bedeutet dann aber Scham? Und wer muss sich<br />
schämen?<br />
Es gibt nicht selten Urteile, <strong>in</strong> denen gegen den<br />
Verurteilten e<strong>in</strong>e längere Freiheitsstrafe und<br />
anschließend Sicherungsverwahrung verhängt<br />
wird. Was soll hier die Freiheitsstrafe bewirken,<br />
wenn das Gericht von Anfang an e<strong>in</strong>e fortdauernde<br />
Gefährlichkeit annimmt. Das hängt damit<br />
zusammen, dass, wie wir auch wissen, die Möglichkeit<br />
von Resozialisierung begrenzt ist, weil<br />
erwachsene Menschen nur <strong>in</strong> Grenzen noch änderbar<br />
s<strong>in</strong>d.
3) Wir müssen uns sehr grundsätzlich fragen:<br />
Was ist eigentlich Wahrheit im Strafprozess?<br />
Was erfahren wir dort wirklich - <strong>in</strong> den wenigen<br />
Tagen e<strong>in</strong>er Hauptverhandlung - über den Angeklagten,<br />
se<strong>in</strong> Leben, se<strong>in</strong>e Vorstellungen,<br />
se<strong>in</strong>e Motive - und was s<strong>in</strong>d Konstruktion und<br />
Ritualisierung, nicht nur im Erkenntnisverfahren,<br />
sondern auch im Vollzug.<br />
Wir müssen uns auch fragen, wenn es schon<br />
nicht der wahre Sachverhalt ist, über den wir<br />
entscheiden, sondern es letztlich um das Normative<br />
und die Beurteilung geht: Was ist dieses<br />
Normative und wer bestimmt über die Norm?<br />
Wir müssen uns nach dem S<strong>in</strong>n der Freiheitsstrafe<br />
fragen.<br />
Der Strafprozess und der Strafvollzug s<strong>in</strong>d ohne<br />
e<strong>in</strong>e empathische, den Menschen, ihren Nöten<br />
und ihren Leiden zugewandte E<strong>in</strong>stellung der<br />
Richter<strong>in</strong>nen und Richter und der Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
und Mitarbeiter im Vollzug nicht gut vorstellbar.<br />
III<br />
Zum Schluss möchte ich Ihnen, liebe Seelsorger<strong>in</strong>nen<br />
und Seelsorger, herzlich danken. Ich<br />
danke Ihnen allen, die Sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen<br />
und belastenden Aufgabe tätig s<strong>in</strong>d. Ich darf den<br />
rhe<strong>in</strong>land-pfälzischen Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorgern<br />
<strong>für</strong> Ihre <strong>Gefängnisseelsorge</strong> danken.<br />
Ihrer aller Tätigkeit, Ihre Aufgabe ist wichtig.<br />
Es gibt im Gefängnis und <strong>in</strong> den dort herrschenden<br />
Verhältnissen der Unfreiheit überhaupt<br />
nichts Wichtigeres als die Sorge <strong>für</strong> die Seele.<br />
Sie erleben jeden Tag sehr nahe worum es geht<br />
und worauf es ankommt, wo die Nöte s<strong>in</strong>d, wo<br />
im Gespräch geholfen werden kann und wo Hilfe<br />
und Begleitung auch <strong>für</strong> den Umkreis des<br />
Gefangenen, <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Angehörigen etwa notwendig<br />
s<strong>in</strong>d. Sie stehen schließlich auch <strong>für</strong> das<br />
Gespräch mit unseren Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und<br />
Mitarbeitern zur Verfügung. Auch diese haben<br />
e<strong>in</strong>en schweren und verantwortungsvollen<br />
Dienst.<br />
Ihre Tätigkeit als Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorger<br />
ist auch deshalb so wertvoll, weil sie nicht<br />
aus der Justiz kommt. Sie lernen die Verhältnisse<br />
<strong>in</strong> den Gefängnissen kennen, aber Sie kommen<br />
von außen. Sie haben sich e<strong>in</strong>en anderen<br />
Blick bewahrt. Das gibt Ihnen im Verhältnis zu<br />
den Menschen <strong>in</strong> Haft auch e<strong>in</strong>e andere und<br />
höhere Autorität. Und es begründet Vertrauen.<br />
Ihnen allen noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> herzliches Dankeschön<br />
und<br />
vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.<br />
Grußwort des Kirchenpräsidenten<br />
der evangelischen Kirche der<br />
Pfalz<br />
Kirchenpräsident Christian Schad<br />
Me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herren,<br />
liebe Schwestern und Brüder!<br />
Ich freue mich, Sie heute hier, <strong>in</strong> Speyer, der<br />
Stadt der Protestation, zu begrüßen!<br />
Mündige Laien haben sich im April 1529 auf<br />
dem 2. Speyerer Reichstag selbstbewusst geäußert<br />
und damit Geschichte geschrieben. „In Sachen<br />
Gottes Ehr und unser Seelenheil und Seligkeit<br />
belangend, muss e<strong>in</strong> jeglicher <strong>für</strong> sich<br />
selber vor Gott stehen und Rechenschaft geben.“<br />
Das ist der Kernsatz der Protestation vom<br />
20. April 1529. Zu deren Gedenken übrigens<br />
wurde 1904 die Speyerer Gedächtniskirche erbaut.<br />
Sechs Fürsten und die Vertreter von vierzehn<br />
freien Reichsstädten protestierten gegen den<br />
Beschluss des Reichstags, mit dem das Wormser<br />
Edikt wieder <strong>in</strong> Kraft gesetzt und die Anhänger<br />
der lutherischen Reformation nach e<strong>in</strong>er<br />
Phase der Duldung doch noch mundtot gemacht<br />
werden sollten.<br />
9
E<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit nahm selbstbewusst das Recht<br />
<strong>für</strong> sich <strong>in</strong> Anspruch, sich unter Berufung auf<br />
das eigene, an das <strong>Ev</strong>angelium gebundene Gewissen,<br />
gegen die Mehrheitsentscheidung <strong>in</strong><br />
<strong>Glaube</strong>nsd<strong>in</strong>gen auszusprechen. Sie setzten damit<br />
e<strong>in</strong>e Entwicklung <strong>in</strong> Gang, die allmählich<br />
der religiösen Toleranz und dann auch der <strong>in</strong>dividuell<br />
verstandenen Gewissens- und <strong>Glaube</strong>nsfreiheit<br />
den Weg ebnete.<br />
Die Freiheit des Gewissens, das ist e<strong>in</strong>e Fragestellung,<br />
mit der Sie gerade als <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen<br />
und <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r tagtäglich<br />
befasst s<strong>in</strong>d. Zum Beispiel wenn es darum geht,<br />
belastete Gewissen zu entlasten. Sie schaffen<br />
den Rahmen, <strong>in</strong>nerhalb dessen „Scham – Schuld<br />
– Beschämung“, so lautet ja das Thema Ihrer<br />
Tagung, angesprochen und ausgesprochen werden<br />
können.<br />
Ich weiß sehr wohl um die Zwitterstellung, der<br />
Sie immer wieder ausgesetzt s<strong>in</strong>d: e<strong>in</strong>erseits<br />
e<strong>in</strong>gespannt <strong>in</strong> den Prozess der Strafvollzugs<strong>in</strong>stitutionen,<br />
andererseits Vertrauensperson <strong>für</strong><br />
die Gefangenen, auch <strong>für</strong> die Bediensteten, unter<br />
Respektierung der Sonderstellung, die sich<br />
aus der B<strong>in</strong>dung an Kirche und Ord<strong>in</strong>ation<br />
ergibt. In diesem Zusammenhang ist <strong>für</strong> mich<br />
die strenge E<strong>in</strong>haltung der Schweigepflicht seitens<br />
der Geistlichen von gar nicht hoch genug<br />
zu schätzender Bedeutung! Sie erst eröffnet den<br />
Schutzraum der Bewahrung, den Raum zur Annahme<br />
von Schuld und Versöhnung.<br />
Sie, liebe Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen, stehen als<br />
Repräsentanten der Kirche da<strong>für</strong>, dass der<br />
Mensch als Gottes Geschöpf und Gottes Ebenbild<br />
unendlich viel mehr ist, als die Summe se<strong>in</strong>er<br />
Taten und Untaten. Die reformatorische<br />
Unterscheidung von Person und Werk, die Sie<br />
<strong>in</strong> Ihrer Praxis unentwegt vollziehen, sie zeugt<br />
von der Art und Weise, mit der Gott uns Menschen<br />
ansieht und annimmt. Unter diesem Vorzeichen<br />
allererst lässt sich e<strong>in</strong>e heilsame Perspektive<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong> Leben – gerade auch mit Schuld<br />
– erahnen. Sie ermöglichen den Menschen <strong>in</strong><br />
der Seelsorge, sich mit den Augen Gottes wahrzunehmen.<br />
Was daraus wird, ist e<strong>in</strong> offener Prozess.<br />
10<br />
E<strong>in</strong>e weitere Spannung ist <strong>für</strong> Ihren Dienst typisch:<br />
nämlich die zwischen dem Sicherheitsbedürfnis<br />
der Gesellschaft e<strong>in</strong>erseits und der Verantwortung<br />
<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en humanen Umgang mit<br />
Straffälligen andererseits, der Voraussetzung ist<br />
<strong>für</strong> deren s<strong>in</strong>nvolle Wiedere<strong>in</strong>gliederung. Wie<br />
heißt es im Paragrafen 2 des Strafvollzugsgesetzes:<br />
"Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der<br />
Gefangene fähig werden, künftig <strong>in</strong> sozialer<br />
Verantwortung e<strong>in</strong> Leben ohne Straftaten zu<br />
führen."<br />
Das also ist der S<strong>in</strong>n, die primäre Aufgabe des<br />
Vollzugs. Die Sicherung ist dabei nur e<strong>in</strong>e<br />
Funktion, e<strong>in</strong> Vehikel auf diesem Weg. "Der<br />
Vollzug", so heißt es weiter, "dient auch dem<br />
Schutz der Allgeme<strong>in</strong>heit vor weiteren Straftaten."<br />
Schlichtes Wegschließen löst demnach die<br />
Probleme nicht – ganz im Gegenteil! Wer Del<strong>in</strong>quenten<br />
zu sozial adäquatem Verhalten führen<br />
will, muss alles unterlassen, was auch nur<br />
im Entferntesten die Verhaltensmuster bestätigt,<br />
die gerade zu überw<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Wer gewaltbereiten<br />
Menschen mit Gewalt begegnet, fördert<br />
die Gewalt. Er überw<strong>in</strong>det sie nicht, sondern<br />
baut sie auf. Daran zu er<strong>in</strong>nern und dies auch<br />
öffentlich zu sagen, ist die geme<strong>in</strong>same Aufgabe<br />
von Kirche und Politik.<br />
Deshalb beteiligen wir uns als <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
aktiv an allen Maßnahmen, die der Wiedere<strong>in</strong>gliederung<br />
dienen: seien es Drogenberatung<br />
und Anonyme Alkoholiker-Gruppen, soziale<br />
und Anti-Gewalt-Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs oder Ehe- und<br />
Partnersem<strong>in</strong>are.<br />
Das Hauptmerkmal e<strong>in</strong>er christlichen Kultur des<br />
Helfens ist also nicht das Ab- und Wegschließen,<br />
vielmehr die persönliche Zuwendung, die<br />
Begegnung <strong>in</strong> Achtung und Würde, die kritische<br />
Solidarität. Menschen nicht auf ihre Defizite zu<br />
fixieren, sondern ihre Talente, ihre Möglichkeiten<br />
und Fähigkeiten zu entdecken, um ihnen zu<br />
helfen, e<strong>in</strong> eigener Mensch zu se<strong>in</strong> und dies <strong>in</strong><br />
der Haltung des aufrechten Gangs, darum geht<br />
es.<br />
Die Gottesdienste <strong>in</strong> Justizvollzugsanstalten, sie<br />
erlebe ich immer wieder als Oasen, als Zufluchtsstätten<br />
<strong>für</strong> Gehetzte und Gedemütigte,<br />
auch <strong>für</strong> Stolze, <strong>in</strong> denen diese sich e<strong>in</strong>e fremde
Sprache leihen und sich <strong>in</strong> fremden Gesten bergen<br />
können. Und oft geschieht es, dass sie <strong>in</strong> der<br />
Begegnung mit christlichen S<strong>in</strong>ntraditionen das<br />
Alphabet der Hoffnung entweder erstmals –<br />
oder ansatzweise wieder – erlernen. Hier f<strong>in</strong>det<br />
das brüchige Leben vor Gott se<strong>in</strong>en Platz und<br />
se<strong>in</strong> Recht. Menschen erfahren Sammlung und<br />
Wegzehrung, Orientierung und Segen <strong>in</strong> der<br />
Geme<strong>in</strong>schaft, im Namen des rechtfertigenden<br />
Gottes. Ja, Ihr Dienst ist e<strong>in</strong> durch und durch<br />
geistlicher! Selten habe ich die E<strong>in</strong>heit von Liturgie<br />
und Diakonie so stimmig erlebt, wie <strong>in</strong><br />
me<strong>in</strong>em Dabeise<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ihren Gottesdiensten und<br />
Gesprächskreisen.<br />
Dennoch muss ehrlicherweise auch gesagt werden:<br />
die Gefängnisgeme<strong>in</strong>de ist e<strong>in</strong>e Herberge<br />
am Rand. Und Sie, als Seelsorger<strong>in</strong>nen und<br />
Seelsorger, Sie teilen über weite Strecken h<strong>in</strong>weg<br />
diese Randexistenz. Ständig pendeln Sie<br />
zwischen dem Leben "dr<strong>in</strong>nen" und dem Leben<br />
"draußen". Vieles müssen Sie mit sich alle<strong>in</strong>e<br />
ausmachen. Oft fühlen Sie sich von anderen<br />
unbeachtet und unverstanden. Umso wichtiger<br />
s<strong>in</strong>d die Jahrestagungen dieser <strong>Konferenz</strong>. Was<br />
dagegen fehlt, ist der ernsthafte Wille von denen<br />
"draußen", sich <strong>in</strong>tensiv mit Ihnen und Ihren<br />
Erfahrungen ause<strong>in</strong>anderzusetzen. Dabei g<strong>in</strong>ge<br />
es doch darum, das oftmals Fremde und Andere<br />
und Sperrige, aber auch das Überraschende und<br />
Ungeahnte wahrzunehmen und <strong>in</strong> die Reflexion<br />
über <strong>Glaube</strong> und Kirche mit e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />
Deutlich ist: die strukturelle Verankerung dieses<br />
Erfahrungsaustausches steht – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>nerkirchlich<br />
– noch aus.<br />
Umso hörbarer will ich Ihnen heute <strong>für</strong> Ihren<br />
Dienst danken; auch <strong>für</strong> die Impulse, die von<br />
dieser <strong>Konferenz</strong> immer wieder ausgehen. In<br />
Ihrem Dase<strong>in</strong> <strong>für</strong> andere helfen Sie mit – wie es<br />
e<strong>in</strong> Kollege <strong>in</strong> Anlehnung an Mart<strong>in</strong> Buber formulierte<br />
hat – "mit bereiter Seele zu beharren,<br />
bis der Morgen dämmert und e<strong>in</strong> Weg sichtbar<br />
wird, wo niemand ihn ahnte."<br />
Seien Sie hier, <strong>in</strong> Speyer und <strong>in</strong> der Pfalz, herzlich<br />
willkommen!<br />
Grußwort des Kirchenpräsidenten<br />
der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong><br />
Hessen und Nassau<br />
Dr. Volker Jung<br />
Sehr geehrte Damen und Herren!<br />
Liebe <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r und –seelsorger<strong>in</strong>nen!<br />
Liebe Schwestern und Brüder!<br />
„Christen s<strong>in</strong>d überzeugt: Gott steht auf der Seite<br />
der Opfer, doch er verlässt auch die Täter und<br />
Täter<strong>in</strong>nen nicht. Gott sagt Ja zum Menschen<br />
und Ne<strong>in</strong> zu dessen bösen Taten.“<br />
So beschreiben die „Leitl<strong>in</strong>ien <strong>für</strong> die <strong>Ev</strong>angelische<br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong>“ e<strong>in</strong>e wichtige Grundüberzeugung<br />
unseres christlichen <strong>Glaube</strong>ns.<br />
Diese Grundüberzeugung aus der Mitte des<br />
<strong>Ev</strong>angeliums trägt Ihre Arbeit <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
ganz wesentlich.<br />
Sie gehen im Auftrag unserer evangelischen<br />
Kirche dorth<strong>in</strong>, wo Menschen <strong>in</strong>haftiert s<strong>in</strong>d.<br />
Sie besuchen Menschen, die nur sehr e<strong>in</strong>geschränkt<br />
besucht werden können. Sie br<strong>in</strong>gen<br />
Zeit mit. Sie hören zu und reden mit denen, die<br />
das wollen. Sie br<strong>in</strong>gen Gebete und Lieder mit.<br />
Sie laden damit e<strong>in</strong> zur Begegnung mit Gott –<br />
<strong>h<strong>in</strong>ter</strong> den verschlossenen Türen.<br />
Mit Ihrem Dienst lassen Sie das Ja Gottes zu<br />
den Menschen lebendig werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umgebung,<br />
die von e<strong>in</strong>em vielfachen Ne<strong>in</strong> bestimmt<br />
wird.<br />
Für die <strong>Ev</strong>angelische Kirche <strong>in</strong> Hessen und<br />
Nassau überbr<strong>in</strong>ge ich der „<strong>Ev</strong>angelischen<br />
<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong><br />
Deutschland“ anlässlich ihrer Jahrestagung<br />
herzliche Grüße. Ich danke Ihnen allen - auch<br />
im Namen unserer Kirchenleitung – <strong>für</strong> Ihren<br />
Dienst. Ihre Besuche bei den Gefangenen, Ihre<br />
Gespräche, die Gottesdienste <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> Mauern,<br />
Ihre Zuwendung zu den Gefangenen und Ihren<br />
Angehörigen und zu den Bediensteten <strong>in</strong> den<br />
Gefängnissen werden von uns sehr geschätzt!<br />
11
Ich erlaube mir auch, mich ganz besonders bei<br />
den Pfarrer<strong>in</strong>nen und Pfarrern aus der EKHN zu<br />
bedanken, die sich <strong>in</strong> der Vorstandsarbeit Ihrer<br />
<strong>Konferenz</strong> engagiert haben. Ich danke Pfarrer<br />
Mart<strong>in</strong> Faber, Pfarrer<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong> und<br />
Pfarrer<strong>in</strong> Barbara Zöller herzlich <strong>für</strong> Ihr Engagement<br />
über die EKHN h<strong>in</strong>aus!<br />
Liebe Schwestern und Brüder <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong>!<br />
Sie nehmen <strong>in</strong> Ihrem Dienst gewissermaßen<br />
stellvertretend <strong>für</strong> uns als Kirche das wahr, was<br />
uns von Christus her <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nachfolge aufgetragen<br />
ist. In se<strong>in</strong>er Rede vom Weltgericht hat er<br />
gesagt: „Ich b<strong>in</strong> im Gefängnis gewesen und ihr<br />
seid zu mir gekommen.“ Und: „Was ihr getan<br />
habt e<strong>in</strong>em von diesen me<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gsten Brüdern,<br />
das habt ihr mir getan.“ Der Besuch der<br />
Menschen <strong>in</strong> Gefängnissen ist <strong>für</strong> uns Auftrag<br />
Christi. Mehr noch: Der Besuch ist auch Christusbegegnung.<br />
Es ist e<strong>in</strong> „Werk der Barmherzigkeit“.<br />
Und es nimmt die Menschen, die wir<br />
besuchen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Lebensperspektive, die<br />
Christus uns erschlossen hat. Es ist die Perspektive<br />
der Vergebung von Schuld, der Versöhnung<br />
und des Friedens.<br />
Von dieser Perspektive aus sehen wir die Grenzen<br />
aller menschlichen Urteile und Verurteilungen<br />
und Strafen. Wir stehen da<strong>für</strong> e<strong>in</strong>, dass<br />
Christus will, dass allen Menschen geholfen<br />
wird. Weil er ke<strong>in</strong>en Menschen verloren gibt,<br />
geben wir ke<strong>in</strong>en Menschen verloren. Das heißt<br />
nicht, dass Schuld nicht beim Namen genannt<br />
wird. Das heißt nicht, dass damit das Recht der<br />
Strafe bestritten wird. Es heißt aber sehr wohl,<br />
dass immer nach der Perspektive <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Menschen<br />
gefragt wird: nach Umkehr, nach Versöhnung,<br />
nach e<strong>in</strong>em neuen Anfang. Dies tun wir –<br />
und behalten auch das Leid der Opfer im Blick,<br />
genauso wie das berechtigte Sicherheitsbedürfnis<br />
der Gesellschaft.<br />
Lassen Sie mich von diesen theologischen Gedanken<br />
aus zwei Punkte ansprechen, die Ihre<br />
Arbeit der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> gegenwärtig beschäftigen.<br />
12<br />
1. Der Schutz der seelsorgerlichen Schweigepflicht<br />
Wir erkennen auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verurteilten Täter<br />
zuerst den Menschen. Ihm gilt die Seelsorge.<br />
Wenn wir auch unter den Bed<strong>in</strong>gungen von<br />
Haftzellen am Auftrag zur Zuwendung festhalten,<br />
dann muss ebenso der Schutz der seelsorgerlichen<br />
Schweigepflicht gewährleistet se<strong>in</strong>.<br />
Die EKD hat ja im vergangenen Oktober das<br />
Kirchengesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses<br />
beschlossen. Die <strong>Ev</strong>angelische Kirche<br />
<strong>in</strong> Hessen und Nassau begrüßt die damit<br />
def<strong>in</strong>ierten Regelungen. Wir s<strong>in</strong>d froh, dass nun<br />
e<strong>in</strong> <strong>für</strong> alle nachvollziehbarer, juristischer Rahmen<br />
gegeben ist.<br />
Seelsorge ist e<strong>in</strong> unmittelbares Geschehen und<br />
braucht e<strong>in</strong>en geschützten Raum zum vertraulichen<br />
Gespräch. Es gibt Inhalte und Themen<br />
seelsorgerlicher Gespräche, die außer den zwei<br />
Beteiligten nur Gott angehen. Über Seelsorgegespräche<br />
darf niemand auskunftspflichtig se<strong>in</strong>,<br />
auch nicht gegenüber staatlichen Behörden. Darauf<br />
müssen sowohl der Häftl<strong>in</strong>g oder die Gefangene<br />
als auch die Seelsorger<strong>in</strong> oder der Seelsorger<br />
vertrauen können.<br />
Die EKHN will und wird das „EKD-<br />
Seelsorgegeheimnisgesetz“ <strong>in</strong> den nächsten<br />
Monaten übernehmen. Detailfragen s<strong>in</strong>d noch<br />
zu regeln. Aber wir begrüßen ausdrücklich das<br />
Anliegen des gesetzlich verbrieften Schutzes der<br />
Seelsorge.<br />
2. Das Thema Sicherungsverwahrung<br />
Ich nehme die Sorge Ihrer „<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong>“<br />
wahr, dass das Instrument der<br />
Sicherungsverwahrung derzeit ausgeweitet<br />
wird. Ich teile diese Sorge.<br />
Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>en kaum zu lösenden Widerspruch<br />
zu geben zwischen dem Wunsch <strong>in</strong> unserer Gesellschaft,<br />
bei bestimmten Straftätern vor möglichen,<br />
zukünftigen Straftaten geschützt zu werden.<br />
Und e<strong>in</strong>er rechtlich e<strong>in</strong>deutigen Regelung,<br />
die auch dem Verurteilten angemessene Perspektiven<br />
bietet. Offensichtlich klaffen Täterperspektive<br />
und die Seite der Opfer, ihrer Fami-
lien und ihrer Umgebung äußerst weit ause<strong>in</strong>ander.<br />
Dazu begegnet man extrem komplexen juristischen<br />
Vorgängen. Zwischen Bundesländern und<br />
Europa s<strong>in</strong>d alle Ebenen der Gesetzgebung und<br />
der Rechtsprechung seit Jahren beteiligt.<br />
Ich verstehe das Bedürfnis nach Sicherheit <strong>in</strong><br />
unserer Gesellschaft. Es ist nachvollziehbar,<br />
wenn Menschen bei bestimmten Verbrechen<br />
misstrauisch oder ängstlich gegenüber e<strong>in</strong>em<br />
Täter s<strong>in</strong>d. . Dennoch ist die Ausweitung der<br />
Sicherungsverwahrung auch kritisch anzufragen:<br />
Welchen Neuanfang traut man e<strong>in</strong>em Menschen<br />
zu, der se<strong>in</strong>e Strafe abgebüßt hat? Tun wir<br />
genug, um Straftätern zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e Chance<br />
zur Resozialisierung zu geben? Welche persönliche<br />
Begleitung gibt es <strong>für</strong> Gefangene bereits<br />
vor ihrer Entlassung und nach ihrer Entlassung?<br />
Deutlich ist allerd<strong>in</strong>gs: die Frage der Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
e<strong>in</strong>er immer größer werdenden Zahl von<br />
Sicherungsverwahrten wird drängender. Da<strong>für</strong><br />
braucht es bald e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige gesetzliche<br />
Grundlage, die von allen Beteiligten bereitwillig<br />
umgesetzt wird. Und es muss gel<strong>in</strong>gen, dabei<br />
die Perspektive der Opfer schwerer Straftaten<br />
e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />
Ich komme zum Schluss:<br />
Sie, als <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen und Seelsorger,<br />
haben e<strong>in</strong>e schwierige Aufgabe. Sie sollen<br />
den Menschen sehen, dem Gott Ja sagt, trotz<br />
aller Schuld. Sie sollen E<strong>in</strong>sicht wecken und zu<br />
Umkehr helfen. Sie sollen die Hoffnung auf<br />
Friede und Gerechtigkeit weitergeben.<br />
Das ist viel, sehr viel. Ich habe <strong>in</strong> etlichen Begegnungen<br />
erfahren können, wie engagiert und<br />
beharrlich Sie arbeiten. Manche Gespräche mit<br />
e<strong>in</strong>zelnen von Ihnen und deren Berichte haben<br />
mich sehr bee<strong>in</strong>druckt.<br />
Ich spüre großen Realismus und dennoch Zuversicht.<br />
Ich erlebe hohes Engagement und –<br />
trotz manch großer Belastung – Freude an und<br />
<strong>in</strong> Ihrem Dienst.<br />
Gebe Gott Ihnen weiter viel Kraft. Stärke Gott<br />
Sie selbst <strong>in</strong> Ihrer Hoffnung und <strong>in</strong> Ihrem <strong>Glaube</strong>n!<br />
Ich wünsche Ihnen e<strong>in</strong>e gute Zeit hier <strong>in</strong> Speyer<br />
und sage Ihnen e<strong>in</strong> herzliches „Gott befohlen!“<br />
Grußwort des Präses der Synode<br />
der EKHN und Vorsitzenden der<br />
<strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong><br />
Straffälligenhilfe<br />
Prof. Dr. Karl He<strong>in</strong>rich Schäfer, Speyer<br />
Sehr geehrter Herr Vorsitzender Schönrock,<br />
me<strong>in</strong>e Herren Kirchenpräsidenten Schad und<br />
Dr. Jung, Herr M<strong>in</strong>ister Dr. Bamberger, me<strong>in</strong>e<br />
Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,<br />
herzlichen Dank <strong>für</strong> die freundliche Aufnahme<br />
und Begrüßung und besonderen Dank <strong>für</strong> die<br />
Gelegenheit, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Es<br />
gibt <strong>für</strong> mich drei Gründe, das Wort an Sie zu<br />
richten. Vorher will ich jedoch der Tatsache<br />
Rechnung tragen, dass die <strong>Ev</strong>angelische <strong>Konferenz</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />
e<strong>in</strong>en neuen Vorstand gewählt hat. Daher zunächst<br />
herzliche Gratulation und alle guten<br />
Wünsche <strong>für</strong> Sie, sehr geehrter Herr Vorsitzender<br />
Schönrock, und <strong>für</strong> die Mitglieder des neuen<br />
Vorstands, dem noch - wie ich hörte – mit Frau<br />
Braun und Frau Zöller zwei Mitglieder des alten<br />
Vorstands angehören und somit <strong>für</strong> e<strong>in</strong> wenig<br />
Kont<strong>in</strong>uität sorgen können. Me<strong>in</strong>e Glückwünsche<br />
verb<strong>in</strong>de ich mit dem herzlichen Dank an<br />
den „alten“ Vorstand <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e geleistete Arbeit,<br />
<strong>in</strong>sbesondere – aus me<strong>in</strong>er EKHN- Sicht natürlich<br />
– an den Vorsitzenden Mart<strong>in</strong> Faber und die<br />
stellvertretende Vorsitzende Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong>.<br />
Ich sprach von drei Gründen <strong>für</strong> mich, hier etwas<br />
zu sagen.<br />
13
1.<br />
Ausrichter der Jahrestagung ist die Regionalkonferenz<br />
Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz/Saarland. E<strong>in</strong> Drittel<br />
des Kirchengebietes der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche<br />
<strong>in</strong> Hessen und Nassau mit dem Propsteibereich<br />
Rhe<strong>in</strong>hessen sowie mit etlichen Dekanaten im<br />
Taunus und im Westerwald liegen <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<br />
Pfalz. Also darf ich als Präses der Kirchensynode<br />
der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong> Hessen und<br />
Nassau zu Ihnen sprechen, auch wenn der hiesige<br />
Tagungsort <strong>in</strong> Speyer nicht <strong>in</strong> unserem Kirchengebiet<br />
liegt wie bei Ihrer Tagung <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z<br />
2002, als ich auch bei Ihnen zu Gast war. Aber:<br />
Wir bef<strong>in</strong>den uns hier <strong>in</strong> Speyer im „Plenarsaal“<br />
der Synode der Protestantischen Kirche der<br />
Pfalz. Dazu passt, dass die Jahrestagung 2008 <strong>in</strong><br />
Hofgeismar (auch damals war ich Ihr Gast) im<br />
Synodensaal der Landessynode der <strong>Ev</strong>angelischen<br />
Kirche von Kurhessen- Waldeck stattfand.<br />
Und: Die Tagung 2002 <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z fand<br />
zwar im katholischen Tagungshaus Erbacher<br />
Hof statt. Aber auch dort haben wir mit unserer<br />
EKHN- Synode bereits getagt. Was ich damit<br />
andeuten will, ist, dass die Plenarsäle der Landessynoden<br />
gute und beziehungsreiche Orte<br />
s<strong>in</strong>d, um vollzugspolitische D<strong>in</strong>ge oder spezielle<br />
Themen der Seelsorge und Behandlung der Gefangenen<br />
anzusprechen. So hat sich unsere Synode<br />
zuletzt im Rahmen der Föderalismusdebatte<br />
entschieden, wenn auch letztendlich vergeblich,<br />
gegen die Verlagerung der Strafvollzugsgesetzgebung<br />
<strong>in</strong> die Kompetenz der Bundesländer<br />
ausgesprochen.<br />
2.<br />
Wenn ich Ende Mai 2010 nach 16-jähriger Tätigkeit<br />
aus me<strong>in</strong>em Präsesamt ausscheide, bleibe<br />
ich Ihnen und der <strong>Konferenz</strong> dennoch weiter<br />
erhalten aus dem zweiten Grund me<strong>in</strong>es Hierse<strong>in</strong>s:<br />
Seit Herbst 2008 b<strong>in</strong> ich Vorsitzender der<br />
<strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> Straffälligenhilfe<br />
auf Bundesebene. Und die <strong>Ev</strong>angelische <strong>Konferenz</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> ist – wie viele von<br />
Ihnen wissen – Mitglied <strong>in</strong> diesem „me<strong>in</strong>em“<br />
Vere<strong>in</strong>. Thomas Gotthilf aus Ihren Reihen ist<br />
ständiger Gast bei unseren Versammlungen und<br />
bei den Vorstandssitzungen. Ich darf <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang erwähnen, dass wir geme<strong>in</strong>sam<br />
14<br />
mit der Katholischen Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
Straffälligenhilfe e<strong>in</strong>e Neuauflage des Orientierungsrahmens<br />
von 2001 <strong>für</strong> die Arbeit der<br />
Straffälligenhilfe im Justizvollzug vorbereitet<br />
haben. E<strong>in</strong>e Veröffentlichung ist noch <strong>in</strong> diesem<br />
Jahr vorgesehen.<br />
3.<br />
Schließlich b<strong>in</strong> und bleibe ich der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
und dem Justizvollzug weiterh<strong>in</strong> verbunden<br />
durch me<strong>in</strong>e Honorarprofessur an der<br />
<strong>Ev</strong>angelischen Fachhochschule <strong>in</strong> Darmstadt.<br />
Wichtiger aber noch: Ich habe 2009 die<br />
Kommentierung der Seelsorgebestimmungen<br />
des Strafvollzugsgesetzes bzw. der vorliegenden<br />
Länderregelungen <strong>in</strong> der 5. Auflage des renommierten<br />
Werks von Schw<strong>in</strong>d/Böhm/Jehle/Laubenthal<br />
übernehmen dürfen. Ich verb<strong>in</strong>de diese<br />
Information mit e<strong>in</strong>em Gedenken an Peter<br />
Rassow, der vor rund e<strong>in</strong>em Monat verstorben<br />
ist. Es war zweifellos bewegend <strong>für</strong> mich, als<br />
Peter Rassow mich anrief und mir se<strong>in</strong>e Nachfolge<br />
als Kommentator antrug. Es war e<strong>in</strong>e große<br />
Freude und besondere Ehre <strong>für</strong> mich, denn<br />
Peter Rassow hatte mit se<strong>in</strong>er bisherigen<br />
Kommentierung bewundernswerte Maßstäbe<br />
gesetzt. Die herzlichen Begegnungen mit ihm<br />
über die Jahre h<strong>in</strong>weg haben mir nicht nur<br />
Freude gemacht, sondern mich auch gestärkt im<br />
gesellschaftlich, politisch, vollzuglich, aber<br />
auch <strong>in</strong>nerkirchlich stets umkämpften E<strong>in</strong>satz<br />
<strong>für</strong> die Belange e<strong>in</strong>es rechts- und sozialstaatlich<br />
ausgerichteten Strafvollzugs und <strong>für</strong> die Bedeutung<br />
und Rolle der <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> diesem<br />
Bereich. Ich denke an ihn mit großer Dankbarkeit.<br />
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, liebe Schwestern<br />
und Brüder des neu gewählten Vorstands,<br />
Sie haben e<strong>in</strong>e wichtige und zugleich leichte<br />
Aufgabe übernommen.<br />
Wichtig ist sie deshalb, weil die <strong>in</strong>haltliche Beschäftigung<br />
mit Grundsatzfragen von Theologie,<br />
Recht und gesellschaftlicher Verantwortung und<br />
daraus folgend öffentliche Verlautbarungen<br />
Markenzeichen dieser <strong>Konferenz</strong> s<strong>in</strong>d. Dass <strong>in</strong><br />
diesem Kontext <strong>Gefängnisseelsorge</strong> etwas zu<br />
sagen hat und sich auch immer wieder zu Wort
melden sollte, steht <strong>für</strong> mich außer Frage.<br />
Schließlich s<strong>in</strong>d viele grundlegende und positive<br />
Veränderungen im Strafvollzug erst durch Initiative<br />
von <strong>Gefängnisseelsorge</strong>rn entstanden. Für<br />
Verantwortliche im Strafvollzug und <strong>für</strong> die<br />
Politik war <strong>Gefängnisseelsorge</strong> daher auch früher<br />
nie „bequem“, wenn es um Fragen des Umgangs<br />
mit straffällig gewordenen Menschen<br />
g<strong>in</strong>g.<br />
E<strong>in</strong>fach ist sie andererseits deshalb, weil Sie<br />
sich von tüchtigen und engagierten Kolleg<strong>in</strong>nen<br />
und Kollegen unterstützt und getragen wissen<br />
dürfen. Ich habe vorh<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Stadt schon mit<br />
etlichen gesprochen. Und die haben mir gleich<br />
gesagt: „Wir haben e<strong>in</strong>en prima Vorstand gewählt!“.<br />
Kann man sich e<strong>in</strong>en besseren Start<br />
wünschen?<br />
Ich jedenfalls wünsche der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />
auch <strong>für</strong> die kommenden Jahre Gottes Segen <strong>für</strong><br />
e<strong>in</strong>e fruchtbare und engagierte Arbeit.<br />
Grußwort aus dem Kirchenamt<br />
der EKD<br />
Oberkirchenrat Dr. Erhard Berneburg<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
ich überbr<strong>in</strong>ge Ihnen ganz herzliche Grüße seitens<br />
der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, an dieser<br />
Stelle den Seelsorger<strong>in</strong>nen und Seelsorgern im<br />
Justizvollzug zu danken <strong>für</strong> ihren Dienst, den<br />
sie im Namen und im Auftrag der Kirche tun. In<br />
der Feier von Gottesdiensten, <strong>in</strong> der Zusage der<br />
Vergebung Gottes und im Gespräch mit Menschen<br />
im Gefängnis lassen sie die Menschenfreundlichkeit<br />
unseres Gottes und das Geschenk<br />
der Erlösung durch Jesus Christus erfahrbar<br />
werden. Sie bauen Brücken zu Menschen, die<br />
der Kirche eher fern stehen und <strong>in</strong> der Situation<br />
des Gefangense<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>e neue Orientierung <strong>für</strong><br />
ihr Leben suchen.<br />
E<strong>in</strong> besonderer Dank geht an die jetzt ausscheidenden<br />
Vorstandsmitglieder <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e sehr gute<br />
und effektive Zusammenarbeit.<br />
Danke.<br />
Die EKD hat sich <strong>in</strong> den vergangenen Monaten<br />
auf unterschiedlichen Ebenen mit Herausforderungen<br />
und Entwicklungen um die Seelsorge<br />
befasst.<br />
Dabei wurde erneut deutlich:<br />
Seelsorge als Muttersprache der Kirche gehört<br />
zu den zentralen Lebensäußerungen der Kirche.<br />
Dabei muss man Seelsorge <strong>in</strong> ihrer ganzen Breite<br />
wahrnehmen: von der Notfallseelsorge bis zur<br />
Geme<strong>in</strong>deseelsorge, von der Hospizarbeit bis<br />
zur <strong>Gefängnisseelsorge</strong> ist das Gespräch der<br />
Menschen <strong>in</strong> Sorge um ihre Seele auf der Basis<br />
e<strong>in</strong>es christlichen Menschenbildes und <strong>in</strong> Absicht<br />
e<strong>in</strong>er gestärkten und geheilten Seele e<strong>in</strong><br />
Grundangebot der Kirche, gerade auch außerhalb<br />
ihrer Kerngeme<strong>in</strong>de. Seelsorgerliche Handlungsfelder<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel Kirche an anderem<br />
Ort, e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> die verschiedensten gesellschaftlichen<br />
Felder. Sie wissen aus täglicher<br />
Erfahrung wie hochkomplex die Zusammenhänge<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefängnis s<strong>in</strong>d. Und nicht selten<br />
s<strong>in</strong>d sie die e<strong>in</strong>zige Stimme <strong>in</strong> diesem Konzert,<br />
die nicht klar funktionale Interessen verfolgt.<br />
E<strong>in</strong> gewisses Unbehagen, dass Seelsorge ke<strong>in</strong><br />
eigenes Leuchtfeuer im Impulspapier „Kirche<br />
der Freiheit“ hat, sondern mehr e<strong>in</strong> Querschnittthema<br />
durch die verschiedenen Handlungsfelder<br />
geworden ist. Anlässlich e<strong>in</strong>er solchen Kritik<br />
hat es verschiedene Bemühungen <strong>in</strong> der EKD<br />
gegeben, die pastoralpsychologische bzw. seelsorgerliche<br />
Szene der Kirche anzusprechen und<br />
e<strong>in</strong>zuladen, am Reformprozess der Kirche aktiv<br />
teilzunehmen. Vorträge, Gespräche, Workshop,<br />
weitere Schritt <strong>in</strong> Vorbereitung.<br />
In den Diskussionen der letzten Monate wurde<br />
mehrfach danach gefragt, wie bei der immer<br />
rascher sich vollziehenden Ausdifferenzierung<br />
der Feldkontexte der geme<strong>in</strong>same Auftrag und<br />
15
das <strong>in</strong>haltliche Profil evangelischer Seelsorge zu<br />
beschreiben wäre. E<strong>in</strong>e neue Bes<strong>in</strong>nung auf den<br />
theologischen Grund, aus dem heraus evangelische<br />
Seelsorge geschieht, wird von vielen Beteiligten<br />
erwünscht und als hilfreich empfunden.<br />
Auch im Wettbewerb mit anderen Anbietern<br />
spiritueller Begleitung s<strong>in</strong>d die Kirchen gefragt,<br />
ihr Proprium deutlich werden zu lassen. Gegen<br />
den allgeme<strong>in</strong>en gesellschaftlichen Trend wird<br />
die Kirche ihr Selbstbestimmungsrecht nicht nur<br />
e<strong>in</strong>fordern können, sondern wird ihr spezifisch<br />
<strong>in</strong>haltliches Profil darlegen müssen. Daher s<strong>in</strong>d<br />
folgende Perspektiven angedacht worden:<br />
• Das spezifische Handlungsfeld Seelsorge ist <strong>in</strong><br />
den gesamtkirchlichen Auftrag e<strong>in</strong>zubetten:<br />
• Kirchliche Seelsorge sollte ihre Erkennbarkeit<br />
am anderen Ort etwa im Gefängnis<br />
deutlich, aber stilsicher sichtbar machen.<br />
• Seelsorge als „Kirche an anderem Ort“ ist<br />
e<strong>in</strong> Beitrag zur e<strong>in</strong>ladenden und überzeugenden<br />
Kirche, Seelsorge wird auf ihre spezifische<br />
Weise am missionarischen Grundauftrag<br />
der Kirche Anteil haben.<br />
• Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge<br />
und Verkündigung ist im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Bemühung<br />
um „ansprechende“ Kirche neu zu<br />
buchstabieren.<br />
• Die geistliche Dimension der Seelsorge sollte<br />
qualifiziert zum Zuge kommen: Im geistlichen<br />
Selbstbewusstse<strong>in</strong> der Seelsorgenden, <strong>in</strong><br />
der Bemühung um geistliche Vertiefung der<br />
realen Situation, <strong>in</strong> der Zielbestimmung von<br />
Seelsorge als e<strong>in</strong> Ankommen bei Gott. Seelsorge<br />
versteht sich dann nicht als re<strong>in</strong>es Begleiten,<br />
sondern sieht ihren Auftrag dar<strong>in</strong>,<br />
„Gutes von Gott <strong>in</strong> der Welt zu reden“.<br />
• Neben pastoralpsychologischer Kompetenz<br />
und unterschiedlichen Feldkompetenzen<br />
würden die geistlichen Schätze der Kirche <strong>in</strong><br />
der Seelsorge zum Tragen kommen, wie<br />
geistliche Lieder, Bibel und Gebet.<br />
Diese Impulse aufzunehmen möchte ich Sie<br />
bitten - auch gerade <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong>.<br />
Nah bei den Menschen – Ja<br />
Kompetent <strong>für</strong> das besondere Arbeitsfeld – Ja<br />
Und mit e<strong>in</strong>em geistlichen Auftrag - Ja<br />
16<br />
Unter dem Feigenbaum<br />
Elmo Due<br />
Das Thema war: Schuld, Scham und Beschämung<br />
- “…<strong>h<strong>in</strong>ter</strong> dem Feigenblatt“; aber die<br />
Jahrestagung <strong>in</strong> Waldfischbach verlief unter<br />
dem schützenden Feigenbaum, dem gleichen<br />
Baum, der Zachäus hilfreich gewesen war (Lukas<br />
19.1-10). Diesmal sollte es darum gehen,<br />
besser der zu sehen, was es mit unserem „Feigenblatt“<br />
auf sich hat. Dieser “ Zachäus-<br />
Ausblick“ wurde uns nicht nur durch den Abschlussgottesdienst<br />
<strong>in</strong> der Römischkatholischen<br />
Wallfahrtskirche gegeben, sondern<br />
auch durch die Bearbeitung der mannigfaltigen<br />
Gesichtspunkte zum Themenkomplex<br />
Schuld, Scham und Beschämung.<br />
Die Tagung wurde mit Humor eröffnet, was<br />
demonstrierte, dass der Humor uns - bis zu e<strong>in</strong>em<br />
gewissen Grade - mit unserer Scham versöhnen<br />
kann. Humor br<strong>in</strong>gt uns auch näher zue<strong>in</strong>ander,<br />
Lächerlichmachung oder Sarkasmus
dagegen trennen uns. Der Unterschied kann<br />
delikat se<strong>in</strong>. Humor ist sich der eigenen Unvollkommenheit<br />
bewusst, der <strong>Glaube</strong> ist sich<br />
dem entsprechend der eigenen Sündhaftigkeit<br />
bewusst.<br />
Mir als dänischem Theologen aus derselben<br />
Stadt und dem selben Vaterland wie Søren<br />
Kierkegaard, liegt es nahe daran zu denken, wie<br />
er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Betrachtung der verschiedenen Lebenshaltungen,<br />
erkannt hat, dass Humor und<br />
Religiosität so eng mite<strong>in</strong>ander verbunden s<strong>in</strong>d.<br />
Beide können - auf verschiedene Weise - Versöhnung<br />
br<strong>in</strong>gen.<br />
Am nächsten Morgen hat e<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>druckender<br />
Videofilm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Stimmung versetzt:<br />
von Humor zu dem, was nach e<strong>in</strong>er stärkeren<br />
Mediz<strong>in</strong> ruft, d.h. Berichte über Schuld, Scham<br />
und Beschämung.<br />
Prof. Michael Klessmann hat dieses Thema weitergeführt<br />
mit e<strong>in</strong>er Analyse von liturgischen<br />
Sündenbekenntnissen (Confiteor). Schaffen<br />
diese pauschalen Bekenntnisse uns e<strong>in</strong>e wahre<br />
E<strong>in</strong>sicht, oder s<strong>in</strong>d sie nur e<strong>in</strong>e Verleumdung<br />
unseres fröhlichen Lebens laut Nietzsche? Für<br />
E<strong>in</strong>e theologische Selbstbes<strong>in</strong>nung ist es maßgeblich,<br />
dass wir Existentialschuld (debitum)<br />
von Tatschuld (culpa) trennen. Wo<strong>für</strong> b<strong>in</strong> ich<br />
wirklich verantwortlich und wo<strong>für</strong> nicht? Und<br />
im Verhältnis zu welcher Instanz? E<strong>in</strong> Über-Ich,<br />
das nicht zwischen Gedanke und Werk unterscheiden<br />
kann? - „Ich bekenne dass ich gesündigt<br />
habe mit Gedanken, Worten und Werken“?!<br />
Oder muss man zwischen Über-Ich und dem<br />
Gewissen unterscheiden laut Mart<strong>in</strong> Buber<br />
(Schuld und Schuldgefühle)?<br />
Dr. Claus Müller differenziert den Begriff<br />
Scham durch systematische Betrachtungen über<br />
mehrere biblische Texte: die Vertreibung aus<br />
dem Paradies, Davids Demütigung von Saul,<br />
Ahitofels Selbstmord aber besonders Jesu dreifältige<br />
Frage an Petrus: „ Liebst du mich?“ E<strong>in</strong><br />
biblisches Hauptthema ist es, dass Gott e<strong>in</strong>e<br />
Grenze <strong>für</strong> die Auswirkungen der Sünde gesetzt<br />
hat, und dem Menschen neue Lebensmöglichkeiten<br />
gibt. Vielleicht könnte man von“ Felix<br />
culpa“ (August<strong>in</strong>) oder “Pecca fortiter“ (Luther)<br />
sprechen? In jedem Fall wäre es möglich, Sün-<br />
denbekenntnisse als Sehnsucht nach dem verloren<br />
gegangenen Paradies aufzufassen.<br />
Das Sündenbekennen würde damit e<strong>in</strong> wenig<br />
mehr Goodwill bekommen als das, was Prof.<br />
Klessmann ihr mitgegeben hatte. Außerdem,<br />
wie es gesagt war, ist e<strong>in</strong> Gottesdienst ohne<br />
Sündenbekennen vor Gott - und das ist etwas<br />
anders als e<strong>in</strong> Bekenntnis zum eigenen M<strong>in</strong>derwertigkeitsgefühl<br />
<strong>für</strong> den Psychologen – <strong>in</strong> der<br />
Gefahr der religiösen Selbsterhöhung (Barth!)<br />
und bequemer „Wellness-Theologie“.<br />
Und dann war es Dr. Stephan Marks und das<br />
Glas übervoll vom Wasser wie e<strong>in</strong>e Gesellschaft,<br />
die nicht ihre Scham fassen kann, und<br />
deswegen e<strong>in</strong>ige, die zum Beispiel <strong>in</strong> Holzhausen<br />
(!)wohnen, ausgrenzt. E<strong>in</strong>e charmante Vorlesung<br />
über e<strong>in</strong> uncharmantes Thema. Der vielfältige<br />
Ausdruck der Scham und des Reptil-<br />
Gehirns, und außerdem unsere Abwehrmechanismen<br />
wurden beleuchtet. Alles andere ist besser<br />
als Scham! Deswegen die übergetriebene<br />
Diszipl<strong>in</strong> (Das Weiße Band?), deswegen „Coolness“<br />
und Arroganz. Wie können wir nun als<br />
Seelsorger/<strong>in</strong>nen mit Scham umgehen? E<strong>in</strong>e<br />
erste Hilfe hat Dr. Marks uns gegeben mit Hilfe<br />
e<strong>in</strong>er Reihe von klaren E<strong>in</strong>sichten, zum Beispiel,<br />
dass Scham monologisch ist, Schuld aber<br />
mehr dialogisch<br />
Unterwegs zur Jahrestagung hatte ich das kle<strong>in</strong>e<br />
Buch der Dänisch-Ungarisch-Deutschen<br />
Schriftsteller<strong>in</strong> Johanne Ardorjan „E<strong>in</strong>e exklusive<br />
Liebe“ (2009, Luchterhand Literaturverlag,<br />
München) gelesen. Es handelt von Liebe aber<br />
auch von Scham und all den vielen D<strong>in</strong>gen, über<br />
die man nicht sprechen kann.<br />
Ich hatte die literarische Arbeitsgruppe mitgemacht.<br />
Nur Männer! Aber trotzdem e<strong>in</strong>e glückliche<br />
Wahl. Pfarrer Erhard Domay ist nun verantwortlich<br />
da<strong>für</strong>, dass me<strong>in</strong> Sommerurlaub an<br />
dem Westküste nicht nur Schwimmen, Radeln<br />
oder Wandern se<strong>in</strong> wird, sondern vor allem Lesen,<br />
(Kafkas „Brief an dem Vater“, Bernhard<br />
Schl<strong>in</strong>ks „Der Vorleser“, Hans Ulrich Reichels<br />
„Der Verlorene“ und Philip Roths „Der menschliche<br />
Makel“).<br />
Und dann war es all das Andere. Insbesondere<br />
erfreute mich die große Geduld, mit der die<br />
„E<strong>in</strong>geborenen“ mit mir und me<strong>in</strong>em<br />
17
„Kopenhagenerdeutsch“ immer umg<strong>in</strong>gen. Für<br />
mich hat sprachliches Unvermögen auch etwas<br />
mit Scham zu tun. Aber die Gespräche unter<br />
dem Feigenbaum waren immer vertrauensbildend<br />
und gehören zu me<strong>in</strong>er Freude und Nachfreude<br />
über der Tagung.<br />
Und dann war es der Ausflug nach Speyer. Zum<br />
Nachdenken anregend war es, dass die Juden <strong>in</strong><br />
Speyer dieses unterirdische Re<strong>in</strong>igungsritual<br />
hatten als e<strong>in</strong> Arzneimittel gegen Schuld und<br />
Scham, genau als strenges Ritual durchgeführt.<br />
Vielleicht hätte „Rituale“ auch e<strong>in</strong> Thema auf<br />
der Tagung se<strong>in</strong> können? Rituale s<strong>in</strong>d doch unser<br />
Geschäft!<br />
Und dann der Gästeabend mit Pfälzer Buffet –<br />
und mit Festreden. Es waren viele, aber alle<br />
waren mit Inhalt und Me<strong>in</strong>ung. Und wer kann<br />
die Rede von dem Anstaltsleiter vergessen?<br />
Oder die schwedische <strong>Ev</strong>a und die himmlische<br />
Asche? Oder das vom niederländischen Sitse<br />
vorgetragene „hoochdramatische“ Mörderdrama<br />
über Rache: „Du Schuft, du Schuft, du<br />
Schuft!“<br />
Unterwegs zurück im Zug nach Hause hatte ich<br />
viel Zeit zum Lesen. Ich hatte e<strong>in</strong> neues Buch<br />
von dem dänischen Professor <strong>in</strong> Germanistik,<br />
Per Øhrgaard gefunden, es heißt „Deutschland,<br />
Europas Herz“ (2009) – das ist auch wahr, was<br />
Gastfreundschaft betrifft.<br />
Mange tak og forhåbentlig på gensyn.<br />
Elmo Due<br />
Aus Rumänien<br />
Eg<strong>in</strong>ald N.F. Schlattner,<br />
Gefängnispfarrer<br />
557210 ROSIA-Rothberg/SB<br />
Romania<br />
Lieber und verehrter Pfarrer Mart<strong>in</strong> Faber,<br />
post festum muss ich absagen. Ich habe e<strong>in</strong>en<br />
Monat lang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em orthodoxen Nonnenkloster<br />
18<br />
im Nord-Osten Siebenbürgens zugebracht, außerhalb<br />
der vernetzten Welt (ohne Telefon, TV,<br />
Internet, Hand. Radio). Allerd<strong>in</strong>gs von dort aus<br />
auch Gefängnisse besucht.<br />
Nun b<strong>in</strong> ich unbefristet wieder hier. Vor lauter<br />
Stakkato auf dem Pfarrhof kommt man kaum<br />
zum Beten und Schlafen. Andererseits habe<br />
ich zum zweiten Mal e<strong>in</strong>e Lesereise (D, A) storniert.<br />
Es genügt mir das abwegige Dreieck <strong>in</strong><br />
dem ich mich bewege:<br />
Rothberg - mit dem vere<strong>in</strong>samten Pfarrhof und<br />
mit der Kirche der leergebeteten Bänke. Aber:<br />
mit der Dritten Welt vor der Haustür und im<br />
Haus der offenen Tür (1200 Zigeuner im Dorf,<br />
die meisten <strong>in</strong> den Lehmhütten unten am Bach,<br />
<strong>für</strong> mich ke<strong>in</strong>e ethnische Kategorie, sondern<br />
Menschen, <strong>für</strong> die niemand spricht, niemand<br />
<strong>für</strong>spricht).<br />
Dann s<strong>in</strong>d es die Gefängnisse, die ich aufsuche<br />
landesweit, und zwar als Orte der ökumenischen<br />
Begegnungen mitten <strong>in</strong> der Zeitlosigkeit (es ist,<br />
wie Sie wissen, die Beauftragung von me<strong>in</strong>er<br />
Kirche her).<br />
Und immer wieder : das Kloster Sankt Spiridon<br />
am Saume des ewigen Lebens.<br />
Ich bedanke mich da<strong>für</strong>, dass Sie an mich gedacht<br />
haben.<br />
Fragt man mich, weshalb ich mir <strong>in</strong> 'diesem<br />
Alter das noch antue' (geb.1933), als Gefängnispfarrer<br />
unterwegs zu se<strong>in</strong> (RO - 44 Haftanstalten),<br />
dann, weil ich weiß und die Schutzbefohlenen<br />
es bestätigen: Ich b<strong>in</strong> der richtige<br />
Mann am rechten Ort.<br />
Anbei Materialien und INFOS, peu a peu zu<br />
lesen oder Archiv, darunter e<strong>in</strong>e Biographie<br />
jenseits von Internet und Wikipedia. *)<br />
Gott befohlen,<br />
Eg<strong>in</strong>ald Schlattner<br />
*) Siehe <strong>in</strong> diesem MB, S.39 ; e<strong>in</strong>e Aufnahme der übrigen<br />
Texte von E. Schlattner ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der nächsten Reader<br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong> geplant.
„H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt“<br />
– <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> den sieben Bergen –<br />
Jahrestagung 2010 <strong>in</strong> Waldfischbach<br />
- Burgalben<br />
Hanna Haupt, Halle<br />
„Waldfischbach – wo liegt denn das?“ – die<br />
erstaunte Frage des „Zugbegleiters“ (früher<br />
Schaffner genannt!) <strong>in</strong> der S-Bahn von Halle<br />
(Saale) Hbf. nach Halle-Zoo (diese Station gibt<br />
es wirklich!). Ich versuchte zu erklären, wo<br />
Waldfischbach liegt. Dann sagte er: „Da möchte<br />
ich auch gern irgendwann mal h<strong>in</strong>!“. Mal wieder<br />
wurde mir klar: unser Beruf hat viele Privilegien.<br />
Dazu gehört auch die Jahrestagung der<br />
<strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
jedes Jahr an e<strong>in</strong>em anderen Ort. Zudem wird<br />
die Teilnahme, soweit ich weiß, <strong>für</strong> (fast) jeden<br />
von uns von „irgendwem“ f<strong>in</strong>anziert. Was <strong>für</strong><br />
e<strong>in</strong> Privileg <strong>in</strong> diesen Zeiten!<br />
Wie viele tolle, <strong>in</strong>tensive, unvergessliche Jahrestagungen<br />
durfte ich erleben: Loccum, Kirkel,<br />
Löwenste<strong>in</strong>, Freis<strong>in</strong>g, Re<strong>in</strong>hardsbrunn, Villigst,<br />
Berl<strong>in</strong>, Bad Segeberg, Wiesbaden, Loccum,<br />
Magdeburg, Ma<strong>in</strong>z, Hesselberg, (Reuthe leider<br />
nicht, weil ich am Vorabend <strong>in</strong> der Charité <strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong> „landete“), Bad Honnef, Schmochtitz,<br />
Berl<strong>in</strong>, Hofgeismar, Plön ... Und nun als Abschluss:<br />
Waldfischbach – „wo liegt denn das?<br />
Da möchte ich auch mal h<strong>in</strong>...“<br />
Traumhaftes Wetter, unvergesslich freundlicher<br />
Empfang, so viele nette, kompetente KollegInnen,<br />
wunderbare „Küche“ – eben e<strong>in</strong>fach<br />
„Pfalz“. Und dann dazu das spannende, schwere<br />
Thema der Tagung: „H<strong>in</strong>ter dem Feigenblatt –<br />
Scham, Schuld, Beschämung“!<br />
Und das alles noch nicht genug; die Mitgliederversammlung<br />
und die Vorstandswahlen gab’s<br />
auch noch! Und ich danke Mart<strong>in</strong> Faber, Kar<strong>in</strong><br />
Greifenste<strong>in</strong> und Dieter Bethkowski <strong>für</strong> ihre<br />
tolle Arbeit im Vorstand – Ihr habt die „Leitl<strong>in</strong>ien“<br />
zustande gebracht und so vieles andere<br />
mehr. Mart<strong>in</strong> nenne ich „nur“ deshalb zuerst,<br />
weil ich mit ihm im Vorstand gearbeitet habe,<br />
ehe Kar<strong>in</strong> „me<strong>in</strong>en Part“ wesentlich professioneller<br />
übernommen hat.<br />
Glücklicherweise gab es viel zum Lachen –<br />
schon am ersten Abend mit den „Wollläusen“ –<br />
e<strong>in</strong> wunderbarer Kabarettabend (auch wenn zum<br />
Schluss bei so vielen lachenden Leuten die Luft<br />
etwas knapp wurde). Danke <strong>für</strong> das tolle Programm!<br />
Etwas ernster g<strong>in</strong>g es am Dienstag mit Prof.<br />
Michael Klessmann und se<strong>in</strong>em Referat “Ich<br />
armer, elender, sündiger Mensch...“ weiter. Und<br />
dann die Regionalkonferenzen – wie <strong>in</strong>tensiv,<br />
lustig, streng, arbeitsreich oder ernst die Regionalkonferenzen<br />
und auch die Arbeitsgruppen<br />
verliefen, kann ich nur begrenzt beurteilen.<br />
Inhaltlicher Mittelpunkt war <strong>für</strong> mich das Referat<br />
von Dr. Stephan Marks: „Scham – wie sie<br />
‚funktioniert’ und wie wir konstruktiv mit ihr<br />
umgehen können“. Ich konnte nicht nur gut zuhören,<br />
sondern habe auch sehr viel „mitgenommen“,<br />
das mich weiterbeschäftigt. Gerade lese<br />
ich mit großem Gew<strong>in</strong>n se<strong>in</strong> Buch „Scham –<br />
die tabuisierte Emotion“ (Patmos-Verlag)!<br />
19
Die <strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong> Waldfischbach bedeutete <strong>für</strong><br />
mich auch „Abschied“. Am 30. Juli wurde ich<br />
<strong>in</strong> die „passive Altersteilzeit“ verabschiedet.<br />
Zwanzig Jahre <strong>Gefängnisseelsorge</strong> haben mich<br />
geprägt! Ich habe wohl auch die <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
<strong>in</strong> den neuen Bundesländern mit aufgebaut<br />
und geprägt (so jedenfalls die „Bewertung“<br />
aus dem Justizm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Magdeburg!).<br />
Nun wünsche ich dem neuen Vorstand Gottes<br />
Segen, viel Humor, Gesundheit und Gelassenheit<br />
und gute Ideen! Ich bleibe mit allen Kolle-<br />
20<br />
g<strong>in</strong>nen und Kollegen <strong>in</strong> der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
verbunden, denn diese Arbeit wird mich nicht<br />
so schnell loslassen! Es war irgendwie e<strong>in</strong> Privileg,<br />
dabei zu se<strong>in</strong>!<br />
Schalom! „Möge die Straße uns zusammenführen...“<br />
(aber bitte <strong>in</strong> der Fassung und Melodie,<br />
<strong>in</strong> der ich es e<strong>in</strong>mal – ich denke bei der Bundeskonferenz<br />
2002 – „e<strong>in</strong>gebracht“ habe)!<br />
Deshalb <strong>für</strong> Hanna und alle, die (nicht) zum<br />
letzten Mal bei der Jahrestagung waren:
<strong>Ev</strong>angelischer Pressedienst (epd)<br />
Landesdienst Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz<br />
Dr. Alexander Lang, Speyer<br />
Kirchen/Strafvollzug/Personalien<br />
Gefängnispfarrer wollen Täter-Opfer-Ausgleich<br />
fördern - <strong>Ev</strong>angelische <strong>Gefängnisseelsorge</strong> hat<br />
neuen Vorstand<br />
Speyer (epd). Die evangelischen <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<br />
<strong>in</strong> Deutschland wollen die Verständigung<br />
zwischen Tätern und Opfern fördern. Der Täter-<br />
Opfer-Ausgleich sei die s<strong>in</strong>nvollste Alternative<br />
zum Strafvollzug, der <strong>in</strong> vielen Bereichen mangelhaft<br />
sei, sagte Pfarrer<strong>in</strong> Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong><br />
aus Frankfurt, die ehemalige stellvertretende<br />
Vorsitzende der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland, am Freitag<br />
dem epd <strong>in</strong> Speyer. Rund 140 evangelische <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<br />
kamen im pfälzischen Waldfischbach-Burgalben<br />
von Montag bis Freitag zu<br />
ihrer Jahreskonferenz zusammen. Tagungsthema<br />
war "Scham, Schuld, Beschämung".<br />
Zum Abschluss ihrer Bundestagung wählten die<br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong>r ihren fünfköpfigen Vor-<br />
stand auf vier Jahre neu. Neuer Vorsitzender ist<br />
Pfarrer Ulli Schönrock von der Justizvollzugsanstalt<br />
Meppen <strong>in</strong> Niedersachsen, se<strong>in</strong>e erste<br />
Vertreter<strong>in</strong> ist Pfarrer<strong>in</strong> Birgit Braun vom Justizvollzugskrankenhaus<br />
Hohenasperg <strong>in</strong> badenwürttembergischen<br />
Asperg. Zweiter stellvertretender<br />
Vorsitzender wurde der Diakon Richard<br />
Strodel von der Justizvollzugsanstalt München-<br />
Stadelheim. Neuer Schatzwart ist Pfarrer<strong>in</strong> Barbara<br />
Zöller von der Angehörigenseelsorge der<br />
Justizvollzugsanstalt im hessischen Butzbach,<br />
neuer Schriftführer ist Pfarrer Jens-Peter Preis<br />
von der nordrhe<strong>in</strong>-westfälischen Justizvollzugsanstalt<br />
Siegburg.<br />
Der neue Vorstand will den Angaben zufolge<br />
besondere Schwerpunkte setzen <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />
und bei Alternativen zum<br />
Strafvollzug, wozu auch der Täter-Opfer-<br />
Ausgleich gehört. Auch gegen das Fesseln von<br />
schwangeren Frauen im Strafvollzug wolle die<br />
evangelische <strong>Gefängnisseelsorge</strong> angehen. Die<br />
nächste Bundeskonferenz f<strong>in</strong>det im Mai 2011 <strong>in</strong><br />
Niedersachsen statt. In den rund 250 Strafanstalten<br />
<strong>in</strong> Deutschland arbeiten etwa 270 evangelische<br />
und ebenso viele katholische <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r.<br />
www.epd.de; www.evangelischerkirchenbote.de<br />
21
22<br />
Impressionen von der Jahrestagung <strong>in</strong> Waldfischbach-Burgalben
Schottlandexkursion der AG U-<br />
Haft im Juni 2010<br />
Frank Baumeister, Nürnberg<br />
Was werde ich zu Hause erzählen?<br />
So fragten wir uns am Ende von gut vier <strong>in</strong>haltsreichen<br />
Tagen. Acht <strong>in</strong> der Untersuchungshaft<br />
<strong>in</strong> deutschen Gefängnissen tätige Seelsorger<strong>in</strong>nen<br />
und Seelsorger waren unterwegs <strong>in</strong> Schottland.<br />
Noch vor e<strong>in</strong>igen Jahren wurde von <strong>in</strong>ternationalen<br />
Kommissionen das „Kübeln“ angeprangert.<br />
Mittlerweile gibt es abgetrennte Toiletten<br />
und mit e<strong>in</strong>er ganzen Menge Geld, das <strong>in</strong><br />
die Hände genommen wurde, s<strong>in</strong>d im Bereich<br />
der Ausstattung der Gefängnisse, dem Besucherbereich<br />
und den so genannten L<strong>in</strong>kcenters<br />
viele Verbesserungen entstanden. Es ist sicherlich<br />
schwierig <strong>in</strong> dieser Kürze den Strafvollzug<br />
zweier Länder zu vergleichen, doch bereits als<br />
vor ziemlich genau fünf Jahren Mart<strong>in</strong> Faber <strong>für</strong><br />
drei Monate <strong>in</strong> Schottland arbeitete, fanden sich<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em abschließenden Bericht die augenfällig<br />
anderen Details wieder, die auch uns bei<br />
dieser Reise bee<strong>in</strong>druckten:<br />
• E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> den künftigen Alltag <strong>in</strong><br />
Unfreiheit durch Film, mehrsprachig per<br />
Dauerübertragung direkt h<strong>in</strong> zum Zellenfernseher<br />
oder durch Tagesgruppenveranstaltung,<br />
bei der auch die Seelsorger/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e Chance<br />
haben sich an Gefangene zu wenden.<br />
• Auf den Zellengängen hängen Kartentelefone,<br />
freilich mit dem Wissen um die Aufzeichnung<br />
der Gespräche.<br />
• Täglich s<strong>in</strong>d Besuche möglich, am Wochenende<br />
Samstag oder Sonntag.<br />
• Post wird nicht auf Schrift sondern nur auf<br />
„Beipack“ kontrolliert, bei der Ausgabe nur<br />
<strong>in</strong> Gegenwart des Gefangenen.<br />
• Essen f<strong>in</strong>det geme<strong>in</strong>sam statt, Aufschluss ist<br />
den ganzen Tag über.<br />
• Es gibt das Listener-System, <strong>in</strong> dem Gefangene<br />
<strong>für</strong> Gefangene als speziell e<strong>in</strong>gewiesene<br />
und ausgewiesene Zuhörer arbeiten.<br />
• Bedienstete tragen Headset-Sprechfunk, mit<br />
Hilfe dessen e<strong>in</strong> <strong>für</strong> andere nicht hörbarer guter<br />
Kommunikationsweg besteht zum effektiveren<br />
Holen und Br<strong>in</strong>gen bzw. Mitnehmen<br />
von Gefangenen.<br />
Wer war nun unterwegs aus der Bundeskonferenz:<br />
Frank Baumeister (Nürnberg), Klaudia<br />
Gierke-He<strong>in</strong>rich (Limburg), Hanna Hirt (Hamburg),<br />
Christoph Nell-Wolters (Kleve), Peter<br />
Stetzelberger (Mannheim/Heidelberg), Richard<br />
Strodel (München), Rolf Watermann (Berl<strong>in</strong><br />
Moabit, Charlottenburg) und Mart<strong>in</strong> Faber<br />
(Weiterstadt).<br />
Bill Taylor Frank Baumeister<br />
Die Berichte zur gesamten Reise liegen vor und<br />
s<strong>in</strong>d im Intranet unter U-Haft abrufbar.<br />
An dieser Stelle mag der gekürzte Bericht von<br />
Hanna Hirt, die nunmehr Hamburg verlässt,<br />
dienen. Er br<strong>in</strong>gt exemplarisch e<strong>in</strong>iges, was<br />
auch <strong>in</strong> den anderen zu f<strong>in</strong>den ist. Für Menschen,<br />
die detaillierteres Interesse haben, seien<br />
aber auch alle anderen wärmstens empfohlen.<br />
Auch zur Arbeitsweise des e<strong>in</strong>zigen schottischen<br />
Privatgefängnisses <strong>in</strong> Kilmarnock.<br />
Ed<strong>in</strong>burgh – „Her Majestys Prison“ (HMP)<br />
Das Gefängnis ist 1925 <strong>in</strong> Betrieb genommen<br />
worden, hat kürzlich e<strong>in</strong>e modern gestaltete,<br />
lichte E<strong>in</strong>gangshalle erhalten: Durch die großen,<br />
sehr hochgezogenen, schrägen Glasfenster kann<br />
das Licht e<strong>in</strong>strömen. Wenn man dem Besuchsschalter<br />
den Rücken zudreht, schaut man <strong>in</strong> den<br />
weiten Himmel… Alles wirkt sauber. Das Personal<br />
empfängt nicht nur unsere Besuchergruppe<br />
freundlich.<br />
25
E<strong>in</strong> großes, gut ausgestattetes Besuchszentrum<br />
ist angegliedert.<br />
Es gibt ausreichend Parkplätze und e<strong>in</strong>e Kant<strong>in</strong>e<br />
<strong>für</strong> das Personal mit Sofabereich und TV, <strong>in</strong><br />
dem man mal abschalten kann. Die Kant<strong>in</strong>e bef<strong>in</strong>det<br />
sich außerhalb des Sicherheitsbereiches.<br />
HMP Barl<strong>in</strong>nie Hall<br />
In dem Knast s<strong>in</strong>d ca. 700 männliche Inhaftierte<br />
untergebracht, davon zur Zeit 187 Haftplätze<br />
<strong>für</strong> „remander“/U-Häftl<strong>in</strong>ge; die übrigen<br />
s<strong>in</strong>d „convicted“/Strafhäftl<strong>in</strong>ge. Nach Möglichkeit<br />
sollen Straf- und U-Haft getrennt untergebracht<br />
werden, ebenso Personen zwischen 16-21<br />
Jahren und „Gefährdete“. Das alles ist aber wegen<br />
der Überbelegung nur sehr bed<strong>in</strong>gt möglich.<br />
Im Gespräch mit der aufsichtführenden<br />
Beamt<strong>in</strong> wird die Arbeit auf den Stationen beschrieben:<br />
Die jungen Leute s<strong>in</strong>d laut, aggressiv,<br />
unbeherrscht und haben es nicht gelernt,<br />
sich sozial zu verhalten. Remander, convicted,<br />
segregates, longlifes, Jugendliche: Sie alle s<strong>in</strong>d<br />
auf e<strong>in</strong>en Blick zu unterscheiden an der Farbe<br />
ihres Shirts (orange, mauve, grau, grün…).<br />
26<br />
Strafhaft und U-Haft s<strong>in</strong>d gemixt vom ersten<br />
Tag an, der Aufschluss ist bis zu 15 - 17 Stunden<br />
täglich, das Telefonieren ist vom 1. Tag an<br />
möglich, allerd<strong>in</strong>gs werden Telefonate bis zu 90<br />
Tagen gespeichert. Bei Revisionen ist der Inhaftierte<br />
zugegen und weiß, wer se<strong>in</strong>e Sachen<br />
durchsucht hat. Selbstverständlich dürfen Briefe<br />
vom Personal nicht gelesen werden (Frucht e<strong>in</strong>er<br />
Intervention der Menschrechtskommission).<br />
Die Persönlichkeitsrechte s<strong>in</strong>d besser geschützt<br />
als <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Die grundlegenden sozialen Probleme der<br />
Häftl<strong>in</strong>ge werden im „l<strong>in</strong>k-center“ aufgenommen<br />
und zügig per Beratung bearbeitet,<br />
nachdem zuvor auf der Station über Fragebögen<br />
Selbstauskünfte zur Wohnsituation, dem Drogenkonsum,<br />
etc. e<strong>in</strong>geholt werden. Wie überall<br />
<strong>in</strong> den schottischen Haftanstalten wird die Beratung<br />
von externen Kräften geleistet - gern auch<br />
<strong>in</strong> Zusammenarbeit mit dem chapla<strong>in</strong>cy team.<br />
Die Inanspruchnahme des beraterischen Angebotes<br />
ist selbstverständlich freiwillig und f<strong>in</strong>det<br />
regen Zuspruch.<br />
Ed<strong>in</strong>burgh House – „Her Majestys Prison“<br />
Uns wird e<strong>in</strong>e Besonderheit des schottischen<br />
Rechtssystems erläutert: <strong>in</strong>nerhalb von 80 Tagen<br />
muss die Anklageschrift zugestellt werden<br />
(spätestens am 80. Tag mittags um 12 Uhr!)<br />
und nach 150 Tagen U-Haft muss das Verfahren<br />
eröffnet se<strong>in</strong>.<br />
The hub = die Nabe: Dreh- und Angelpunkt<br />
des Knastes ist „the hub“. Zu diesem Angebotsensemble<br />
gehört die mediz<strong>in</strong>ische Abteilung,<br />
die Sprechzimmer <strong>für</strong> Berater und Anwälte, das
„l<strong>in</strong>k-center“ und der „prison chapla<strong>in</strong> service-<br />
Bereich“.<br />
Die Zusammenarbeit von externen BeraterInnen,<br />
den chapla<strong>in</strong>s und bisweilen auch der Organisation<br />
„H O P E“ (e<strong>in</strong> nicht religiös orientiertes<br />
Freiwilligen-Helfersystem) f<strong>in</strong>det statt.<br />
Die Mitarbeit der chapla<strong>in</strong>s wird ausdrücklich<br />
vom schottischen Strafvollzug gefördert, angefragt<br />
und wertgeschätzt. Auch das Personal<br />
br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e Anerkennung zum Ausdruck.<br />
Die Sprechzimmer <strong>für</strong> die AnwältInnen und<br />
die externen BeraterInnen im l<strong>in</strong>k center s<strong>in</strong>d<br />
vollverglast und komplett e<strong>in</strong>sehbar.<br />
Das religiöse Zentrum liegt separat, nicht e<strong>in</strong>sehbar<br />
und ist ausgestattet mit e<strong>in</strong>er bequemen<br />
Sitzecke, großem e<strong>in</strong>deutig geprägtem Andachtsraum<br />
mit gepolsterten Stühlen, Büro und<br />
PC, Toilette, Gruppenraum und Pantry. Es gibt<br />
ke<strong>in</strong>e Kameraüberwachung dort.<br />
Die Organisation des multi faith teams verantwortet<br />
zur Zeit der Anglikaner Coll<strong>in</strong> Reid.<br />
Zum Team <strong>in</strong> Ed<strong>in</strong>burgh gehören der SPS-<br />
Supervisor Bill Taylor von der Church of<br />
Scottland, (der <strong>für</strong> die gesamte Arbeit <strong>in</strong> den<br />
schottischen Gefängnissen gegenüber dem<br />
Strafvollzug verantwortlich ist), e<strong>in</strong> katholischer<br />
Priester und Mitarbeiter der Heilsarmee. Der<br />
Koord<strong>in</strong>ator C. Reid koord<strong>in</strong>iert <strong>für</strong> den Knast<br />
das Angebot <strong>für</strong> Buddhisten, Moslems, H<strong>in</strong>dus…<br />
Alle neu Inhaftierten werden den Geistlichen<br />
gemeldet; über e<strong>in</strong>en Besuch wird abgeklärt, ob<br />
sie Begleitung wünschen. Kontakte zu speziellen<br />
Denom<strong>in</strong>ationen werden ggf. hergestellt.<br />
Jeder Inhaftierte erhält auf Wunsch e<strong>in</strong>en Flyer<br />
mit den Informationen.<br />
Neben den Gottesdiensten gehören <strong>Glaube</strong>nskurse<br />
(„christianity explore“) und e<strong>in</strong> Gruppenangebot<br />
<strong>für</strong> Menschen mit Sexualdelikten zum<br />
derzeitigen Programm.<br />
Es wird erwähnt, dass manche Gefangene sich<br />
nicht gern mit Geistlichen sehen lassen und eher<br />
versteckt um Gespräch, Kontakt und Beistand<br />
bitten. Wer Kontakt zum Geistlichen aufnimmt,<br />
könnte als schwächlich angesehen werden. Die<br />
Inhaftierten lassen sich auf den Stationen <strong>in</strong><br />
Bücher e<strong>in</strong>tragen und bitten um Besuche.<br />
Ausstattungsbesonderheit: Grundsätzlich<br />
verfügt jede Zelle im schottischen Strafvollzug<br />
über e<strong>in</strong> fest montiertes TV-Gerät; Inhaftierte<br />
mit E<strong>in</strong>kommen oder Bargeld s<strong>in</strong>d gesetzlich<br />
verpflichtet, sich mit 60 Cent pro Woche an<br />
den Kosten zu beteiligen.<br />
Die Verschleuderung von Arbeitskraft über das<br />
Here<strong>in</strong>- und H<strong>in</strong>ausbr<strong>in</strong>gen von Fernsehgeräten<br />
ist beendet; Reparaturen, etc. alles bleibt kontrolliert<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand. Nachrichten können aufgespielt<br />
werden. U-Häftl<strong>in</strong>ge bleiben über die<br />
Vorgänge <strong>in</strong> der Welt <strong>in</strong>formiert.<br />
Cornton Vale – Prayer June 2010<br />
Frauenhaftanstalt Cornton Vale<br />
Heavenly Father,<br />
In these times of holidays we ask that all staff<br />
will f<strong>in</strong>d times of rest, relaxation, refreshment,<br />
renewal and recreation: give rest to tired m<strong>in</strong>ds<br />
and bodies, and to weary spirits; give relaxation<br />
from care, responsibility, tension, pressure or<br />
worry; give refreshment to energy, enthusiasm,<br />
good humour, <strong>in</strong>itiative and imag<strong>in</strong>ation, and<br />
positive th<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g; give renewal to sensitivity,<br />
patience, hope, and the will<strong>in</strong>gness to listen<br />
carefully; recreate our vision of our service for<br />
effective teamwork, personal commitment, the<br />
welfare of co-workers and prisoners, the good<br />
of our community; and, so give us the satisfaction<br />
that only comes from faithfulness.<br />
27
We pray for families both of staff and of prisoners.<br />
We thank you for the gift of family and for<br />
the tests of family life.<br />
We thank you that family l<strong>in</strong>ks us <strong>in</strong> our humanity<br />
as a common factor we share; that beh<strong>in</strong>d<br />
our official role and public identities, we have<br />
personal roles and identities. We thank you for<br />
the joys, contentments and celebrations of family<br />
life – birthdays, anniversaries, wedd<strong>in</strong>gs,<br />
gather<strong>in</strong>gs and parties.<br />
We thank you also for the tests of family life,<br />
the times of illness, sorrow, worry, part<strong>in</strong>g, see<strong>in</strong>g<br />
change and new stages of life. We ask you<br />
to lead us and strengthen us through these times<br />
as we learn about ourselves, discover unknown<br />
resources, and f<strong>in</strong>d wisdom, maturity and acceptance.<br />
Help us <strong>in</strong> all these to be free of bitterness, despair,<br />
and from just giv<strong>in</strong>g up, but help us to<br />
grow <strong>in</strong> grace, to f<strong>in</strong>d the rich mean<strong>in</strong>g of love,<br />
and the richest mean<strong>in</strong>g of your love.<br />
We pray for those we know whose families or<br />
whose family lives are difficult or stressful. We<br />
ask for no quick fix nor an <strong>in</strong>stant cure but for<br />
those qualities of character that help them to<br />
endure and to work through together. Let us be<br />
wise to wait, ready to help, always to understand<br />
and faithful to pray.<br />
We pray for the medical, psychological, support<br />
and rehabilitation services <strong>in</strong> our prison that<br />
they overcome any disappo<strong>in</strong>tment <strong>in</strong> their<br />
work, be delivered from rout<strong>in</strong>e, and th<strong>in</strong>k always<br />
of the value of their work and the human<br />
value of those they m<strong>in</strong>ister to.<br />
We pray for prison chapla<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Germany,<br />
thankful for what we have shared with and<br />
learned from them, remember<strong>in</strong>g the many<br />
challenges opportunities, and privileges we<br />
have <strong>in</strong> common, and ask that our ties of fellowship<br />
and friendship may cont<strong>in</strong>ue and<br />
grow.<br />
We pray for our fellow chapla<strong>in</strong> Col<strong>in</strong> Shreenan<br />
and his wife Laura as they m<strong>in</strong>ister <strong>in</strong> Zimbabwe<br />
br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g help to the vulnerable and<br />
weak, the young and the elderly, the sick and<br />
the hungry; visit<strong>in</strong>g prisons, schools, hospitals,<br />
and care homes, br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g your presence and<br />
your word. May they be joyful <strong>in</strong> their service,<br />
28<br />
faithful <strong>in</strong> their witness, provided for their needs<br />
and m<strong>in</strong>istry, and safe <strong>in</strong> all their journeys and<br />
<strong>in</strong> their return.<br />
Lord, you have made us to be Citizens of<br />
Heaven and of Earth: make us good citizens of<br />
our country and community, work<strong>in</strong>g for our<br />
common good, liv<strong>in</strong>g peaceably and lawfully<br />
together, and prepare us for life with you and all<br />
the sa<strong>in</strong>ts, and let that eternal life beg<strong>in</strong> now <strong>in</strong><br />
worship, service, faith, hope, and love, through<br />
Jesus Christ our Lord.<br />
AK Restorative Justice<br />
Friedrich Schwenger<br />
Auf der BUKO <strong>in</strong> Hofgeismar 2008 wurde der<br />
AK „Restorative Justice“ (AKRJ) <strong>in</strong>s Leben<br />
gerufen. Aufgabe des AKRJ war <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />
die Ausarbeitung e<strong>in</strong>es Projektes, um im S<strong>in</strong>n<br />
des Zieles von „Restorative Justice“ etwas zur<br />
Versöhnung von Opfer-Täter beizutragen. Dieses<br />
<strong>in</strong>zwischen vorliegende Projektkonzept verstehen<br />
wir als Bauste<strong>in</strong>, um Empathie des Täters<br />
mit dem Opfer zu fördern und bieten dieses<br />
ausgearbeitete Projekt allen KollegInnen <strong>für</strong> die<br />
eigene Praxis an (Kontakt: Friedrich Schwenger,<br />
f.schwenger@t-onl<strong>in</strong>e.de ).<br />
Unter dem Titel „auf Dich kommt es an – wiederherstellende<br />
Gerechtigkeit – Versöhnung<br />
mit sich selbst, mit den anderen, mit der Gesellschaft“<br />
bietet der Kurs e<strong>in</strong>e Gelegenheit, über<br />
Beziehungsgestaltung, Gefühle und Bedürfnisse<br />
nachzudenken und dabei Neues <strong>für</strong> sich zu entdecken<br />
– e<strong>in</strong>e ernste Ause<strong>in</strong>andersetzung mit<br />
sich, se<strong>in</strong>er Persönlichkeit und se<strong>in</strong>em sozialen<br />
Verhalten. Täter-Opfer? – Opfer-Täter? Wer<br />
braucht Was? – Wer fühlt wen? – Was braucht<br />
die Gesellschaft? – Ich aber kann mehr! – Ich<br />
kann verstehen! – Ich kann mitfühlen! – Ich<br />
kann mich ändern!<br />
Der Kurs umfasst ca. 14 E<strong>in</strong>heiten, die jeweils<br />
auf zwei Stunden angelegt s<strong>in</strong>d. Die ersten Pro-
eläufe <strong>in</strong> der JVA-Meppen und im MRV-<br />
Mor<strong>in</strong>gen haben deutlich gemacht, dass sich<br />
dieses Projekt lohnt.<br />
Bei unserem letzten AK-Treffen haben wir<br />
überlegt, ob und wie es weitergehen kann mit<br />
der Arbeit im AK. E<strong>in</strong> möglicher weiterer<br />
Schritt könnte die Planung und Durchführung<br />
e<strong>in</strong>es Symposium-Tages zum Thema<br />
„Restorative Justice“ se<strong>in</strong>, zu dem u.a. Vertreter<br />
der Justiz, des Justizvollzugs, der Straffälligen-<br />
und Bewährungshilfe e<strong>in</strong>geladen werden sollen.<br />
E<strong>in</strong> solcher Tag könnte wichtig se<strong>in</strong>, um Verantwortlichen<br />
der Justiz, des Justizvollzugs und<br />
der Straffälligen- und Bewährungshilfe Brücken<br />
zu dem neuen Paradigma des „Restorative Justice“<br />
zu bauen.<br />
In Niedersachsen haben wir den Versuch unternommen,<br />
e<strong>in</strong>en AK „Restorative Justice“ zu<br />
gründen. Dieser erste Versuch ist nicht gelungen.<br />
Grund da<strong>für</strong> war m.E. vor allem, dass die<br />
Grundgedanken und Anliegen des „Restorative<br />
Justice“ zu wenig bekannt s<strong>in</strong>d und erstmal<br />
nicht <strong>in</strong> das uns gewohnte Paradigma des Vergeltens<br />
und der Strafe passen.<br />
Auf der anderen Seite ist es aber so, dass es <strong>in</strong><br />
Europa e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Projekten und<br />
Programme des „Restorative Justice“ gibt und<br />
es von daher S<strong>in</strong>n macht, dass auch wir <strong>in</strong> der<br />
BRD uns damit beschäftigen.<br />
Auf der IPCA-Worldwide Conference vom<br />
20.-25. August 2010 <strong>in</strong> Stockholm wurde<br />
berichtet, das es „Restorative Justice“ -<br />
Modelle bzw. „Restorative Justice“ -<br />
Projekte <strong>in</strong> den baltischen Ländern, <strong>in</strong><br />
Ungarn und <strong>in</strong> Armenien (mit norwegischer<br />
Unterstützung; u.a. Nils Christi), <strong>in</strong><br />
Österreich und <strong>in</strong> Belgien gibt. Dazu<br />
kommen e<strong>in</strong> paar isolierte E<strong>in</strong>zelprojekte <strong>in</strong><br />
Südeuropa, die allerd<strong>in</strong>gs nicht näher<br />
bezeichnet wurden.<br />
Vor allem <strong>in</strong> Norwegen bemüht man sich, Täter-Opfer-Mediationen<br />
anstatt von Gefängnisstrafen<br />
zu <strong>in</strong>itiieren.<br />
Vieles lässt sich auf der Homepage<br />
http://www.euforumrj.org/ nachlesen und erfahren.<br />
Aus unserer Arbeit im AK und aus dem, was<br />
wir <strong>in</strong> Niedersachsen erlebt bzw. was <strong>in</strong> Stockholm<br />
berichtet wurde, ergeben sich Fragen <strong>für</strong><br />
die Weiterarbeit im AK:<br />
• Wie ist der Begriff „community“ zu verstehen<br />
und zu übertragen?<br />
E<strong>in</strong> Kerngedanke im „Restorative Justice“ ist:<br />
Verbrechen ist e<strong>in</strong>e Wunde der Geme<strong>in</strong>schaft!<br />
Verbrechen braucht Heilung der Täter,<br />
der Opfer und des Geme<strong>in</strong>wesens (community)!<br />
E<strong>in</strong>e Idee aus der IPCA-AG <strong>in</strong> Stockholm<br />
war, unter „community“ die Familien der Täter/Opfer,<br />
das soziale Umfeld, die geschädigte<br />
oder <strong>in</strong> Mitleidenschaft gezogene Firma,<br />
die Freunde etc. zu verstehen.<br />
• Es gibt Delikte ohne personalisierte Opfer<br />
(z.B. bei Drogendelikten) – wer ist dann Opfer?<br />
• Es gibt Opfer sexueller Gewalt, die dem Täter<br />
<strong>in</strong> die Augen schauen wollen, was aber<br />
durch Justiz oder Therapeuten verh<strong>in</strong>dert<br />
wird. Hier braucht es neue Initiativen und e<strong>in</strong>e<br />
gute und lange Vorbereitung. Der Täter-<br />
Opfer-Ausgleich <strong>in</strong> der BRD hat wenig Erfahrung<br />
im Zusammenhang von schweren<br />
Gewalttaten. In Niedersachsen haben wir mit<br />
Teilnehmern des „Restorative Justice“ – AK<br />
Nds. vere<strong>in</strong>bart, e<strong>in</strong> und zwei Praxismodelle<br />
zu versuchen.<br />
• Interessant wäre es, e<strong>in</strong>en RJ-Prozess <strong>für</strong> den<br />
Bereich der „Sicherungsverwahrung“ zu<br />
entwickeln (das würde auch dem „to heal the<br />
community“ gut entsprechen).<br />
• Als Praxiselement ist „to shame“ oder als<br />
Programm „re<strong>in</strong>tegrative sham<strong>in</strong>g“ zentral<br />
<strong>für</strong> “Restorative Justice”-Prozesse. Geprägt<br />
wurde dieses Konzept von J. Braithwaite<br />
(weltweit bekannter australischer Krim<strong>in</strong>ologe<br />
und Soziologe; geb. 1951 <strong>in</strong> Ipswich).<br />
Braithwaite verknüpft verschiedene traditionelle<br />
soziologische Erklärungsansätze (wie<br />
Subkulturtheorie, B<strong>in</strong>dungstheorie u.a.) mit<br />
dem „Label<strong>in</strong>g Approach“ (bedeutet zunächst<br />
Reaktionsansatz, Etikettierungsansatz<br />
beziehungsweise Def<strong>in</strong>itionsansatz). Er stellt<br />
e<strong>in</strong>en neueren Ansatz der Soziologie abweichenden<br />
Verhaltens dar, der das Phänomen<br />
Krim<strong>in</strong>alität vor allem von den Reaktionen<br />
29
30<br />
und Sanktionen der Gesellschaft her beschreibt.<br />
Devianz ist demnach ke<strong>in</strong>e im Handeln<br />
des betrachteten Täters auff<strong>in</strong>dbare Qualität.<br />
Sie ist vielmehr e<strong>in</strong>e Konsequenz der<br />
Anwendung von Regeln und Sanktionen auf<br />
den Täter. Dieser Täter wird damit etikettiert,<br />
also "gelabelt". Der zentrale Begriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Theorie ist das „sham<strong>in</strong>g“ (Beschämung).<br />
Dadurch wird im Individuum e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne<br />
Kontrolle erzeugt, die ihm die Richtung <strong>für</strong><br />
sozial akzeptiertes Verhalten vorgibt. Beschämung<br />
dient dazu, Empathie, tiefe<br />
Schulde<strong>in</strong>sicht, echte Reue und ehrliche<br />
Wiedergutmachung erst möglich zu machen<br />
– soll also re-<strong>in</strong>tegrativ wirken. Ziel des<br />
„re<strong>in</strong>tegrative sham<strong>in</strong>g“ ist, dass der Täter<br />
Fehler erkennt, gesellschaftlichen und moralischen<br />
Normen vertraut, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Kontrolle<br />
erzeugt und die soziale Missbilligung<br />
se<strong>in</strong>er Tat akzeptiert und empathische Reue<br />
zeigt.<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle und gute Verb<strong>in</strong>dung<br />
des „resham<strong>in</strong>g“ und Seelsorge? Wie könnte<br />
e<strong>in</strong>e Praxis des „resham<strong>in</strong>g“ aussehen?<br />
Im AKRJ gibt es Lust und Bereitschaft, diese<br />
Fragen weiter zu bearbeiten und andere Projekte<br />
zu planen.<br />
„Forgotten People“ - Bericht von<br />
der sechsten IPCA Worldwide<br />
<strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong> Stockholm vom 20.<br />
bis 25. August 2010<br />
Felix Walter<br />
„E<strong>in</strong> weltweites Netzwerk von <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong>nen<br />
und Seelsorgern knüpfen, stärken<br />
und ausrüsten, <strong>für</strong> all diejenigen, die Gottes<br />
Liebe weitergeben und sich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e heilende<br />
Gerechtigkeit (restorative justice) e<strong>in</strong>setzen“ so<br />
lautet die Mission oder der Auftrag von IPCA -<br />
International Prison Chapla<strong>in</strong>s Association.<br />
1985 wurde IPCA als „movement“/ als Bewegung<br />
auf dem Gelände des Ökumenischen Rates<br />
der Kirchen im Schweizer Bossey gegründet.<br />
Seitdem treffen sich alle fünf Jahre die „prisonchapla<strong>in</strong>s“<br />
dieser Welt bei e<strong>in</strong>er von IPCA organisierten<br />
und durchgeführten <strong>Konferenz</strong>.<br />
Dieses Jahr fand die <strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong> Schweden<br />
statt, und ich fuhr als e<strong>in</strong>er der sechs Delegierten<br />
<strong>für</strong> Deutschland h<strong>in</strong>. Relativ kurzfristig nom<strong>in</strong>iert,<br />
war es <strong>für</strong> mich die erste IPCA-<br />
<strong>Konferenz</strong>. So wusste ich nicht, was mich erwarten<br />
würde. Wie ist das, wenn die christlichen<br />
Geistlichen aus aller Herren Länder auf e<strong>in</strong>ander<br />
treffen?<br />
Erwartungsgemäß war es e<strong>in</strong> bunter Haufen,<br />
nicht nur die Afrikaner mit ihren bunten Kleidern<br />
und Hüten, auch die osteuropäischen Talare<br />
und Trachten und die vielfarbigen skand<strong>in</strong>a-
vischen Kollarhemden (hier fiel mir die große<br />
Zahl der Pfarrer<strong>in</strong>nen auf!) sorgten <strong>für</strong> Farbe.<br />
Genauso schillernd wie die Farben, waren die<br />
Menschen<br />
„Where do you come from?“ wurde immer wie-<br />
der und wieder und wieder gefragt, wenn man<br />
bei Tisch zusammen saß, sich im Gang traf, im<br />
<strong>Konferenz</strong>raum nebene<strong>in</strong>ander saß. Und meistens<br />
war diese Frage wie e<strong>in</strong> Schlüssel, der e<strong>in</strong>em<br />
die Tür zu e<strong>in</strong>er ganz neuen Welt auftat.<br />
Denn 320 Delegierte aus 70 Ländern waren gekommen.<br />
Und wenn sie von ihrer Heimat und<br />
„ihren“ Gefängnissen berichteten, dann war<br />
Vieles ganz ganz anders und Vieles war auch<br />
erschreckend gleich. Ich kann hier nur e<strong>in</strong> paar<br />
persönliche Begegnungen schildern.<br />
- Etwa e<strong>in</strong> Gespräch mit e<strong>in</strong>er Geistlichen aus<br />
Sierra Leona, wo Seelsorge schlicht und e<strong>in</strong>fach<br />
bedeutet, zu verh<strong>in</strong>dern, dass Menschen ohne<br />
familiäre Unterstützung im Gefängnis verhungern<br />
oder an Krankheiten sterben.<br />
- E<strong>in</strong> Kollege aus Irland hat mir von se<strong>in</strong>er Zerrissenheit<br />
im Umgang mit IRA Gefangenen<br />
erzählt, die wieder drohen sich tot zu hungern.<br />
Und jetzt, wo das Fe<strong>in</strong>dbild der harten Margaret<br />
Thatcher fehlt, ist der Umgang mit diesen Menschen,<br />
ihrem fanatischen Hass und ihrer wüten-<br />
den Todessehnsucht fast noch schwerer geworden.<br />
- Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong> Gespräche mit e<strong>in</strong>em<br />
amerikanischen Chapla<strong>in</strong>, der war total witzig<br />
und konnte wunderbare Anekdoten mit Gefangenen<br />
zum Besten geben. Aber dann war er auf<br />
e<strong>in</strong>mal sehr ernst und erzählte von se<strong>in</strong>em Land,<br />
das Menschen so zügellos e<strong>in</strong>sperrt wie ke<strong>in</strong><br />
anderes, das angeblich so fromm und doch so<br />
gnadenlos ist.<br />
- Der Kollege aus Pakistan zeigte Bilder von der<br />
Flut, die er selber vor e<strong>in</strong> paar Tagen gemacht<br />
hatte. Auf e<strong>in</strong>mal war die Flut ke<strong>in</strong>e unpersönliche<br />
Katastrophe aus dem Heute-Journal mehr,<br />
sondern hatte Gesichter. Klar warb er auch um<br />
f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung. Um mich und me<strong>in</strong>e<br />
Geme<strong>in</strong>de zu motivieren, sagte er, er helfe auch<br />
Moslems - so e<strong>in</strong>e Notlage wäre e<strong>in</strong>e gute Gelegenheit<br />
zur Mission. Me<strong>in</strong> Befremden darüber<br />
verstand er nicht.<br />
„Forgotten People“ war das Thema der <strong>Konferenz</strong>.<br />
Im Grunde g<strong>in</strong>g es um Menschenrechte.<br />
Und mit e<strong>in</strong>em Tiefschlag <strong>in</strong> Sachen Menschenrechte<br />
nahm die <strong>Konferenz</strong> ihren Anfang. 320<br />
Delegierte aus 70 Ländern, das kl<strong>in</strong>gt nach viel,<br />
allerd<strong>in</strong>gs waren weitaus mehr angemeldet.<br />
31
Doch die Schwedische Regierung hatte über<br />
100 Teilnehmern - zumeist aus Afrika - das E<strong>in</strong>reisevisa<br />
verweigert. Zu groß war angeblich die<br />
Sorge, sie würden nicht mehr nach Hause wollen.<br />
Sogar e<strong>in</strong>er der beiden IPCA Repräsentanten<br />
<strong>für</strong> Afrika - Jean Didier Mboyo aus dem<br />
Kongo - durfte nicht kommen. Die „Festung<br />
Europa“ mit dem Schengener-Abkommen als<br />
Festungswall war auf e<strong>in</strong>mal nicht nur e<strong>in</strong> politischer<br />
Begriff, sondern Tatsache. Pfarrer<br />
Leißer, Referent <strong>für</strong> Menschenrechte und Migration<br />
bei der EKD, bestätigte diese Entwicklung<br />
beim letzten Treffen des IPCA Arbeitskreises.<br />
Deutschland wäre bei der Visa-Vergabe<br />
voraussichtlich ebenso restriktiv gewesen wie<br />
Schweden.<br />
Sister Hedwig, Kamerun Mart<strong>in</strong> Faber, D<br />
Die Vorträge der <strong>Konferenz</strong> werden im Laufe<br />
des Oktobers auf der IPCA website<br />
(www.ipcaworldwide.org) ersche<strong>in</strong>en, manche<br />
vielleicht sogar <strong>in</strong> deutscher Übersetzung im<br />
nächsten Reader <strong>Gefängnisseelsorge</strong>. Deshalb<br />
hier e<strong>in</strong> paar persönliche E<strong>in</strong>drücke, um das<br />
Interesse zum Weiterlesen zu wecken:<br />
Den höchsten Bekanntheitsgrad unter den Referenten<br />
hatte sicherlich die englische Baronesse<br />
Vivian Stern, die sich als Mitglied des engli-<br />
32<br />
schen Parlamentes sowie durch zahlreiche Publikationen<br />
schon seit Jahren <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en menschenwürdigen<br />
und gerechten Strafvollzug e<strong>in</strong>setzt.<br />
In aller Welt bilden - so Vivian Stern - bestimmte<br />
Bevölkerungsgruppen e<strong>in</strong>en überproportionalen<br />
Anteil an den Gefangenen: Arme, (psychisch)<br />
Kranke, Arbeitslose oder Angehörige<br />
e<strong>in</strong>er bestimmten M<strong>in</strong>orität. Ihre zentrale These<br />
ist, dass wir uns weltweit im Strafvollzug nur zu<br />
e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil mit wirklich Krim<strong>in</strong>ellen<br />
beschäftigen. Zumeist ist der Strafvollzug e<strong>in</strong>e<br />
grausame, unprofessionelle und ungerechte<br />
Weise, wie Gesellschaften mit wenig oder gar<br />
nicht <strong>in</strong>tegrierten Bevölkerungsgruppen umgehen.<br />
Missl<strong>in</strong>gt Integration, steigt der Anteil der<br />
Inhaftierten an der Gesamtbevölkerung.<br />
Schlusslicht s<strong>in</strong>d hier die USA, Russland und<br />
Ch<strong>in</strong>a. Deutschland steht mit 0,9 Promille noch<br />
relativ gut da, die Gesamtanalyse trifft aber<br />
auch bei uns <strong>in</strong>s Schwarze.<br />
Andrew Coyle - Professor am K<strong>in</strong>g´s College<br />
der Londoner Universität und ehemaliger Gefängnisleiter<br />
- stellte sich der Frage, ob Gefängnis<br />
und Menschenwürde vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d. Es gibt<br />
immer wieder Äußerungen, dass Gefangene mit<br />
ihrer Verurteilung alle bürgerlichen Rechte<br />
verwirkt hätten. E<strong>in</strong>er Entscheidung des Obersten<br />
Gerichtshofes von England folgend vertritt<br />
er die Auffassung, dass Gefangenen nur diejenigen<br />
Rechte entzogen werden dürfen, die mit<br />
ihrer Haft absolut unvere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d - etwa Bewegungsfreiheit.<br />
Wahlrecht, Me<strong>in</strong>ungsfreiheit<br />
u.ä. dürfen nicht angetastet werden. Coyle me<strong>in</strong>te,<br />
Menschenrechte und Strafvollzug s<strong>in</strong>d nicht<br />
nur vere<strong>in</strong>bar, sie müssen Hand <strong>in</strong> Hand e<strong>in</strong>hergehen.<br />
Botschafter Hans Corell als ehemaliger Untersekretär<br />
<strong>für</strong> Rechtsfragen und Rechtsberatung<br />
(Legal Affairs und Legal Counsel) bei den UN<br />
widersprach der geläufigen Ansicht, man solle<br />
beim Pochen auf E<strong>in</strong>haltung der Menschenrechte<br />
auf die Situation des e<strong>in</strong>zelnen Landes Rücksicht<br />
nehmen (wirtschaftliche Lage, junge Demokratie,<br />
Gefahr von Bürgerkrieg...). Menschenrechte,<br />
wie sie <strong>in</strong> den verschiedenen Char-
tas der UN proklamiert und verabschiedet wurden,<br />
s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> ihn fundamentale Rechte und von<br />
daher ist grundsätzlich und ohne Ausnahme auf<br />
ihrer E<strong>in</strong>haltung zu bestehen.<br />
Dr. Chuleepran Srisoontorn-Persons, Pfarrer<strong>in</strong><br />
und Professor<strong>in</strong> aus Thailand, gab e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick<br />
<strong>in</strong> den Strafvollzug und die „Forgotten<br />
people“ Thailands. Die jungen Mädchen der<br />
sogenannten mounta<strong>in</strong> tribes, e<strong>in</strong>er durch Bildung,<br />
Sprache und Tradition („ich habe mich<br />
<strong>für</strong> das Wohl der Familie zu opfern“) benachteiligten<br />
M<strong>in</strong>orität im thailändischen H<strong>in</strong>terland,<br />
werden von Zuhältern gnadenlos ausgenützt und<br />
missbraucht. Auch <strong>in</strong> Gefängnissen ist ihr Anteil<br />
überproportional hoch. Sie werden von der<br />
Gesellschaft wirklich vergessen, lebendig begraben.<br />
E<strong>in</strong>drücklich bei Prof. Scisoontorn-<br />
Persons Vortrag waren die Bilder aus den Gefängnissen<br />
- Dutzende von Gefangenen zusammengepfercht<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Turnhalle, kaum Platz<br />
um sich h<strong>in</strong>zulegen - oder etwa ihre Beschreibung,<br />
wie junge Frauen im Gefängnis ihre K<strong>in</strong>der<br />
nur e<strong>in</strong>mal im Jahr sehen dürfen. Pfarrer<strong>in</strong><br />
Scisoontorn-Persons begleitet dieses „Ritual“<br />
und erzählte <strong>in</strong> ihrem Vortrag sehr bewegend<br />
davon.<br />
Ergänzend zu den Vorträgen wurden zahlreiche<br />
Workshops angeboten, etwa über K<strong>in</strong>der im<br />
Gefängnis (ja, es gibt Länder, da ist das auch <strong>für</strong><br />
die Altersgruppe weit unter 14 e<strong>in</strong> Thema!),<br />
Todesstrafe und Menschenrechte, die Messbarkeit<br />
des Erfolges von Seelsorge, Alternativen zu<br />
<strong>Ev</strong>a Kirkeby, Schweden Friedrich Schwenger, D<br />
Haftstrafen oder Restorative Justice.<br />
Neben den persönlichen Begegnungen und <strong>in</strong>haltlichen<br />
Veranstaltungen prägten auch Gottesdienste<br />
und religiöse Zeiten die <strong>Konferenz</strong>.<br />
So war rund um die Uhr e<strong>in</strong> „prayer-room“ geöffnet<br />
und jeder Tag wurde mit e<strong>in</strong>er Andacht<br />
begonnen. Der schwedische Musiker und Gefängnispfarrer<br />
Anders Car<strong>in</strong>ger schrieb e<strong>in</strong> Lied<br />
<strong>für</strong> die <strong>Konferenz</strong>, das mit den Worten beg<strong>in</strong>nt:<br />
„Forgotten people, beloved children,<br />
men and women round the world.<br />
We are your voices, we are your bodies,<br />
God is one...“<br />
(Vergessene Menschen, geliebte K<strong>in</strong>der, Männer<br />
und Frauen auf dieser Welt. Wir s<strong>in</strong>d eure<br />
Stimmen, wir s<strong>in</strong>d euer Körper, Gott ist e<strong>in</strong>er...<br />
Das Lied ist auch auf der IPCA website zu f<strong>in</strong>den).<br />
Natürlich gab es auch nicht so ernste und nachdenkliche<br />
Stunden. „Bunter Abend“ ist <strong>in</strong>zwischen<br />
e<strong>in</strong> schrecklich altbackenes Wort. Für die<br />
Veranstaltung der <strong>Konferenz</strong>, als alle <strong>Konferenz</strong>teilnehmer<br />
aufgerufen waren etwa Unterhaltsames<br />
beizusteuern, passt dieser altertümelnde<br />
Begriff jedoch wortwörtlich. Weil ich<br />
niemanden mit trockenen Beschreibungen<br />
langweilen will, nur e<strong>in</strong> Beispiel, das sich jeder<br />
anschauen kann: die amerikanischen Kollegen<br />
beschrieben die Arbeit e<strong>in</strong>es <strong>Gefängnisseelsorge</strong>rs/e<strong>in</strong>er<br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong> humorvoll mit<br />
dem Versuch „Katzen“ statt R<strong>in</strong>dern zu hüten<br />
und zeigten e<strong>in</strong>en Clip dazu, den man auch auf<br />
Youtube unter „cowboys herd<strong>in</strong>g cats“ f<strong>in</strong>det.<br />
Unterhaltsam war auch der mit „open stage“<br />
betitelte Abend, wo die MusikerInnen und SängerInnen<br />
unter den Delegierten den Ton angaben.<br />
Eher was zum Angeben daheim war der<br />
festliche Empfang im Stockholmer Rathaus,<br />
denn dort d<strong>in</strong>nieren, feiern und tanzen auch die<br />
Nobelpreisträger jedes Jahr.<br />
Überhaupt war die gesamte <strong>Konferenz</strong> sehr professionell<br />
und souverän vom schwedischen<br />
Vorbereitungsteam organisiert und durchgeführt<br />
worden. Nach der Wahl der Schwed<strong>in</strong> Brigitta<br />
W<strong>in</strong>berg auf der IPCA Worldwide <strong>Konferenz</strong><br />
33
2005 <strong>in</strong> Südafrika zur Präsident<strong>in</strong> von IPCA hat<br />
die schwedische Kirche IPCA auch f<strong>in</strong>anziell<br />
enorm gesponsert. So war der Tagungsort - das<br />
Clarion Hotel im Zentrum von Stockholm -<br />
wirklich nobel. Manchem Teilnehmer (auch<br />
mir) zu nobel, denn nach e<strong>in</strong>er Weile schlich<br />
man fast mit schlechtem Gewissen zum üppigen<br />
Buffet, nachdem e<strong>in</strong>em immer wieder und wieder<br />
von den menschenunwürdigen Zuständen <strong>in</strong><br />
vielen Gefängnissen und Regionen berichtet<br />
wurde. Nichtsdestotrotz verdienen die scheidende<br />
Präsident<strong>in</strong> Brigitta W<strong>in</strong>berg, die Koord<strong>in</strong>ator<strong>in</strong><br />
Doris Bernhardson und ihr Vorbereitungsteam<br />
aus KollegInnen und Ehrenamtlichen e<strong>in</strong>en<br />
großen Dank.<br />
34<br />
Das neugewählte Steer<strong>in</strong>gcommittee 2010<br />
Wahlen gehören ebenfalls zu so e<strong>in</strong>er <strong>Konferenz</strong>.<br />
Zum neuen Präsidenten wählten die Delegierten<br />
per Akklamation (es gab ke<strong>in</strong>en Gegenkandidaten!)<br />
den Kanadier Dr. Dwight Cuff von<br />
der Heilsarmee. Für die Region Europa wurden<br />
Mart<strong>in</strong> Faber und als Stellvertreter<strong>in</strong> die<br />
Schwed<strong>in</strong> Doris Bernhardson (Pfarrer<strong>in</strong> der<br />
Baptisten) <strong>in</strong> das Steer<strong>in</strong>g Committee - der Lenkungsausschuss,<br />
der IPCA Worldwide die<br />
nächsten fünf Jahre leiten wird - gewählt.<br />
E<strong>in</strong>e der nächsten Aufgaben des neuen Steer<strong>in</strong>g<br />
Committee´s wird sicherlich se<strong>in</strong>, die Bemühungen<br />
zu vollenden, IPCA bei der UN den<br />
Rang e<strong>in</strong>er „Nichtregierungsorganisation“ zu<br />
geben, den sog. NGO Status (Non-<br />
Governmental Organization). Dies würde Informationsfluss<br />
und E<strong>in</strong>flussnahme bei den<br />
Gremien der UN sehr erleichtern. Die <strong>in</strong> der<br />
ICCPPC (International Commission of Catholic<br />
Prison Pastoral Care) zusammengeschlossenen<br />
katholischen <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r haben diesen<br />
Status schon länger - ihre Organisation ist auch<br />
35 Jahre älter.<br />
Der Abschlussgottesdienst mit Segnung des<br />
neugewählten Präsidenten und des Steer<strong>in</strong>g<br />
Committee´s fand <strong>in</strong> der Storkyrkan, der Kathedrale<br />
von Stockholm statt (<strong>für</strong> alle, die nicht<br />
das Goldene Blatt lesen: das ist die Kirche, wo<br />
Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong> Viktoria von Schweden dieses Jahr<br />
ihren Fitnesstra<strong>in</strong>er Daniel Westl<strong>in</strong>g geheiratet<br />
hat, dem dabei e<strong>in</strong>e Träne die Wange herabfloss,<br />
was alle romantischen Herzen weltweit<br />
höher schlagen ließ...). Auch diesen Gottes-
dienst muss man bunt nennen oder zum<strong>in</strong>dest<br />
vielfältig. Der bei der <strong>Konferenz</strong> gegründete<br />
„Chapla<strong>in</strong>s´ Choir“ sang zwar englisch, hatte<br />
jedoch Mitglieder aus allen Herren (und Frauen)<br />
Länder. Die Liturgie reichte von e<strong>in</strong>er fernöstlich<br />
anmutenden Litanei der orthodoxen Geistlichen<br />
bis zum (so sicher nicht geplanten) Zungenreden<br />
e<strong>in</strong>er Teilnehmer<strong>in</strong>.<br />
Mit der Feier des 25. Jubiläums am letzten Tag<br />
klang die <strong>Konferenz</strong> aus. Dabei wurde Rückblick<br />
gehalten. Es war der F<strong>in</strong>ne Pekka Viirre<br />
gewesen, der die Vision e<strong>in</strong>er länderübergreifenden<br />
Organisation von <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r-<br />
Innen hatte. Er erzählte der <strong>Konferenz</strong>, wie er<br />
mit e<strong>in</strong>em Interrail-Ticket quer durch Europa<br />
gereist war und mit verschiedensten Leuten geredet<br />
hatte. Das Ergebnis war jene <strong>Konferenz</strong> <strong>in</strong><br />
Bossey am Genfer See, die zur Gründung von<br />
IPCA führte. Der erste Präsident war Peter<br />
Rassow, an dessen Tod <strong>in</strong> diesem Jahr er<strong>in</strong>nert<br />
wurde. Mart<strong>in</strong> Faber würdigte ihn bei der Jubiläumsfeier<br />
- ihn und se<strong>in</strong>e Arbeit <strong>für</strong> IPCA.<br />
Wer jetzt Lust bekommen hat, über den eigenen<br />
Tellerrand bzw. die eigene Gefängnismauer<br />
h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> die weite Welt zu sehen, der ist zur<br />
Mitarbeit beim IPCA Arbeitskreis herzlich e<strong>in</strong>geladen.<br />
Die nächste <strong>Konferenz</strong> von IPCA<br />
Worldwide wird erst <strong>in</strong> fünf Jahren stattf<strong>in</strong>den<br />
und sicher nicht Europa (Australien ist im Gespräch).<br />
Näherliegend ist die nächste IPCA-<br />
Europe <strong>Konferenz</strong>. Sie wird vom 4. bis 8. Juni<br />
2012 <strong>in</strong> Rumänien stattf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> der Ökumenischen<br />
Akademie von Sambata de Sus.<br />
IPCA VI has now taken place<br />
Offizieller Bericht und Deklaration der IPCA-<br />
Weltkonferenz<br />
www.ipcaworldwide.org 8/27/2010 9:21 PM<br />
Years of work are almost completed -<br />
there are still a few th<strong>in</strong>gs that need to be completed.<br />
320 delegates from 69 countries have<br />
been gathered <strong>in</strong> Stockholm, to learn and to listen,<br />
to share and to network. Old friends have<br />
met aga<strong>in</strong>, and new friendships have been established.<br />
It has been a great conference, though<br />
with a shadow of sorrow that so many of those<br />
who had registered to come, did not get their<br />
visa - denied or too late to be able to participate.<br />
This is <strong>in</strong> spite of many contacts with embassies<br />
around the world. Sweden is part of the Schengen<br />
countries, which seems to have become a<br />
wall to protect the borders of the member countries.<br />
Of course a report from the conference, can't<br />
replace the experience of hav<strong>in</strong>g been there. But<br />
anyhow, <strong>in</strong> October you will f<strong>in</strong>d speeches<br />
from key note speakers and material from workshops<br />
at this website.<br />
One way to use it, is to gather with colleague<br />
chapla<strong>in</strong>s, read and discuss and talk about how<br />
it can be implemented <strong>in</strong> your local, national or<br />
even regional m<strong>in</strong>istry.<br />
DECLARATION OF THE<br />
6th WORLDWIDE CONFERENCE<br />
OF THE INTERNATIONAL PRISON<br />
CHAPLAINS’ ASSOCIATION<br />
August 20-25, 2010<br />
Clarion Hotel, Stockholm<br />
Sweden<br />
The 6TH International Prison Chapla<strong>in</strong>s’ Association<br />
Worldwide Conference held at the Clarion<br />
Hotel <strong>in</strong> Stockholm, Sweden from 20-25<br />
August 2010, attended by 320 participants from<br />
35
69 countries represent<strong>in</strong>g all regions <strong>in</strong> the<br />
world, with the theme ”Forgotten People”<br />
Bear<strong>in</strong>g <strong>in</strong> m<strong>in</strong>d the wonderful biblical stories<br />
that reveale the unconditional love of God and<br />
His Mercy and Compassion and who fulfills His<br />
promises;<br />
Consider<strong>in</strong>g that the 25th year of IPCA is a<br />
time of thanksgiv<strong>in</strong>g and gratefulness for the<br />
bless<strong>in</strong>gs that it receives, it is challenged to proclaim<br />
justice that heals and restoration to the<br />
prisoners, to the victims and to the community.<br />
Recall<strong>in</strong>g the various <strong>in</strong>ternational and national<br />
standards on the treatment of persons deprived<br />
of their liberty and <strong>in</strong> particular the laws that<br />
recognize the right to life, the dignity of the<br />
human person and the laws affect<strong>in</strong>g the youth.<br />
Com<strong>in</strong>g together as one community under the<br />
guidance of the spirit committed to unit<strong>in</strong>g, encourag<strong>in</strong>g<br />
and equipp<strong>in</strong>g a global network of<br />
prison chapla<strong>in</strong>s; and pursu<strong>in</strong>g the creation of a<br />
better environment for those affected by crime,<br />
hav<strong>in</strong>g deepened our solidarity and hav<strong>in</strong>g been<br />
awakened to a more creative way of do<strong>in</strong>g<br />
prison m<strong>in</strong>istry;<br />
Be<strong>in</strong>g deeply concerned with the <strong>in</strong>creas<strong>in</strong>g<br />
urgency of the need to revitalize our prison m<strong>in</strong>istry<br />
programs to respond <strong>in</strong> pro-active ways to<br />
the follow<strong>in</strong>g issues and concerns:<br />
– THE PATHETIC SITUATIONS IN THE<br />
PRISONS IN MANY COUNTRIES<br />
– THE DESPERATE AND RETRIBUTIVE<br />
SYSTEM OF OUR CRIMINAL JUSTICE<br />
SYSTEMS<br />
– THE CONDITION OF THE CHILDREN IN<br />
CONFLICT WITH THE LAW<br />
– THE DEATH PENALTY ISSUE<br />
– THE DEARTH OF PROGRAMS FOR<br />
HEALING AND RESTORATION<br />
Observ<strong>in</strong>g the common issues and concerns<br />
presented dur<strong>in</strong>g the conference, we especially<br />
take note of the follow<strong>in</strong>g violations of the<br />
36<br />
rights of the persons deprived of liberty <strong>in</strong> many<br />
countries:<br />
– CONGESTION, POOR HYGIENE, VEN-<br />
TILATION AND FOOD IN PRISONS<br />
– NON-SEPARATION OF YOUTH OF-<br />
FENDERS FROM ADULT OFFENDERS.<br />
– HARSH DISCIPLINE, PUNISHMENT<br />
AND TORTURE<br />
– PROLIFERATION OF DRUGS AND<br />
OTHER SUBSTANCE ABUSE.<br />
– PROSTITUTION IN PRISONS AND SEX-<br />
UAL ABUSE<br />
– LACK OF ACCESS TO A GOOD DE-<br />
FENSE OF THE CASES<br />
– CORRUPTION IN THE CRIMINAL JUS-<br />
TICE SYSTEM NOT TO MENTION THE<br />
BIASES AND DISCRIMINATION<br />
AGAINST VULNERABLE SECTORS OF<br />
SOCIETY<br />
– LONG SENTENCES AND LIFE SEN-<br />
TENCES<br />
– EXECUTIONS AND THE DEATH PEN-<br />
ALTY<br />
– IMPACT ON THEIR FAMILIES<br />
– INCREASING NUMBER OF FOREIGN<br />
PRISONERS DUE TO DRUG TRAFFICK-<br />
ING AND LARGE SCALE MIGRATION<br />
TRENDS.<br />
Believ<strong>in</strong>g that the problems of the prison situation<br />
are far more serious now than at any other<br />
time <strong>in</strong> the long history of our <strong>in</strong>volvement <strong>in</strong><br />
prison m<strong>in</strong>istry.<br />
Feel<strong>in</strong>g an <strong>in</strong>escapable responsibility to br<strong>in</strong>g to<br />
a higher form of struggle the need for a renewed<br />
solidarity among all those work<strong>in</strong>g towards a<br />
more humane treatment of prisoners and build<strong>in</strong>g<br />
an environment where conversion and reconciliation<br />
can happen.<br />
We, the 320 Prison Chapla<strong>in</strong>s and Prison Workers:<br />
• CALL UPON the government of each country<br />
to give high priority <strong>in</strong> improv<strong>in</strong>g prison<br />
environments and ensure the observance of the
UN Standards, Pr<strong>in</strong>ciples, Covenants and Recommendations<br />
on the Treatment of Prisoners,<br />
the “Forgotten People”;<br />
• CALL UPON all churches and other agencies,<br />
to take effective steps to respond to the<br />
needs of those affected by crime.<br />
• CALL UPON the MEDIA to report accurately<br />
and truthfully news on crim<strong>in</strong>ality and<br />
avoid sensationalism.<br />
• URGE NGOs and Government agencies who<br />
are <strong>in</strong>volved <strong>in</strong> the care of the forgotten people<br />
to constantly meet for network<strong>in</strong>g and strong<br />
collaboration.<br />
• RE-ITERATE our plea to our church leaders<br />
to s<strong>in</strong>cerely address the emerg<strong>in</strong>g concerns<br />
of the forgotten people, especially <strong>in</strong> assign<strong>in</strong>g<br />
m<strong>in</strong>isters as prison chapla<strong>in</strong>s and <strong>in</strong> sett<strong>in</strong>g up<br />
structures that will pull together resources of the<br />
community <strong>in</strong> their service.<br />
• REALIZE THE URGENT NEED to reassess<br />
and re-formulate plans of action and programs<br />
reflected <strong>in</strong> our Declarations.<br />
• REAFFIRM our option for Life and we appeal<br />
to leaders of government with laws on<br />
death penalty for a stay of execution and to<br />
promote the culture of life.<br />
• URGE the leaders of all nations to seriously<br />
consider the question of the death penalty and to<br />
make a s<strong>in</strong>cere effort to abolish it.<br />
• CALL on all sectors that value life and have<br />
a high regard for it, to jo<strong>in</strong> efforts, to <strong>in</strong>crease<br />
public awareness on the evils of the death penalty<br />
and to constantly pressure our governments<br />
to denounce cruel, <strong>in</strong>humane and degrad<strong>in</strong>g<br />
punishment that dim<strong>in</strong>ishes the person.<br />
As we go back and return to our prison mission<br />
areas we br<strong>in</strong>g with us new sources of energy<br />
born out of our own experiences of be<strong>in</strong>g loved<br />
by God.<br />
Equipped with this strength and refreshed by the<br />
<strong>in</strong>teraction with co-workers, we are now more<br />
confident to be witnesses of God’s Unconditional<br />
Love to all, especially the FORGOTTEN<br />
PEOPLE - THE PRISONERS.<br />
Forgotten people – forgotten<br />
colleagues<br />
IPCA democracy – look<strong>in</strong>g for<br />
transparency<br />
Mischi Philippi<br />
Bei allem Wichtigen und Gutem, das uns auf<br />
der 6. IPCA Weltkonferenz geschehen und begegnet<br />
ist, neben der Dankbarkeit, dabei gewesen<br />
se<strong>in</strong> zu dürfen, und dem Dank an das (alte)<br />
Ipca-worldwide Steer<strong>in</strong>g Committee und die<br />
unzähligen HelferInnen aus Schweden <strong>für</strong> die<br />
Planung und Durchführung der <strong>Konferenz</strong>, gab<br />
es auch E<strong>in</strong>iges, was uns nicht gefallen hat, wie<br />
ich am Beispiel des Zustandekommens der Abschlusserklärung<br />
der Weltkonferenz erläutern<br />
will.<br />
Dabei ist dies schon Teil des Problems. Wir<br />
wissen im Grund nicht, wie sie zustande gekommen<br />
ist, wie das Redaktionsteam <strong>für</strong> die<br />
Erklärung zustande kam und wer alles dabei<br />
war. Das <strong>Konferenz</strong>plenum wurde (und war)<br />
nicht gefragt und wurde auch nicht <strong>in</strong>formiert.<br />
Die Abschlusserklärung der Weltkonferenz ist<br />
beileibe nicht falsch. Sie enthält viele gute und<br />
wichtige Erkenntnisse und Forderungen (nachzulesen<br />
<strong>in</strong> diesem Heft oder unter www.ipca<br />
worldwide), die <strong>für</strong> die Arbeit der <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
vor Ort und gegenüber nationalen und<br />
<strong>in</strong>ternationalen Institutionen wichtig s<strong>in</strong>d oder<br />
se<strong>in</strong> können. Aber: sie ist sehr allgeme<strong>in</strong> formuliert<br />
und spiegelt die Diskussionen auf der <strong>Konferenz</strong><br />
nur unbefriedigend wieder.<br />
37
Auch das will ich an nur e<strong>in</strong>em Beispiel erklären,<br />
das viele von uns TeilnehmerInnen betraf,<br />
betroffen machte und auch, besonders uns Europäer,<br />
beschämte.<br />
Forgotten People: Dazu gehörten von Beg<strong>in</strong>n<br />
der <strong>Konferenz</strong> an nicht nur die Millionen Gefangenen<br />
aus aller Welt, sondern seit der Eröffnung,<br />
als deutlich wurde, dass über 100 ! <strong>Gefängnisseelsorge</strong>rInnen<br />
aus Ländern des Südens<br />
ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>reisevisum <strong>für</strong> Schweden bekamen,<br />
auch diese. Darunter auch der Repräsentant des<br />
Afrikanischen Kont<strong>in</strong>ents im Ipca-worldwide<br />
Steer<strong>in</strong>g Committee aus dem Kongo.<br />
Forgotten People s<strong>in</strong>d diese KollegInnen <strong>für</strong> uns<br />
auch deshalb geworden, weil wir den E<strong>in</strong>druck<br />
bekamen, dass e<strong>in</strong>e öffentliche Diskussion und<br />
Empörung, geschweige denn e<strong>in</strong> wirklicher Protest<br />
<strong>in</strong> Richtung der schwedischen Behörden<br />
nicht erwünscht war und mit Verweis auf Zeitmangel<br />
und e<strong>in</strong>e entsprechende Presseerklärung,<br />
die dazu veröffentlicht werden sollte, nicht zustande<br />
kam.<br />
Außer den folgenden drei Sätzen auf der ipcaworldwide<br />
homepage ist uns ke<strong>in</strong>e Presseerklärung<br />
und Veröffentlichung bekannt geworden:<br />
„ … Es war e<strong>in</strong>e großartige <strong>Konferenz</strong>, wenn<br />
auch mit e<strong>in</strong>em Schatten des Bedauerns, dass so<br />
viele, die sich angemeldet hatten, ke<strong>in</strong>e Visa<br />
bekamen – sie wurden verweigert oder die Anträge<br />
wurden <strong>für</strong> die Teilnahme zu spät gestellt.<br />
Dies trotz vieler Kontakte mit Botschaften rund<br />
um die Welt. Schweden ist Teil der Schengen<br />
Länder, die sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>e Mauer zum Schutz<br />
der Grenzen ihrer Mitgliedsstaaten wurde. “<br />
So g<strong>in</strong>gen wir und viele Andere davon aus, dass<br />
diese besonders uns Europäer auch beschämende<br />
Tatsache, die ja auch etwas mit der „Krim<strong>in</strong>alisierung“<br />
von Menschen des Südens bei uns<br />
zu tun hat, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> der Schlusserklärung<br />
e<strong>in</strong>en deutlichen Platz e<strong>in</strong>nimmt. Und das war<br />
im Vorfeld der Erklärung <strong>in</strong> vielen Gesprächen,<br />
auch mit den Organisatoren und mit Steer<strong>in</strong>g<br />
Committee Mitgliedern deutlich.<br />
38<br />
Nachdem am Dienstagnachmittag, also am 5.<br />
Tag der <strong>Konferenz</strong>, die „Erklärung“ kurz vor<br />
ihrer Verlesung verteilt wurde, waren wir schon<br />
sehr erstaunt und es war klar, dass wir das nicht<br />
undiskutiert h<strong>in</strong>nehmen wollten.<br />
Nach der Verlesung der Erklärung sollte diese<br />
diskutiert werden und ich behaupte schon, dass<br />
ich e<strong>in</strong>er der ersten war, die sich meldeten und<br />
stehend <strong>in</strong> der ersten Reihe mit gestrecktem<br />
Arm von Kieran Garvey (OFM, Steer<strong>in</strong>g<br />
Committee Mitglied <strong>für</strong> Ozeanien bis zu diesem<br />
Tag) und „Diskussionsleiter“, mit dem ich auch<br />
mehrfach im Vorfeld über die Notwendigkeit<br />
e<strong>in</strong>es Protestes wegen der „forgotten<br />
colleagues“ sprach, „übersehen“ wurde, bevor<br />
er nach 5 M<strong>in</strong>uten die Diskussion aus Zeitgründen<br />
beendete.<br />
Ich b<strong>in</strong> dann direkt zu Rodolfo Diamante (aus<br />
den Philipp<strong>in</strong>en) gegangen, dem e<strong>in</strong>zigen öffentlichen<br />
Mitglied des Redaktionsteams, er<br />
verlas die Erklärung nämlich, um ihn zu fragen,<br />
wie die Erklärung entstand und um nochmals zu<br />
<strong>in</strong>sistieren, dass wir uns zu den ausgeladenen<br />
Brüdern und Schwestern auch politisch verhalten<br />
müssten. Dieser verwies mich an Kieran<br />
Garvey (s.o), der mich an den neuen Präsidenten<br />
von Ipca worldwide, Dwight Cuff (Canada)<br />
verwies. Alle hörten mich freundlich an und<br />
Dwight Cuff verwies mich wieder an Kieran<br />
Garvey und Rodolfo Diamante, die dann nochmals<br />
auf die Presseerklärung zu diesem Thema<br />
(s.o.) verwiesen und mir zusicherten, das Thema<br />
der „forgotten colleagues“ im Organisations-<br />
und Redaktionsteam der <strong>Konferenz</strong> nochmals zu<br />
besprechen.<br />
Auf das Ergebnis warten wir noch, auf mehr<br />
Transparenz und Demokratie dürfen wir hoffen,<br />
nicht zuletzt durch die Vertreter im neuen<br />
Steer<strong>in</strong>g Committee.
H<strong>in</strong>ter <strong>Gittern</strong>, und dennoch…<br />
Eg<strong>in</strong>ald Schlattner, Rumänien<br />
Betrachtungen zu fünf Porträts aus dem rumänischen<br />
Gefängnis Aiud, Straßburg am<br />
Mieresch, Siebenbürgen, die ich immer wieder<br />
betrachte, auch vor dem Altar me<strong>in</strong>er Kirche<br />
von 1225.<br />
Als ich vor 17 Jahren die Beauftragung e<strong>in</strong>es<br />
Gefängnispfarrers der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche<br />
Augsburger Bekenntnisses <strong>in</strong> Rumänien, mit<br />
deutscher Verkündigungs- und Amtssprache<br />
übernommen hatte, sagte ich unter anderem bei<br />
me<strong>in</strong>er ersten Ansprache im Gefängnis:<br />
"Ich werde euch nicht wegen Eurer Straftaten<br />
befragen. Die büßt ihr ab. Ich b<strong>in</strong> nicht wegen<br />
der Vergangenheit hier, sondern wegen Eurer<br />
Zukunft. Aber Ihr könnt Euch mir anvertrauen.<br />
Ich alle<strong>in</strong> höre, höre zu, und vielleicht auch<br />
Gott im Himmel."<br />
Die meisten berichten, schütten ihr Herz aus.<br />
Sagte unter anderem auch:<br />
"Die Grenze zwischen Bösen und Guten ist<br />
nicht die Mauer des Gefängnisses."<br />
Und sagte:<br />
"Habt den Mut, das Gute <strong>in</strong> Euch aufzuspüren.<br />
Auch biblisch gesehen ist der Mensch nicht radikal<br />
böse, sondern radikal gut. Me<strong>in</strong>es Erachtens<br />
als Theologe nicht bis <strong>in</strong> die Wurzelspitzen<br />
se<strong>in</strong>es Wesens gut, aber GUT <strong>in</strong> den Wurzelspitzen,<br />
das heißt radikal. Wieso?<br />
Als Geschöpf Gottes, geschaffen als Ebenbild<br />
Gottes, der erste Mensch, und mit dem e<strong>in</strong>gehauchten<br />
Geist Gottes - durch die Nase!<br />
Drei Frauen.<br />
Vier Tote. Jede von ihnen hat ihre eigenen Toten.<br />
E<strong>in</strong>e ist unschuldig. E<strong>in</strong> Geistlicher hat<br />
Wege, die Wahrheit zu erfahren, die Wahrheit,<br />
die alle<strong>in</strong> vor Gott gilt.<br />
Elisabeta N.<br />
In grenzenloser Verzweiflung hat sie mit den<br />
erwachsenen Töchtern ihren Mann umgebracht,<br />
der die Familie tödlich terrorisiert hat, ihn verbrannt,<br />
e<strong>in</strong>gescharrt. Die Erleichterung sieht<br />
man ihr an. Sie lacht, wiewohl über den Zahn,<br />
denn 'zahnlucket' wird man im Gefängnis mit<br />
hohen Haftstrafen, aber sie lacht. Sie kommt aus<br />
me<strong>in</strong>em Dorf. Ihre Tochter hat vier K<strong>in</strong>der von<br />
vier Vätern. Zigeuner-Milieu. Es wird geholfen,<br />
z.B. habe ich die Taxen <strong>für</strong> Taufen beglichen,<br />
beim orthodoxen Kollegen.<br />
Viele der <strong>in</strong>haftierten Frauen haben ihre Männer<br />
umgebracht: Nu este alta solutzie, e<strong>in</strong> Late<strong>in</strong>er<br />
versteht das: ke<strong>in</strong>e andere Lösung. Ich kann das<br />
nicht gutheißen, aber durchaus verstehen.<br />
Der Topos fast immer der nämliche: Die Geme<strong>in</strong>schaftstat<br />
mit den erwachsenen Töchtern,<br />
Söhnen nimmt die Mutter auf sich.<br />
Ibi K:<br />
Die Jüngste, sie ersche<strong>in</strong>t als die Unschuld <strong>in</strong><br />
Person, k<strong>in</strong>dlich im Habitus, mädchenhaft im<br />
Ausdruck; heiter und gelassen.<br />
Sie hat mit dem Partner e<strong>in</strong> Bauernhaus angezündet.<br />
Altes Ehepaar. M<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er der<br />
Insassen ist verbrannt, erstickt, zu Tode gekommen.<br />
Realisiert die Schuld nicht.<br />
Sie ist mir ans Herz gewachsen.<br />
Maria Elena M.<br />
Ihre zwei K<strong>in</strong>der soll sie umgebracht haben.<br />
Schon der Gesichtsausdruck verrät, dass sie<br />
schuldlos ist. Sie hat sich nicht abgefunden,<br />
geschweige dass sie erleichtert oder heiter<br />
dre<strong>in</strong>schaut, ausschaut. Ihr Schicksal geht mir<br />
nahe. Täglich begleite ich sie im Gebet. Vielleicht<br />
gel<strong>in</strong>gt es, den Prozess aufzurollen. Zwei<br />
Personen habe ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en 17 Jahren Amtszeit<br />
zu Gerechtigkeit verholfen.<br />
Das zerknitterte Gesicht von Michael Z.<br />
Michael Z. gehört der <strong>Ev</strong>angelischen Kirche <strong>in</strong><br />
Rumänien an. Er wurde von unserem jetzigen<br />
Bischof D. Dr. Christoph Kle<strong>in</strong> konfirmiert,<br />
damals Stadtpfarrer von Hermannstadt. Als e<strong>in</strong><br />
Nachbar, den er besuchte, Michaels Mutter <strong>in</strong><br />
ord<strong>in</strong>ärer Manier auf Rumänisch verfluchte -<br />
solche abartigen Flüche und Verfluchungen s<strong>in</strong>d<br />
unübersetzbar - schlug er zu. Der Mann der<br />
Verwünschungen fiel auf die Türschwelle und<br />
brach sich das Genick. Von den fünfzehn Jahren<br />
Gefängnis hat Michael Z. elf abgesessen.<br />
Ob es ihm gelungen ist, se<strong>in</strong>e Tat zu begreifen?<br />
Von den zehn Geboten be<strong>in</strong>haltet der Ver-<br />
39
stoß gegen das sechste Gebot : "Du sollst nicht<br />
töten!" die e<strong>in</strong>zige Untat, die am Opfer nicht<br />
mehr gutgemacht werden kann. Als ich ihn aus<br />
gegebenen Anlass mahnte, er möge nicht vergessen,<br />
dass er e<strong>in</strong>en Menschen auf dem Gewissen<br />
habe, dazu <strong>in</strong> der Kneipe erschlagen,<br />
reagierte er gekränkt: Nicht <strong>in</strong> der Kneipe, sondern<br />
zu Hause sei das alles geschehen.<br />
In den Gesprächen und im Briefwechsel wird<br />
von ihm <strong>in</strong> glaubwürdiger Weise Christus und<br />
das <strong>Ev</strong>angelium bemüht. Gefängnisse s<strong>in</strong>d Orte<br />
der S<strong>in</strong>neswandlung. Der Teufel lauert jenseits<br />
der Gitter, Eisentore und Mauern. "Und wollt<br />
uns gar verschl<strong>in</strong>gen...", wie Mart<strong>in</strong> Luther<br />
dichtet.<br />
Adrian N.<br />
Hochtätowiert das Gesicht! So me<strong>in</strong>t er, sich<br />
da<strong>h<strong>in</strong>ter</strong> verstecken zu können. Begreift nicht,<br />
dass er viel eher auffällt.<br />
Dreimal verurteilt und ist schon wieder <strong>in</strong> Haft.<br />
E<strong>in</strong> Selbstmordversuch. Er schnitt sich <strong>in</strong> Treppen<br />
die Adern der l<strong>in</strong>ken Hand auf.<br />
Ich warnte die Gefängnisleitung, er hatte mir<br />
von se<strong>in</strong>em Vorhaben berichtet. Trotzdem wollte<br />
man es als Selbstverstümmelung klassifizieren.<br />
Das hätte das Strafmaß verlängert. Es gelang<br />
mir, das zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Die Strafgefangenen nenne ich me<strong>in</strong>e Schutzbefohlenen.<br />
In Pfarrerskreisen moniert man hie und da, dass<br />
ich mich zu stark mit den TÄTERN solidarisiere.<br />
Me<strong>in</strong>e Auftrag und me<strong>in</strong>e Zuwendung gilt den<br />
Tätern.<br />
Schuld ist schwer quantifizierbar. Begreifbar,<br />
benennbar aber ist das Leiden, das man dem<br />
anderen zugefügt hat, vom Opfer bis zur Familie.<br />
Auf das h<strong>in</strong> spreche ich sie an.<br />
Nachdem sie sich <strong>in</strong> den biblischen Geschichten<br />
und Texten positioniert haben, erkannt haben -<br />
als Person, <strong>in</strong> ihrer Bef<strong>in</strong>dlichkeit, sich <strong>in</strong> Handlung<br />
und Haltung haben e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen können.<br />
40<br />
Für e<strong>in</strong>en Reader zum Thema „Roma“<br />
bitten wir unsere LeserInnen um Beiträge,<br />
Erfahrungsberichte, Praxisbeispiele<br />
o.ä..<br />
Die Redaktion<br />
Zu den Vorschlägen des BMJ zur<br />
Neuregelung der Sicherungsverwahrung<br />
nach dem Urteil des<br />
EGMR<br />
Mart<strong>in</strong> Faber, Wiesbaden<br />
In guter Tradition aus den Jahren der Entwürfe<br />
<strong>für</strong> Jugendstrafvollzugsgesetze und U-Haftvollzugsgesetze<br />
waren im September Vertreter<br />
der beiden <strong>Gefängnisseelsorge</strong>konferenzen und<br />
der Straffälligenhilfen <strong>in</strong> das Katholische Büro<br />
des Kommissariats der deutschen Bischöfe nach<br />
Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geladen, um ihre Positionen zur Neuregelung<br />
der Sicherungsverwahrung zu benennen<br />
und dem Vertreter des Bevollmächtigten<br />
des Rates der EKD bei der Bundesregierung,<br />
Herrn David Gill, und se<strong>in</strong>er katholischen Kolleg<strong>in</strong><br />
Frau Uta Losem so Grundlagen <strong>für</strong> die<br />
vom Bundesm<strong>in</strong>isterium der Justiz (BMJ) erbetene<br />
Stellungnahme zu liefern.<br />
Pr<strong>in</strong>zipiell haben alle Teilnehmenden mit unterschiedlicher<br />
Po<strong>in</strong>tierung darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />
dass die Stellungnahme „Gegen Menschenverwahrung“<br />
weiterh<strong>in</strong> ihre Gültigkeit behält und<br />
gleichzeitig e<strong>in</strong>e Umsetzung des Urteils des<br />
Europäischen Gerichtshofs <strong>für</strong> Menschenrechte<br />
(EGMR) mit se<strong>in</strong>en Folgen bedacht und kommentiert<br />
werden muss.<br />
Insgesamt wurden die Vorschläge des BMJ sehr<br />
kritisch beleuchtet. Es ist noch nicht geklärt, ab<br />
wann die noch nicht vorliegende Stellungnahme<br />
der Kirchen <strong>in</strong> unserem Mitteilungsblatt veröffentlicht<br />
werden kann.
Zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs<br />
<strong>für</strong> Menschenrechte<br />
zur Sicherungsverwahrung<br />
Pressemitteilung des Kanzlers vom 17.12.2009<br />
http://www.coe.<strong>in</strong>t/T/D/Menschenrechtsgerichts<br />
hof/Dokumente_auf_Deutsch/<br />
Kammerurteil 1 (Beschwerde-Nr. 19359/04)<br />
NACHTRÄGLICHE VERLÄNGERUNG<br />
DER SICHERUNGSVERWAHRUNG<br />
ÜBER DIE ZULÄSSIGE HÖCHSTDAUER<br />
ZUR TATZEIT HINAUS NICHT GE-<br />
RECHTFERTIGT<br />
Verletzung von Artikel 5 § 1 (Recht auf Freiheit)<br />
und Artikel 7 § 1 (Ke<strong>in</strong>e Strafe ohne Gesetz)<br />
der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
Zusammenfassung des Sachverhalts<br />
Der Beschwerdeführer, M., ist deutscher Staatsbürger,<br />
1957 geboren, und derzeit <strong>in</strong> der JVA<br />
Schwalmstadt <strong>in</strong> Haft. Er ist wegen schwerer<br />
Verbrechen vielfach vorbestraft und wurde zuletzt<br />
im November 1986 vom Landgericht Marburg<br />
wegen versuchten Mordes <strong>in</strong> Tate<strong>in</strong>heit<br />
mit Raub zu e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe von fünf Jahren<br />
verurteilt. Zugleich ordnete das Gericht se<strong>in</strong>e<br />
Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />
an. Es stützte sich dabei auf e<strong>in</strong> neurologisches<br />
und psychiatrisches Expertengutachten, das den<br />
Beschwerdeführer als gefährlichen Straftäter<br />
e<strong>in</strong>stufte und feststellte, dass se<strong>in</strong> Hang zur Gewalttätigkeit<br />
http://www.coe.<strong>in</strong>t/T/D/Menschenrechtsgerichts<br />
hof/Dokumente_auf_Deutsch/weitere schwere<br />
Körperverletzungsdelikte wahrsche<strong>in</strong>lich machte.<br />
Nach Verbüßung se<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe beantragte<br />
der Beschwerdeführer zwischen 1992 und<br />
1998 mehrmals erfolglos die Aussetzung se<strong>in</strong>er<br />
Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung zur<br />
Bewährung. In ihrer Ablehnung stützten sich die<br />
zuständigen Gerichte auf e<strong>in</strong> Expertengutachten<br />
und beriefen sich auf das gewalttätige und aggressive<br />
Verhalten des Beschwerdeführers <strong>in</strong><br />
der Haft. Im April 2001 lehnte das Landgericht<br />
Marburg e<strong>in</strong>en entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers<br />
unter Verweis auf se<strong>in</strong>e Gefährlichkeit<br />
erneut ab und ordnete se<strong>in</strong>e Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
<strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung über die<br />
Gesamtdauer von zehn Jahren h<strong>in</strong>aus an. Das<br />
Oberlandesgericht Frankfurt am Ma<strong>in</strong> bestätigte<br />
die Entscheidung.<br />
Beide Gerichte beriefen sich auf § 67 d Absatz 3<br />
des Strafgesetzbuches (StGB) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Fassung<br />
nach der Änderung von 1998. Mit der Änderung,<br />
die auch auf die vor der Neuregelung angeordneten<br />
Fälle anzuwenden ist, wurde die<br />
früher vorgeschriebene Höchstgrenze von zehn<br />
Jahren bei e<strong>in</strong>er erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung<br />
gestrichen. Damit betrifft sie<br />
auch Straftäter, wie den Beschwerdeführer, die<br />
bei ihrer Verurteilung noch mit e<strong>in</strong>em sicheren<br />
Ende der Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren<br />
rechnen konnten.<br />
Im Februar 2004 wies das Bundesverfassungsgericht<br />
die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers<br />
gegen diese Gerichtsentscheidungen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausführlichen Leiturteil zurück,<br />
das auf die grundlegende Unterscheidung<br />
zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung<br />
und Sicherung nach dem StGB verwies. Das<br />
absolute Rückwirkungsverbot <strong>für</strong> Strafen nach<br />
Artikel 103, Absatz 2 GG sei auf Maßregeln der<br />
Besserung und Sicherung, wie die Sicherungsverwahrung,<br />
nicht anwendbar.<br />
Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung<br />
des Gerichtshofs<br />
Der Beschwerdeführer beklagte sich unter Berufung<br />
auf Artikel 5 § 1, dass se<strong>in</strong>e fortwährende<br />
Haft se<strong>in</strong> Recht auf Freiheit verletze. Insbesondere<br />
trug er vor, dass es ke<strong>in</strong>en ausreichenden<br />
Kausalzusammenhang zwischen se<strong>in</strong>er Verurteilung<br />
1986 und se<strong>in</strong>er weiter andauernden<br />
41
Haft nach zehn Jahren <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />
gebe. Weiter beklagte er sich unter Berufung<br />
auf Artikel 7 § 1, dass die rückwirkende<br />
Verlängerung se<strong>in</strong>er Sicherungsverwahrung das<br />
Verbot der nachträglichen Verhängung e<strong>in</strong>er<br />
schwereren als die zur Tatzeit angedrohten Strafe<br />
verletze.<br />
Die Beschwerde wurde am 24. Mai 2004 beim<br />
Europäischen Gerichtshof <strong>für</strong> Menschenrechte<br />
e<strong>in</strong>gelegt.<br />
Das Urteil wurde von e<strong>in</strong>er Kammer mit sieben<br />
Richtern gefällt, die sich wie folgt zusammensetzte:<br />
Peer Lorenzen (Dänemark), Präsident,<br />
Renate Jaeger (Deutschland),<br />
Karel Jungwiert (Tschechien),<br />
Mark Villiger (Liechtenste<strong>in</strong>),<br />
Isabelle Berro-Lefèvre (Monaco),<br />
Mirjana Lazarova Trajkovska (“ehemalige jugoslawische<br />
Republik Mazedonien”),<br />
Zdravka Kalaydjieva (Bulgarien), Richter<br />
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzler<strong>in</strong>.<br />
Entscheidung des Gerichtshofs<br />
Artikel 5 § 1<br />
Der Gerichtshof unterstrich zunächst, dass die<br />
Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers<br />
vor Ablauf der Zehnjahresfrist als Freiheitsentzug<br />
„nach Verurteilung“ durch e<strong>in</strong> zuständiges<br />
Gericht im S<strong>in</strong>ne von Artikel 5 § 1 (a) zulässig<br />
war.<br />
Im H<strong>in</strong>blick auf die Sicherungsverwahrung über<br />
die Zehnjahresfrist h<strong>in</strong>aus stellte der Gerichtshof<br />
h<strong>in</strong>gegen fest, dass es ke<strong>in</strong>en ausreichenden<br />
Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung<br />
des Beschwerdeführers und se<strong>in</strong>em fortdauernden<br />
Freiheitsentzug gab. Als das zuständige<br />
Gericht 1986 die Sicherungsverwahrung<br />
des Beschwerdeführers anordnete, bedeutete<br />
diese Entscheidung, dass er nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e klar<br />
festgeschriebene Höchstdauer <strong>in</strong> dieser Form<br />
der Haft bleiben konnte. Ohne die Änderung des<br />
42<br />
StGB 1998 hätte die Strafvollstreckungskammer<br />
des zuständigen Gerichts die Dauer der Sicherungsverwahrung<br />
nicht verlängern können.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus befand der Gerichtshof, dass die<br />
von den Gerichten festgestellte Gefahr, dass der<br />
Beschwerdeführer im Falle se<strong>in</strong>er Freilassung<br />
weitere schwere Straftaten begehen könnte,<br />
nicht konkret und spezifisch genug war, um<br />
Artikel 5 § 1 (c) zu genügen. Weiterh<strong>in</strong> konnte<br />
der Beschwerdeführer nicht als „psychisch<br />
Kranker“ im S<strong>in</strong>ne von Artikel 5 § 1 (e) <strong>in</strong> der<br />
Sicherungsverwahrung bleiben, da das Oberlandesgericht<br />
Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, im Gegensatz zu<br />
den früheren Gerichtsentscheidungen, festgestellt<br />
hatte, dass der Beschwerdeführer an ke<strong>in</strong>er<br />
krankhaften seelischen Störung leide.<br />
Der Gerichtshof kam daher e<strong>in</strong>stimmig zu dem<br />
Schluss, dass die Sicherungsverwahrung des<br />
Beschwerdeführers über die Zehnjahresfrist<br />
h<strong>in</strong>aus Artikel 5 § 1 verletzt.<br />
Artikel 7 § 1<br />
Der Gerichtshof hatte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie darüber zu<br />
bef<strong>in</strong>den, ob die Sicherungsverwahrung als<br />
Strafe im S<strong>in</strong>ne von Artikel 7 § 1 zu gelten hat.<br />
Dazu berücksichtigte er zunächst, dass diese<br />
Form der Haft genau wie e<strong>in</strong>e gewöhnliche<br />
Haftstrafe e<strong>in</strong>en Freiheitsentzug bedeutet und<br />
dass <strong>in</strong> der Praxis Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />
<strong>in</strong> gewöhnlichen Gefängnissen untergebracht<br />
s<strong>in</strong>d. Zwar werden ihnen Verbesserungen<br />
bei den Haftbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>geräumt,<br />
was jedoch nichts an der grundlegenden Ähnlichkeit<br />
zwischen dem Vollzug e<strong>in</strong>er normalen<br />
Haftstrafe und e<strong>in</strong>er Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />
ändert. Dies wird auch<br />
dar<strong>in</strong> deutlich, dass nach dem Strafvollzugsgesetz<br />
beide Formen der Haft dem doppelten<br />
Zweck dienen, die Öffentlichkeit zu schützen<br />
und den Strafgefangenen auf e<strong>in</strong> verantwortliches<br />
Leben <strong>in</strong> Freiheit vorzubereiten.<br />
Weiterh<strong>in</strong> nahm der Gerichtshof zur Kenntnis,<br />
dass derzeit <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e ausreichende
psychologische Betreuung speziell <strong>für</strong> die Bedürfnisse<br />
von Häftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung<br />
angeboten wird, die ihre Haftbed<strong>in</strong>gungen<br />
grundlegend von denen normaler Langzeithäftl<strong>in</strong>ge<br />
unterscheiden würde. Der Gerichtshof<br />
berief sich dabei auf die Ergebnisse<br />
zweier jüngerer Berichte des Menschenrechtskommissars<br />
des Europarats und des Europäischen<br />
Komitees zur Verhütung von Folter und<br />
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung<br />
oder Strafe (CPT) über die Sicherungsverwahrung<br />
<strong>in</strong> Deutschland.<br />
Der Gerichtshof unterstrich, dass es nach der<br />
gesetzlichen Neuregelung von 1998 ke<strong>in</strong>e<br />
Höchstdauer mehr <strong>für</strong> die Sicherungsverwahrung<br />
gibt und dass die Bed<strong>in</strong>gung <strong>für</strong> ihre Aussetzung<br />
zur Bewährung – nämlich, dass vom<br />
Straftäter ke<strong>in</strong>e Gefahr mehr ausgehen darf –<br />
schwer zu erfüllen ist. Mith<strong>in</strong> handelt es sich um<br />
e<strong>in</strong>e der härtesten Maßnahmen, die nach dem<br />
StGB angewendet werden können. Der Gerichtshof<br />
schlussfolgerte, dass es sich bei der<br />
Sicherungsverwahrung um e<strong>in</strong>e Strafe im S<strong>in</strong>ne<br />
von Artikel 7 § 1 handelt.<br />
Ferner war der Gerichtshof nicht davon überzeugt,<br />
dass es sich bei der Verlängerung der<br />
Sicherungsverwahrung lediglich um den Vollzug<br />
der Strafe handelte, die das zuständige Gericht<br />
ursprünglich verhängt hatte. Da der Beschwerdeführer<br />
nach der Rechtslage zur Tatzeit<br />
nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Höchstdauer von zehn Jahren <strong>in</strong> der<br />
Sicherungsverwahrung hätte bleiben können,<br />
stellte die Verlängerung vielmehr e<strong>in</strong>e zusätzliche<br />
Strafe dar, die ihm nachträglich auferlegt<br />
worden war.<br />
Der Gerichtshof kam daher e<strong>in</strong>stimmig zu dem<br />
Schluss, dass e<strong>in</strong>e Verletzung von Artikel 7 § 1<br />
vorlag.<br />
Artikel 41 (gerechte Entschädigung)<br />
Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer<br />
50.000 Euro <strong>für</strong> den erlittenen immateriellen<br />
Schaden zu.<br />
***<br />
Das Urteil liegt auf Englisch und Französisch<br />
vor. Diese Pressemitteilung ist von der Kanzlei<br />
erstellt und ist <strong>für</strong> den Gerichtshof nicht b<strong>in</strong>dend.<br />
1 Gemäß Artikel 43 der Konvention kann jede Partei <strong>in</strong>nerhalb<br />
von drei Monaten nach dem Datum e<strong>in</strong>es Urteils<br />
der Kammer <strong>in</strong> Ausnahmefällen die Verweisung der<br />
Rechtssache an die Große Kammer mit siebzehn Richtern<br />
beantragen. In diesem Fall berät e<strong>in</strong> Ausschuss von fünf<br />
Richtern, ob die Rechtssache e<strong>in</strong>e schwerwiegende Frage<br />
der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder<br />
ihrer Zusatzprotokolle, oder e<strong>in</strong>e schwerwiegende Frage<br />
von allgeme<strong>in</strong>er Bedeutung aufwirft; <strong>in</strong> diesem Fall entscheidet<br />
die Große Kammer durch endgültiges Urteil.<br />
Wenn ke<strong>in</strong>e solche Frage aufgeworfen wird, lehnt der<br />
Ausschuss den Antrag ab, womit das Urteil rechtskräftig<br />
wird.<br />
Pressemitteilung des Kanzlers 11.05.2010:<br />
E<strong>in</strong> Ausschuss von fünf Richtern hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Sitzung am 10. Mai 2010 den Antrag der deutschen<br />
Bundesregierung auf Verweisung der<br />
Rechtssache M. gegen Deutschland an die Große<br />
Kammer vom 16. März 2010 abgelehnt. Damit<br />
ist das Kammerurteil des Gerichtshofs <strong>in</strong><br />
dieser Sache vom 17. Dezember 2009 rechtskräftig<br />
(Artikel 44 der Europäischen Menschenrechtskonvention).<br />
Greifswalder Appell zur Reform<br />
der Sicherungsverwahrung<br />
Vor wenigen Tagen hat der Europäische Gerichtshof<br />
<strong>für</strong> Menschenrechte (EGMR) e<strong>in</strong>e<br />
erneute Überprüfung se<strong>in</strong>er Entscheidung zur<br />
Sicherungsverwahrung vom 17. Dezember 2009<br />
abgelehnt. Damit ist rechtskräftig festgestellt,<br />
dass die nachträgliche Verlängerung e<strong>in</strong>er zunächst<br />
auf zehn Jahre begrenzten Sicherungsverwahrung<br />
gegen das Rückwirkungsverbot aus<br />
Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
verstößt. Die Unterzeichnenden,<br />
Teilnehmer<strong>in</strong>nen und Teilnehmer e<strong>in</strong>er<br />
zwischen dem 13. und 15. Mai 2010 <strong>in</strong> Greifswald<br />
durchgeführten <strong>in</strong>ternationalen krim<strong>in</strong>olo-<br />
43
gischen Forschungstagung und weitere Unterstützer<strong>in</strong>nen<br />
und Unterstützer, begrüßen diese<br />
Entscheidung sehr.<br />
Schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entscheidung vom 17. Dezember<br />
2009 betonte der EGMR die Geltung der <strong>für</strong><br />
„Strafen“ verb<strong>in</strong>dlichen Vorschriften der Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention <strong>für</strong> das<br />
deutsche Instrument der Sicherungsverwahrung.<br />
Damit setzte sich der EGMR <strong>in</strong> offenen Widerspruch<br />
zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,<br />
das alle<strong>in</strong> auf die präventive Orientierung<br />
der Maßregel abstellt und e<strong>in</strong>e rückwirkende<br />
Anwendung von Gesetzen zu nachträglicher<br />
oder zeitlich entgrenzter Sicherungsverwahrung<br />
zulässt. In der Praxis unterscheidet<br />
sich die Sicherungsverwahrung <strong>in</strong> der Tat kaum<br />
vom Vollzug e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe, obwohl sie<br />
erst stattf<strong>in</strong>det, nachdem die schuldangemessene<br />
Strafe bereits vollzogen ist. Problematisch s<strong>in</strong>d<br />
<strong>für</strong> den Vollzug der Sicherungsverwahrung vor<br />
allem die Unsicherheiten bei Rückfallprognosen.<br />
E<strong>in</strong> hoher Prozentsatz der Inhaftierten verbleibt<br />
so <strong>in</strong> der Sicherungsverwahrung, obwohl<br />
diese Menschen tatsächlich <strong>in</strong> Freiheit wohl<br />
nicht wieder rückfällig geworden wären.<br />
E<strong>in</strong>ige Sicherungsverwahrte (vorläufige Analysen<br />
schätzen ihre Zahl auf 70-160) warten nun<br />
auf ihre Entlassung, e<strong>in</strong>e Entlassung, auf die sie<br />
nicht angemessen vorbereitet worden s<strong>in</strong>d.<br />
Kaum e<strong>in</strong>er von ihnen hat nach den langen Jahren<br />
im Freiheitsentzug noch tragfähige familiäre<br />
oder freundschaftliche Kontakte außerhalb der<br />
Haftanstalt. Kaum e<strong>in</strong>er hat e<strong>in</strong>e Wohnung oder<br />
e<strong>in</strong>e Arbeitsstelle. Und kaum e<strong>in</strong>er hatte bislang<br />
<strong>in</strong> wirklich qualifizierter Form die Möglichkeit,<br />
sich im Vollzug mithilfe e<strong>in</strong>es anstaltsunabhängigen<br />
Therapeuten mit den <strong>in</strong> der Regel schweren,<br />
früher begangenen Straftaten ause<strong>in</strong>anderzusetzen<br />
und Strategien zu entwickeln, mit denen<br />
e<strong>in</strong>e etwaige Wiederholungsgefahr deutlich<br />
reduziert oder ausgeschlossen werden könnte.<br />
Es wurde <strong>in</strong> den vergangenen Jahren e<strong>in</strong> erheb-<br />
44<br />
licher Aufwand zur kurz- bis mittelfristigen<br />
Sicherung dieser Menschen betrieben. Für e<strong>in</strong>e<br />
nachhaltige Arbeit an ihrer langfristigen Wiedere<strong>in</strong>gliederung<br />
<strong>in</strong> die Gesellschaft wurden<br />
dagegen kaum Ressourcen aufgewendet.<br />
Besonders betroffen von dieser Entscheidung<br />
s<strong>in</strong>d die früheren Opfer der zu Entlassenden.<br />
Er<strong>in</strong>nerungen an teilweise furchtbare Erlebnisse<br />
brechen wieder auf und alte Ängste werden neu<br />
entfacht. Den Opfern gehören unser Mitgefühl<br />
und unsere Solidarität.<br />
Die Innen- und Justizm<strong>in</strong>isterien der Länder und<br />
die Bundesregierung f<strong>in</strong>den sich nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
bitteren Dilemma. Wir fordern sie, aber auch die<br />
Kirchen und Wohlfahrtsverbände, die Wissenschaft<br />
und die gesamte Gesellschaft auf, besonnen<br />
und verantwortungsvoll mit dieser großen<br />
Aufgabe umzugehen.<br />
Besonnen und verantwortungsvoll zu handeln<br />
kann beispielsweise bedeuten<br />
� <strong>für</strong> die ehemaligen Opfer qualitativ hochwertige,<br />
ggf. auch therapeutische Unterstützung<br />
bereitzustellen und ihre Ängste <strong>in</strong> der<br />
öffentlichen Diskussion nicht kle<strong>in</strong>zureden,<br />
� den jetzt kurz vor der Entlassung stehenden<br />
Menschen dabei zu helfen, Wohnung und<br />
Arbeit zu f<strong>in</strong>den,<br />
� ihnen zum<strong>in</strong>dest <strong>für</strong> den schwierigen Übergang<br />
<strong>in</strong> die Freiheit (aber bei Bedarf auch<br />
langfristig) schnell e<strong>in</strong>e sozialpädagogische<br />
oder therapeutische Begleitung anzubieten,<br />
� die jeweils zuständige Führungsaufsicht<br />
angemessen <strong>für</strong> wirkungsvolle Arbeit auszustatten<br />
� sowie Unterstützung und Beratung zu gewähren<br />
durch geeignete Stellen bei der<br />
Aufnahme neuer vorurteilsfreier Kontakte.<br />
Auf der Basis e<strong>in</strong>er qualifizierten Gefahrenprognose<br />
wird man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen um e<strong>in</strong>e<br />
Überwachung nicht herumkommen. Zu verh<strong>in</strong>-
dern ist dabei, dass die zu entlassenden Sicherungsverwahrten<br />
an den Pranger gestellt, diffamiert<br />
und erneut ausgegrenzt werden. Informiert<br />
werden dürfen bzw. müssen unter den Voraussetzungen<br />
des § 406 d Abs. 2 StPO nur frühere<br />
Opfer der Untergebrachten.<br />
Die aktuelle Situation verdeutlicht die krim<strong>in</strong>alpolitischen<br />
Defizite im Bereich der Entlassung<br />
aus geschlossenen Anstalten. E<strong>in</strong>e gute und<br />
fundierte Vorbereitung auf die Entlassung und<br />
der Aufbau e<strong>in</strong>es tragfähigen und strukturierten<br />
Übergangsmanagements hätten viel früher e<strong>in</strong>geleitet<br />
werden müssen. Dies gilt <strong>für</strong> die <strong>in</strong>sgesamt<br />
etwa fünfhundert Sicherungsverwahrten <strong>in</strong><br />
den bundesdeutschen Haftanstalten genauso wie<br />
<strong>für</strong> die e<strong>in</strong>e Freiheits- oder Jugendstrafe verbüßenden<br />
Inhaftierten allgeme<strong>in</strong>. Für die aktuelle<br />
Gefangenenpopulation ist es noch nicht zu spät.<br />
Deshalb appellieren wir nachdrücklich an die<br />
Verantwortlichen <strong>in</strong> den Ländern, endlich e<strong>in</strong>e<br />
strategische und evidenzbasierte Entlassungsvorbereitung<br />
flächendeckend zu entwickeln!<br />
Rückwärtsgewandte Schuldzuweisungen helfen<br />
weder den Opfern noch den jetzt zu Entlassenden.<br />
Uns alle trifft die Verantwortung, <strong>für</strong> die<br />
Zukunft zu e<strong>in</strong>em neuen Umgang mit stark auffälligen<br />
und gewalttätigen Jugendlichen und<br />
Erwachsenen zu kommen – auch mit denen, die<br />
schwerste Straftaten begangen haben. Wir brauchen<br />
endlich e<strong>in</strong>en wirklich resozialisierungsorientierten<br />
Strafvollzug und e<strong>in</strong>e grundsätzliche<br />
Reform der Sicherungsverwahrung mit e<strong>in</strong>er<br />
deutlich stärkeren Ausrichtung der Arbeit<br />
auch mit Sexual- und Gewalttätern auf Resozialisierung<br />
und auf die Verh<strong>in</strong>derung von erneuten<br />
Straftaten – im Interesse der Sicherheit der<br />
Bevölkerung!<br />
Auch wenn es nicht leicht ist, muss unsere Gesellschaft<br />
zum Schutz unserer verfassungsrechtlichen<br />
Grundwerte mit der kritischen Situation<br />
leben, dass vere<strong>in</strong>zelt Menschen <strong>in</strong> die Freiheit<br />
entlassen werden, auch wenn sie im H<strong>in</strong>blick<br />
auf ihre Rückfallgefahr nicht als vollkommen<br />
unbedenklich e<strong>in</strong>gestuft werden können. Generell<br />
jedoch – so die Ergebnisse krim<strong>in</strong>ologischer<br />
Forschung – bewahrheiten sich negative Rückfallprognosen<br />
bei Menschen, die schwere Straftaten<br />
begangen haben, oft nicht.<br />
Wir sollten uns davor hüten, diese und andere<br />
Ängste und Unsicherheiten auf die kle<strong>in</strong>e Gruppe<br />
der nun zu entlassenden Sicherungsverwahrten<br />
zu konzentrieren. Stattdessen müssen wir<br />
gegen Entsolidarisierung und gesellschaftliche<br />
Verrohung e<strong>in</strong>treten, Tabuisierungen überw<strong>in</strong>den,<br />
uns mit den Ursachen del<strong>in</strong>quenten Verhaltens<br />
ause<strong>in</strong>andersetzen und problematischen<br />
Entwicklungen frühzeitig, aber klug und <strong>in</strong>tegrativ<br />
entgegenwirken. Dabei müssen wir Ausgrenzungen<br />
vermeiden und auch mit denjenigen,<br />
die anderen großes Leid zugefügt haben,<br />
verantwortungsvoller umgehen als bislang geschehen<br />
und ihnen e<strong>in</strong>e realistische Chance auf<br />
Wiedere<strong>in</strong>gliederung geben.<br />
E<strong>in</strong>e gel<strong>in</strong>gende Resozialisierung ist die beste<br />
Rückfallprävention. Die Entscheidung des<br />
EGMR als Anstoß <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Reform der Resozialisierungsstruktur<br />
zu erkennen, würde die Chance<br />
auf mehr und nachhaltigere Sicherheit ganz<br />
erheblich verbessern. Auch wenn die Entscheidung<br />
des EGMR vordergründig Ängste und<br />
Unsicherheiten auslöst, so ist sie doch <strong>in</strong> Wahrheit<br />
e<strong>in</strong> wichtiger Schritt <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es flächendeckenden<br />
und effektiven Schutzes der<br />
Menschenrechte <strong>in</strong> Europa. Am Umgang unserer<br />
Gesellschaft mit den Menschen, die erhebliche<br />
Straftaten begangen haben, zeigt sich, ob<br />
wir bereit s<strong>in</strong>d, die Forderungen des Grundgesetzes<br />
nach Schutz der Menschenwürde, Gerechtigkeit<br />
und Teilhabe <strong>für</strong> alle Bürger<strong>in</strong>nen<br />
und Bürger ernst zu nehmen.<br />
Verantwortlich i. S. d. Presserechts:<br />
Prof. Dr. Frieder Dünkel,<br />
Universität Greifswald<br />
Kontaktadresse: duenkel@uni-greifswald.de<br />
Der Appell ist auch unter http://jura.unigreifswald.de/duenkel<br />
veröffentlicht.<br />
45
Die 98 Unterzeichner des Appells:<br />
Thomas Aehnelt, <strong>Ev</strong>. <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r an der JVA Sehnde,<br />
Hannover<br />
Tim Angerer, Regierungsdirektor, Hamburg<br />
Stefan Allgeier, Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht, Mannheim<br />
Dr. Tillmann Bartsch, Rechtsreferendar, Fernwald<br />
Harald Baumann-Hasske, Rechtsanwalt, Bundesvorsitzender<br />
der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Sozialdemokratischer Jurist<strong>in</strong>nen und<br />
Juristen<br />
Prof. Dr. Werner Beulke, Universitätsprofessor, Passau<br />
Klaus Breymann, Oberstaatsanwalt, Magdeburg<br />
Prof. Dr. He<strong>in</strong>z Cornel, Hochschullehrer, Berl<strong>in</strong><br />
Dr. András Csúri, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-<br />
Planck-Institut <strong>für</strong> ausländisches und <strong>in</strong>ternationales Strafrecht,<br />
Freiburg<br />
Pascal Déscarpes, Krim<strong>in</strong>ologischer Dienst, Wiesbaden<br />
Bastian Dorenburg, Wissenschaftlicher Angestellter und Doktorand,<br />
Greifswald und Berl<strong>in</strong><br />
Pater Kamillus Drazkowski, OP, Gefängnispfarrer an der JVA<br />
Moabit, Berl<strong>in</strong><br />
Dr. Kirst<strong>in</strong> Drenkhahn, Wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong>,<br />
Greifswald<br />
Dr. med. Manuela Dudeck, Fachärzt<strong>in</strong> <strong>für</strong> Nervenheilkunde<br />
TFP/Forensische Psychiatrie,<br />
Greifswald und Stralsund<br />
Prof. Dr. Frieder Dünkel, Lehrstuhl <strong>für</strong> Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />
Dr. Re<strong>in</strong>hart Enßl<strong>in</strong>, Rechtsanwalt, Mannheim<br />
Hans-Dieter Ewe, Richter am Amtsgericht a.D., Hamburg<br />
Mart<strong>in</strong> Faber, <strong>Ev</strong>. Pfarrer an der JVA Weiterstadt/Hessen,<br />
Wiesbaden<br />
Prof. Dr. Johannes Feest, Hochschullehrer (i.R.), Universität<br />
Bremen<br />
Josef Fe<strong>in</strong>dt, Kath. Seelsorger an der JVA Krefeld und der JVA<br />
Willich 2, Krefeld<br />
Christoph Flügge, Richter am Internationalen Strafgerichtshof<br />
<strong>für</strong> das frühere Jugoslawien, Den Haag<br />
Helmut Frenzel, Richter am Amtsgericht a.D., Berl<strong>in</strong><br />
Andrea Gens<strong>in</strong>g, Rechtsreferendar<strong>in</strong>, Lübeck; Doktorand<strong>in</strong>,<br />
Greifswald<br />
Prof. Dr. Esther Gimenez-Sal<strong>in</strong>as i Colomer, Rektor<strong>in</strong>, Ramon<br />
LLull Universität, Barcelona<br />
Jochen Goerdeler, Staatsanwalt, Hannover/Itzehoe<br />
Joanna Grzywa, LL.M., Wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong>,<br />
Lehrstuhl <strong>für</strong> Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />
Dr. Mart<strong>in</strong> Hagenmaier, Pastor an der JVA Kiel, Kiel<br />
Thomas Harms, <strong>Ev</strong>. Pastor an der JVA Rosdorf, Gött<strong>in</strong>gen<br />
Katr<strong>in</strong> Hartmann, Wissenschaftliche Angestellte, Universität<br />
Heidelberg<br />
Dr. Dierk Helmken, Richter, Heidelberg<br />
Claus-Gerd Hoes, <strong>Ev</strong>. Gefängnispfarrer, Vechta<br />
Dr. Hartmuth Horstkotte, Richter am Bundesgerichtshof a.D.,<br />
Berl<strong>in</strong><br />
Dr. Theresia Höynck, LL.M., Krim<strong>in</strong>ologisches Forschungs<strong>in</strong>stitut<br />
Niedersachsen e.V., Hannover<br />
46<br />
Otfried Junk, Geschäftsführer Schwarzes Kreuz, Christliche<br />
Straffälligenhilfe e.V., Celle<br />
Werner Kaser, kath. Gefängnispfarrer an der JVA Siegburg,<br />
Siegburg<br />
Burkhard K<strong>in</strong>d, Vorstandsmitglied <strong>in</strong> "Kirche im Gefängnis"<br />
e.V., Berl<strong>in</strong><br />
Prof. Dr. Jörg K<strong>in</strong>zig, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht und<br />
Strafprozessrecht, Eberhard Karls Universität Tüb<strong>in</strong>gen<br />
Ra<strong>in</strong>er Köttgen, Jurist, Hamburg<br />
Prof. em. Dr. Detlef Krauß, Humboldt-Universität, Berl<strong>in</strong><br />
Ralph Kreutzer, Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Willich 1, Willich<br />
Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer, Universität Gießen, Gießen<br />
Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber, Professor <strong>für</strong> Forensische<br />
Psychiatrie, Charité, Berl<strong>in</strong><br />
Dr. Maik Krüger, Rechtsreferendar, Lübeck<br />
Johannes Kühl, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl <strong>für</strong><br />
Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />
Dr. Jürgen Kühl<strong>in</strong>g, Richter des Bundesverfassungsgerichts<br />
a.D.<br />
Prof. Dr. Karl-Ludwig Kunz, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht und<br />
Krim<strong>in</strong>ologie, Bern<br />
Ltd. Reg. Dir. a.D. Klaus Lange-Lehngut, ehem. Leiter der<br />
JVA Berl<strong>in</strong>-Tegel, Berl<strong>in</strong><br />
Manfred Lösch, Pfarrer i.R., ehem. Beauftragter des Rates der<br />
EKD <strong>für</strong> JVA-Seelsorge, Berl<strong>in</strong><br />
Angelika Menz, <strong>Ev</strong>. <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r<strong>in</strong> der JVA Oldenburg,<br />
Oldenburg<br />
Jerzy Montag, MdB, Rechtspolitischer Sprecher Fraktion<br />
Bündnis 90 / Die Grünen, Berl<strong>in</strong><br />
Dr. Tobias Müller-Monn<strong>in</strong>g, <strong>Ev</strong>. Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Butzbach<br />
Dr. Christ<strong>in</strong>e Morgenstern, wiss. Mitarbeiter<strong>in</strong>, Lehrstuhl <strong>für</strong><br />
Krim<strong>in</strong>ologie, Greifswald<br />
Ltd. Reg. Dir. Thomas Müller, Leiter der JVA Bruchsal,<br />
Bruchsal<br />
Prof. Werner Nickolai, Katholische Fachhochschule Freiburg<br />
Prof. Dr. Heribert Ostendorf, Forschungsstelle <strong>für</strong> Jugendstrafrecht<br />
und Krim<strong>in</strong>alprävention, Kiel<br />
Andrea Parosanu, LL.M. , Doktorand<strong>in</strong>, Leipzig<br />
Prof. Dr. Lorenzo Picotti, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht, Verona<br />
Univ.-Doz. Dr. Arno Pilgram, Institut <strong>für</strong> Rechts- und Krim<strong>in</strong>alsoziologie,<br />
Wien<br />
Angelika Pitsela, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht und Krim<strong>in</strong>ologie,<br />
Thessaloniki<br />
Anna Pohl, Rechtsanwält<strong>in</strong>, Mannheim<br />
Reg. Dir. Anke Pörksen, Stellv. Bundesvorsitzender der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
Sozialdemokratischer Jurist<strong>in</strong>nen und Juristen,<br />
Hamburg<br />
Jens-Peter Preis, <strong>Ev</strong>. Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Siegburg<br />
Dr. Harald Preusker, M<strong>in</strong>isterialdirigent a. D., Dresden<br />
Dr. Ineke Pru<strong>in</strong>, Wissenschaftliche Angestellte, Greifswald und<br />
Heidelberg<br />
Ra<strong>in</strong>er Rex, Ärztlicher Vorsitzender der Bundesarbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
der Ärzte und Psychologen <strong>in</strong> der Straffälligenhilfe,<br />
Berl<strong>in</strong><br />
Alexandra A. Rittershaus, Rechtsanwält<strong>in</strong>, Mannheim
Diakon Alexander Rudolf, kath. Seelsorger an der JVA Weiterstadt,<br />
Weiterstadt<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. Fritz Sack, Universität Hamburg, Hamburg<br />
Dr. G<strong>in</strong>tautas Sakalauskas, Vorsitzender des litauischen Instituts<br />
<strong>für</strong> Recht, Vilnius<br />
Alexander Sauer, Rechtsanwalt, Mannheim<br />
Axel Schmidt-Gödelitz, Mitglied des "Gödelitzer Kreises“ im<br />
Ost-West-Forum, Gut Gödelitz<br />
Ulli Schönrock, <strong>Ev</strong>. Pfarrer <strong>in</strong> der JVA Meppen, Vors. der <strong>Ev</strong>.<br />
<strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland, L<strong>in</strong>gen<br />
Friedrich Schwenger, Pastor, Vors. der <strong>Ev</strong>. Konf. <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
<strong>in</strong> Nds/HB, Northeim<br />
Ver<strong>in</strong>a Speck<strong>in</strong>, Rechtsanwält<strong>in</strong>, Vorsitzende des Strafverteidiger<strong>in</strong>nen-<br />
und Strafverteidigervere<strong>in</strong>s Mecklenburg-<br />
Vorpommern e.V., Rostock<br />
M<strong>in</strong>isterialdirigent Johannes Spieker, M<strong>in</strong>isterium der Justiz<br />
des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg<br />
Dr. Ra<strong>in</strong>er Steffens, Rechtsanwalt, Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht,<br />
Greifswald<br />
Mart<strong>in</strong> Steller, Pastor i.R., langjähriger Gefangenenseelsorger<br />
an der JVA Hamburg-Fuhlsbüttel<br />
Prof. Dr. Anette Storgaard, Universität zu Aarhus, Dänemark<br />
Dr. Angela Strätker, Oberregierungsrät<strong>in</strong>, Schwer<strong>in</strong><br />
Hans-He<strong>in</strong>rich Thormeyer, Rechtsanwalt u. Notar, Berl<strong>in</strong><br />
Prof. Dr. Carlos Tiffer, Universität von Costa Rica, San José<br />
Adrian Tillmanns, Pfarrer, Vors. der <strong>Ev</strong>. Konf. <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong><br />
<strong>in</strong> NRW, Werl<br />
Günter Urbanczyk, Rechtsanwalt und Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht,<br />
Vorsitzender der Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Strafrecht im<br />
Mannheimer Anwaltsvere<strong>in</strong>, Mannheim<br />
Prof. Dr. Dirk van Zyl Smit, School of Law, Nott<strong>in</strong>gham, UK<br />
Prof. Horst Viehmann, M<strong>in</strong>isterialdirigent im Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />
der Justiz a.D., Neunkirchen<br />
Prof. Dr. Philipp Walkenhorst, Lehrstuhl Erziehungshilfe und<br />
Soziale Arbeit, Köln<br />
Prof. Dr. Tonio Walter, Lehrstuhl <strong>für</strong> Strafrecht, Strafprozessrecht,<br />
Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht, Regensburg<br />
Dr. Joachim Walter, Ltd. Regierungsdirektor a.D., Adelsheim<br />
Carl Werner Wendland, Verleger, Mönchengladbach<br />
Prof. Dr. Peter Wetzels, Institut <strong>für</strong> Krim<strong>in</strong>ologie, Hamburg<br />
Frank H. Weyel, Vorsitzender der Landesgruppe Hessen der<br />
Deutschen Vere<strong>in</strong>igung <strong>für</strong> Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen<br />
Wolfgang Wieland, MdB, Berl<strong>in</strong><br />
Axel Wiesbrock, Kath. <strong>Gefängnisseelsorge</strong>r an der JVA Tegel,<br />
Berl<strong>in</strong><br />
Annette Wilmes, Journalist<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong><br />
W<strong>in</strong>fried W<strong>in</strong>gert, Pastoralreferent, Katholische Seelsorge bei<br />
der JVA Hannover<br />
Vorsitzender He<strong>in</strong>z-Bernd Wolters, Meppen, <strong>für</strong> die <strong>Konferenz</strong><br />
der Katholischen Seelsorge bei den Justizvollzugsanstalten <strong>in</strong><br />
der Bundesrepublik Deutschland<br />
Manfred Zipper, Rechtsanwalt und Fachanwalt <strong>für</strong> Strafrecht,<br />
Schwetz<strong>in</strong>gen<br />
Barbara Zöller, <strong>Ev</strong>. Pfarrer<strong>in</strong> bei der JVA Butzbach, Oberursel<br />
Anmerkungen e<strong>in</strong>es emeritierten<br />
<strong>Gefängnisseelsorge</strong>rs zum Gesetz<br />
zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses<br />
- SeelGG<br />
Harro Hefendehl, Dortmund<br />
Das Mitteilungsblatt Nr.77 begrüßt se<strong>in</strong>e Leser-<br />
Innen mit e<strong>in</strong>em Foto von Peter Rassow, wie<br />
wir ihn <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung behalten werden, im selben<br />
Blatt wird das „Seelsorgegeheimnisgesetz-<br />
SeelGG“ vorgestellt. Peter Rassow und das<br />
Nachdenken über die Seelsorge im Gefängnis,<br />
das ist untrennbar mite<strong>in</strong>ander verbunden, diese<br />
Verbundenheit zeigt sich symbolisch auch im<br />
„Mitteilungsblatt“, das die Nachricht über Peters,<br />
aber auch Erw<strong>in</strong> Kurmanns Tod mit der<br />
Veröffentlichung des Gesetzes verb<strong>in</strong>det. Für<br />
mich war und ist Peter Rassow unser „Vordenker“<br />
<strong>in</strong> Sachen Seelsorge gerade im Spannungsfeld<br />
zwischen Kirche und Justiz.<br />
Das „Seelsorgegeheimnis“ – gerade <strong>in</strong> unserem<br />
Arbeitsfeld – ist e<strong>in</strong> Dauerthema, das mich über<br />
20 Jahre beschäftigt hat und als Diskussionsthema<br />
sicherlich nicht mit dem „SeelGG“ vom<br />
28. Oktober 2009 beendet ist. Anfang der 80er<br />
Jahre des vergangenen Jahrhunderts war es<br />
Thema e<strong>in</strong>er Bundeskonferenz, die sogar die<br />
manchem absurd ersche<strong>in</strong>ende Frage aufwarf,<br />
ob es nicht auch e<strong>in</strong> Seelsorgegeheimnis dem<br />
Gesprächspartner (!) gegenüber geben müsse, <strong>in</strong><br />
dem man ihn nicht auf Inhalte vergangener Gespräche<br />
ansprechen dürfe. Die Zeiten haben sich<br />
geändert, das SeelGG sieht sich mittlerweile<br />
genötigt, dem Umstand Rechnung zu tragen,<br />
dass Seelsorgegespräche abgehört werden können<br />
(das Gespräch von He<strong>in</strong>rich Albertz mit<br />
Christian Klar <strong>in</strong> Stammheim wurde heimlich<br />
mitgeschnitten) und Unterlagen beschlagnahmt<br />
werden können und Seelsorge auch mit technischen<br />
Kommunikationsmitteln wahrgenommen<br />
werden kann.<br />
Das SeelGG ist das Ergebnis e<strong>in</strong>es jahrelangen<br />
Diskussionsprozesses, <strong>in</strong> dem vermutlich alle<br />
47
möglichen Gesichtspunkte erörtert wurden. Diese<br />
Anmerkungen wollen nicht nachkarten und<br />
alte Diskussionen wiederbeleben, sie s<strong>in</strong>d aber<br />
Reaktionen e<strong>in</strong>es mit der Sache verbunden gebliebenen<br />
Pensionärs auf die kirchengesetzlichen<br />
Vorgaben <strong>für</strong> die Seelsorge im<br />
Allgeme<strong>in</strong>en, auf ihre möglichen Implikationen<br />
<strong>für</strong> die Seelsorgenden im Gefängnis.<br />
1) Formale Anfragen:<br />
1.1 Zur Frage des zeitlichen Geltungsbereiches<br />
bzw. der Verb<strong>in</strong>dlichkeit: dieses Gesetz trat<br />
am 1. Januar 2010 <strong>in</strong> Kraft (§ 14,1), es tritt aber<br />
erst <strong>in</strong> Kraft, sobald die Gliedkirchen oder der<br />
jeweilige kirchliche gliedkirchliche Zusammenschluss<br />
es übernommen haben (§14,2 ). Danach<br />
erfolgt e<strong>in</strong>e erneute Inkraftsetzung durch Verordnung<br />
des Rates der EKD. Zudem können die<br />
Gliedkirchen dieses Gesetz jederzeit wieder<br />
außer Kraft setzen (§14,3).<br />
1.2 Abstimmungsfragen: das SeelGG soll<br />
abgestimmt se<strong>in</strong> mit den jeweiligen Dienstgesetzen<br />
<strong>für</strong> Seelsorgende der Gliedkirchen bzw.<br />
gliedkirchlicher Zusammenschlüsse. Zudem<br />
haben die evangelischen Kirchen <strong>in</strong> NRW e<strong>in</strong>e<br />
kirchliche Dienstordnung <strong>für</strong> die Seelsorge <strong>in</strong><br />
Justizvollzugsanstalten erarbeitet. Diese Dienstordnung<br />
beschreibt konkret die Seelsorge <strong>in</strong><br />
diesem Bereich und verleiht dem Seelsorgegeheimnis<br />
e<strong>in</strong> besonderes Gewicht. Diese Dienstordnung<br />
wird (wurde?) im Amtsblatt des Justizm<strong>in</strong>isteriums<br />
veröffentlicht und somit durch<br />
die Landesregierung anerkannt. Zudem hat die<br />
Regionalkonferenz NRW <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em langen Diskussionsprozess<br />
e<strong>in</strong>e Konzeption <strong>für</strong> Ihre Arbeit<br />
entworfen (nachzulesen auf der Internet-<br />
Homepage www.ekir.de/<strong>Gefängnisseelsorge</strong>).<br />
In anderen Kirchen wird es ähnlich se<strong>in</strong>: soweit<br />
dies nicht schon im Vorfeld der Erörterungen<br />
um das SeelGG geschehen ist, müsste an diesem<br />
Punkt <strong>für</strong> mehr Klarheit gesorgt werden. Sollten<br />
sich hier Spannungen auftun, wäre unter<br />
Umständen der Zustimmungsprozess zum<br />
SeelGG durch die Gliedkirchen bzw. gliedkirchlichen<br />
Zusammenschlüsse gefährdet.<br />
48<br />
2) Inhaltliche Anfragen:<br />
2.1 Begrifflichkeit: Beichtgeheimnis, Seelsorgegeheimnis,<br />
Schweigepflicht, seelsorgerliche<br />
Verschwiegenheit, Aussageverweigerungsrecht,<br />
Zeugnisverweigerungsrecht s<strong>in</strong>d Begriffe, die<br />
teilweise synonym verwendet werden und <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander<br />
übergehen. Die Begriffe „Zeugnisverweigerungsrecht“<br />
bzw. „Aussageverweigerungsrecht“<br />
s<strong>in</strong>d juristische Begriffe. Sie gestehen<br />
dem bzw. der Seelsorgenden die Möglichkeit<br />
zu, auf Befragen nichts zu sagen, erwarten<br />
aber, dass e<strong>in</strong>e Aussage – falls es dazu kommt –<br />
wahrheitsgemäß und vollständig ist. Insofern ist<br />
es zu begrüßen, dass das SeelGG sich <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Begriff: Seelsorgegeheimnis entschieden hat.<br />
Der Begriff Seelsorgegeheimnis (mysterion)<br />
geht weit über das Recht der Aussage- bzw.<br />
Zeugnisverweigerung des/der E<strong>in</strong>zelnen h<strong>in</strong>aus,<br />
er kennzeichnet das seelsorgerische Geschehen<br />
<strong>in</strong>sgesamt als e<strong>in</strong>en geschützten Bereich, <strong>in</strong> den<br />
von außen nicht e<strong>in</strong>gedrungen werden darf. Das<br />
SeelGG nimmt <strong>für</strong> sich <strong>in</strong> Anspruch, „auch zur<br />
Klärung des Begriffs der Seelsorge auch im<br />
staatlichen Recht beizutragen“. Der Begriff<br />
„Geheimnis“ ist dem staatlichen Recht durchaus<br />
geläufig, zum Beispiel <strong>in</strong> den Bereichen Bankgeheimnis<br />
oder Steuergeheimnis, aber gerade<br />
der Geheimnischarakter <strong>in</strong> diesen profanen Bereichen<br />
wird ja zunehmend <strong>in</strong>frage gestellt, da<br />
dürfte es e<strong>in</strong>e lohnende Aufgabe des SeelGG<br />
se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en neuen, zudem noch religiös fundierten<br />
Geheimnisbegriff <strong>in</strong> das juristische Denken<br />
e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.<br />
2.2 Gibt es Grenzen des Seelsorgegeheimnisses?<br />
§2 (4) SeelGG hat den Verfasser dazu gebracht,<br />
sich auch aus dem Ruhestand heraus noch e<strong>in</strong>mal<br />
zu Wort zu melden. Er lautet: „Jede Person,<br />
die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Seelsorgegespräch e<strong>in</strong>er Seelsorger<strong>in</strong><br />
oder e<strong>in</strong>em Seelsorger anvertraut, muss<br />
darauf vertrauen können, dass daraus ohne ihren<br />
Willen ke<strong>in</strong>e Inhalte Dritten bekannt werden.<br />
Das Beichtgeheimnis ist unverbrüchlich zu wahren.“<br />
Eigentlich e<strong>in</strong> Satz, an dem <strong>in</strong>haltlich<br />
nichts auszusetzen ist, aber er reicht nicht aus,<br />
um das Seelsorgegeheimnis zu def<strong>in</strong>ieren. Das
Beichtgeheimnis bleibt zwar unverbrüchlich,<br />
das Seelsorgegeheimnis wird dadurch differenziert,<br />
dass es durch die Formulierung „ohne<br />
ihren Willen“ <strong>in</strong> das Ermessen des Gesprächsteilnehmers<br />
gestellt wird. Dieser wird bei e<strong>in</strong>er<br />
E<strong>in</strong>verständniserklärung (verständlicherweise)<br />
immer davon ausgehen, dass die/der Seelsorgende<br />
ausschließlich Positives über ihn aussagt.<br />
Die Seelsorge muss ständig e<strong>in</strong>en Weg zwischen<br />
der Skylla suchen, nämlich den Gesprächspartner<br />
zu entmündigen, <strong>in</strong>dem sie besser<br />
zu wissen glaubt, was der Seelsorge-<br />
Suchende wirklich braucht und der Charybtis,<br />
vom Gesprächspartner <strong>in</strong>strumentalisiert zu<br />
werden.<br />
Das Seelssorgegeheimnis des/der Seelsorgenden<br />
Es ist unbed<strong>in</strong>gt positiv festzuhalten, dass weder<br />
das SeelGG noch andere kirchlichen Bestimmungen<br />
die/ den Seelsorgende(n) nötigen, e<strong>in</strong>e<br />
Aussage zu machen, wenn sie/er dies nicht will,<br />
das ist unbestritten und sollte nicht weiter erörtert<br />
werden.<br />
Ebenso ist es unstrittig, dass der/die Seelsorgende<br />
im Rahmen der kirchlichen Vorgaben selbst<br />
bestimmen kann, was Seelsorge ist. Nicht alles,<br />
was e<strong>in</strong> Seelsorger tut, ist Seelsorge, aber er tut<br />
es als Seelsorger. Trotzdem hat es immer wieder<br />
seitens der Justiz Infragestellungen des Seelsorgegeheimnisses<br />
gegeben, der Verfasser weiß<br />
dies aus eigener Anschauung als zeitweiser<br />
<strong>Konferenz</strong>vorsitzender der RK NRW. Von<br />
manchen Anstaltsleitern wurde es als selbstverständlich<br />
vorausgesetzt, dass die Schweigepflicht<br />
bei „Sicherheit und Ordnung“ ihre Grenzen<br />
f<strong>in</strong>det (vielleicht hatte er die Figur des Anstaltsgeistlichen<br />
aus Hans Falladas Roman „Wer<br />
e<strong>in</strong>mal aus dem Blechnapf fraß“ vor Augen.)<br />
Jede noch so sche<strong>in</strong>bar <strong>in</strong>teressierte Diskussion<br />
um die Verschwiegenheit der Seelsorge diente<br />
nur dem e<strong>in</strong>en Zweck: nämlich Grenzen der<br />
Verschwiegenheit aufzuzeigen, meist an konstruierten<br />
spektakulären Fällen, von denen man<br />
dann auch auf weniger spektakuläre übergehen<br />
kann. Gerade der mehr als fragwürdige Umgang<br />
der Kirchen mit den Missbrauchsfällen <strong>in</strong> ihrem<br />
Bereich bieten e<strong>in</strong>e willkommene Angriffsfläche<br />
auf das Seelsorgegeheimnis. Ich behaupte:<br />
gerade unter Wahrung des Seelsorgegeheimnis-<br />
ses hätten bessere Lösungen <strong>für</strong> Opfer und Täter<br />
gefunden werden können als durch Vertuschen,<br />
Verschweigen, aber auch durch Strafanzeigen.<br />
Das Seelsorgegeheimnis ist <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Kritiker<br />
e<strong>in</strong>e Nebelkerze, <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> der man sich als Seelsorgende(r)<br />
verstecken kann, aber es bietet dessen<br />
ungeachtet sonst nicht vorhandene Chancen,<br />
e<strong>in</strong>en Konflikt abzuarbeiten.<br />
Die Ermessensfrage (im Bereich <strong>Gefängnisseelsorge</strong>)<br />
These: e<strong>in</strong> Seelsorgegespräch ist nur dann e<strong>in</strong><br />
seelsorgerliches Gespräch, wenn es das Gewicht<br />
des Beichtgeheimnisses hat, also nichts davon<br />
an Dritte geht. Das hat zunächst ganz praktische<br />
Gründe: e<strong>in</strong> Gespräch bekommt se<strong>in</strong>en eigenen<br />
Drive, wenn von vorne here<strong>in</strong> klar ist, dass nur<br />
die Gesprächsteilnehmer <strong>für</strong> sich e<strong>in</strong>en Nutzen<br />
daraus ziehen können ohne dass Dritte davon<br />
erfahren. Von daher halte ich es <strong>für</strong> mehr als<br />
bedenklich, dass das SeelGG <strong>in</strong>direkt die Möglichkeit<br />
eröffnet, mit Wissen und E<strong>in</strong>verständnis<br />
des Gesprächspartners Gesprächs<strong>in</strong>halte an<br />
Dritte weiterzugeben. Das würde dem Gespräch<br />
entweder den Charakter e<strong>in</strong>es Anwaltsgespräches<br />
(das Positive wird herausgestellt, das Negative<br />
wird verschwiegen), oder e<strong>in</strong>es Gutachtens<br />
geben. Beides s<strong>in</strong>d Seelsorgende nicht: im<br />
Grunde s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> diesen Fragen <strong>in</strong>kompetent,<br />
denn sie verfügen über ke<strong>in</strong>e justizrelevanten<br />
Instrumentarien und Kriterien. Es mag ja durchaus<br />
so etwas wie e<strong>in</strong>en „seelsorgerlichen Befund“<br />
geben, aber dieser darf schon aus Gründen<br />
der religiösen und weltanschaulichen Neutralität<br />
des Staates ke<strong>in</strong>e Rolle spielen. Mir s<strong>in</strong>d<br />
Fälle bekannt, dass Kollegen sich vom Gefangenen<br />
wie von der Kirche e<strong>in</strong>e Aussageerlaubnis<br />
geben ließen, selbstverständlich mit vielleicht<br />
nicht bestem Wissen, wohl aber mit bestem<br />
Gewissen, die Unschuld des Angeklagten<br />
glaubhaft zu machen, leider erreichten sie das<br />
Gegenteil, weil die Gerichte nicht an dem <strong>in</strong>teressiert<br />
waren, was der Seelsorger sagen wollte,<br />
sondern was er nicht sagen wollte oder konnte.<br />
Also: mit dem Seelsorgegeheimnis verhält es<br />
sich wie mit der Schwangerschaft: entweder ja<br />
oder ne<strong>in</strong>, Mittelwege gibt es nicht.<br />
49
2.3 Diakonisches Handeln:<br />
Fritz Sperle schreibt <strong>in</strong> der „Er<strong>in</strong>nerung an Erw<strong>in</strong><br />
Kurmann“ (Mitteilungsblatt 77, S.2): dass<br />
„<strong>für</strong> ihn die Verzahnung von Diakonie und<br />
Seelsorge ... von maßgeblicher Bedeutung“ war.<br />
Seelsorge bedeutet also nicht ausschließlich das<br />
durch das SeelGG geschützte „Vier-<br />
Augengespräch“ über <strong>Glaube</strong>nsfragen, Schuld<br />
und Vergebung etc., sondern umfasst selbstverständlich<br />
auch diakonisches Handeln. Man kann<br />
davon ausgehen, dass jeder Wunsch nach konkreter<br />
Hilfe durch (e<strong>in</strong>en) Seelsorger mit e<strong>in</strong>em<br />
Gespräch beg<strong>in</strong>nt. So dürfte es selbstverständlich<br />
se<strong>in</strong>, dass diese Gespräche und mögliche<br />
daraus erwachsenen Hilfeleistungen unter den<br />
Schutz des SeelGG fallen.<br />
2.4 Teilnahme an Vollzugskonferenzen und<br />
Seelsorgegeheimnis:<br />
In der Diskussion um die neue Kirchliche<br />
Dienstordnung <strong>in</strong> NRW war dieser Punkt sehr<br />
umstritten. Es gibt KollegInnen, die großen<br />
Wert auf die Teilnahmemöglichkeiten an diesen<br />
<strong>Konferenz</strong>en legen. Die Dienstordnung ermöglicht<br />
diese Teilnahme, wenn auch unter der<br />
Maßgabe der Beachtung des Seelsorgegeheimnisses.<br />
Der Verfasser dieser Anmerkungen verhehlt<br />
nicht, dass er die Teilnahme an Vollzugskonferenzen<br />
<strong>für</strong> sich ablehnt. Er war Seelsorger<br />
u.a. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>weisungsanstalt, <strong>in</strong> der über die<br />
vollzugliche Zukunft verurteilter Straftäter entschieden<br />
wird, besonders darüber, ob e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung<br />
<strong>in</strong> den offenen Vollzug sofort oder später<br />
möglich ist. Bei entsprechenden und auch<br />
verständlichen Wünschen nach diesbezüglicher<br />
Hilfe machte er se<strong>in</strong>e Rolle wie folgt deutlich:<br />
„Sie s<strong>in</strong>d der Boxer, ich b<strong>in</strong> bereit, die Rolle<br />
Ihres Sekundanten zu übernehmen: Boxen müssen<br />
Sie im R<strong>in</strong>g, ich bleibe außerhalb des R<strong>in</strong>ges,<br />
kann Ihnen aber Tipps geben, wie Sie Blößen<br />
und damit Angriffsflächen vermeiden, vielleicht<br />
sogar <strong>für</strong> sich selber punkten können.“<br />
Der Seelsorger kann passiv an e<strong>in</strong>er <strong>Konferenz</strong><br />
teilnehmen, um sich e<strong>in</strong> Bild von dem zu machen,<br />
was über e<strong>in</strong>en oder mehrere Gefangene<br />
gesprochen und entschieden wird, problematisch<br />
wird es, wenn er/sie <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en bestimmten<br />
Gefangenen <strong>in</strong> die <strong>Konferenz</strong> geht. E<strong>in</strong>e Konfe-<br />
50<br />
renz erwartet, dass jeder Teilnehmer e<strong>in</strong>en Beitrag<br />
zur Beschlussf<strong>in</strong>dung leistet, eben auch der<br />
Seelsorger, wenn er/sie se<strong>in</strong> Recht wahrnimmt,<br />
an der <strong>Konferenz</strong> teilzunehmen.<br />
2.5: Grenzfälle:<br />
Das SeelGG ist ke<strong>in</strong> Selbstzweck, es dient dem<br />
Schutz der Gesprächspartner und darüber h<strong>in</strong>aus<br />
der Gesellschaft. Damit lässt sich sche<strong>in</strong>bar alles<br />
bisher Gesagte relativieren, im Folgenden<br />
soll aber gezeigt werden, wie auch <strong>in</strong> Extremsituationen<br />
das Seelsorgegeheimnis gewahrt werden<br />
kann und muss:<br />
2.5.1: Suizidgefährdung<br />
In e<strong>in</strong>em Gespräch kann durchaus der E<strong>in</strong>druck<br />
entstehen, dass der Gesprächspartner suizidgefährdet<br />
ist, ohne dass dieser es direkt ausspricht.<br />
Häufig ist es so, dass der Betreffende schon<br />
durch die JVA „vorsorglich“ als gefährdet e<strong>in</strong>gestuft<br />
ist. Das Problem stellt sich aber dann,<br />
wenn dies nicht der Fall ist. An diesem Punkt<br />
wird das Seelsorgegeheimnis zu e<strong>in</strong>er großen<br />
Belastung <strong>für</strong> den/die Seelsorgende(n). Manche<br />
Seelsorgende behelfen sich mit e<strong>in</strong>em versteckten<br />
H<strong>in</strong>weis auf die Gefährdung des Gefangenen<br />
(„ich darf ja nichts sagen, aber es wäre gut,<br />
wenn Sie mal e<strong>in</strong> bisschen auf den…achten<br />
würden“). Das ist ke<strong>in</strong>e Lösung, dieser H<strong>in</strong>weis<br />
verlagert die Verantwortung des durch das<br />
SeelGG geschützten und damit privilegierten<br />
Seelsorgers auf den ungeschützten Abteilungsbeamten,<br />
der dann nicht weiß, wie er mit dem<br />
„versteckten“ H<strong>in</strong>weis umgehen soll. Das Seelsorgegeheimnis<br />
kann allenfalls dadurch gewahrt<br />
werden, dass der Seelsorger den Gesprächspartner<br />
offen auf se<strong>in</strong>e Be<strong>für</strong>chtungen h<strong>in</strong>weist und<br />
ihm die Entscheidung überlässt, ob entsprechende<br />
Schutzmaßnahmen <strong>für</strong> ihn getroffen<br />
werden oder ob die volle Vertraulichkeit des<br />
Gespräches gewahrt werden soll.<br />
2.5.2: Gefährdung durch (1) oder <strong>für</strong> (2) Dritte:<br />
2.5.2.1:<br />
E<strong>in</strong> Gefangener wendet sich an den/die Seelsorger(<strong>in</strong>)<br />
mit der Bitte um Hilfe, da er durch Mitgefangene<br />
<strong>in</strong> der Zelle körperlich bedroht oder<br />
sexuell missbraucht wird. Mit ihm muss das
Problem ausgiebig erörtert werden, vielleicht<br />
auch <strong>h<strong>in</strong>ter</strong>fragt werden, wieweit er selbst Anteile<br />
an dieser Bedrohung hat und ob und wenn<br />
wie er sich selbst schützen kann. Der Seelsorger<br />
kann den Gefangenen e<strong>in</strong> Telefongespräch mit<br />
dem Anwalt (falls vorhanden und erreichbar)<br />
führen lassen, damit dieser die Anstaltsleitung<br />
<strong>in</strong>formieren kann. Letztlich kann der/die SeelsorgerIn<br />
den Gefangenen fragen, ob er damit<br />
e<strong>in</strong>verstanden ist, das bis zu diesem Zeitpunkt<br />
immer noch vertrauliche Gespräch jetzt zu beenden<br />
und den Sicherheits<strong>in</strong>spektor dazu zu<br />
bitten, damit er diesem se<strong>in</strong> Anliegen direkt<br />
vortragen kann. Das Seelsorgegeheimnis bleibt<br />
<strong>in</strong>soweit gewahrt, dass nicht über den Gefangenen<br />
Dritten gegenüber gesprochen wird, sondern<br />
dass er die Möglichkeit hat, se<strong>in</strong> Anliegen<br />
selbst vorzutragen bzw. selbst zu entscheiden,<br />
wie damit umgegangen werden soll.<br />
2.5.2.2:<br />
E<strong>in</strong> Gefangener wendet sich an den/die SeelsorgerIn<br />
mit dem H<strong>in</strong>weis, er habe auf e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
Person e<strong>in</strong>e derartige Wut, dass er sie<br />
bei nächster Gelegenheit angreifen werde. Gerade<br />
hier hat das Seelsorgegeheimnis se<strong>in</strong>e<br />
größte Chance: es bietet e<strong>in</strong>e sonst nicht gegebene<br />
Möglichkeit, etwas zu verh<strong>in</strong>dern; ohne<br />
Vertrauen auf das Seelsorgegeheimnis hätte sich<br />
der Betreffende nicht geäußert. Er hätte sich<br />
nicht geäußert, wenn <strong>für</strong> ihn die Sache feststünde,<br />
so kann die Sache noch e<strong>in</strong>gehend erörtert<br />
werden. Im Notfall bleibt immer noch die Möglichkeit,<br />
den Gefährdeten unter Wahrung des<br />
Seelsorgegeheimnisses zu warnen oder zu<br />
schützen, ohne die Quelle preiszugeben.<br />
FAZIT:<br />
Das Seelsorgegeheimnis ist ke<strong>in</strong> Anhängsel des<br />
Seelsorgegeschehens, sondern ist dessen Wesensmerkmal:<br />
Seelsorge wird erst durch das<br />
Seelsorgegeheimnis zur Seelsorge. So ist es zu<br />
begrüßen, dass die EKD mit dem SeelGG die<br />
Wichtigkeit gerade dieses „mysterion“ betont.<br />
(<strong>in</strong> memoriam Peter Rassow et Erw<strong>in</strong> Kurmann)<br />
Emerititreffen 2010 im Kloster<br />
Schöntal<br />
Hans Freitag<br />
An der Autobahn Würzburg – Heilbronn stehen<br />
stilisierte braune H<strong>in</strong>weisschilder „Kloster<br />
Schöntal“. Wir fuhren auch, wer weiß, wie oft<br />
schon, daran vorbei, ohne sie zu beachten.<br />
Diesmal war es anders. Als das erste Schild am<br />
Rand auftauchte, wussten wir, jetzt s<strong>in</strong>d wir<br />
bald am Ziel, und dann wird sich auch die Frage<br />
beantworten, wer sich zu unserem diesjährigen<br />
Treffen aufgemacht haben würde.<br />
Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger und Gerold Rieker hatten<br />
<strong>für</strong> unser „Schwäbisches Treffen“ vom 26. – 30.<br />
April 2010 <strong>in</strong> der kath. Bildungsstätte e<strong>in</strong> Programm<br />
vorbereitet, das verlockte, sich ganz darauf<br />
e<strong>in</strong>zulassen. Wir waren 45 Teilnehmer.<br />
Leider mussten e<strong>in</strong>ige aus Krankheits- oder Altersgründen<br />
absagen. Die fünf Witwen Erna<br />
Neddenriep, Heti Steffle, Elke Machwitz, Maria<br />
Kurmann und Helga Frede wurden besonders<br />
herzlich willkommen geheißen.<br />
Im barocken Festsaal des früheren Klosters begrüßte<br />
uns alle Gerold Rieker im „Hohenloher<br />
Land“. Dabei klärte er uns darüber auf, dass es<br />
<strong>in</strong> Abweichung vom Sammler der Sprüche im<br />
AT: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, <strong>in</strong><br />
Württemberg doch „Neues“ gibt: die Hohenloher<br />
s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Schwaben, sondern Franken. Sie<br />
kamen 1808 auf Beschluss Napoleons zum Königreich<br />
Württemberg. „Weil wir ja nun württembergisch<br />
geworden s<strong>in</strong>d, wollen wir uns<br />
auch dem Gebet <strong>für</strong> die neue Obrigkeit nicht<br />
verweigern“, sagte e<strong>in</strong> Prälat zu se<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>degliedern.<br />
E<strong>in</strong>e Anmerkung dazu: Die Mächtigen der Erde<br />
haben schon immer bei der „Neuordnung der<br />
Welt“ Bündnistreue mit der Zuteilung von Land<br />
und Leuten belohnt, den besiegten Fe<strong>in</strong>d mit der<br />
Wegnahme von Land und Leuten zusätzlich<br />
bestraft. So „belohnte“ Napoleon 1808 den verbündeten<br />
König von Württemberg mit dem Hohenloher<br />
Land, den verbündeten König von<br />
51
Bayern mit dem Frankenland. Es gibt genügend<br />
weitere Beispiele.<br />
Mit schwäbischen Bretzeln und Kaffee wurden<br />
wir weiter e<strong>in</strong>gestimmt auf den Ort, das Land,<br />
die Sprache und hatten zuletzt dann doch unsere<br />
Mühe, das „Schwäbische Hochdeutsch“ zu verstehen.<br />
Das lag aber nicht alle<strong>in</strong> an der Akustik<br />
des großen Barocksaales, der sich dann als Musiksaal<br />
hervorragend auszeichnete. E<strong>in</strong> Mikrofon<br />
schaffte dann Abhilfe.<br />
Dass wir uns dann am Abend <strong>in</strong> großer Runde<br />
trauten, uns sehr viel von uns selbst zu erzählen,<br />
e<strong>in</strong>ander an Freud und Leid unseres Lebens teilnehmen<br />
zulassen, darf als e<strong>in</strong> Zeichen der guten<br />
Geme<strong>in</strong>schaft gewertet werden, die uns im<br />
Grunde zusammenführt und zusammenhält. Im<br />
Gedenken an Erw<strong>in</strong> Kurmann sangen wir die<br />
letzten fünf Verse aus Paul Gerhardts Lied: Was<br />
sollt ich mich denn grämen, hab ich doch Christum<br />
noch, wer will den mir nehmen …<br />
Das war dann auch e<strong>in</strong> bewegender Abschluss<br />
dieses ersten Abends.<br />
Der Dienstag<br />
In der Morgenandacht <strong>in</strong> der kath. Hauskapelle<br />
erzählte Fritz Sperle u.a. von se<strong>in</strong>en gezielten<br />
Ausführungen mit Jugendlichen aus der JVA<br />
Adelsheim <strong>in</strong> diesen Klosterbereich und von<br />
den E<strong>in</strong>drücken auf die jungen Menschen.<br />
Die Führung durch das groß angelegte ehemalige<br />
Zisterzienserkloster war u.a. bestimmt von<br />
der alten Geschichte – gegründet 1157 – den<br />
großen Umbauten der Barockzeit, der großen<br />
Kirche und als Besonderheit von den vielen<br />
late<strong>in</strong>ischen Versen über den Türen, die der Abt<br />
Knittel (1650-1732) anbr<strong>in</strong>gen ließ. E<strong>in</strong> Beispiel:<br />
Über der Tür zum Speisesaal steht geschrieben<br />
– übersetzt – „Faste, bis knurret der<br />
Bauch dann schmeckt die Mehlsuppe dir auch“.<br />
Bis heute ist der Begriff „Knittel-Verse“ bekannt.<br />
Am Nachmittag machte e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Gruppe,<br />
die nicht so gut zu Fuß waren, e<strong>in</strong>e Ausfahrt <strong>in</strong>s<br />
Hohenloher Land. E<strong>in</strong>e größere Gruppe brach<br />
zu e<strong>in</strong>er Wanderung auf und erfuhr dabei, dass<br />
der angekündigte „leichte und ebene Weg“ ganz<br />
52<br />
schön bergauf und bergab führte; und doch sehr<br />
schön war.<br />
Das erste Ziel war die kle<strong>in</strong>e Wallfahrtskirche<br />
Neusatz, umgeben von der Pracht blühender<br />
Obstbäume. Was <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Anblick!<br />
Das weite Ziel führte uns – auf Umwegen durch<br />
die ausgetrockneten Felder – zum Waldfriedhof<br />
der „Hohenloher Landjuden“ mit hunderten von<br />
Grabste<strong>in</strong>en. 1959 fand hier die letzte Beerdigung<br />
statt. Die Juden auf dem Lande, die vor<br />
1938 nicht hatten fliehen können, wurden alle <strong>in</strong><br />
Auschwitz ermordet. Heute gibt es im Hohenloher<br />
Lande ke<strong>in</strong>e jüdischen Geme<strong>in</strong>den mehr.<br />
Der Abend, im Keller mit se<strong>in</strong>em bee<strong>in</strong>druckenden<br />
Gewölbe, hatte zwei sich ergänzende<br />
Mittelpunkte: Prälat Wille aus Heilbronn machte<br />
mit uns „literarische Spaziergänge“. Zuerst<br />
zum schwäbischen Dichter Eduard Mörike<br />
(1804-1875) und weiter zu den vielen Besonderheiten<br />
und Eigenheiten der schwäbischen<br />
Mundart, die wohl nur e<strong>in</strong> echter Schwabe<br />
formvollendet auszusprechen vermag und nie<br />
verleugnen kann.<br />
Se<strong>in</strong> Erzählen wurde durch e<strong>in</strong>e We<strong>in</strong>probe unterbrochen.<br />
Jürgen Hepperle stellte uns sechs<br />
We<strong>in</strong>e der Staatsdomäne Hohra<strong>in</strong>hof, angeschlossen<br />
an die JVA Heilbronn, so gekonnt<br />
und launig vor, das sechs We<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fach zu wenig<br />
gewesen s<strong>in</strong>d! Nach den vielen Mundart-<br />
Texten waren die drei Verse, die wir mite<strong>in</strong>ander<br />
gesungen haben: Der Mond ist aufgegangen<br />
… Wir stolzen Menschenk<strong>in</strong>der … So legt euch<br />
denn ihr Brüder … e<strong>in</strong> schöner und zugleich<br />
befriedeter Abschluss dieses ersten Tages.<br />
Der Mittwoch<br />
In der Morgenandacht <strong>in</strong> der <strong>Ev</strong>. Kirche, die<br />
heute zum erweiterten Klostera<br />
real gehört, gab uns Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong>en<br />
Satz von Dietrich Bonhoeffer mit auf den Weg<br />
durch diesen Tag <strong>für</strong> alle unseren Tage: „In se<strong>in</strong>em<br />
Leben empfängt der Mensch unendlich viel<br />
mehr als er geben kann.“ Die geplante Busfahrt<br />
führte uns dann auf Nebenstrecken durch das<br />
Hohenloher Land im Frühl<strong>in</strong>g nach Schwäbisch-Hall.<br />
An der St.Michaeliskirche, „der schönsten Stube<br />
von Hall“, erbaut vor 850 Jahren, wartete bereits
Prälat i.R. Dieterich auf uns. An der Büste von<br />
Dietrich Bonhoeffer, die neben der Kirche steht,<br />
dem Bonhoefferischen Haus gegenüber – se<strong>in</strong>e<br />
Vorfahren hatten <strong>in</strong> Schwäbisch-Hall hohe Ämter<br />
<strong>in</strong>ne, und <strong>in</strong> der Kirche wird an sie er<strong>in</strong>nert –<br />
sagte Prälat Dietrich Sätze des Gedenkens an<br />
ihn, und er er<strong>in</strong>nerte auch an die Verkennung<br />
Dietrich Bonhoeffers und an das Verschweigen<br />
se<strong>in</strong>er Person <strong>in</strong> der ev. Kirche <strong>in</strong> den ersten<br />
Jahrzehnten nach 1945.<br />
Die alte gotische Kirche, mit ihrem schönen<br />
Gewölbe im Chor und den vielen Grabmälern<br />
ist e<strong>in</strong> großartiges Zeugnis frommen Lebens und<br />
ehrwürdigen Gedenkens an die Toten.<br />
So lag es nahe, dass uns Prälat Dietrich <strong>in</strong> dieser<br />
Kirche <strong>in</strong> das Leben und das Werk des „württembergischen<br />
Reformators“, Johannes Brenz<br />
(1499-1570), den Sohn e<strong>in</strong>es Bürgermeisters,<br />
e<strong>in</strong>führte. Er hat uns den „Reformator Süddeutschlands“<br />
mit fundiertem kirchengeschichtlichem<br />
Wissen regelrecht „vor die Augen gemalt“.<br />
– Für manchen aus unserer Runde war<br />
Johannes Brenz bis zu dieser Stunde e<strong>in</strong> mehr<br />
oder weniger unbekannter Mann der Reformationszeit.<br />
E<strong>in</strong> paar Sätze und Gedanken:<br />
Johannes Brenz führte <strong>in</strong> Schwäbisch-Hall 1524<br />
die Reformation e<strong>in</strong>. Er verh<strong>in</strong>derte <strong>in</strong> Württemberg<br />
den „Bildersturm“ <strong>in</strong> den Kirchen. Im<br />
Bauernkrieg wollte er nicht, dass „Gewalt mit<br />
Gegengewalt“ beantwortet wird. Er „mahnte zur<br />
Milde“, wollte aber, „dass die Bauern zahlen<br />
sollen“ …<br />
Die Prediger des <strong>Ev</strong>angeliums mahnte: „Dem<br />
Brunnen ist es egal, wer daraus tr<strong>in</strong>kt. So soll<br />
auch der Prediger das <strong>Ev</strong>angelium nicht nach<br />
der Würdigkeit der Hörer fragen.“<br />
Johannes Brenz mahnte zur Toleranz gegen<br />
Schwärmer und Irrlehrer. In der Hexenfrage<br />
wollte er, dass die Frauen nicht vor den Richter<br />
gestellt werden. Johannes Brenz war e<strong>in</strong> fleißiger<br />
Mann. Er verfasste 18 Bibelkommentare,<br />
und <strong>in</strong> zwei Ehen zeugte er 19 K<strong>in</strong>der.<br />
Im alten Brauhaus, auf der Dachterrasse mit<br />
Blick auf die alte Stadt, war Mittagessen vorbereitet.<br />
Der schöne Weg dorth<strong>in</strong> führte an der<br />
Kocher entlang.<br />
Für den Nachmittag gab es mehrere Vorschläge:<br />
Wir entschieden uns mit anderen zusammen <strong>für</strong><br />
das „Hällisch-Fränkische Museum“. In alten<br />
renovierten Häusern, die ersten erbaut um 1240,<br />
wird u.a. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bee<strong>in</strong>druckenden Sammlung<br />
an die Geschichte des jüdischen Lebens <strong>in</strong><br />
Schwäbisch-Hall und an die Vernichtung des<br />
jüdischen Lebens im Dritten Reich er<strong>in</strong>nert. Bis<br />
heute gibt es <strong>in</strong> Schwäbisch-Hall ke<strong>in</strong>e jüdische<br />
Geme<strong>in</strong>de mehr. Die bemalte Vertäfelung zweier<br />
jüdischer Beträume von 1738/39 gehört zu<br />
den bedeutendsten erhaltenen Zeugnissen jüdischer<br />
Kultur <strong>in</strong> Deutschland.<br />
Der Abend war ausgefüllt mit viel Musik und<br />
der Vorstellung des anderen schwäbischen<br />
Dichters, Friedrich Hölderl<strong>in</strong> (1770-1843).<br />
Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger hat diesen Part <strong>für</strong> den<br />
erkrankten Referenten mit Bravour wahrgenommen.<br />
„Der Dichter ist berufen, das `Göttliche´<br />
zu beschreiben, Gott und e<strong>in</strong> ehrlich Herz<br />
helfen immer …“<br />
Während Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger erzählte und uns<br />
e<strong>in</strong>en Zugang zu dem Dichter „mit e<strong>in</strong>em Leben<br />
voller Niederlagen“ zu bahnen versuchte,<br />
schrieb ich diesen Satz auf, den ich so wiedergebe:<br />
Frage: Bleibt bei Hölderl<strong>in</strong> die persönliche<br />
Antwort auf den Gott, wie der uns <strong>in</strong> der<br />
Heiligen Schrift bezeugt wird, offen? Im Gegensatz<br />
zu den dichterischen Gedankenhöhen<br />
und dem Vorsatz, das „Göttliche zu beschreiben“,<br />
wirken die <strong>Glaube</strong>nssätze von Paul Gerhardt,<br />
die wir gesungen haben … Ich b<strong>in</strong> de<strong>in</strong>,<br />
weil du de<strong>in</strong> Leben und de<strong>in</strong> Blut mir zugut <strong>in</strong><br />
den Tod gegeben … wie helle Sonnenstrahlen<br />
im Nebel, wie Sätze der Befreiung der Gedanken<br />
e<strong>in</strong>es Menschen, die ihn h<strong>in</strong>führen zu e<strong>in</strong>em<br />
frohen Bezeugen se<strong>in</strong>es <strong>Glaube</strong>ns an Jesus<br />
Christus.<br />
Der Donnerstag<br />
Während der Morgenandacht <strong>in</strong> der ev. Kirche<br />
zitierte Gerold Rieker Mörike: „An den Christus<br />
am Kreuz lehne ich mich an“, gedachten wir an<br />
die Verstorbenen Brüder. Es war bewegend,<br />
dass Gebhard von Biela als unser „Kontaktmensch“<br />
wohl zum letzten Mal die Namen<br />
nannte:<br />
He<strong>in</strong>z Lehmann, gest. 23.10.2008<br />
53
Erw<strong>in</strong> Kurmann, gest. 24.07.2009<br />
Peter Rassow, gest. 27.03.2010<br />
Wir sangen zum Gedenken: Christ ist erstanden<br />
von der Marter alle, des sollen wir alle froh se<strong>in</strong><br />
…<br />
Danach versammelten wir uns im Barocksaal<br />
zum Musizieren und geme<strong>in</strong>samen S<strong>in</strong>gen. Wir<br />
wurden so mehr und mehr zu e<strong>in</strong>em<br />
auftrittsreifen Chor!<br />
Daran schloss sich, so genannt, unsere „Mitgliederversammlung“<br />
an. Heere Busemann,<br />
L<strong>in</strong>gen, erklärte sich bereit, das Amt des neuen<br />
„Kontaktmenschen“ zu übernehmen. Horst<br />
Mantzel will die Kasse verwalten. Zu unser aller<br />
Freude konnten die beiden Wahlvorgänge e<strong>in</strong>stimmig<br />
und schnell vorgenommen werden.<br />
Heere Busemann will mit Eberhard Bornemann<br />
zusammen auch die Grüße zum Geburtstag der<br />
Kollegen schreiben.<br />
So darf sich unsere Geme<strong>in</strong>schaft nun mit unserem<br />
neuen „Kontaktmenschen“ und Verantwortlichen<br />
zu unser aller Freude weiter entwickeln.<br />
Gott mag es schenken; er hat die Gnad!<br />
Mit e<strong>in</strong>em herzlichen Gruß an Gebhard von<br />
Biela und an se<strong>in</strong>e Frau Kathar<strong>in</strong>a, wie auch an<br />
Ewald Bickelmann und se<strong>in</strong>e Frau Helga wurde<br />
die „Mitgliederversammlung“ beendet.<br />
Am Nachmittag machten wir dann e<strong>in</strong>e weitere<br />
Busreise zu zwei Zielen: <strong>in</strong> Cleversulzbach, wo<br />
Eduard Mörike vom 1834-1843 die Pfarrstelle<br />
<strong>in</strong>nehatte, wartete <strong>in</strong> der Kirche e<strong>in</strong>e ältere Dame<br />
auf uns, die sich als e<strong>in</strong>e profane Kenner<strong>in</strong><br />
Mörikes und als e<strong>in</strong>e grandiose Erzähler<strong>in</strong> auswies.<br />
Auf e<strong>in</strong>em Stuhl vor uns sitzend, erzählte<br />
sie „vom grandiosen Menschen Eduard Mörike“,<br />
Auffallendes, auch schockierend Befremdendes<br />
und Fragwürdiges aus se<strong>in</strong>em Leben –<br />
ohne dem Dichter Mörike dabei Abbruch zu<br />
tun! – wie es spannender wahrlich nicht erzählt<br />
werden kann. Wer hört von uns nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Ohren: „Me<strong>in</strong>e guten Bauern freuen mich sehr,<br />
e<strong>in</strong>e `scharfe Predigt´ ist ihr Begehr …“<br />
Das zweite Ziel des Ausfluges war wohl den<br />
allermeisten von uns schon vom Namen her<br />
unbekannt: das Haus von Just<strong>in</strong>us Kerner<br />
54<br />
(1786-1862), dem Arzt, dem Kunstsammler,<br />
dem Menschenfreund von We<strong>in</strong>sberg.<br />
Se<strong>in</strong> Haus, 1822 erbaut, am Fuß der Burg<br />
We<strong>in</strong>sberg, wurde zu e<strong>in</strong>em Treffpunkt der<br />
Romantik im Schwabenland, zu e<strong>in</strong>er Begegnungsstätte<br />
vieler großer und kle<strong>in</strong>er Persönlichkeiten.<br />
Das Gästebuch des Hauses weist<br />
1000 Gäste <strong>in</strong> 40 Jahren aus. „Der Reisende<br />
glaubte nicht, <strong>in</strong> Schwaben gewesen zu se<strong>in</strong>,<br />
wenn er nicht das Kernersche Haus besuchte“,<br />
schrieb der Theologe David Friedrich Strauss<br />
(1808-1874) <strong>in</strong>s Gästebuch.<br />
Der junge Historiker, Dr. Liebig, hat viel Wissenswertes<br />
über geschichtliche, gesellschaftliche<br />
und persönliche Zusammenhänge aus jener<br />
Zeit erzählt. Es war e<strong>in</strong>fach genial, was er und<br />
wie er erzählte!<br />
Zuvor gab es auf dem Parkplatz, unterhalb der<br />
Burgru<strong>in</strong>e, <strong>in</strong> der Frühl<strong>in</strong>gssonne, Kaffee und<br />
schwäbischen Hefezopf. Auf ke<strong>in</strong>er unserer<br />
bisherigen Busfahrten hat es so etwas „Erwähnenswertes<br />
und Neues“ gegeben. Es gibt halt im<br />
Schwabenland noch viel mehr „Neues“ zu sehen,<br />
zu hören und zu erleben: Die Burg<br />
We<strong>in</strong>sberg g<strong>in</strong>g durch e<strong>in</strong>e Begebenheit der<br />
„Weibertreue aus We<strong>in</strong>sberg“ <strong>in</strong> die Geschichte<br />
e<strong>in</strong>. Anlässlich der Belagerung der Burg um<br />
1140 gestattete der Staufferkönig Konrad III:<br />
den Frauen freien Abzug mit „soviel Habe, wie<br />
sie tragen konnten“ … Unerwartet trugen daraufh<strong>in</strong><br />
die Frauen ihre Männer aus der Burg –<br />
was der König großmütig duldete. Das „Weibertreumuseum“<br />
konnte aus zeitlichen Gründen<br />
leider von uns nicht auch noch besucht werden.<br />
Der Abend wurde von unseren beiden Musikern<br />
Gerold Rieker und Friedhelm Vöhr<strong>in</strong>ger festlich<br />
gestaltet. Sie hatten dazu drei Musiker aus<br />
Heilbronn, mit denen sie regelmäßig musizieren,<br />
dazu geladen. Zuvor hatten sie schon<br />
mehrmals mit „Musikern“ aus unserem Kreis<br />
festlich aufgespielt. Das Musizieren wie auch<br />
das geme<strong>in</strong>same S<strong>in</strong>gen, waren – neben anderen<br />
D<strong>in</strong>gen, die jeder selbst dazusetzen kann – besondere<br />
Geschenke unseres diesjährigen Treffens.
„Den goldenen Sonnensche<strong>in</strong>, die Luft so klar<br />
und re<strong>in</strong>“, die blühenden Obstbäume, die gelben<br />
Rapsfelder und vieles andere mehr … gab es <strong>in</strong><br />
diesen Tagen umsonst. Auch wurden wir „reichlich<br />
und täglich“ versorgt.<br />
Die Offenheit des ersten Abends hat uns im<br />
Laufe der Tage weiter e<strong>in</strong>ander näher gebracht.<br />
Der Dank <strong>für</strong> die Geme<strong>in</strong>schaft dieser Tage<br />
bleibt <strong>in</strong> der Mitte. Auch der Dank an Friedhelm<br />
Vöhr<strong>in</strong>ger und Gerold Rieker als die Vorbereiter<br />
dieses schönen „schwäbischen“ Treffens.<br />
Vom 02. – 06. Mai 2011 wird unser nächstes<br />
Treffen <strong>in</strong> Herrmannsburg stattf<strong>in</strong>den. Der Term<strong>in</strong><br />
steht also fest.<br />
Der Reisesegen am Freitag war der vom Segenswunsch<br />
von uns allen bestimmt: Bis wir<br />
uns <strong>in</strong> der Heide 2011 wieder sehen, halte Gott<br />
uns fest <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hand – damit wir auch an<br />
IHM festhalten können.<br />
Buchbesprechung<br />
Prof. Dr. Re<strong>in</strong>hart Lempp, K<strong>in</strong>der- und Jugendpsychiater<br />
Thomas Alexander Staisch: „He<strong>in</strong>rich<br />
Pommerenke, Frauenmörder. E<strong>in</strong> verschüttetes<br />
Leben“, Klöpfer & Meyer, Tüb<strong>in</strong>gen 2010.<br />
„He<strong>in</strong>rich Pommerenke, Frauenmörder. E<strong>in</strong><br />
verschüttetes Leben“ – wer unter diesem Titel<br />
e<strong>in</strong>en der Chronologie folgenden, biografischen<br />
Bericht erwartet, wird überrascht se<strong>in</strong>. Zweifellos<br />
handelt es sich zwar um e<strong>in</strong>e Biografie. Als<br />
solche jedoch ist Thomas Alexander Staischs<br />
„Frauenmörder“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unerwarteten und<br />
ungewöhnlichen Stil verfasst, sche<strong>in</strong>bar ohne<br />
äußere Ordnung. Es ist e<strong>in</strong> Buch, das fesselt, mit<br />
vielen kurzen Abschnitten spannend und flüssig<br />
zu lesen ist, das aber auch verstört, ja erschüttert.<br />
Wegen vierfachen Frauenmords, vielfach verübten<br />
und versuchten Vergewaltigungen und wegen<br />
unzähliger anderer Delikte war<br />
Pommerenke 1960, im Alter von 22 Jahren, zu<br />
sechsmal lebenslänglicher Zuchthausstrafe plus<br />
15 Jahren verurteilt worden. Er hatte Ende der<br />
50er Jahre <strong>in</strong> der ganzen Bundesrepublik, vor<br />
allem <strong>in</strong> Baden, Furcht und Schrecken verbreitet.<br />
Nach über 50 Jahren Haft ist er nun, vor<br />
zwei Jahren, knapp 70-jährig im Gefängnis gestorben.<br />
Für se<strong>in</strong>en Bericht hat der Autor alle ihm zugänglichen<br />
Akten studiert und detailliert ausgewertet,<br />
er hat sämtliche beschlagnahmten Briefe<br />
und noch viele andere mehr gelesen, <strong>in</strong> Archiven<br />
gesucht, die Medien der damaligen Zeit<br />
durchforstet und mit vielen Menschen gesprochen,<br />
vor allem mit dem Gefängnispfarrer Ernst<br />
Ergenz<strong>in</strong>ger. Der Pfarrer – neben den Mordopfern<br />
nennt Staisch nur ihn mit vollem Namen –<br />
hatte sich mit dem Mörder angefreundet:<br />
Pommerenke habe ihn tief bee<strong>in</strong>druckt. Die aus<br />
den Nachforschungen gewonnenen, kaum übersehbaren<br />
E<strong>in</strong>zelteile hat der Autor zu e<strong>in</strong>em<br />
Puzzle zusammengefügt, zu e<strong>in</strong>em Bild, das der<br />
Realität wohl sehr nahe kommt.<br />
Geprägt ist der besondere Stil dieses Buches<br />
von hartnäckig durchgehaltenen, stereotypen<br />
Wiederholungen immer derselben Formulierungen,<br />
die dem Leser oder der Leser<strong>in</strong> zugegebenermaßen<br />
bald auf die Nerven gehen. Dennoch<br />
lassen sie diejenigen, die sich e<strong>in</strong>mal auf den<br />
Text e<strong>in</strong>gelassen haben, nicht los: weil bald zu<br />
erkennen ist, dass der Autor ausdrücklich auf<br />
die Nerven gehen will, weil diese hartnäckige<br />
Stereotypie dem „lebenslänglichen“ Leben im<br />
Gefängnis tatsächlich entspricht und es den Lesern<br />
näher br<strong>in</strong>gt. Darum akzeptieren wir als<br />
Leser bereitwillig den ungewöhnlichen Stil.<br />
Im Grunde ist das Buch Pflicht <strong>für</strong> Juristen, die<br />
im Strafrecht und <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Strafvollzugsbehörde<br />
tätig s<strong>in</strong>d; e<strong>in</strong>e unverzichtbare<br />
Lektüre aber auch <strong>für</strong> Psychiater und Psychologen,<br />
vor allem <strong>für</strong> die forensischen Gutachter.<br />
Bee<strong>in</strong>druckend oder vielmehr bedrückend ist die<br />
Hilflosigkeit von psychiatrischen Gutachtern<br />
gegenüber e<strong>in</strong>em Probanden, der sich nicht <strong>in</strong><br />
55
e<strong>in</strong>e der diagnostischen Schubladen der psychiatrischen<br />
Lehrbücher e<strong>in</strong>ordnen lässt. Nachdenklich<br />
stimmt zudem, wie Gutachter oft an<br />
dem – immer vorhandenen – Risiko e<strong>in</strong>er guten<br />
Prognose scheitern. Aber auch die Leiter von<br />
Vollzugse<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d hilflos und oft überfordert<br />
im Bemühen, den richtigen Weg zwischen<br />
dem lauten Sicherheitsanspruch der Bevölkerung<br />
und den Geboten des Rechtsstaates<br />
zu f<strong>in</strong>den.<br />
Im H<strong>in</strong>blick auf die gegenwärtige Diskussion<br />
um die Neuordnung der Sicherheitsverwahrung<br />
H<strong>in</strong>weis<br />
auf zwei Ausstellungen<br />
Die Ausstellung wurde im Februar/März während der Passionszeit <strong>in</strong> der Jesuitenkirche, der<br />
Heiliggeistkirche und <strong>in</strong> der JVA Heidel-berg „Fauler Pelz“ gezeigt. Die Ausstellungs-zeitung ist im<br />
Internet abrufbar unter http://www.gott-im-gefaengnis.de/<br />
<strong>Glaube</strong> <strong>h<strong>in</strong>ter</strong> <strong>Gittern</strong><br />
Im Juli wurde im Bochumer Gefängnis Krümmede e<strong>in</strong>e Ausstellung gezeigt über die Frömmigkeit von<br />
Häftl<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>en Artikel dazu f<strong>in</strong>det man im Internet unter<br />
http://www.derwesten.de/staedte/bochum/<strong>Glaube</strong>-<strong>h<strong>in</strong>ter</strong>-<strong>Gittern</strong>-id3347936.html<br />
56<br />
ist das Buch hochaktuell. Damals, als<br />
Pommerenke vor Gericht gestellt wurde und die<br />
Abschaffung der Todesstrafe durch das Grundgesetz<br />
erst zehn Jahre zurücklag, weckten die<br />
Massenmedien tiefsitzende Ängste und damit<br />
das Vergeltungsbedürfnis der Bevölkerung. Das<br />
hat sich seither nicht wesentlich geändert.<br />
Staischs „Pommerenke“ ist e<strong>in</strong> wichtiges Buch<br />
<strong>für</strong> alle, die sich <strong>für</strong> die – im positiven wie im<br />
negativen S<strong>in</strong>ne – weitreichenden Möglichkeiten<br />
des Menschen <strong>in</strong>teressieren und ebenso <strong>für</strong><br />
die, die sich <strong>in</strong>nerhalb der Gesellschaft mitverantwortlich<br />
fühlen.
Gedichte<br />
Ulrich Tietze<br />
E<strong>in</strong> Lebenslauf<br />
Mit sieben Jahren g<strong>in</strong>g er<br />
freiwillig <strong>in</strong>s Heim<br />
um den Schlägen des Vaters<br />
endlich zu entgehen<br />
Später erfuhr er<br />
dass se<strong>in</strong> Bruder<br />
durch e<strong>in</strong>e Vergewaltigung<br />
entstanden war<br />
Auf der Flucht vor so vielem<br />
wurde er Soldat<br />
und erlebte im Kosovokrieg<br />
unfassbare Grausamkeiten<br />
an K<strong>in</strong>dern und Erwachsenen<br />
Nur <strong>in</strong> den Drogen fand er<br />
<strong>für</strong> Momente sche<strong>in</strong>bar Zuflucht<br />
tatsächlich aber stürzte er durch sie<br />
noch tiefer als jemals zuvor<br />
nämlich <strong>in</strong> die Gefangenschaft<br />
außen und <strong>in</strong>nen<br />
Dann kam der Krebs<br />
und begann mit der Zerstörung<br />
se<strong>in</strong>es Körpers<br />
so wie die Seele schon zerstört schien<br />
Gott, aus de<strong>in</strong>en Händen<br />
kommt dieses Leben<br />
Von der anderen Seite<br />
(Gedanken zwischendurch)<br />
Die Sucht ließ ihn nicht los, und er<br />
suchte auf unerlaubte Weise<br />
nach Möglichkeiten, sie zu stillen<br />
er begab sich <strong>in</strong> die Stadt<br />
überfiel e<strong>in</strong>e alte Frau, schlug sie nieder<br />
und bestahl sie um das Wenige<br />
das sie bei sich hatte<br />
Was auf se<strong>in</strong>em Wege fast Normalfall war<br />
und <strong>in</strong> den täglichen Nachrichten<br />
unterzugehen droht<br />
wenn es nicht spektakulär genug war<br />
es war <strong>für</strong> die Überfallene<br />
so etwas wie e<strong>in</strong>e Katastrophe<br />
Denn jeder Schritt vor die Tür<br />
wurde zur Qual <strong>für</strong> sie<br />
die Angst vor erneuten Überfällen<br />
schlich sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihre Nächte<br />
und die Schmerzen <strong>in</strong> ihrer Seele<br />
hörten nicht auf, sie zu belasten<br />
und sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e noch schlimmere E<strong>in</strong>samkeit<br />
zu werfen als zuvor<br />
Gott, willst du wirklich solche Opfer<br />
von Menschen auf beiden Seiten?<br />
Impressum<br />
Mitteilungsblatt <strong>Gefängnisseelsorge</strong> 78/2010<br />
Herausgeber:<br />
Vorstand der <strong>Ev</strong>angelischen <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />
Geschäftsstelle:<br />
Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Tel.: 0511-2796 406,<br />
Heike.Roziewski@ekd.de.<br />
Redaktion dieses Heftes:<br />
Verantwortlich: Mart<strong>in</strong> Faber, Kar<strong>in</strong> Greifenste<strong>in</strong><br />
Redaktionsanschrift:<br />
<strong>Ev</strong>angelische <strong>Konferenz</strong> <strong>für</strong> <strong>Gefängnisseelsorge</strong> <strong>in</strong> Deutschland,<br />
Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover.<br />
Druck: EKD-Druckerei Hannover
T e r m i n e<br />
Vorstand und Beirat:<br />
8./9. – 11. November 2010 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Ohrbeck<br />
7./8. – 09. Februar 2011 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Hannover<br />
2. und 6. Mai 2011 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Spr<strong>in</strong>ge (BuKo)<br />
7./8 – 10. November 2011 Vorstand/Vorstand-Beirat <strong>in</strong> Spr<strong>in</strong>ge<br />
Regionalkonferenzen und AGs:<br />
BadWü: 18. - 19. Oktober 2010 (ev. / <strong>in</strong> Ulm)<br />
Bayern: 20. - 21. Oktober 2010: ökumenische Tagung <strong>in</strong> Straub<strong>in</strong>g<br />
BlnBr:<br />
Nord:<br />
Nord-Ost:<br />
NRW: 8. November 2010, Gesamtkonferenz <strong>in</strong> Hagen<br />
RhPfS<br />
Sachsen<br />
Hessen 24. November 2010 mit VertreterInnen des HMdJ <strong>in</strong> Darmstadt<br />
AG U-Haft: 16. November 2010 Kirchenamt der EKD <strong>in</strong> Hannover<br />
AG Jug: 25.-29.Oktober 2010, Berl<strong>in</strong>er Stadtmission<br />
AG Frauen 17. – 21. Januar 2011, Schwäbisch Gmünd<br />
AG Angehörigenarbeit 23. November 2010 <strong>in</strong> Köln<br />
IPCA AK 17. März 2011, 11-16.00 Uhr, Kirchenamt der EKD Hannover<br />
Tagungen/ Fortbildungen:<br />
4. - 8. Oktober 2010: Kath. Jahrestagung <strong>in</strong> Trier . Thema: „SV...mit Sicherheit<br />
Menschlichkeit?“<br />
15./16. November 2010 Kolloquium des Bethelkurses<br />
29.11. – 1.12.2010 Fachwoche Straffälligenhilfe <strong>in</strong> Wittenberg. Thema: H<strong>in</strong>gehen,<br />
wo es weh tut<br />
27. und 28. Januar 2011 Auswahltagung <strong>für</strong> den neuen Bethel-Kurs<br />
14. – 18. Februar Kurswochen 2011 der Weiterbildung <strong>für</strong> Seelsorge <strong>in</strong> Justiz-<br />
11. – 15. April vollzugsanstalten, Bethel 2011/2012<br />
26. – 30. September 2011<br />
28.02. – 04.03.2011 Innehalten – Atem holen – weitergehen: <strong>in</strong> der JVA-Seelsorge<br />
Bethel, Auffrischungskurs<br />
02. – 6. Mai 2011 Jahrestagung der Bundeskonferenz <strong>in</strong> Spr<strong>in</strong>ge; Thema: „narben<br />
leben – Traumatisierten Menschen begegnen“ RKNiedersachsen<br />
01. – 05. Juni 2011 Deutscher <strong>Ev</strong>angelischer Kirchentag <strong>in</strong> Dresden zum Thema<br />
„ … da wird auch de<strong>in</strong> Herz se<strong>in</strong>“