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wina September/Oktober 2022

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Sept/<strong>Oktober</strong> <strong>2022</strong><br />

Tischrei 5783<br />

#9/10. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

„JAHRELANG BIN ICH VOR MEINER GESCHICHTE<br />

DAVONGELAUFEN. DANN ERFAND ICH SIE NEU.“<br />

Christian Berkel über seine drei Identitäten, seine Arbeit und<br />

den Apfelbaum, unter dem alles begann<br />

VIELE REGIONALMUSEEN SIND<br />

IMMER NOCH WEISSE FLECKEN<br />

auf der österreichischen<br />

Restitutionslandkarte –<br />

eine Momentaufnahme<br />

aus Salzkammergut<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

09<br />

9 120001 135738<br />

DIE SCHILLERNDEN LEBEN<br />

DES IGNAC TREBITSCH<br />

eine filmreife Biografie, viel Leidenschaft<br />

und noch mehr (Be)Trug<br />

„WAS BLEIBT VON EINEM MENSCHEN ÜBRIG,<br />

WENN NICHTS VON IHM ÜBRIG BLEIBT“<br />

Autorin Shelly Kupferberg auf<br />

Spurensuche nach Uronkel Isidor<br />

cover_0722.indd 1 19.09.22 12:41


Wut Wut Wut<br />

Eine Schande für die Stadt Salzburg<br />

Zwei Trampelsteine als unwürdige Erinnerung an den einzigartigen Marko Feingold<br />

Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert<br />

Wut Wut Wut<br />

Wut Wut<br />

Am Sonntag, den 28. August <strong>2022</strong>,<br />

nur einige Tage vor dem Ende der<br />

Salzburger Festspiele, erwartet einen<br />

auf dem schmalen Steg, der<br />

die Salzach überquert, das gewohnte Bild: Einwohner,<br />

aber auch Touristen aus aller Welt laufen,<br />

drängeln<br />

Wut<br />

oder stehen auf der Brücke, deren<br />

Wut Wut<br />

einfaches Gittergeflecht zu beiden Seiten mit<br />

tausenden von farbigen Schlössern behängt ist.<br />

Als Makartsteg bekannt, wurde dieser nach<br />

Gemeinderatsbeschluss der Stadt am 28. Mai<br />

2021 in Marko-Feingold-Steg umbenannt: An<br />

diesem Tag hätte der große jüdische Sohn dieser<br />

Stadt seinen 108. Geburtstag feiern können,<br />

wäre er nicht<br />

Wut<br />

im <strong>September</strong> 2019 gestorben.<br />

Wut Wut<br />

Wir suchen vergeblich nach einem Hinweis<br />

auf jenen Mann, der trotz seines unvorstellbaren<br />

Leidensweges während der Shoah nicht nur Boden der Brücke ange-<br />

ein Hohn: „Lesen Sie nach, falls Sie etwas wis-<br />

Grau und unscheinbar<br />

scheint sich die am<br />

Die Zeile www.marko-feingold.at klingt wie<br />

dieser Stadt, diesem Land großherzig verziehen bracht Erinnerungstafel sen wollen.“<br />

fast verstecken zu wollen.<br />

hat, sondern zu einem geliebten Vorbild tausender<br />

Jugendlicher und Schüler:innen wurde,<br />

dass man sich erstens nicht darauf einigen<br />

Ist das so beabsichtigt?!<br />

Es ist eine Schande für die Stadt Salzburg,<br />

denen er als jüdischer Zeitzeuge aus seinem Leben<br />

erzählte. Zahlreiche Politiker aller Couleurs<br />

nen Platz zu widmen (eine Postadresse, wie es<br />

konnte, Marko Feingold eine Straße oder ei-<br />

schmückten sich jahrzehntelang mit dem geistreichen<br />

Präsidenten der Israelitischen Kultusge-<br />

hatte), und zweitens seelenruhig zulässt, dass<br />

sich seine Witwe Hanna Feingold gewünscht<br />

meinde Salzburgs.<br />

Menschen und Hunde auf diesem sogenannten<br />

„Gedenkstein“ stampfen und latschen.<br />

Wo ist das mehrsprachige sichtbare Schild,<br />

die Tafel, eine Stele? Auf beiden Seiten des Stegs<br />

Wenigstens ein Schlössersegment des Brückengeländes,<br />

hätte man Marko Feingold frei<br />

heften wir nun die Augen auf den Boden. Und<br />

siehe da: Auf Für einer alle, Metallplatte, die nicht die Grau Nerven in Grau, verlieren.<br />

machen können, denn er hat der Stadt so viel<br />

Unbequemer Journalismus. Jede Woche.<br />

farblich kaum vom Asphalt unterscheidbar,<br />

sind vier Zeilen (jeweils deutsch und englisch)<br />

zu Feingold zu finden – aber nur, wenn gerade<br />

niemand darüber hinweg trampelt.<br />

Mut<br />

Hol mich hier raus, FALTER!<br />

mehr geschenkt. Wer in der Salzburger Zivilgesellschaft<br />

noch einen Funken Feingefühl und<br />

Bewusstsein übrighat, sollte sich dafür einsetzen,<br />

dass hier schleunigst etwas geschieht.<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

WUT_210x287+4.indd 1 14.09.22 14:27<br />

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Editorial<br />

Julia Kaldori<br />

Den heißen<br />

Sommer<br />

genießen,<br />

denn der<br />

Winter folgt<br />

bestimmt.<br />

Endlich wieder Sommer! Endlich wieder<br />

ein Sommer zum Genießen. Und genau<br />

deshalb würde ich gerne auch hier nur<br />

über die sommerliche Leichtigkeit des Seins<br />

schreiben.<br />

Nein, ich möchte jetzt nicht über die ungewöhnliche<br />

Hitze sinnieren, die uns in Zukunft<br />

vermutlich zu großen Zugeständnissen zwingen<br />

wird. Nicht über die dadurch entstehende Wasserknappheit,<br />

Walbrände und nicht über ihre<br />

langfristigen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt.<br />

Ein Sommer, der endlich wieder ein bisschen<br />

weniger von Covid-19 gekennzeichnet<br />

wird, in dem wir endlich ein wenig reisen, das<br />

Meer wieder genießen und fremde Länder besuchen<br />

können. Fast so ein Sommer, wie er einst<br />

war. Nein, ich möchte mich kurz nicht mit den<br />

rasant steigenden Infektionszahlen, den tragischen<br />

und langfristigen Folgen der Infektionen<br />

befassen. Und auch nicht damit, was uns<br />

im Herbst covidtechnisch erwartet.<br />

Ich möchte gerne auf den nächtlichen Sommerhimmel<br />

blicken und die Sterne betrachten<br />

und mir dabei nicht überlegen müssen, ob<br />

die Flieger, die über unserem Urlaubsort in der<br />

Nähe eines NATO-Flughafens fliegen, glückliche<br />

Urlauber oder nervöse Soldaten transportieren.<br />

Und während ich versuche, die aufgeheizten<br />

Räume ein wenig abzukühlen, möchte ich nicht<br />

darüber nachdenken, ob wir im Winter das<br />

Thermostat weiterhin unbedacht auf eine für<br />

uns angenehme Temperatur einstellen werden<br />

können, oder aus vielerlei Gründen versuchen<br />

werden, es ein paar Grade herunterzudrehen.<br />

Und ich möchte mir im herrlichen Sommerwetter<br />

kurz nicht vorstellen müssen, wie viele Menschen<br />

in Europa sich das Heizen bald kaum oder<br />

gar nicht mehr leisten werden können.<br />

Und während ich mich endlich wieder durch<br />

herrliche Kunstausstellungen schlinge und die<br />

zahlreichen Sommerkulturfestivals genieße,<br />

möchte ich auch nicht darüber reflektieren,<br />

wie ein documenta-Skandal diesen Ausmaßes<br />

entstehen konnte. Wie im Jahr <strong>2022</strong> einer<br />

so renommierten Kunstinstitution in Deutschland<br />

eine derart offensichtliche Fehlentscheidung<br />

passieren kann. Und ob „zu viel“ Zeit seit<br />

der Shoah vergangen sei und ob jene hauchdünne<br />

Schicht der Scham, die in Europa solch<br />

antisemitische Artikulationen zumindest aus<br />

dem öffentlichen Leben für Jahrzehnte verbannt<br />

hatte, wieder brüchig geworden ist.<br />

Oder wird die Gesellschaft durch die Folgen der<br />

Pandemie, die kriegerischen Vorgänge an Europas<br />

Grenze, die Hungersnöte in Nordafrika<br />

und die Klimaerwärmung zunehmend unaufmerksam<br />

für die „Geschmackslosigkeiten“ des<br />

Alltags? Nein, auch über diese Entwicklungen<br />

und deren Folgen möchte ich bei herrlichem<br />

Sonnenschein und Vogelgezwitscher draußen<br />

nicht nachdenken.<br />

Doch da drängt sich leider, kurz bevor ich<br />

mit diesen Zeilen fertig bin, noch die martialische<br />

Stimme eines europäischen Politikers<br />

dazwischen, der in der Hitze seines immerwährenden<br />

Gefechts diesmal vor Tausenden<br />

Anhängern bei einem sommerlichen Politfestival<br />

von „reinen und gemischten Rassen“<br />

spricht, vom baldigen Untergang des Westens<br />

und von der Kriegsverzögerungstaktik Europas<br />

in der Ukraine. Und seine Stimme – wie auch<br />

die seiner Fangemeinde – ist so laut, dass ich<br />

nicht weghören kann. Und ich hoffe auch sonst<br />

niemand, denn diese Hassrede ist eine zu lebendige<br />

Reminiszenz an eine Zeit, die Leid, Tod<br />

und Grauen bedeutet hat. Nein, ich möchte<br />

darüber in diesem Sommer nicht nachdenken<br />

– doch ich fürchte, das werde ich müssen,<br />

denn wie es bereits vor Jahren in der immer<br />

noch großartigen Fantasy-Serie Game of Thrones<br />

geheißen hat: Winter is coming*. Der Winter<br />

naht. Und seine kühlen Winde sind bereits<br />

im Sommer zu spüren.<br />

„Und während wir<br />

jetzt einen der<br />

heißesten Sommer<br />

unseres Lebens<br />

erleben, sollten wir<br />

bedenken, dass dieser<br />

vielleicht einer der<br />

kühlsten Sommer<br />

für den Rest unseres<br />

Lebens sein<br />

könnte....“<br />

Diana Ürge-Vorsatz,<br />

Klimawissenschaftlerin und<br />

Professorin an der CEU<br />

*© wellington/pixabay *Winter is Coming: Why Vladimir Putin and the Enemies of the Free World Must Be Stopped, so<br />

lautet auch der Buchtitel des russischen Schachweltmeisters und Oppositionspolitikers<br />

Garry Kasparov, das 2016 erschienen ist.<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 1 16.09.22 05:58


S.40<br />

Shelly Kupferberg ist gebürtige Israelin und<br />

lebt als Kulturjournalistin und Autorin in Berlin.<br />

INHALT<br />

„Mein Großvater hat<br />

seinen Namen Walter<br />

Grab als Historiker so<br />

verstanden:<br />

Walter, grab!“<br />

IMPRESSUM:<br />

Shelly Kupferberg<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Weiße Flecken<br />

Seit 1998 gibt es in Österreich das<br />

Kunst rückgabe gesetz. Trotzdem gibt<br />

es immer noch weiße Flächen – zum<br />

Beispiel im Salzkammergut.<br />

12 Die Welt ein bisschen<br />

besser machen<br />

Forschen, feiern, den öffentlichen<br />

Raum erobern und über Stereotypen<br />

nachdenken. Direktorin Barbara<br />

Staudinger hat im Jüdischen Museum<br />

Wien viel vor.<br />

16 Viele Arten jüdisch zu sein<br />

Der langjährige Gewerkschafterin<br />

und Frauenrechtlerin Dwora Stein<br />

macht das Engagement im Jüdischen<br />

Museum Wien, bei ESRA und im MZ<br />

große Freude.<br />

22 Viele Wege führen<br />

zur Matura<br />

Zuerst Beruf und dann die Matura:<br />

Zahlreiche Jugendliche entscheiden<br />

sich für die Berufsreifeprüfung – und<br />

den vorbereitenden Lehrgang dazu<br />

im JBBZ.<br />

26 Wiesenthals Schätze<br />

Sandra B. Weiss ist Leiterin des Archivs<br />

im Wiener Wiesenthal Institut, wo ihre<br />

Arbeitstage manchmal zu wenige Stunden<br />

haben.<br />

32 Ein Hochstapler mit<br />

Leidenschaft<br />

Jeschiwa-Bocher, Parlamentsabgeordneter,<br />

christlicher Missionar und buddhistischer<br />

Mönch – Ignaz Trebitsch vertrat<br />

jede Weltanschauung mit der Leidenschaft<br />

eines Missionars.<br />

35 Admiral Rickover und<br />

die Reaktoren<br />

Hyman Rickover kam aus einem polnischen<br />

Stetl und wurde zum Vater amerikanischen<br />

Nuklearflotte.<br />

„Eine Weltchronik berichtet,<br />

dass Abraham nach der Sintflut<br />

sein Reich<br />

in Wien gegründet<br />

hat.“<br />

Barbara Staudinger<br />

S.12<br />

S.29<br />

Wie man sie in Schale wirft: hilfreiche Utensilien für<br />

ein gutes neues Jahr!<br />

2 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 2 16.09.22 05:58


KULTUR<br />

WINA wünscht allen Leserinnen und Lesern<br />

und Gmar Chatima Towa!<br />

40 Was bleibt von einem, wenn<br />

nichts von einem übrig bleibt<br />

Kulturjournalistin Shelly Kupferberg hat<br />

sich auf berührende Spurensuche nach<br />

Urgroßonkel Isidor begeben.<br />

43 Der unterbrochene Wald<br />

Georges-Arthur Goldschmidt erzählt<br />

von seiner Kindheit in ständiger Todesangst.<br />

Übersetzt von Peter Handke.<br />

44 Das Leben und die Musik<br />

Laurence Dreyfus über seine Leidenschaft<br />

für die Gambe, Erotik bei Wagner<br />

und die Nigunim in der Synagoge.<br />

47 Sex and Crime in Be’er Sheva<br />

Das Krimidebüt der 87-jährigen Autorin<br />

Shulamit Lapid – Mutter des israelischen<br />

Premierministers Jair Lapid.<br />

48 Deutscher, Jude, Schauspieler<br />

Christian Berkel erzählt in seinem Buch<br />

Apfelbaum über seine Mehrfachidentität<br />

und der Suche nach den eigenen<br />

Wurzeln.<br />

51 Leben in Wien,<br />

Überleben in London<br />

Journalist und Autor Andrew Nagorski<br />

rekonstruiert in seinem jüngsten Buch<br />

die späte und komplizierte Flucht des<br />

Sigmund Freud nach England.<br />

54 Postergirl Anne Frank<br />

Amsterdam – eine Stadt der Gegensätze<br />

zwischen kolonialem Muff und<br />

bunter Weltoffenheit.<br />

51 Jüdisches Lendava<br />

Friedhof und Synagoge erzählen von<br />

der jüdischen Geschichte Sloweniens.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

Coverfoto:Eloisa Ramos / Westend61 / picturedesk.com<br />

11 Shame on Salzburg<br />

Wie unwürdig die Stadt sich an<br />

Marko Feingold (nicht) erinnert.<br />

Ein Lokalaugenschein<br />

20 Die Gegenwart der<br />

Zukunft<br />

Wahlkämpfende und TikTok-Stars<br />

in der herbstlichen Morgenluft Tel<br />

Avivs.<br />

29 Schana Towa<br />

Stilvolle Utensilien die für ein gutes<br />

neues Jahr sorgen!<br />

30 LaLaLaune<br />

Weil gutes Essen gute Laune macht:<br />

vegane Revolution in der Neustiftgasse.<br />

31 Des Kaisers Schmarren<br />

Wie der Schmarrn zu seinem Adelstitel<br />

und der Granatapfel zum Hühnchen<br />

kam.<br />

61 That’s Entertainment<br />

Paul Divjaks Bestandsaufnahme<br />

nach 24 Stunden Selbstversuch im<br />

TikTok-Universum.<br />

62 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den <strong>Oktober</strong><br />

64 Das letzte Mal<br />

Rapper Ben Salomon über Rap,<br />

Judentum und seine Tochter-<br />

Vater-Battles.<br />

„Zuerst stirbt der<br />

Mensch,dann die<br />

Erinnerung an ihn.<br />

Für diesen<br />

zweiten Tod<br />

tragen wir<br />

Nachgeborenen<br />

die Verantwortung.“<br />

Christian Berkel<br />

S.48<br />

Christian Berkel ist<br />

Schauspieler und Regisseur. In<br />

seinem Roman Der Apfelbaum<br />

hat er seine Auseinandersetzung<br />

mit seiner jüdischen Identität<br />

literarisch aufgearbeitet.<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 3 16.09.22 05:58


96<br />

ist der Zahlenwert<br />

des hebräischen<br />

Wortes tzav, die Wurzel<br />

des Wortes mitzvah. Daran erinnerte<br />

der britische Konservative<br />

Baron David Wolfson, der<br />

unter Boris Johnson als Justizminister<br />

diente, in seiner Trauerrede<br />

im Londoner Oberhaus nach dem<br />

Tod von Queen Eliza-beth II: „Ihre verstorbene<br />

Majestät hat ihr ganzes Leben<br />

damit verbracht, das Richtige zu tun,<br />

und zwar nicht nur, weil ihr danach<br />

war oder weil es ihr gerade in den Sinn<br />

kam. Sie hat ihre 96 Jahre damit verbracht,<br />

tagein, tagaus das Richtige zu<br />

tun, aus einem bewussten Pflichtgefühl<br />

heraus.“<br />

BEIT HA’CHAJIM<br />

HAUS DES LEBENS<br />

Der jüdische Friedhof von Graz<br />

Vom Tod und Sterben im Judentum<br />

Seit fast 160<br />

Jahren dient der<br />

jüdische Friedhof<br />

von Graz den Juden<br />

als Begräbnis-<br />

platz. Er ist heute<br />

einer der letz-<br />

ten, regelmäßig<br />

genutzten jü-<br />

dischen Friedhöfe<br />

Österreichs.<br />

Auf ihm fanden<br />

bekannte Persön-<br />

lichkeiten wie die<br />

Fotografin Dora<br />

Kallmus oder der<br />

Drehbuchautor und Filmregisseur Peter Paul Felner ebenso ihre<br />

letzte Ruhestätte wie Funktionäre der jüdischen Gemeinde oder<br />

lokale Wirtschaftsgrößen. Untermalt von Gedichten und literarischen<br />

Szenen jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller<br />

erzählt Elie Rosen von hier Bestatteten und der wechselhaften<br />

Geschichte des Ortes. Begleitet wird er dabei vom slowenischen<br />

Fotografen Le.Luka, der dem Friedhof und seinen Toten mit<br />

außergewöhnlichen Schwarzweißaufnahmen ein<br />

ergreifend-künstlerisches Denkmal setzt.<br />

HIGHLIGHTS | 01<br />

„Seit jeher hat die Königin ihr Leben der Toleranz<br />

und Menschenwürde gewidmet und<br />

dazu beigetragen, das Vermächtnis von<br />

Sir Winston Churchill und der Millionen<br />

Menschen, die mit ihrem<br />

Opfer den Nationalsozialismus<br />

besiegt haben, zu bewahren<br />

und darauf aufzubauen.“<br />

Prinzessin<br />

Elizabeth mit einem<br />

ihrer geliebten Corgis<br />

1936 in London.<br />

Entscheidendes<br />

Treffen: Yair<br />

Lapid (li,) traf Ende Juli<br />

in Amman mit Jordaniens<br />

König Abdullah<br />

II. zusammen, um das<br />

gemeinsame Projekt an<br />

den Start zu bringen.<br />

Business Park<br />

auf beiden Seiten<br />

des Jordan<br />

In das lange schläfrige Projekt<br />

Jordan Gateway könnte jetzt<br />

Bewegung kommen.<br />

Die<br />

grenzüberschreitende<br />

Industriezone Israels mit<br />

Jordanien schlummerte lange<br />

Jahre dahin – einen ersten Vorschlag<br />

dafür gab es immerhin<br />

schon 1994. Jetzt könnte Bewegung<br />

in das Projekt kommen.<br />

Nach einem offiziellen Besuch<br />

von Premierminister Yair Lapid bei<br />

König Abdullah II. in Amman hat die<br />

israelische Regierung einen Beschluss gefasst,<br />

die Umsetzung des Jordan Gateway-<br />

Projekts zu beschleunigen – der gemeinsamen<br />

Industriezone zwischen dem Staat<br />

Israel und dem haschemitischen Königreich<br />

Jordanien.<br />

Die geplante Freihandelszone befindet<br />

sich südlich vom See Genezareth, weniger<br />

als 70 Kilometer östlich von Haifa, dem<br />

nächstgelegenen Hafen. Die Idee dahinter<br />

ist, eine Art Drehscheibe für Produkte zwischen<br />

Jordanien und Israel, aber auch für<br />

Exporte in Richtung EU und USA zu etablieren.<br />

Der größere Teil des Parks liegt in Jordanien,<br />

dort finden sich derzeit einige kleinere<br />

Produktionsbetriebe mit insgesamt rund<br />

500 Beschäftigten. Der kleinere Teil auf israelischer<br />

Seite ist noch unbebaut, gedacht<br />

ist hier unter anderem an einen Hightech-<br />

Park und ein Medizinzentrum. Eine Brücke<br />

über den Jordan zwischen den beiden Teilen<br />

wurde bereits errichtet. RE<br />

Von Elie Rosen<br />

4 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong> Amalthea Signum Verlag<br />

© YOUSEF ALLAN / AFP / picturedesk.com; © Illustrated London News Ltd / Mary Evans / picturedesk.com<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 4 16.09.22 05:58<br />

WUT


Provenienzforschung in den Regionen<br />

Seit 1998 gibt es in Österreich das Kunstrückgabegesetz.<br />

Seit diesem Jahr durchforstet auch die Kommission<br />

für Provenienzforschung die Museen des<br />

Bundes nach Exponaten, die einst jüdische Besitzer<br />

hatten und diesen entzogen wurden. So sie beziehungsweise<br />

deren Nachkommen ausgeforscht werden<br />

können, kommt es dann zur Rückgabe der betreffenden<br />

Objekte. Auch auf Länderebene gibt es<br />

inzwischen entsprechende Gesetzgebungen. Anders<br />

sieht es aber im Bereich der Regionalmuseen aus.<br />

Über einen weißen Fleck der Provenienzforschung<br />

am Beispiel des Salzkammerguts.<br />

Von Alexia Weiss<br />

WEISSE FLECKEN<br />

Monika Löscher ist<br />

nicht nur Provenienzforscherin<br />

im<br />

Kunsthistorischen<br />

Museum und damit<br />

Mitglied der<br />

Kommission für Provenienzforschung des<br />

Bundes, sie urlaubt auch seit vielen Jahren<br />

gerne im Salzkammergut. Seit 2014 ist sie<br />

auch dort museal engagiert, und zwar als<br />

Mitglied des Vereins Arbeitsgemeinschaft<br />

Ausseer Kammerhofmuseum. Dieses im<br />

Jahr 1395 erstmals urkundlich erwähnten<br />

Kammerhof untergebrachte Museum versteht<br />

sich laut eigener Definition als „Heimatmuseum,<br />

das in erster Linie zur kulturellen<br />

Identität der Region beitragen<br />

und Bezugspunkt für Identitätsdiskussionen<br />

sein will“.<br />

13 Abteilungen umfasst die Dauerausstellung<br />

des 1950 gegründeten Museums,<br />

wie die ehrenamtliche Leiterin Sieglinde<br />

Köberl erläutert. Sie ist die Obfrau jenes<br />

Vereins, der das Museum im Auftrag der<br />

Gemeinde Bad Aussee leitet. Bei zwei dieser<br />

Abteilungen wäre nach Ansicht Löschers<br />

eine genaue Abklärung der Herkunft<br />

einiger Exponate und wie sie genau<br />

den Weg ins Museum fanden, wünschenswert.<br />

Es handelt sich dabei einerseits um<br />

eine historische Trachtensammlung und<br />

andererseits um den Bereich Ausseer<br />

Handdruck. In beiden Sammlungen finden<br />

sich Objekte, die sich einst im Besitz<br />

der in der Gegend bekannten Familie<br />

Mautner befanden.<br />

Einerseits hatte der 1924 verstorbene<br />

Konrad Mautner gemeinsam mit seinem<br />

Bruder Stephan Trachten aus der Steiermark<br />

aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />

gesammelt. Konrads Witwe Anna<br />

Mautner wiederum begründete mit alten<br />

Modeln aus der stillgelegten südsteirischen<br />

Stoffdruckerei Gagl und neu entwickelten,<br />

chemisch hergestellten Farben<br />

1935 mit ihrem zunächst in Grundlsee,<br />

später auch in Wien angemeldeten Gewerbe<br />

Grundlseer Handdruck den Ausseer<br />

Handdruck. Dabei ordnete sie mehrere<br />

Muster und Farben übereinander an<br />

und schuf so mit altem Handwerk innovative<br />

Stoffe.<br />

Noch 1938 wurden sowohl die Trachtensammlung<br />

wie auch das Inventar der<br />

Handdruckfirma samt Modeln beschlagnahmt.<br />

Anna Mautner wurde zudem gezwungen,<br />

beides unter Wert zu verkaufen.<br />

Den Zuschlag bekam der nationalsozialistische<br />

Bürgermeister von Bad Aussee,<br />

Hanns Wöll, so Köberl. Wöll war Mitbegründer<br />

des Heimathauses, eines Museums,<br />

um dessen Eröffnung 1942 sich<br />

viele Persönlichkeiten bemüht hätten, so<br />

die Museumsleiterin. Die Mautner’sche<br />

Trachtensammlung wurde in diesem<br />

„Heimathaus“ gezeigt. Weitere Exponate<br />

seien Spenden und Leihgaben der örtlichen<br />

Bevölkerung gewesen, betont Köberl.<br />

Die Modeln wurden von Wöll dagegen<br />

beruflich eingesetzt, dazu später mehr.<br />

Wie aber kamen Teile der Mautner’schen<br />

Trachtensammlung und Modeln schließlich<br />

ins heutige Museum (das nicht der<br />

Rechtsnachfolger dieses Heimathauses<br />

ist, da dieses aufgelöst wurde, wie Köberl<br />

betont)? Und unter welchen Rahmenbedingungen?<br />

© Martin R¸gner / Westend61 / picturedesk.com<br />

6 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 6 16.09.22 05:58


Beispiel Salzkammergut<br />

© Martin R¸gner / Westend61 / picturedesk.com<br />

Monika Löscher regte an, sich eben das<br />

genauer anzusehen. Im Herbst 2019 organisierte<br />

sie zunächst einen Workshop zum<br />

Thema Kunstraub und -politik in der NS-<br />

Zeit im Ausseerland sowie zur Geschichte<br />

des Heimathauses. Und sie nahm Kontakt<br />

mit der Leitung von Salzkammergut<br />

2024 auf. Erstmals in der 37-jährigen Geschichte<br />

der Europäischen Kulturhauptstadt<br />

schließen sich dabei 23 Gemeinden<br />

zu einer Kulturhauptstadt im ländlichen<br />

Raum zusammen. Löscher ortete hier<br />

eine Möglichkeit, im Rahmen dieses Kulturjahres<br />

Provenienzforschung in den 40<br />

Museen in dieser Region anzustoßen.<br />

Der Projektvorschlag, den sie schließlich<br />

gemeinsam mit Birgit Johler, Kuratorin<br />

im Volkskundemuseum Graz, unter dem<br />

Titel Was wurde aus ...? Provenienzforschung<br />

in den Regionalmuseen im Salzkammergut ausarbeitete,<br />

stieß beim zunächst eingesetzten<br />

Leiter, Stephan Rabl, auf Interesse.<br />

Er regte sogar an, das Projekt größer zu<br />

denken und im Projektantrag drei Bereiche<br />

– Forschung, Vermittlung und Präsentation<br />

sowie Nachhaltigkeit und Verwertbarkeit<br />

– auszuformulieren, erzählt<br />

Löscher. Das war im Februar 2021. Als Finanzierungsbedarf<br />

dafür hatten die beiden<br />

einen Betrag von 536.200 Euro veranschlagt,<br />

wobei sie 90.000 Euro an<br />

Drittmitteln eingeplant hatten. Für etwas<br />

über 50.000 Euro davon hatten sie<br />

bereits konkrete Zusagen.<br />

Das Europäische Kulturjahr<br />

Salzkammergut<br />

2024 war schon nahe am<br />

Zuschlag für ein wichtiges<br />

Pilotprojekt zur lokalen Provenienzforschung.<br />

Nun ist es<br />

endgültig gescheitert. Doch<br />

warum?<br />

„Wir sind nach<br />

wie vor davon<br />

überzeugt, dass<br />

eine kritische<br />

Auseinandersetzung<br />

mit der<br />

Geschichte sowie<br />

der Anstoß für<br />

eine umfassende<br />

Provenienzforschung<br />

in den<br />

Regionalmuseen<br />

im Salzkammergut<br />

dringend<br />

geboten ist.“<br />

Birgit Johler,<br />

Monika Löscher<br />

Doch im März 2021 wurde Rabl als Leiter<br />

von Salzkammergut 2024 abgesetzt,<br />

und in der Folge hing die Finanzierung<br />

des Projekts in der Luft. Im Bidbook, das<br />

ist eine Art Bewerbungsmappe für die jeweilige<br />

Kulturhauptstadt, mit der es dem<br />

Salzkammergut überhaupt erst gelungen<br />

war, sich 2024 als Kulturhauptstadt präsentieren<br />

zu können, wurden für dieses<br />

Vorhaben lediglich 150.000 Euro veranschlagt.<br />

Mehrmals wiesen Löscher und<br />

Johler darauf hin, dass diese Mittel nicht<br />

ausreichen, redimensionierten das Konzept<br />

allerdings und legten es im <strong>Oktober</strong><br />

2021 nochmals vor. Das dafür veranschlagte<br />

Budget lag nun bei 218.150 Euro.<br />

Doch plötzlich wurden nicht einmal die<br />

150.000 Euro seitens Salzkammergut 2024<br />

als fix kommuniziert und darüber hinaus<br />

erklärt, dass sich das Projektteam um<br />

mehr Drittmittel bemühen müsse.<br />

Für Löscher und Johler war dies<br />

schließlich der Punkt, an dem sie der<br />

neuen Leiterin des Kulturjahres, Elisabeth<br />

Schweeger, mitteilten, dass eine Realisierung<br />

des Projekts mit so wenig Mitteln<br />

nicht möglich sei und sie es daher zurückziehen.<br />

In dem Schreiben an Schweeger<br />

im Jänner <strong>2022</strong> hielten sie aber auch fest:<br />

„Wir sind nach wie vor davon überzeugt,<br />

dass eine kritische Auseinandersetzung<br />

mit der Geschichte sowie der Anstoß für<br />

eine umfassende Provenienzforschung in<br />

den Regionalmuseen im Salzkammergut<br />

dringend geboten ist (ein besonders be-<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 7 16.09.22 05:58


Strukturelles Problem<br />

passieren, wenn es durch die Forschung<br />

eventuell zu Restitutionsansprüchen<br />

käme?“ Gut vorstellen könne sie sich dagegen<br />

Rahmenprogramme für Bewusstseinsbildung.<br />

Allerdings sei sie auch der Ansicht, dass<br />

Provenienzforschung nicht nur in Bundes-<br />

und Landesmuseen durchgeführt<br />

werden sollte, sondern auch in den kleinen<br />

Museen im ländlichen Raum, die teils<br />

durch Gemeinden, teils durch private Vereine<br />

ehrenamtlich geführt werden. Diese<br />

Forschung müsse dann allerdings „auch<br />

gesetzlich ordentlich geregelt werden“.<br />

Was das Salzkammergut anbelange, sei es<br />

zwar nicht so, dass diesbezüglich noch gar<br />

nichts passiert sei. „Aber es gibt eben auch<br />

Bestände, in denen es noch zu keiner Aufarbeitung<br />

gekommen ist.“ Was sie daher<br />

nun gemacht habe: Sie habe Kontakt mit<br />

dem Bundeskanzleramt und den Landeshauptleuten<br />

aufgenommen und gebeten,<br />

dass Provenienzforschung im ländlichen<br />

Raum, ähnlich wie in Deutschland durch<br />

das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste,<br />

auch in privaten Einrichtungen finanziell<br />

unterstützt wird.<br />

Johler kann diese Argumentation nicht<br />

ganz nachvollziehen. Bei dem für Salzkammergut<br />

2024 eingereichten Projekt<br />

sei es nicht um eine umfassende Provenienzforschung<br />

in allen 40 Museen der<br />

Region gegangen, sondern vielmehr um<br />

„Probebohrungen“, aber auch um Knowhow-Transfer<br />

an die Museen, die sich bereit<br />

erklärt hätten, hier teilzunehmen.<br />

Man habe sich als Angebot verstanden, als<br />

Hilfestellung. Die Idee sei gewesen, hier<br />

einmal von außen einen Bewusstseinsbilschämendes<br />

Beispiel dafür ist die beigelegte<br />

Korrespondenz um die Objekte der<br />

Sammlung Mautner im Kammerhofmuseum<br />

Bad Aussee, das sich bis heute einer<br />

kritischen Auseinandersetzung verweigert.)“<br />

Nun stellt sich die Frage: Warum ist<br />

ein Projekt, das zunächst begrüßt wird,<br />

schließlich nicht mehr willkommen? Löscher<br />

sieht hier einerseits ein strukturelles<br />

Problem. In Deutschland gebe es mit<br />

dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste<br />

eine Anlaufstelle, aber auch Finanzierung<br />

von Provenienzforschung für Regionalmuseen.<br />

In Österreich seien die<br />

Regionalmuseen dagegen leider ein weißer<br />

Fleck, wenn es um die Aufarbeitung<br />

der Herkunft von Sammlungsexponaten<br />

geht.<br />

Sie ortet allerdings auch Vorbehalte<br />

seitens der örtlichen Verantwortlichen.<br />

Konkret bezogen auf ihre Bemühungen,<br />

die Sammlung des Kammerhofmuseums<br />

professionell aufzuarbeiten, sei sie mit informell<br />

getätigten Aussagen konfrontiert<br />

gewesen, dass sich Widerstand gegen ein<br />

solches Projekt formiere. Sinngemäß habe<br />

es da geheißen: Man wolle am Thema Nationalsozialismus<br />

nicht anstreifen.<br />

WINA kontaktierte Elisabeth Schweeger,<br />

um zu erfragen, woran es aus ihrer Sicht<br />

schließlich hakte, dass das Projekt nicht<br />

die nötige Finanzierung im Rahmen von<br />

Salzkammergut 2024 erhält. Weil Provenienzforschung<br />

nicht die Aufgabe der Kulturhauptstadt<br />

sei, meinte sie, denn 2025<br />

werde es die Kulturhauptstadt GmbH<br />

nicht mehr geben. „Und was würde dann<br />

Die Aufarbeitung<br />

der<br />

Bestände von<br />

Regionalmuseen<br />

scheint<br />

schließlich an<br />

der fehlenden<br />

Zuständigkeit<br />

zu scheitern.<br />

dungsprozess anzustoßen, der offenbar<br />

von innen nicht so recht in Gang komme.<br />

Der Stups von außen: Diesen hatte ja<br />

auch Schweeger mit ihrer Kontaktaufnahme<br />

von Bund und Ländern im Sinn.<br />

Allein: Wie die weiteren WINA-Recherchen<br />

zeigten – das Ansprechen des Themas<br />

Provenienzforschung fühlt sich ein bisschen<br />

an wie eine heiße Kartoffel. Jedem ist<br />

die Wichtigkeit des Themas bewusst. Aber<br />

Österreich ist föderal organisiert – und die<br />

Aufarbeitung der Bestände von Regionalmuseen<br />

scheint schließlich an der fehlenden<br />

Zuständigkeit zu scheitern.<br />

Pia Schölnberger ist die Leiterin der<br />

Kommission für Provenienzforschung im<br />

Ministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher<br />

Dienst und Sport. Für sie ist die Sachlage<br />

ganz klar: „Der Bund ist nicht zuständig<br />

für Sammlungen, die nicht in seinem<br />

Eigentum stehen.“ Sie betont aber auch:<br />

Der Kunstrückgabebeirat könne auch von<br />

Dritten, wie beispielsweise Vereinen oder<br />

Gemeinden, angerufen werden. Wie ein<br />

Verein oder eine Gemeinde mit der Beiratsempfehlung<br />

umgehe, liege dann allein<br />

in seiner oder ihrer Verantwortung.<br />

„Wir bieten seit Jahren an, andere Institutionen<br />

etwa mit der Bereitstellung von<br />

Expertise oder dem Transfer von Methodenwissen<br />

zu unterstützen. Aber es gibt<br />

hier keinen gesetzlichen Auftrag.“ Sie begrüße<br />

jedenfalls alles, war zur Bewusstseinsbildung<br />

in Sachen Provenienzforschung<br />

beitrage.<br />

Ähnliches verlautet aus den Ländern. WINA<br />

fragte hier bei jenen drei Bundesländern<br />

an, in denen das Salzkammergut liegt:<br />

Oberösterreich, der Steiermark und Salzburg.<br />

Martina Berger-Klingler, Referentin<br />

für Kunst und Kultur im Büro des für Kultur<br />

zuständigen Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreters,<br />

Heinrich Schellhorn,<br />

meinte etwa, wenn im Zug der Inventarisierung<br />

von Beständen etwas mit<br />

zweifelhafter Provenienz auftauchen<br />

würde, „leisten wir natürlich Unterstützung<br />

und Hilfe“. Aber zu Provenienzforschung<br />

verpflichten können man die Regionalmuseen<br />

nicht. Zudem stehe die<br />

Provenienzforschung in Regionalmuseen<br />

„nicht als oberstes auf unserer Todo-Liste.<br />

Worum wir uns derzeit aber<br />

bemühen, ist ein Professionalisierungsschwerpunkt<br />

für diese Häuser, etwa durch<br />

Digitalisierung und vollständige Inventarisierung.“<br />

Patrick Schnabl ist Leiter der Abteilung<br />

Kultur, Europa und Sport im Amt der Stei-<br />

8 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 8 16.09.22 05:58


Wert der Bestände<br />

Die entscheidende<br />

Frage sei<br />

also nicht, wie<br />

hoch der monetäre<br />

Wert sein,<br />

sondern, „ist<br />

das Objekt unrechtmäßig<br />

erworben<br />

worden<br />

oder nicht?“<br />

Brigitte Johler<br />

vatsammlungen, zum Teil seien Vereine<br />

Träger, zum Teil Gemeinden. Eine einheitliche<br />

gesetzliche Lösung, die alle Regionalmuseen<br />

umfasse, sei daher kaum möglich.<br />

Eine weitere Besonderheit bei regionalen<br />

Sammlungen: Sie werden oft von ehrenamtlich<br />

Tätigen geführt, erklärt Johler. So<br />

fehle in vielen Häusern oft Grundlegendes,<br />

wie etwa eine professionelle Inventarisierung.<br />

Löscher und Johler waren im Zug ihrer<br />

Bemühungen auch immer wieder mit<br />

dem Argument konfrontiert, bei den Objekten<br />

in Regionalmuseen handle es sich<br />

ja nicht um große, wertvolle Kunstschätze,<br />

wie sie dann bei der Restitution von Objekten<br />

aus Bundesmuseen in den vergangenen<br />

beiden Jahrzehnten immer wieder<br />

für Schlagzeilen sorgten. Nachhaltig in Erinnerung<br />

ist hier vor allem Gustav Klimts<br />

Gemälde Goldene Adele, das sich bis 2006<br />

im Belvedere befand. Nach einem Jahre<br />

langen Rechtsstreit von Maria Altmann<br />

gegen die Republik Österreich ging es<br />

schließlich an die Erbengemeinschaft des<br />

Paares Adele und Ferdinand Bloch-Bauer.<br />

2015 wurde die Geschichte dieses Prozesses<br />

auch fürs Kino verfilmt (Die Frau in Gold<br />

mit Helen Mirren als Maria Altmann).<br />

Ob etwas an die Erben der ehemaligen<br />

Besitzer oder Besitzerinnen zurückermärkischen<br />

Landesregierung. Auch er<br />

unterstreicht: Es könnte gemäß Landeskunstrückgabegesetz<br />

aus dem Jahr 2000<br />

nur zurückgegeben werden, was dem<br />

Land gehöre. Laut Geschäftseinteilung<br />

des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung<br />

sei seine Abteilung aber auch<br />

zuständig für den Bereich „Angelegenheiten<br />

der steirischen Regionalmuseen“.<br />

Und Schnabl betont, dass dabei auch das<br />

Thema Provenienzforschung ein Anliegen<br />

sei. Im Juli des Vorjahres sei hier bereits<br />

eine Veranstaltung zum Thema Provenienzforschung<br />

in Regionalmuseen angeboten<br />

worden. Das Land mache hier Angebote<br />

– diese müssen aber auch von den<br />

betroffenen Einrichtungen angenommen<br />

werden. Schnabl bedauert, dass das von<br />

Löscher und Johler designte Projekt im<br />

Rahmen Salzkammergut 2024 nun nicht<br />

zustande kommt. „Aufgrund der aktuellen<br />

Maßnahmen diesbezüglich des Landes<br />

Steiermark sowie der Universalmuseum<br />

Joanneum GmbH wäre das Zustandekommen<br />

dieses Projekts auf jeden Fall begrüßenswert<br />

gewesen.“<br />

Seitens Oberösterreichs meint Astrid<br />

Windtner von der Abteilung Kultur im<br />

Amt der Oberösterreichischen Landesregierung,<br />

die Letztentscheidung, welche<br />

Projekte aus dem Bidbook umgesetzt<br />

werden, treffe die künstlerische Leitung<br />

von Salzkammergut 2024. „Der Bund sowie<br />

die Länder Oberösterreich und Steiermark<br />

sind lediglich Fördergeber und finanzieren<br />

die Kulturhauptstadt zu zwei<br />

Drittel (mit insgesamt 20 Millionen Euro,<br />

davon rund 8,8 Millionen Euro aus Oberösterreich).“<br />

Man würde es aber begrüßen,<br />

würde die Kulturhauptstadt GmbH<br />

das Projekt aufgreifen und umsetzen. Dieses<br />

wäre „ein erster wichtiger Schritt, auch<br />

die Regionalmuseen in die Provenienzforschung<br />

einzubeziehen“. Auf Landesebene<br />

gebe es seit 2002 ein Restitutionsgesetz.<br />

Dieses sei aber eben nur Grundlage für<br />

die Rückgabe von Kunstgegenständen,<br />

die sich im Besitz des Landes Oberösterreich<br />

befänden. Hier bekenne sich das<br />

Land dazu, alle Seiten der Geschichte –<br />

auch die Schattenseiten – aufzuarbeiten<br />

und das Gedenken an alle Opfer des NS-<br />

Terrors zu wahren.<br />

Die Situation bei Regionalmuseen sei<br />

allerdings komplex, gibt Windtner zu bedenken.<br />

Ihr juristisches Fundament sei<br />

sehr unterschiedlich, je nach Geschichte<br />

und Entwicklung des jeweiligen Hauses<br />

beziehungsweise der jeweiligen Sammlung.<br />

Zum Teil handle es sich um Prigegeben<br />

werden soll, knüpfe sich aber<br />

nicht an den materiellen Wert eines Objekts,<br />

betont Johler. Sie findet es wichtig,<br />

dass jedes Museum schaut, wie Exponate<br />

Teil der Sammlung wurden. Sie sagt aber<br />

auch, dass jedes Objekt auch einen emotionalen<br />

Wert hat. Und wenn eine Familie<br />

nichts von ihren ermordeten Vorfahren<br />

besitze, bereite auch eine Haarbürste oder<br />

eine Rolle Stoff Freude. „Wir wissen aus<br />

vielen Rückgaben, wie auch die Nachfahren<br />

oft emotionale Beziehungen zu diesen<br />

Objekten entwickeln, obwohl man ja<br />

heute gar nicht mehr weiß, welche Beziehung<br />

die Vorfahren zu diesem Objekt hatten.<br />

Aber es ist eine Verbindung da.“ Die<br />

entscheidende Frage sei also nicht, wie<br />

hoch der monetäre Wert sei, sondern, „ist<br />

das Objekt unrechtmäßig erworben worden<br />

oder nicht?“<br />

Und wie geht es nun, da es kein Provenienzforschungsprojekt<br />

im Rahmen<br />

von Salzkammergut 2024 geben wird,<br />

im Kammerhofmuseum in Bad Aussee<br />

weiter? Sieglinde Köberl ist sich dessen<br />

bewusst, dass die Mautner’schen<br />

Bestände einer Aufarbeitung, vor allem<br />

aber eine digitale Inventarisierung bedürfen,<br />

sagt sie im Gespräch mit WINA.<br />

Die Geschichte von Anna Mautners Modeln<br />

sei dabei recht klar. Konkret sei das<br />

Handdruckinventar zunächst beschlagnahmt<br />

worden und dann an den damaligen<br />

Bürgermeister Hanns Wöll gegangen.<br />

(Den hier seitens der Redaktion verwendeten<br />

Begriff „arisiert“ bittet Köberl im<br />

Zug der Freigabe des Textes durch „beschlagnahmt“<br />

zu ersetzen.) Wöll habe in<br />

der NS-Zeit einen eigenen Handdruckereibetrieb<br />

begründet, der aber keinen Erfolg<br />

gehabt habe.<br />

1946 sei Anna Mautner nach Österreich<br />

zurückgekehrt, und die Modeln<br />

seien an sie restituiert worden, oder zumindest<br />

ein Teil – einige seien auch bei<br />

Wöll verblieben, und dessen Sohn Hellmut<br />

habe 1971 erneut eine Handdruckerei<br />

begründet, für die er einerseits Modeln<br />

aus dem Nachlass seines Vaters, aber auch<br />

neue verwendet habe. 2003 sei die Modelsammlung<br />

dem Museum zum Verkauf angeboten<br />

worden, so Köberl weiter. Dieses<br />

habe sich mit Anna Mautner-Wolsey, der<br />

Tochter von Anna Mautner, in Verbindung<br />

gesetzt, „und sie hat uns schriftlich die Erlaubnis<br />

gegeben, sie zu kaufen und auszustellen,<br />

bat aber, dass man sie unter Denkmalschutz<br />

stellt“. Das sei also nachweisbar<br />

geregelt, betont die Leiterin des Kammerhofmuseums.<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 9 16.09.22 05:58


Digitale Inventarisierung<br />

Was die in der NS-Zeit beschlagnahmte<br />

Trachtensammlung anbelange, sei diese<br />

nach 1945 an Anna Mautner restituiert<br />

worden. Diese habe der Gemeinde Bad<br />

Aussee dann den Kauf der Sammlung um<br />

20.000 Schilling angeboten. „Dass 1950<br />

10.000 Schilling an Anna Mautner bezahlt<br />

wurden, steht außer Frage“, sagt Köberl.<br />

„Aber wir konnten bisher den Nachweis<br />

noch nicht erbringen, dass auch der Rest<br />

bezahlt wurde.“<br />

Als ehrenamtlich geführtes Gemeindemuseum<br />

wolle man aber nicht, dass die<br />

Provenienzforschungskommission die<br />

Bestände durchforste, sagt Köberl. „Wir<br />

wollen das selbst aufarbeiten. Wir wollen<br />

selbst recherchieren.“ Nie im Traum habe<br />

sie daran gedacht, dass mit der Sammlung<br />

etwas nicht in Ordnung sei. „Ich gebe zu,<br />

wir haben uns bisher wenig bis gar nicht<br />

mit der Provenienz der Trachtensammlung<br />

Mautner beschäftigt. Aber nun wissen<br />

wir, dass es noch etwas nachzuweisen<br />

gilt.“ Sie habe sich daher ein halbes<br />

Jahr Zeit erbeten (bis zum Jahresbeginn<br />

2023), damit sie und ihre ebenfalls ehrenamtlich<br />

tätigen Kuratoren und „eigene<br />

Zeithistoriker“ Recherchen anstellen.<br />

Bis dahin wolle man auch die digitale<br />

Inventarisierung und fotografische Dokumentation,<br />

vor allem der Sammlung<br />

Historische Trachten mit einigen hundert<br />

Objekten, und die Recherchen zum<br />

Verbleib der Sammlung nach 1945 abgeschlossen<br />

haben. Danach, wenn Recherchen<br />

im Denkmalschutzamt Linz notwendig<br />

wären, würde wahrscheinlich die<br />

Unterstützung der Provenienzforschungskommission<br />

hilfreich sein, so Köberl.<br />

Auch die Leiterin des Kammerhofmuseums<br />

weist darauf hin, dass es eine Professionalisierung<br />

des Museumsbetriebs<br />

brauche. „Ich bin pensionierte Biologin<br />

„Ich gebe zu,<br />

wir haben uns<br />

bisher wenig<br />

bis gar nicht<br />

mit der Provenienz<br />

der Trachtensammlung<br />

Mautner beschäftigt.“<br />

Sieglinde Köberl<br />

und arbeite – so wie auch die Kustoden –<br />

ehrenamtlich für das Museum. Ich würde<br />

die Leitung des Museums gerne in professionelle<br />

Hände übergeben, denn die Arbeit<br />

für das Museum ist trotz Unterstützung<br />

durch die Gemeinde ehrenamtlich<br />

nur mehr schwer leistbar. Wir arbeiten<br />

auch an der Aufarbeitung und digitalen<br />

Inventarisierung unserer Zeitgeschichte-<br />

Bestände. Dafür bedarf es zusätzlicher<br />

Mitarbeiter, die der Ausseer Geschichte<br />

kundig sind.“<br />

Woran diese Professionalisierung bisher<br />

scheiterte? Wie so vieles am Geld. Das<br />

Museum sei in Gemeindebesitz, das Gemeindebudget<br />

erlaube aber keine großen<br />

Sprünge. Die eigenen Einnahmen<br />

seien im Verhältnis zum Arbeitsaufwand<br />

gering. „In den letzten Jahren vor Covid<br />

hatten wir etwa 5.000 Besucher. Heuer ist<br />

ein schlechtes Jahr. Bisher hatten wir nur<br />

1.000 Besucher.“ Urlauber gingen in diesem<br />

Jahr seltener ins Museum, und die<br />

meisten Ausseer kämen nur bei Eröffnungen<br />

neuer Sonderausstellungen oder<br />

in der Langen Nacht der Museen, „da viele<br />

ja ihr Museum kennen“. Nur seitens der<br />

Schulen und an Führungen gebe es weiterhin<br />

beständiges Interesse. Auch für<br />

Marketing, um mehr Besucher und Besucherinnen<br />

anzulocken, sei nur ein geringes<br />

Budget da.<br />

Versuche, den Bad Ausseer Bürgermeister<br />

Franz Frosch telefonisch und per<br />

Mail zu erreichen, um ihn einerseits zu<br />

fragen, ob es nicht doch möglich sei, aus<br />

dem Gemeindebudget eine Professionalisierung<br />

des Museum zu ermöglichen,<br />

aber auch, was er zum Thema Provenienzforschung<br />

und zur Sammlung Mautner<br />

zu sagen hat, scheiterten über mehrere<br />

Tage hinweg. Stets hieß es in seinem<br />

Büro im Stadtamt Bad Ausees, der Bürgermeister<br />

sei auch heute nicht erreichbar,<br />

bis auch die letzte gesetzte Deadline verstrichen<br />

war.<br />

Das Kammerhofmuseum weist übrigens<br />

inzwischen sowohl in der Ausstellung<br />

wie auch auf der Website auf das Schicksal<br />

der jüdischen Familie Mautner und ihre<br />

Sammlungen, die sich heute im Besitz des<br />

Museums befinden, hin. „Wir sind dafür<br />

kritisiert worden und haben es eingesehen.<br />

Da haben wir sicher zu wenig Wert<br />

darauf gelegt, aber nun informieren wir<br />

über die Provenienz der Sammlung Mautner<br />

und ihren Weg in unser Museum“, sagt<br />

Köberl.<br />

Zu diesem Punkt merkt Löscher allerdings<br />

an: In der Vergangenheit, als die<br />

Erben nach Stephan Mautner ihre Trachtenkammer<br />

zurückforderten, habe der<br />

damalige Museumsdirektor Hans Gielge<br />

in der unmittelbaren Nachkriegszeit gesagt,<br />

„wir können uns diese Handlungsweise<br />

der Erben gegen das Vermächtnis<br />

nicht bieten lassen“. Er habe dann eine<br />

Ausfuhrsperre beantragt, und so sei die<br />

Trachtenkammer als unentgeltliche Leihgabe<br />

gegen Ausfuhr der restlichen Sammlung<br />

in Bad Aussee geblieben.<br />

Ganz so geradlinig, wie nun vom Kammerhofmuseum<br />

dargestellt, seien die Abläufe<br />

rund um die Sammlungen der Familie<br />

Mautner eben nicht abgelaufen. Und<br />

auch bezüglich des Verkaufspreises – jene<br />

20.000 Schilling, von denen bisher nur<br />

die Bezahlung der Hälfte seitens des Museums<br />

nachgewiesen werden kann – stelle<br />

sich die Frage, ob es sich dabei um einen<br />

angemessenen Betrag gehandelt habe.<br />

Hierzu wird übrigens auch auf der Museumswebseite<br />

selbst auf eine Publikation<br />

Martin Pollners, er veröffentlich seit<br />

Jahren als Hobby-Historiker Beiträge zur<br />

Geschichte Bad Aussees, verwiesen. Demnach<br />

verwendete er hier die Bezeichnung<br />

„billiges Geld“.<br />

Und so scheint es, dass es eben doch<br />

den Anstoß von Provenienzforscherinnen<br />

wie Monika Löscher braucht, damit<br />

auch in Regionalmuseen die Geschichte<br />

der Bestände lückenlos aufgearbeitet<br />

wird. Es kommt allerdings dem Bohren<br />

harter Bretter gleich, jedes einzelne Museum<br />

hier von seiner diesbezüglichen<br />

Verantwortung zu überzeugen. Was im<br />

Bundesbereich in Sachen Provenienzforschung<br />

bereits gut gelungen ist, braucht<br />

in den Gemeinden wohl noch einen langen<br />

Atem.<br />

10 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 10 16.09.22 05:58


WINA VOR ORT<br />

Eine Schande<br />

für die Stadt Salzburg<br />

Zwei Trampelsteine als unwürdige Erinnerung an den einzigartigen<br />

Marko Feingold. Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert<br />

Am Sonntag, den 28. August <strong>2022</strong>, nur einige Tage<br />

vor dem Ende der Salzburger Festspiele, erwartet<br />

einen auf dem schmalen Steg, der die Salzach überquert,<br />

das gewohnte Bild: Einwohner, aber auch Touristen<br />

aus aller Welt laufen, drängeln oder stehen auf der Brücke,<br />

deren einfaches Gittergeflecht zu beiden Seiten mit tausenden<br />

von farbigen Schlössern behängt ist.<br />

Als Makartsteg bekannt, wurde dieser nach Gemeinderatsbeschluss<br />

der Stadt am 28. Mai 2021 in Marko-Feingold-<br />

Steg umbenannt: An diesem Tag hätte der große jüdische<br />

Sohn dieser Stadt seinen 108. Geburtstag feiern können,<br />

wäre er nicht im <strong>September</strong> 2019 gestorben.<br />

Wir suchen vergeblich nach einem Hinweis auf jenen<br />

Mann, der trotz seines unvorstellbaren Leidensweges während<br />

der Shoah nicht nur dieser Stadt, diesem Land großherzig<br />

verziehen hat, sondern zu einem geliebten Vorbild<br />

tausender Jugendlicher und Schüler:innen wurde, denen er<br />

als jüdischer Zeitzeuge aus seinem Leben erzählte. Zahlreiche<br />

Politiker aller Couleurs schmückten sich jahrzehntelang<br />

mit dem geistreichen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Salzburgs.<br />

Wo ist das mehrsprachige sichtbare Schild, die Tafel, eine<br />

Stele? Auf beiden Seiten des Stegs heften wir nun die Augen<br />

auf den Boden. Und siehe da: Auf einer Metallplatte, Grau in<br />

Grau, farblich kaum vom Asphalt unterscheidbar, sind vier<br />

Zeilen (jeweils deutsch und englisch) zu Feingold zu finden<br />

– aber nur, wenn gerade niemand darüber hinweg trampelt.<br />

Die Zeile www.marko-feingold.at klingt wie ein Hohn:<br />

„Lesen Sie nach, falls Sie etwas wissen wollen.“<br />

Es ist eine Schande für die Stadt Salzburg, dass man sich<br />

erstens nicht darauf einigen konnte, Marko Feingold eine<br />

Straße oder einen Platz zu widmen (eine Postadresse, wie<br />

es sich seine Witwe Hanna Feingold gewünscht hatte), und<br />

zweitens seelenruhig zulässt, dass Menschen und Hunde auf<br />

diesem sogenannten „Gedenkstein“ stampfen und latschen.<br />

Wenigstens ein Schlössersegment<br />

Grau und<br />

unscheinbar<br />

scheint sich die am<br />

Boden der Brücke<br />

angebracht<br />

Erinnerungstafel<br />

fast verstecken zu<br />

wollen. Ist das so<br />

beabsichtigt?!<br />

des Brückengeländes, hätte man Marko<br />

Feingold frei machen können, denn er<br />

hat der Stadt so viel mehr geschenkt.<br />

Wer in der Salzburger Zivilgesellschaft<br />

noch einen Funken Feingefühl und Bewusstsein<br />

übrighat, sollte sich dafür einsetzen,<br />

dass hier schleunigst etwas geschieht.<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 11 16.09.22 05:58


INTERVIEW MIT BARBARA STAUDINGER<br />

„Stadt ist eigentlich<br />

ein permanentes<br />

Kommen von allen“<br />

Seit 1. Juli ist die Wiener Historikerin Barbara Staudinger Direktorin des<br />

Jüdischen Museums Wien, das ihre Vorgängerin Danielle Spera zwölf Jahre<br />

lang führte. Was sie in und außerhalb des Hauses plant und welche Aufgaben<br />

sie für ein Jüdisches Museum sieht, erklärt sie im Gespräch mit Anita Pollak.<br />

WINA: Sie haben sich früh auf jüdische Geschichte, auch<br />

auf österreichisch-jüdische Geschichte spezialisiert und<br />

Ihre Karriere als Wissenschaftlerin, Kuratorin und zuletzt<br />

als Direktorin des Jüdischen Museums in Augsburg auf diese<br />

Thematik ausgerichtet. Sie sind selbst keine Jüdin und<br />

haben nicht einmal die gern herbeizitierte jüdische Großmutter.<br />

Wie kam es zu diesem ausgeprägten Interesse?<br />

Barbara Staudinger: Ich habe mich im Geschichte-<br />

Studium auf historische Minderheiten spezialisiert<br />

und nach der Diplomarbeit bei einem Forschungsprojekt<br />

zur österreichisch-jüdischen Geschichte im<br />

16. und 17. Jahrhundert mitgearbeitet. Dabei habe ich<br />

gemerkt, dass mich all das, was mich an Minderheiten<br />

interessiert, in der jüdischen Geschichte kulminiert.<br />

Daraufhin habe ich noch berufsbegleitend Judaistik<br />

studiert und Hebräisch gelernt, denn wenn man die<br />

innerjüdischen Quellen nicht interpretieren kann,<br />

sieht man die jüdische Geschichte nur aus der Perspektive<br />

der Obrigkeit, und die jüdische Perspektive<br />

auszulassen bedeutet, nur die halbe Geschichte zu erzählen.<br />

Mir hat die Judaistik sehr viel Spaß gemacht.<br />

Da waren die Türen der Professoren immer offen, und<br />

es gab Vorlesungen mit sieben Leuten.<br />

Welche personelle Veränderungen gibt es noch im JMW?<br />

I Wir haben einen neuen Chefkurator, Hannes Sulzenbacher,<br />

der schon viele Ausstellungen für das Jüdischen<br />

Museum Hohenems gemacht hat, aber auch<br />

für die Jüdischen Museen Berlin und München.<br />

Im Gegensatz zu Augsburg gibt es in Wien eine höchst aktive,<br />

auch streitbare jüdische Gemeinde. Wie war deren Echo<br />

auf die Bestellung einer nicht-jüdischen Direktorin?<br />

I Mein Nicht-Jüdischsein wurde eigentlich nie thematisiert.<br />

Ich denke, den Menschen und der IKG geht es<br />

„Jeder<br />

Mensch,<br />

der im Kulturbereich<br />

arbeitet, will<br />

die Welt ein<br />

bisschen besser<br />

machen.“<br />

Barbara<br />

Staudinger<br />

um Expertise, um Themen und um eine Sensibilität.<br />

Ich glaube, dass ich gut klar machen kann, dass sich<br />

in der Museumsarbeit nichts ändern würde, wenn<br />

ich Jüdin wäre.<br />

Zurück in Ihrer Heimatstadt, fühlen Sie sich jetzt angekommen<br />

und aufgenommen?<br />

I Ja, denn mehr als andere bin ich Wienerin und habe<br />

eine nicht immer logisch erklärbare, aber riesengroße<br />

Liebe zu dieser Stadt. Ich war in meiner Karriere mehrere<br />

Jahre in Deutschland, und es ist wunderschön,<br />

wieder zurückzukommen.<br />

Ihre Vorgängerin hat erfolgreich auf eine Steigerung der Besucherzahlen<br />

gesetzt und diese sogar verdoppelt. Ist diese<br />

Zahl für Sie auch bedeutend bzw. was wäre für Sie ein Gradmesser<br />

des Erfolgs?<br />

I Besucherzahlen sind nicht allein das Ziel einer Direktion.<br />

Sie sind ein Gradmesser für den Mutterkonzern,<br />

denn sie zeigen, ob das Museum ankommt, und<br />

sind auch wirtschaftlich wichtig, aber nur ein Erfolgsparameter<br />

von vielen. Stark ausbaufähig ist hier am<br />

Museum die Form der digitalen Vermittlung und alles,<br />

was in den Outreach-Bereich geht, in den öffentlichen<br />

Raum und andere Institutionen, was sich besucherzahlensmäßig<br />

weniger niederschlägt. Dennoch<br />

finde ich es wichtig, dass jüdische Geschichte nicht<br />

nur im Museum stattfindet und im restlichen Stadtraum<br />

höchstens mit Erinnerungen an den Nationalsozialismus<br />

verbunden wird.<br />

Woran denken Sie da konkret?<br />

I Erstens an Vermittlungsprogramme, wobei nicht<br />

nur Schulen ins Museum kommen, sondern wir<br />

auch in Schulen gehen, was wir in Augsburg sehr<br />

© Daniel Shaked<br />

12 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 12 16.09.22 05:58


Outreach & Vermittlung<br />

erfolgreich gemacht haben. Das baut Hemmungen<br />

und Vorurteile ab. Wir haben dort auch einen<br />

Teil einer Ausstellung, der Shalom Sisters, einer<br />

jüdischen Frauendemonstration, auf einer Straßenbahn<br />

gemacht, die monatelang durch Augsburg<br />

gefahren ist. Solche Aktionen finde ich wichtig,<br />

weil sie komplett barrierefrei sind und jüdische<br />

Themen mit anderen verbunden werden können.<br />

Museumsbesucher:innen fragen sich ja, inwiefern<br />

ist das für mich wichtig, was geht mich das an? Man<br />

muss die Menschen mit etwas verbinden, das auch<br />

ihre Lebensrealität betrifft. Dann interessiert es sie,<br />

denn der Mensch ist ein wahnsinnig neugieriges Lebewesen.<br />

Diese Neugier zu wecken, sollte das Ziel jeder<br />

Art von Vermittlung sein.<br />

BARBARA STAUDINGER,<br />

geboren 1973 in Wien, wo sie Geschichte,<br />

Theaterwissenschaft und Judaistik<br />

studierte. Nach Tätigkeiten am Institut<br />

für Jüdische Geschichte in St. Pölten und<br />

am Jüdischen Museum in München,<br />

leitete sie von 2018 bis <strong>2022</strong> das Jüdische<br />

Museum Augsburg. Sie kuratierte etliche<br />

Ausstellungen, u. a. in der Gedenkstätte<br />

Auschwitz-Birkenau, und gab mehrere<br />

Bücher heraus. Sie ist Mutter eines<br />

Sohnes.<br />

Wie kann man neue Besucherschichten aktivieren, ohne<br />

das Stammpublikum, das es zweifellos gibt, zu verschrecken,<br />

wohl eine Kernfrage des Kulturbetriebs?<br />

I Ich glaube schon, dass wir mit unserem neuen<br />

Programm Ausstellungen machen, mit denen viele<br />

Menschen etwas anfangen können, natürlich ist es<br />

anders, denn jede neue Direktorin, jeder neue Direktor<br />

tritt an, um etwas Neues zu machen, das ist ja der<br />

Sinn einer Veränderung.<br />

Das Jüdische Museum ist schon wegen<br />

seiner Lage im Herzen der Stadt<br />

auch ein touristischer Hotspot. Sehen<br />

Sie das weiterhin als eine Priorität?<br />

I Es muss eine Priorität sein,<br />

denn in der Dorotheergasse sind<br />

40 Prozent der Besucher:innen<br />

Tourist:innen, am Judenplatz sogar<br />

60 Prozent, und an beiden<br />

Standorten gibt es sogar noch ein<br />

Steigerungspotenzial, andererseits<br />

ist unser wichtigster Stakeholder<br />

die Stadtgesellschaft und<br />

nicht die Tourismusindustrie. Von<br />

der Wertigkeit her muss die Priorität<br />

für ein Museum, das von Steuergeldern<br />

der Stadt gezahlt wird,<br />

daher auch die Bevölkerung der<br />

Stadt sein.<br />

© Daniel Shaked<br />

Sie sind nicht zuletzt auf Grund Ihrer<br />

wissenschaftlichen Meriten bestellt<br />

worden. Wie wichtig ist die Wissenschaft<br />

für ein lebendiges Museum?<br />

I Ich habe über 20 Jahren in der Forschung zur jüdischen<br />

Geschichte gearbeitet, das gibt einem einen<br />

sehr guten Überblick über Trends, man kennt<br />

die Kolleg:innen europaweit und auch in den USA,<br />

da kann man viel mitnehmen. Ich bin auch bestellt<br />

worden, weil ich eine erfahrene Kuratorin bin und<br />

schon ein Museum geleitet habe, und kann durch<br />

meine Kontakte – ich bin eine Netzwerkfrau – interessante<br />

und neue Erkenntnisse einbringen. Ein Museum<br />

ist kein außeruniversitäres Forschungsinstitut,<br />

es kann sich aber an Forschungen beteiligen, wenn<br />

die eigene Sammlung betroffen ist. Auch im Bereich<br />

der Provenienzforschung ist das Museum eine wichtige<br />

Forschungsstätte.<br />

Die Sammlung ist ein wichtiger Teil eines Museums. Sammeln<br />

sollte eine Kontinuität sein, wird aber budgetär immer<br />

schwieriger, wenn man keine nennenswerten Schenkungen<br />

erhält. Welche Rolle soll das Sammeln in Zukunft<br />

spielen?<br />

I Die kulturhistorischen Museen platzen aus allen<br />

Nähten, alle haben ein großes Storage-Problem, und<br />

Neue Direktion, neue<br />

Projekte: Barbara Staudinger<br />

blickt voller Ideen auf<br />

ihre kommenden Jahre im<br />

Jüdischen Museum Wien.<br />

wına-magazin.at<br />

13<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 13 16.09.22 05:58


Alle erreichen<br />

gerade über die Zukunft des Sammelns wird zurzeit<br />

sehr viel nachgedacht. Auch darüber, was überhaupt<br />

ein jüdisches Museum ist: Wie hat sich das<br />

gewandelt, in welche Richtung gehen jüdische Museen,<br />

und in welche Richtung geht das Sammeln?<br />

Die Sammlungen sind hier immer noch gewachsen,<br />

vor allem bei historischen Beständen, aber es gibt<br />

große Sammlungslücken, zum Beispiel über die bucharische<br />

und sephardische Gemeinde in Wien, dazu<br />

gibt es praktisch nichts. Wenn wir jetzt das Judentum<br />

heute zeigen, so zeigen wir Fotos aus der Dobrony-<br />

Sammlung aus den 1970er- und 1980er-Jahren, für<br />

junge Leute ist das die Steinzeit.<br />

Wie jüdisch soll, muss, kann ein jüdisches Museum sein,<br />

was soll es herzeigen und welches Bild vermitteln?<br />

I Auf jeden Fall muss ein jüdisches Museum jüdisch<br />

sein. Da gibt es einerseits die Dimension der Sammlung<br />

aus jüdischer Perspektive. Dann die Ebene<br />

des Personals, es wäre ganz komisch, wenn da niemand<br />

jüdisch wäre. Weiters gibt es die Dimension<br />

der Ausstellungen mit einer jüdischen Perspektive,<br />

was nicht heißt, dass man nicht auch Erkenntnisse<br />

mitnehmen kann, die für andere Minderheiten und<br />

Gruppen in der Stadt interessant sind. Und als letzten<br />

Punkt, dass ein jüdisches Museum nicht nur,<br />

aber auch ein jüdisches Publikum haben muss. Jüdische<br />

Museen wurden in der Nachkriegsgesellschaft<br />

oft in Gemeinden gegründet oder wiedergegründet,<br />

in denen es keine jüdische Gemeinden mehr gab, mit<br />

einem nichtjüdischen Zielpublikum, auch das finde<br />

ich problematisch.<br />

Also so eine Art voyeuristische Reservatsperspektive?<br />

I Ja, genau. Viele Leute gehen da rein, weil sie wissen<br />

wollen, wie die Juden leben, die Juden Feste feiern<br />

und die Juden glauben. Ich finde, ein jüdisches<br />

Museum soll diese Erwartungen enttäuschen und<br />

die Möglichkeit bieten, es anders zu sehen: dass es<br />

nämlich die Juden so gar nicht gibt, dass es nicht nur<br />

eine Vielfalt vom orthodoxen bis liberalen Judentum<br />

gibt, sondern auch persönliche Unterschiede, ganz<br />

weit weg von jedem Klischee. Das muss man auflösen,<br />

ansonsten transportiert man Stereotype.<br />

„Eine Weltchronik<br />

berichtet,<br />

dass<br />

Abraham<br />

nach der<br />

Sintflut sein<br />

Reich in Wien<br />

gegründet<br />

hat.“<br />

Barbara<br />

Staudinger<br />

Ihr Ausstellungsprogramm für die nächsten Monate steht<br />

bereits fest. Was haben wir da zu erwarten?<br />

I Unsere erste ganz kleine Ausstellung wird am 12.<br />

<strong>Oktober</strong> eröffnet, eine Videoarbeit des taiwanesischkoreanischen<br />

Künstlers James T. Hong, sie heißt Apologies.<br />

Da sieht man eineinhalb Stunden Staatsoberhäupter<br />

aus der ganzen Welt sich für Verbrechen gegen die<br />

Menschlichkeit entschuldigen. Die Arbeit ist unglaublich<br />

mitnehmend, denn man merkt ganz schnell, das<br />

geht ja immer weiter. Und dass sich auch die Worte, der<br />

symbolische Akt der staatlichen Entschuldigung, gleichen.<br />

Wir kontextualisieren das mit einem Zitat von<br />

Ruth Klüger: „Ihr sagt niemals wieder ...“<br />

Am 29. November eröffnen wir unsere große Ausstellung<br />

Hundert Missverständnisse über und unter Juden,<br />

die schon einen guten Einblick in das Programm der<br />

folgenden Jahre gibt, eine Ausstellung, die Vorurteile<br />

im Licht des kitschigen Denkens über Juden zeigt<br />

und auch mit einem Augenzwinkern damit spielt.<br />

Was ist am zweiten Standort auf dem Judenplatz geplant?<br />

Gibt es da einen Bezug zur mittelalterlich-jüdischen Geschichte<br />

des Ortes?<br />

I Dort ist die Dauerausstellung zum jüdischen Mittelalter<br />

erst 2021 eröffnet worden und wird bleiben. Der<br />

Judenplatz mit dieser Spange vom Shoah-Mahnmal<br />

zur mittelalterlichen Synagoge ist für mich ein Ort<br />

des Nachdenkens darüber, was Erinnern eigentlich<br />

ist, welche Geschichten erzählen wir und wie erzählen<br />

wir sie. Im Gegensatz zum Palais Eskeles in der<br />

Dorotheergasse, das ja nie ein Zentrum der jüdischen<br />

Gemeinde war, ist der Judenplatz ein authentisch jüdischer<br />

Ort, der von sich aus unendlich viel von der<br />

Geschichte erzählt. Insofern soll es da um Erinnerung<br />

in verschiedenen Facetten gehen. Anfang November<br />

eröffnen wir dort die Ausstellung My Blood<br />

Strangers über die Aneignung von Geschichte am Beispiel<br />

des Wiener Palais des Beaux Arts.<br />

Die Dauerausstellung im Haupthaus ist fast zehn Jahre<br />

alt. In schnelllebigen Zeiten also vielleicht schon veraltet.<br />

Was planen Sie da?<br />

I Nächstes Jahr ist ein Jubiläumsjahr, 30 Jahre Dorotheergasse,<br />

zehn Jahre Dauerausstellung – und ein<br />

Startschuss für das Nachdenken über eine neue Dauerausstellung.<br />

Ich finde es ganz wichtig, dass jüdische<br />

Museen selbstreflexiv sind, das heißt für uns<br />

auch, darüber nachzudenken, was in unserer Sammlung<br />

eigentlich Stereotype verstärkt. Jede Dauerausstellung<br />

eines jüdischen Museums beginnt mit der<br />

ersten Erwähnung der Juden in einer Stadt. Das produziert<br />

das Bild, die Stadt wäre schon da und die Juden<br />

kommen als Fremde dazu. Aber dieses Bild ist falsch,<br />

© David Bohamnn/ JMW<br />

14 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 14 16.09.22 05:58


Die Welt ein wenig verbessern<br />

Love me kosher: von<br />

der Erschaffung der Welt<br />

bis zur LGBTIQ-Bewegung<br />

aktuell im JMW.<br />

denn Stadt ist eigentlich ein permanentes Kommen<br />

von allen. Wir haben eine Weltchronik gefunden, die<br />

berichtet, dass Abraham zwei Wochen nach der Sintflut<br />

sein Reich in Wien gegründet hat! Man könnte also<br />

sagen, seht her, die Juden waren zuerst da und alle anderen<br />

sind nachher gekommen! Ein kurioses Beispiel,<br />

das einen aber schon zum Nachdenken bringt.<br />

Haben Sie, weil ich das leise durchhöre, auch eine aufklärerische<br />

Mission?<br />

I Ich glaube, jeder Mensch, der im Kulturbereich arbeitet,<br />

will die Welt ein bisschen besser machen. Das<br />

ist ja etwas sehr Jüdisches, Tikkun ha Olam, die Welt<br />

verbessern. Es mag vielleicht etwas idealistisch oder<br />

naiv klingen, aber letztlich ist es das, was einen treibt<br />

und woraus man die Freude an der Arbeit bezieht.<br />

Die Corona-Zeit hat gezeigt, dass man auch in einem<br />

zeitweise geschlossenen Haus auf andere Weise, sprich<br />

digital, überleben muss oder kann. Wie soll man diese<br />

Erfahrungen in Zukunft umsetzen?<br />

I Wir sind gerade dabei, die Online-Sammlung wirklich<br />

umzusetzen, ein Kurator wird sich vermehrt Online-Ausstellungen<br />

widmen, und wir werden auch<br />

ein digitales Outreach betreiben. Das Online-Angebot<br />

ersetzt nichts, es ist aber eine andere Ebene, die<br />

immer wichtiger wird, und das dürfen wir nicht versäumen.<br />

Es gibt viele Leute weltweit, die gar nicht ins<br />

Museum kommen können, denen aber zum Beispiel<br />

als Nachfahren der jüdischen Gemeinde in Wien das<br />

Museum am Herzen liegt. Die kann man nicht mit<br />

Online-Führungen mit verwackelten Bildern abholen.<br />

Man kann aber speziell für Online-User kreierte<br />

Programme zu den Ausstellungen entwickeln und so<br />

eine Verbindung herstellen.<br />

Was wünschen Sie sich persönlich als Direktorin für die<br />

nächsten fünf Jahre?<br />

I Ich wünsche mir viele Kooperationen, viele fröhliche<br />

Feste und spannende Diskussionen.<br />

WIE<br />

GEHT’s<br />

DIR?<br />

HILFE IN KRISEN<br />

Lass uns reden, ruf uns an:<br />

TEL: +43 (0)1 214 90 14<br />

Mo - Do 8:00 - 19:00<br />

FR 8:00 - 14:00<br />

ESRA Psychosoziales<br />

Gesundheitszentrum<br />

& Partnerorganisation der IKG<br />

Tempelgasse 5, 1020 Wien<br />

WIR SIND<br />

FÜR DICH DA<br />

© David Bohamnn/ JMW<br />

Für Menschen in Krisensituationen<br />

und ihre Angehörigen gibt es auch<br />

weitere Anlaufstellen in Wien:<br />

Sozialpsychiatrischer Notdienst<br />

PSD-Wien Täglich, 0-24h<br />

TEL: +43 (0)1 313 30<br />

Weitere Infos: www.suizid-praevention.gv.at<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 15 16.09.22 05:58


INTERVIEW MIT DWORA STEIN <br />

„Im konservativen Frauenbild Österreichs<br />

werden die Frauen immer noch als<br />

‚Dazu‘-Verdienerinnen gesehen.“<br />

Die Gleichstellung von Frauen privat wie im Beruf ist<br />

für die langjährige Gewerkschafterin Dwora Stein<br />

ein großes Anliegen. Als Aufsichtsratsvorsitzende des<br />

Jüdischen Museum Wien freut sie sich auf die Zusammenarbeit<br />

mit der neuen Direktorin. Ebenso bereitet<br />

ihr das Engagement im Maimonides-Zentrum und bei<br />

ESRA große Freude. Interview Marta S. Halpert,<br />

Foto: Reinhard Engel<br />

16 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 16 16.09.22 05:58


Wichtige Sammlungen<br />

Dwora Stein sieht in der Max-<br />

Berger-Judaica-Sammlung des<br />

Jüdischen Museums eine besondere<br />

Möglichkeit, jüdische<br />

Geschichte zu erzählen.<br />

WINA: Sie sind seit 2014 Aufsichtsratsvorsitzende<br />

des Jüdischen Museums Wien (JMW) und haben<br />

dieses Mandat der Stadt Wien übernommen, als<br />

Sie noch berufstätig waren, nämlich als Bundesgeschäftsführerin<br />

der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). In<br />

dieser größten Einzelgewerkschaft innerhalb des ÖGB waren<br />

Sie für internes Management, insbesondere für Finanzen<br />

und Personalführung verantwortlich. Was hat Sie motiviert,<br />

diese zusätzliche Bürde im Jüdischen Museum zu<br />

übernehmen?<br />

Dwora Stein: Es war und ist keine Bürde, sondern<br />

eine pure Freude. Dieses Jüdische Museum war immer<br />

schon ein besonders wichtiger Ort für mich. Ich<br />

kann mich an großartige Ausstellungen erinnern, z.<br />

B. an die Eröffnungsausstellung Hier hat Teitelbaum<br />

gewohnt oder jene über die Türkisch-Jüdische Gemeinde<br />

in Wien sowie die Ausstellung Prima la Musica<br />

über jüdische Musiker. Als dann das Angebot<br />

kam, den Vorsitz des Aufsichtsrates zu übernehmen,<br />

habe ich mich unglaublich gefreut. Mein erster Gedanke<br />

war, da schließt sich wieder ein Kreis. Ich bekomme<br />

jetzt eine Chance, meine berufliche Erfahrung<br />

– auch aus anderen Aufsichtsräten – diesem<br />

wichtigen Museum zur Verfügung zu stellen.<br />

Welchen Kreis meinen Sie?<br />

I Der Kreis hat sich insofern geschlossen, als ich in<br />

meiner bisherigen Tätigkeit in der Gewerkschaft und<br />

der Arbeiterkammer beruflich wenig mit jüdischen<br />

Themen zu tun hatte. Erst durch die Funktion im<br />

Aufsichtsrat bin ich damit wieder stark in Berührung<br />

gekommen, das hat mir sehr viel bedeutet. Daher<br />

habe ich mit großer Freude zugesagt.<br />

Derzeit arbeitet sich ein neues Führungsteam im Museum<br />

ein. Sie begleiten die Entwicklung dieses Hauses seit nunmehr<br />

acht Jahren. Was erwarten oder erhoffen Sie sich von<br />

dieser Veränderung?<br />

I Ich freue mich sehr auf die Arbeit mit Frau Dr. Staudinger,<br />

die seit 1. Juli im Amt ist. Was erwarte ich mir?<br />

Das Jüdische Museum verfügt über eine einzigartige<br />

Sammlung, und diese wieder stärker sichtbar zu machen,<br />

ist notwendig und auch in Planung.<br />

Welche Sammlungen meinen Sie?<br />

I Die Max-Berger-Judaica-Sammlung des Jüdischen<br />

Museums ist eine der weltweit bedeutendsten. Diese<br />

der Öffentlichkeit besser zu präsentieren, ist eine<br />

große Aufgabe – umso mehr, als sich die Sammlung<br />

hervorragend eignet, anhand von Objekten jüdische<br />

Geschichte zu erzählen. Zweitens ist es wichtig, jüdisches<br />

Leben hier und heute darzustellen und wichtige<br />

gesellschaftliche Fragen aus jüdischer Perspektive<br />

zu diskutieren, z. B. wie lebt eine Minderheit in<br />

einer Mehrheitsgesellschaft, wie geht man mit Antisemitismus,<br />

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />

um. Das sind alles Themen, die auch in einem jüdischen<br />

Museum in den Vordergrund gerückt werden<br />

sollten.<br />

Würde das auch mehr Besucherinnen und Besucher ins Museum<br />

locken?<br />

I Da kommen wir zu meinem dritten Anliegen, das<br />

ist die Digitalisierung. Das sinnliche Erlebnis kann<br />

durch nichts ersetzt werden, aber trotzdem muss ein<br />

Museum im virtuellen Raum präsent sein. Doch lediglich<br />

ein virtueller Rundgang reicht nicht, da muss<br />

es eigene Formate geben, die besser geeignet sind.<br />

Darüber hinaus ist es genauso wichtig, dass sich das<br />

Museum auch in die Stadt hinein öffnet, also im öffentlichen<br />

Raum präsent ist.<br />

In welcher Form könnte das geschehen?<br />

I Zum Beispiel, indem Veranstaltungen außerhalb<br />

der Räumlichkeiten im Palais Eskeles oder am Judenplatz<br />

stattfinden. Es muss ja nicht alles nur in<br />

Gebäuden gezeigt werden. Das Wien Museum hat<br />

während des Umbaus sogar Ausstellung rund um<br />

die Baustelle organisiert. Ich bin sicher, dass Barbara<br />

Staudinger viele Ideen hat, wie man Menschen<br />

in die Ausstellungen bringen kann, aber auch die Expositionen<br />

und Veranstaltungen zu den Menschen.<br />

Sie könnten sich derzeit nur Ihren großen Vorlieben, wie<br />

dem Besuch von Musik- und Sprechtheater, dem Reisen,<br />

dem Lesen von Literatur und Zeitgeschichte widmen. Trotzdem<br />

haben Sie die Initiative ergriffen und sich zur freiwilligen<br />

und unentgeltlichen Mitarbeit in Ihren Fachgebieten<br />

der jüdischen Gemeinde angeboten – und bereits etliche<br />

kleinere Beratungsaufgaben erfüllt. Seit März <strong>2022</strong> sind Sie<br />

auch Vorstandsmitglied bei ESRA. Warum machen Sie das?<br />

I Nach mehr als 40 Jahren durchaus anstrengender<br />

Berufstätigkeit wollte ich mich regenerieren und<br />

auf Bereiche konzentrieren, die zu kurz gekommen<br />

waren. Dazu gehörte sowohl reisen wie auch Kultur<br />

genießen. Die Familie und meine Freundschaften<br />

spielten immer schon eine wichtige Rolle, doch<br />

meine Freizeit war knapp bemessen. Nach einer gewissen<br />

Zeit hatte ich den Wunsch, meine berufli-<br />

„ Es gibt viele<br />

Arten, jüdisch<br />

zu sein. Das<br />

hat sich auch<br />

in unserer Familie<br />

gezeigt.“<br />

Dwora Stein<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 17 16.09.22 05:58


Frauen stärken<br />

chen Erfahrungen doch nicht ganz brach<br />

liegen zu lassen, sondern sie in eine Institution<br />

einzubringen, die mir persönlich<br />

wichtig ist – und das ist die IKG.<br />

Ich habe durch meine Mutter das Maimonides<br />

Zentrum (MZ) kennen und schätzen<br />

gelernt, deshalb wollte ich da etwas beitragen.<br />

Als ich meine Mitarbeit angeboten<br />

habe, wurde ich gebeten, mich an der Weiterentwicklung<br />

der Gesundheitseinrichtungen<br />

der IKG, Maimonides Zentrum und<br />

ESRA, zu beteiligen. In beiden Einrichtungen<br />

wird von engagierten und professionellen<br />

Menschen großartige Arbeit geleistet,<br />

aber es geht auch um die Zukunft. Die<br />

Zusammensetzung der Gemeinde ändert<br />

sich, die Bedürfnisse der Menschen verändern<br />

sich, wir wissen gar nicht, welche Erwartungen<br />

die Gemeindemitglieder an das MZ und<br />

an ESRA haben. Die neue Führung bei ESRA wird<br />

auch einiges in Bewegung setzen – das alles ein Stück<br />

beratend zu begleiten, mache ich sehr gerne, weil ich<br />

glaube, mit meiner Organisations- Führungs- und<br />

Managementerfahrung etwas bewirken zu können.<br />

Außerdem habe ich zusätzlich den Blick von außen<br />

und nicht nur die Innensicht.<br />

Nicht wenige Gemeindemitglieder kennen Sie unter Ihrem<br />

Mädchennamen Tessler. Sie haben zwei Schwestern, die<br />

beide in Jerusalem leben. Woher stammen Ihre Eltern?<br />

I Mein Vater stammt aus dem ungarisch-rumänischem<br />

Grenzgebiet, durch sein Geburtsjahr, 1908,<br />

war er eigentlich ein Altösterreicher. Meine Mutter,<br />

Jahrgang 1921, wurde schon in Wien geboren.<br />

Wie und wo haben Ihre Eltern die Shoah überlebt?<br />

I Mein Vater hat darüber immer geschwiegen. Meine<br />

Mutter konnte mit ihrer Schwester und den Großeltern<br />

1942 nach Ungarn fliehen, dort haben sie als<br />

U-Boote überlebt. In Budapest haben sich meine Eltern<br />

kennengelernt und auch dort geheiratet. 1948<br />

konnten sie mit falschen Papieren und Fluchthelfern<br />

nach Wien flüchten. Als ich von meinem Vater wissen<br />

wollte, warum sie schon 1948 zurückkamen und<br />

nicht wie viele andere erst 1956, sagte er kurz und<br />

knapp: „Weil ich nicht wollte, dass meine Kinder im<br />

Kommunismus aufwachsen.“<br />

Wie würden Sie Ihre jüdische Kindheit, den Stellenwert der<br />

Religion in der Familie definieren?<br />

I Es gibt viele Arten, jüdisch zu sein. Das hat sich auch<br />

in unserer Familie gezeigt: Mein Vater war ein gläubiger<br />

Jude, meine Mutter hingegen gar nicht religiös.<br />

Das Ergebnis war aber, dass wir Schwestern uns sehr<br />

„die Gemeinde hat<br />

sich vorbildlich<br />

bei der Betreuung<br />

der Geflüchteten<br />

aus der Ukraine<br />

engagiert. Ich<br />

freue mich, dass<br />

ich auch dieses<br />

humanitäre Projekt<br />

unterstützen<br />

konnte.“ Dwora Stein<br />

unterschiedlich entwickelt haben: Ich bin nicht religiös,<br />

meine Schwester Edith auch nicht, aber unsere<br />

jüngste Schwester Sylvia ist es sehr wohl.<br />

Das heißt, die Eltern ließen den Kindern völlige Freiheit?<br />

I Ja, nur die sogenannte Freiheit hinterlässt auch eine<br />

gewisse Orientierungslosigkeit. So mussten wir alle<br />

unseren Weg finden, und dieser gestaltete sich sehr<br />

unterschiedlich. Ich bin in Wien geblieben, habe mich<br />

hier etabliert. Meine Schwester Edith hat sich sehr<br />

früh für die Alija entschieden und wurde klinische<br />

Psychologin in Jerusalem. Unsere jüngste Schwester<br />

wiederum hat in Wien studiert und hier ihren israelischen<br />

Mann kennengelernt, mit dem sie nach Israel<br />

ging. Das ist sehr typisch für jüdische Familien.<br />

Als Vizepräsidentin der Arbeiterkammer Wien und durch die<br />

langjährige Tätigkeit im Berufsförderungsinstitut haben Sie<br />

konsequent für die Besserstellung von Frauen im Privat- und<br />

Berufsleben gekämpft. Was konnte erreicht werden, was gibt<br />

es noch zu tun?<br />

I Frauen sind im öffentlichen Leben, in der Politik wesentlich<br />

präsenter als noch vor einigen Jahren, was sicher<br />

ein großer Fortschritt ist. Sobald ich in einer Führungsposition<br />

war, habe ich dafür gesorgt, dass auch<br />

andere Frauen eine Chance bekommen Verantwortung<br />

zu übernehmen – und das ist mir auch gelungen.<br />

Tatsache ist aber, dass Frauen immer noch wesentlich<br />

weniger verdienen als Männer.<br />

Aber weshalb ist und bleibt das so?<br />

I Wenn Teilzeit gearbeitet wird, sind es meistens die<br />

Frauen. Dadurch werden sie nicht nur in der Karriere<br />

gebremst, sondern bekommen auch nur ein Teilzeitentgelt.<br />

Im konservativen Frauenbild Österreichs<br />

werden die Frauen immer noch als „Dazu“-Verdienerinnen<br />

gesehen. Und wenn sich an der Pflegesituation<br />

nichts ändert, wird das zukünftig auch auf dem Rücken<br />

der Familien, sprich Frauen, ausgetragen. Ich<br />

fürchte, da droht ein großer Rückschritt.<br />

Gibt es noch Bereiche im jüdischen Gemeindeleben, die Sie<br />

zur weiteren Mitarbeit reizen würden?<br />

I Das Vorhaben bei der Weiterentwicklung der Gesundheitseinrichtungen<br />

der IKG einen Beitrag zu leisten,<br />

ist schon sehr fordernd und umfangreich. Der<br />

Plan, sich auf die Zukunft des Maimonides Zentrums<br />

und von ESRA zu fokussieren, auch auf mögliche engere<br />

Kooperationen, musste in den letzten Monaten<br />

aufgeschoben werden, weil sich die Gemeinde vorbildlich<br />

bei der Betreuung der Geflüchteten aus der<br />

Ukraine engagiert hat. Ich freue mich, dass ich auch<br />

dieses humanitäre Projekt unterstützen konnte.<br />

18 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 18 16.09.22 05:58


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

The future<br />

is already here<br />

Über Tramprobefahrten, eine neue<br />

Kohorte wahlberechtigter Jugendlicher<br />

und die erste herbstliche Morgenluft.<br />

paar Mal wurde sie schon<br />

gesichtet, die zukünftige<br />

Tram mit ihren funkeln-<br />

Ein den weißen Wägen. Zur<br />

Probe glitt sie geschmeidig über die neuen Gleise<br />

im Süden der Stadt. Als ich sie vor ein paar Wochen<br />

erstmals entdeckte, dachte ich: „Wow, the future<br />

is already here.“ Manche hatten ja geglaubt,<br />

dass das Riesenprojekt nie fertig werden würde.<br />

Jetzt bekommt Tel Aviv tatsächlich ein (hoffentlich<br />

bald funktionierendes) öffentliches Transportsystem,<br />

das nicht nur aus Autobussen besteht, die oft<br />

auch nur mühsam im Verkehrschaos vorankommen.<br />

Die U-Bahn verläuft streckenweise oben, andernorts<br />

geht es durch Tunnel immer wieder nach<br />

unten. Ein ganzes Netz soll sich am Ende über die<br />

Stadt spannen.<br />

Der Start der ersten Linie war geplant für November.<br />

Er wird sich aber wohl noch ein bisschen<br />

verzögern. Inzwischen gibt es eine Debatte<br />

darüber, ob der Schienenverkehr<br />

auch am Schabbat stattfinden darf und<br />

sollte. Die Noch-Verkehrsministerin<br />

Merav Michaeli von der Arbeitspartei<br />

Von Gisela Dachs<br />

Hadar Muchtar, 20, aus Kiryat Ono, ist<br />

der neueste TikTok-Star. In ihren unzähligen<br />

Videoaufnahmen steht sie vor der<br />

Kamera, oft mit einem Megafon, und<br />

schimpft über die Preise [...].<br />

und Bürgermeister Ron Huldai sehen das jedenfalls<br />

so. Beide argumentieren im Namen von sozialer<br />

Gerechtigkeit: Wer kein eigenes Auto besitzt,<br />

soll am Wochenende nicht benachteiligt sein. Außerdem<br />

macht es auch wirtschaftlich angesichts der<br />

hohen Investitionen von mehreren zehn Milliarden<br />

Schekeln mehr Sinn, die U-Bahn an allen Wochentagen<br />

laufen zu lassen. Noch ist unklar, ob Tel Aviv<br />

jetzt tatsächlich dem Beispiel Haifa folgen könnte,<br />

wo am Schabbat ja auch öffentliche Transportmittel<br />

fahren.<br />

Religiöse Politiker warfen Michaeli vor, mit dem<br />

Thema Stimmenfang vor den Wahlen am 1. November<br />

zu betreiben. Sie verwiesen auf die Status-quo-<br />

Vereinbarung, die den öffentlichen Verkehr im Land<br />

bis auf wenige Ausnahmen von Freitagnachmittag<br />

bis Samstagabend zum Pausieren zwingt. Zugleich<br />

aber hat in dieser Hinsicht eine kleine Revolution<br />

stattgefunden, ohne dass es viel Aufhebens darum<br />

gibt. Seit dem 17. <strong>September</strong> fahren jetzt nämlich<br />

erstmals auch am Freitagabend und in der Nacht<br />

Züge vom und zum Flughafen Ben Gurion auf der<br />

Strecke Tel Aviv–Jerusalem.<br />

Der aktuelle Wahlkampf zeigt, dass sich die Menschen<br />

mit anderen Dingen beschäftigen: Das sind<br />

die hohen Preise, die weiter angestiegenen Lebenskosten<br />

und die Zukunftschancen der jungen Generation.<br />

Letztere ist auch als Wählergruppe zunehmend<br />

in den Fokus geraten. Da in den letzten Jahren<br />

so oft gewählt wurde, sind 22-jährige jetzt bereits<br />

zum fünften Mal berechtigt, ihre Stimme abgeben.<br />

Da sie untrennbar mit ihren Handys verbunden<br />

sind, haben sich die politischen Botschaften in Stil<br />

und Form angepasst.<br />

© Tomer Neuberg/Flash90<br />

20 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 20 16.09.22 05:58


© Tomer Neuberg/Flash90<br />

Hadar Muchtar, 20, aus Kiryat Ono, ist der neueste<br />

TikTok-Star. In ihren unzähligen Videoaufnahmen<br />

steht sie vor der Kamera, oft mit einem Megafon,<br />

und schimpft über die Preise, vergleicht sie mit<br />

dem Ausland, wirft Berufspolitikern vor, die Jungen<br />

zu vernachlässigen und sich nur für sich selbst zu<br />

interessieren. Ihre Partei heißt „Tze’irim Boarim“,<br />

stürmische oder flammende Jugend. Selten ist jemand<br />

so schnell berühmt geworden. In Windeseile<br />

hatte sie 68.000 Follower und hunderttausende Viewers.<br />

Dabei ist sie noch zu jung, um in die Knesset<br />

gewählt zu werden. Das geht erst ab 21. Für einen<br />

Ministerposten aber gibt es keine Altersbeschränkung,<br />

wie sie gerne betont.<br />

Alle dachten, was für ein netter Gimmick. Dann<br />

aber entschied sich ein Umfrageinstitut, nach der<br />

Popularität ihrer Partei zu fragen, und Tze’irim<br />

Boarim erhielt so viele Stimmen, dass damit ganze<br />

zwei Mandate abgedeckt würden. Nicht ausreichend,<br />

um in die Knesset einzuziehen, aber genug,<br />

um sich als junge Frau mit Potenzial zu positionieren.<br />

Sie will weder links noch rechts sein und sich<br />

auch von niemandem vereinnahmen lassen.<br />

Ein anderes Phänomen ist Sympathie gerade der<br />

Jungen für den Rechtsaußen-Politiker Itamar Ben-<br />

Gvir. Er ist – wie andere Politiker auch – inzwischen<br />

auch vor Gymnasiasten in Tel Aviv aufgetreten und<br />

hat dort versucht, sein neues Image als Geläuterter<br />

zu pflegen. In seinem Wohnzimmer hängt also<br />

nicht mehr das Bild von Baruch Goldstein, der 1994<br />

in der Moschee in Hebron das Feuer eröffnete und<br />

29 betende Muslime ermordete. Auf TikTok schlägt<br />

er heute „nur“ vor, arabische Knesset-Abgeordnete,<br />

die nicht loyal sind, ins Flugzeug zu setzen und au-<br />

Rechtsaußen-Politiker Itamar<br />

Ben-Gvir (46) von der Otzma Yehudit<br />

Partei polarisiert – und besucht u. a.<br />

auch Schulen. Das führt immer wieder<br />

zu heftigen Auseinandersetzungen, ßer Landes zu verweisen. Schulleiter<br />

zuletzt etwa am 6. <strong>September</strong> vor der und Eltern in Tel Aviv sind sich uneinig<br />

über die potenzielle Wirkung sei-<br />

Bleich High School in Ramat Gan.<br />

ner Auftritte. Radikalisiert er? Stößt<br />

er ab? Durchschaut man ihn? Ist es besser, ihn auszuschließen,<br />

obwohl er ja offiziell bei den Wahlen<br />

antreten darf, oder ihn offen herauszufordern? Unterschätzt<br />

man das Urteilsvermögen der Jungen?<br />

Was bedeutet wehrhafte Demokratie? All das kennt<br />

man ja genug auch in Europa.<br />

Unterschätzt man das Urteilsvermögen<br />

der Jungen? Was bedeutet<br />

wehrhafte Demokratie? All das kennt<br />

man ja genug auch in Europa.<br />

Bis zur Wahl aber ist es noch eine Weile hin. Da<br />

kann, wie immer, noch viel passieren. So wie der<br />

dreitägige Krieg gegen den islamischen Dschihad<br />

im August in Gaza, der fast schon wieder in Vergessenheit<br />

geraten ist. Aus dem Norden hört man,<br />

dass die His bol lah im Libanon sich auf eine Auseinandersetzung<br />

vorbereitet. Ein hebräisches Bonmot<br />

besagt, dass es in Israel nur drei Jahreszeiten<br />

gibt: Sommer, Krieg und Wahlen. Gefühlt mag das<br />

so sein. Aber deshalb bleibt das Leben nicht stehen.<br />

Was das Neue Jahr außer der neuen U-Bahn noch<br />

bringt, wird man sehen. Immerhin ist es gerade ein<br />

bisschen kühler geworden. Und mit etwas gutem<br />

Willen lässt sich die Morgenluft in Tel Aviv jetzt sogar<br />

als herbstlich bezeichnen.<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 21 16.09.22 05:58


Lehre, Matura, Studium<br />

Der andere Weg<br />

zur Matura<br />

Am Jüdischen Beruflichen<br />

Bildungszentrum (JBBZ) ist<br />

es nicht nur möglich, eine<br />

Lehrausbildung oder berufliche<br />

Weiterbildung zu absolvieren.<br />

Hier kann man<br />

im Anschluss an eine Lehrausbildung<br />

oder berufsbildende<br />

mittlere Schule auch<br />

den Berufsreifeprüfungslehrgang<br />

besuchen. Davon<br />

machen jedes Jahr einige<br />

Jugendliche und junge Erwachsene<br />

Gebrauch – und<br />

legen dann erfolgreich die<br />

Matura ab. Wie alle anderen<br />

Maturanten und Maturantinnen<br />

auch müssen sie dabei<br />

zur Zentralmatura antreten.<br />

Danach steht ihnen<br />

der Zugang zu einem Studium<br />

an einer Universität<br />

oder Fachhochschule offen.<br />

Von Alexia Weiss,<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

Emanuel Djouraev (19):<br />

„Es war mir zunächst<br />

einmal wichtig, eine Ausbildung<br />

zu haben.<br />

Ruth Weiss-Gold (35):<br />

„Es hat sich am Ende bei<br />

mir alles sehr glücklich getroffen,<br />

auch wenn es kein<br />

geradliniger Weg war.“<br />

22 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 22 16.09.22 05:58


Lernen in Kleingruppen<br />

Emanuel Sivan (19):<br />

„Für mich war dieser Weg<br />

die Möglichkeit, doch<br />

auch studieren zu gehen.“<br />

„So habe ich<br />

zuerst die<br />

Fachschule<br />

absolviert<br />

und danach<br />

die Matura<br />

gemacht,<br />

und das,<br />

ohne Zeit zu<br />

verlieren.“<br />

Emanuel<br />

Djouraev (19)<br />

Emanuel Djouraev (19) ist auf der<br />

Zielgeraden: Im <strong>Oktober</strong> tritt er<br />

zur Matura an. Ein Jahr lang hat<br />

er sich darauf mit seinen sieben<br />

Klassenkollegen und -kolleginnen vorbereitet.<br />

30 Stunden pro Woche haben sie<br />

Unterricht erhalten, auf dem Stundenplan<br />

standen dabei die vier Maturafächer:<br />

Deutsch, Englisch, Mathematik sowie Medieninformatik<br />

beziehungsweise Eventmanagement<br />

als berufsspezifisches Fach.<br />

So ist eine Berufsreifeprüfung aufgebaut.<br />

Warum er sich für diesen Ausbildungsweg<br />

entschieden hat? „Es war mir zunächst<br />

einmal wichtig, eine Ausbildung zu haben.<br />

Deshalb habe ich mich für eine technische<br />

Fachschule und nicht für eine HTL<br />

entschieden. Dreieinhalb Jahre werde ich<br />

schaffen. Aber fünf Jahre könnten<br />

schon etwas kritisch werden,<br />

dachte ich mir. Und wenn<br />

ich dann abbrechen würde,<br />

wäre das verlorene Zeit. So<br />

habe ich zuerst die Fachschule<br />

absolviert und danach die Matura<br />

gemacht, und das, ohne<br />

Zeit zu verlieren.“<br />

Die Matura sei sicher nicht<br />

leichter, weiß Djouraev. Aber<br />

durch das Fokussieren in der<br />

Vorbereitung auf nur vier Fächer<br />

komme man gut mit. Das<br />

Lernen in der Kleingruppe<br />

sei ebenfalls ein großer Vorteil.<br />

Er ist daher zuversichtlich,<br />

die Prüfungen im <strong>Oktober</strong><br />

zu schaffen. Danach tritt er<br />

seinen Zivildienst an, und in einem Jahr<br />

möchte Djouraev an einer Universität zu<br />

studieren beginnen. Noch schwankt er dabei<br />

zwischen einem IT- und einem Kunststudium.<br />

Emanuel Sivan (19) hat eben am JBBZ<br />

seine Lehrausbildung zum Bürokaufmann<br />

abgeschlossen. Gefallen hat ihm daran vor<br />

allem, dass man dabei „für die echte Welt“<br />

vorbereitet wird. Zuvor hat er ein Gymnasium<br />

besucht, sah aber nicht, wie er es<br />

schaffen hätte sollen, dieses schließlich<br />

auch positiv zu absolvieren. „Ich hätte<br />

Französisch und Latein gehabt, ich habe<br />

wına-magazin.at<br />

23<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 23 16.09.22 05:58


Chancen nutzen<br />

„An sich selbst<br />

zu glauben<br />

und zu schauen,<br />

was macht<br />

mir Spaß?<br />

Aber auch,<br />

worin bin ich<br />

gut, was liegt<br />

mir, was interessiert<br />

mich.“<br />

Ruth Weiss-Gold<br />

niert. Es ist bis heute ein Beruf,<br />

den ich sehr mag.“<br />

Nach ihrem Lehrabschluss<br />

bei Jugend am Werk<br />

war Weiss-Gold einige Jahre<br />

im Technischen Museum<br />

im Bereich der Inventarisierung<br />

tätig. Dabei musste sie<br />

Objekte für das Lager verpacken.<br />

Dafür hat sie auch<br />

den Kran- und den Staplerführerschein<br />

gemacht. „Mit<br />

60 habe ich mich dort aber<br />

nicht mehr gesehen, so am<br />

Boden arbeitend oder kopfüber<br />

bohrend.“<br />

Deshalb entschloss sie sich, die Berufsreifeprüfung<br />

abzulegen – und besuchte<br />

dazu 2016 den Vorbereitungslehrgang am<br />

JBBZ. Die Maturaprüfung abzulegen, sei so<br />

nicht schwer gewesen. Im Anschluss habe<br />

sie zunächst noch drei Jahre in den städtischen<br />

Büchereien gearbeitet, doch dann<br />

entschloss sie sich doch, sich ihren Traum<br />

eines Kunststudiums zu erfüllen. Zwei Drittel<br />

des Studiums hat sie inzwischen bereits<br />

absolviert. „Es hat sich am Ende bei mir alles<br />

sehr glücklich getroffen, auch wenn es<br />

kein geradliniger Weg war.“<br />

Lehre plus Matura. Durchlässigkeit des Bildungssystems<br />

ist auch immer wieder eines<br />

der Argumente für das Modell Lehre<br />

plus Matura in bildungspolitischen Diskussionen.<br />

Rebecca Janker sieht aber<br />

noch mehr Vorteile. Arbeitgeber suchen<br />

heute nach jungen Arbeitskräften, die<br />

sowohl über einen Studienabschluss wie<br />

auch bereits Berufserfahrung verfügen.<br />

Mit einem Lehrabschluss, Matura und<br />

anschließendem Studium sei das zu bewerkstelligen.<br />

Zudem mache eine Lehrausbildung<br />

früher unabhängig. Worum<br />

Schüler und Schülerinnen noch ihre Eltern<br />

bitten müssten, könnten sich Lehrlinge<br />

bereits selbst bezahlen. Andererseits<br />

bekämen sie bereits mit, wie es ist, nicht<br />

mit Samthandschuhen angefasst zu werden.<br />

Der Ton seitens Kunden und Kundinnen<br />

sei doch manchmal rauer als der<br />

in der Schule. „Schule ist wirklich ein sehr<br />

geschützter Rahmen, Lehrlinge bestehen<br />

in der realen Welt.“<br />

Am JBBZ kann man seit dem Schuljahr<br />

1998/99 die Berufsreifeprüfung ablegen,<br />

sagt Geschäftsführer Markus Meyer. Anfangs<br />

habe man Lehre mit Matura angeboten,<br />

es wurde also gleichzeitig ein<br />

Lehrberuf erlernt und für die Reifeprüfung<br />

vorbereitet. Das habe sich allermir<br />

da keine Chancen<br />

ausgerechnet. Für mich<br />

war dieser Weg die Möglichkeit,<br />

doch auch studieren<br />

zu gehen.“<br />

Den Berufsreifeprüfungslehrgang<br />

hat Emanuel<br />

Sivan noch nicht<br />

begonnen. Dieser startet<br />

am JBBZ immer im<br />

<strong>Oktober</strong>. Zuvor müssen<br />

sich die Interessierten<br />

einem Auswahlverfahren<br />

stellen. Dieses stellt<br />

sicher, dass nur jene mit<br />

der Maturavorbereitung<br />

beginnen, die auch reelle Chancen haben,<br />

die Berufsreifeprüfung schließlich erfolgreich<br />

abzulegen, erklärt Rebecca Janker.<br />

Sie hat am JBBZ die pädagogische Leitung<br />

inne. Doch auch auf diese Prüfung könne<br />

man sich gut vorbereiten. Beherrscht werden<br />

können müsse jeweils der Lehrstoff<br />

der neunten Schulstufe in Deutsch, Englisch,<br />

Mathematik.<br />

Emanuel Sivan würde sich jedenfalls<br />

freuen, wenn es für ihn klappt und er ab<br />

<strong>Oktober</strong> am JBBZ für die Matura lernen<br />

kann. „Falls es möglich ist, würde ich das<br />

sehr gerne machen.“ Für seine weitere Zukunft<br />

würde er gerne ein wirtschaftsorientiertes<br />

Studium absolvieren – konkret<br />

schwebt ihm da Wirtschaftsrecht vor. Anderen<br />

Jugendlichen kann er, wenn sie sich<br />

mit dem Lernen in einem Gymnasium<br />

schwer tun, diesen Ausbildungsweg nur<br />

empfehlen. Die Lehrausbildung habe ihn<br />

gut auf das Leben vorbereitet. Und dennoch<br />

werde er an einer Universität studieren<br />

können.<br />

Ruth Weiss-Gold (35) studiert heute<br />

Kunst auf Lehramt an der Akademie der<br />

bildenden Künste. Ihr Bildungsweg bis dahin<br />

war kein geradliniger – aber schließlich<br />

jener, der sie an ihr Ziel gebracht hat.<br />

Genau das empfiehlt sie auch ihrem heute<br />

15-jährigen Sohn. „An sich selbst zu glauben<br />

und zu schauen, was macht mir Spaß?<br />

Aber auch, worin bin ich gut, was liegt mir,<br />

was interessiert mich? Und daran weiterzuarbeiten.“<br />

Sie selbst kam im Gymnasium nicht<br />

recht weiter, wiederholte in der Oberstufe<br />

mehrmals. „Ich war sehr oft müde<br />

und hatte wenig Lust.“ Aber woran sie<br />

in dieser Zeit Freude gehabt habe, war,<br />

ihr Zimmer umzugestalten und die Möbel<br />

umzustellen. „Meine Mutter hat dann<br />

gesagt, mach doch eine Tischlerlehre. Und<br />

das hat dann auch für mich gut funktiodings<br />

nicht bewährt. „Einerseits haben<br />

junge Leute vielleicht auch etwas anderes<br />

im Kopf, als zwei Mal in der Woche bis<br />

20 Uhr Unterricht zu haben. Andererseits<br />

haben es dann einige in der Berufsausbildung<br />

ziemlich schleifen lassen, und dann<br />

gab es ein böses Erwachen, weil der Lehrabschluss<br />

nicht gelang.“<br />

Das JBBZ setzt daher seit vielen Jahren<br />

auf das Modell Lehre plus Matura, erklärt<br />

Janker. Dabei absolviert man zunächst die<br />

Lehre und wird dann in einem einjährigen<br />

Lehrgang in den Maturafächern unterrichtet.<br />

Das habe sich sehr bewährt<br />

– und viele der Absolventen und Absolventinnen<br />

hätten danach auch ein Studium<br />

begonnen oder inzwischen schon abgeschlossen.<br />

Sowohl während den Lehrjahren<br />

wie auch im Maturalehrgang erhalten<br />

die Teilnehmenden übrigens eine Bezahlung,<br />

zunächst die Lehrlingsentschädigung,<br />

danach eine Beihilfe zur Deckung<br />

des Lebensunterhalts.<br />

Maturalehrgänge gibt es am JBBZ so gut<br />

wie jedes Jahr, sehr selten habe es keine<br />

solche Klasse gegeben, in manchen Jahren<br />

seien es aufgrund des großen Andrangs<br />

sogar zwei gewesen. Für den kommenden<br />

Herbst ortet Janker „riesengroßes Interesse“.<br />

Immer mehr sehr religiöse Gemeindemitglieder,<br />

die bisher ins Ausland an<br />

eine Jeschiwe gingen, möchten nun nach<br />

einer dreijährigen Fachschule für Kommunikation<br />

und Wirtschaft in Wien die<br />

Matura ablegen. „Also, wir sind übervoll.“<br />

Schade findet Janker, dass die Lehre<br />

teils einen schlechten Ruf hat. Diese brauche<br />

dringend eine Aufwertung – und dazu<br />

trage die Möglichkeit, nach einem Lehrabschluss<br />

die Matura abzulegen, eben bei.<br />

„Wäre ich heute noch einmal 15, würde<br />

ich mich wahrscheinlich für eine Lehre<br />

entscheiden“, sagt sie. Warum? Man lerne<br />

dort die lebenspraktischen Dinge, auch<br />

diese würden einen nicht nur gut auf das<br />

Bestehen in der Arbeitswelt, sondern auch<br />

auf ein Studium vorbereiten.<br />

Wichtig ist ihr außerdem zu sagen:<br />

Mit der Entscheidung für eine Lehre entscheide<br />

man sich eben nicht gegen ein<br />

Studium, sondern für frühere Selbstständigkeit.<br />

Sie selbst habe ein Lehramt absolviert<br />

und könne auch aus dieser Perspektive<br />

zudem sagen: „Es ist auch für Schüler<br />

und Schülerinnen, vor allem an Mittelschulen<br />

und berufsbildenden Schulen,<br />

extrem profitabel, Lehrpersonen zu haben,<br />

die auch wissen, was in der Berufswelt<br />

gefragt ist, und die eben vielleicht<br />

selbst ein Handwerk erlernt haben.“<br />

24 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 24 16.09.22 05:58


HIGHLIGHTS | 02<br />

Den Opfern eine Stimme geben<br />

Als „die namhafteste Holocaust-Forscherin ihrer Generation in Österreich“ wurde<br />

sie in der Laudatio bezeichnet: Historikerin Michaela Raggam-Blesch erhielt den<br />

Leon-Zelman-Preis <strong>2022</strong>.<br />

Mit ihrer langjährigen Forschungs- und Vermittlungsarbeit<br />

trage sie wesentlich dazu bei, öffentliches Bewusstsein<br />

für die Shoah und ihre Folgen für die jüdische<br />

Bevölkerung zu schaffen, heißt es in der Begründung der<br />

Jury. Und weiter: „Raggam-Blesch gibt durch ihre Oral-<br />

History-Projekte wie durch die Erforschung jüdischer<br />

Frauenbiografien den Opfern der Shoah eine Stimme. Sie<br />

trägt damit wesentlich zum Dialog zwischen den Überlebenden<br />

der NS-Verfolgung, ihren Nachkommen und dem<br />

heutigen Österreich bei.“ In ihren Publikationen wie im<br />

Rahmen ihrer kuratorischen Tätigkeit für Ausstellungen<br />

mache sie deutlich sichtbar, „dass Entrechtung, Beraubung,<br />

Vertreibung und Verfolgung der Wiener Jüdinnen<br />

und Juden mitten in der Stadt und unter den Augen der<br />

Wiener Bevölkerung stattgefunden haben“.<br />

Laudatorin Heidemarie Uhl, selbst Historikerin, würdigte<br />

Raggam-Blesch als „die namhafteste Holocaust-Forscherin<br />

ihrer Generation in Österreich“. Uhl nutzte ihre<br />

Laudatio auch, um auf die oft schwierige Lebensrealität<br />

junger Wissenschaftler:innen hinzuweisen, die durch prekäre<br />

Arbeitsverhältnisse und knappe Forschungsmittel<br />

geprägt sei.<br />

Raggam-Blesch selbst begann ihre kurze Dankesrede<br />

mit einem Verweis auf das Datum der Preisverleihung:<br />

den 14. <strong>September</strong>. An diesem Tag vor 80 Jahren – am 14.<br />

<strong>September</strong> 1942 – habe vom Aspangbahnhof ein Zug mit<br />

1.000 Personen in Richtung Maly Trostinec verlassen.<br />

Unter ihnen fanden sich 42 Mädchen aus dem jüdischen<br />

Mädchenheim in der Haasgasse und 33 Buben<br />

aus dem jüdischen Lehrlingsheim für Knaben<br />

in der Grünentorgasse.<br />

Besonders erinnerte Raggam-Blesch dabei an<br />

das Schicksal von Erika Fischer, einem jüdischen<br />

Mädchen, das von nicht-jüdischen Pflegeeltern<br />

großgezogen wurde, die sich nach der Machtübernahme<br />

durch die Nationalsozialisten<br />

1938 weigerten, das Kind den Behörden zu<br />

übergeben. Daran änderte auch der Entzug<br />

des Pflegegeldes nichts. Als man dem<br />

Vater, einem Straßenbahner, jedoch 1940<br />

mit Entlassung drohte, gab das Paar den<br />

Widerstand auf. Erika Fischer sollte schließlich<br />

wie auch alle anderen mit dem Zug am 14.<br />

<strong>September</strong> 1942 Deportierten sofort nach der Ankunft<br />

in Maly Trostinec ermordet werden.<br />

„Mir geht es in meiner Arbeit darum, die Menschen<br />

hinter den Zahlen sichtbar zu machen“, sagte die Historikerin.<br />

Die Verleihung des Leon-Zelman-Preises sehe sie<br />

als Auftrag, sich in neuen Forschungs- und Dokumentationsprojekten<br />

weiterhin dieser Aufgabe zu widmen. A.W.<br />

© Daniel Murtagh<br />

„Mir geht es in<br />

meiner Arbeit darum,<br />

die Menschen<br />

hinter den Zahlen<br />

sichtbar zu machen.“<br />

Michaela<br />

Raggam-Blesch<br />

SHANA TOVA!<br />

MIT DEN ALLERBESTEN WÜNSCHEN FÜR EIN FROHES<br />

UND GESUNDES JAHR 5783.<br />

IHR PALAIS HANSEN KEMPINSKI VIENNA<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 25 16.09.22 05:58


Thema<br />

Die Schätze Wiesenthals<br />

in neuen Händen<br />

Die Historikerin Sandra B. Weiss leitet seit diesem Jahr<br />

das Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocauststudien<br />

(VWI). Warum die Arbeitstage immer<br />

zu wenige Stunden zu haben scheinen und in welchen<br />

Momenten sie weiß, warum sie diese Aufgabe<br />

so gerne übernommen hat, schildert sie im Gespräch<br />

mit WINA.<br />

Von Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shked<br />

Die Archivalien, die Simon Wiesenthal<br />

hinterließ, sichten,<br />

ordnen, fachgerecht aufbewahren,<br />

digitalisieren: Das ist<br />

der eine Aufgabenbereich von Weiss (mehr<br />

Infos zu dieser Sammlung siehe Kasten).<br />

Der andere: Anfragen aus aller Welt zu bearbeiten<br />

und zu beantworten und den Lesesaal<br />

zu betreuen, in dem Studierende,<br />

Wissenschafter und Wissenschafterinnen<br />

(darunter auch die Fellows, die am VWI tätig<br />

sind), aber auch Privatpersonen Materialien<br />

für ihre Studien oder Recherchen<br />

nutzen können.<br />

Dabei stehen ihnen auch weitere Bestände<br />

zur Verfügung, wie etwa die Holocaust-bezogenen<br />

Teile des Archivs der Israelitischen<br />

Kultusgemeinde (IKG) Wien.<br />

26 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 26 16.09.22 05:58


Persönliche und digitale Anfragen<br />

SANDRA B. WEISS,<br />

geb. 1982 in Sterzing/Südtirol, Matura in Brixen,<br />

danach Studium der Geschichte und Ägyptologie<br />

in Wien, 2008 Abschluss des Diplom-, 2012 des<br />

Master- und schließlich 2017 des Doktoratsstudiums.<br />

Seit 2009 als Historikerin in verschiedenen<br />

Kontexten und Themengebieten tätig, darunter<br />

etwa Mitarbeit an wissenschaftlichen Projekten für<br />

das Institut für Geschichte der Juden in Österreich<br />

in St. Pölten, wissenschaftliche Mitarbeiterin an<br />

der Österreichischen Akademie der Wissenschaften<br />

beziehungsweise des Instituts für Rechts- und<br />

Verfassungsgeschichte der Universität Wien<br />

(Projekt Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats)<br />

oder Erstellung einer Datenbank für die Stadt Wien<br />

(Wiener Gelehrte und Buchbesitz. Handschriften und<br />

Inkunabeln der Palatina im Eigentum von Professoren<br />

der Universität Wien im 15. bis 16. Jahrhundert). Seit<br />

<strong>2022</strong> Archivarin im Wiener Wiesenthal-Institut<br />

für Holocauststudien (VWI). Weiss lebt mit ihrem<br />

Mann und ihren Kindern, dreijährigen Zwillingen,<br />

in Wien.<br />

sandra-weiss.at<br />

views mit in Großbritannien<br />

lebenden jüdischen<br />

Geflüchteten, ehemaligen<br />

Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen<br />

sowie Holocaust-Überlebenden<br />

(„Refugee<br />

Voices“) einsehbar.<br />

Außerdem betreut das VWI<br />

auch verschiedene Datenbanken,<br />

in denen auch im<br />

Internet recherchiert werden<br />

kann, wie die Datenbank<br />

zur ungarisch-jüdischen<br />

Zwangsarbeit oder ns-quellen.at.<br />

Demnächst werde auch eine digitale Ausstellung<br />

über Wiesenthals Zeit in Linz online<br />

gehen, kündigt Weiss an.<br />

Ziel bei der Gründung des VWI war es,<br />

hier Archivalien und Testimonials von Zeitzeugen<br />

zusammenzuführen und der Holocaustforschung<br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

Dieses Angebot wird inzwischen auch<br />

gerne angenommen. Fünf bis zehn Anfragen<br />

pro Tag trudeln in ihrer Mailbox ein,<br />

erzählt Weiss. Die Erstrecherche übernehme<br />

sie dabei in allen Fällen, soll heißen:<br />

Sie sieht nach, was die Bestände, auf<br />

die im VWI Zugriff besteht, zu dem Thema<br />

oder der Person beinhalten. Leben die Anfragenden<br />

weit entfernt, sichte sie auch<br />

„[…] dass<br />

Menschen für<br />

jede Kleinigkeit<br />

dankbar<br />

sind, dafür,<br />

dass man etwas<br />

herausgefunden<br />

hat“.<br />

Sandra B. Weiss<br />

Sie sind eine Leihgabe der IKG bis Juni 2031<br />

und umfassen 332 Kartons, die dem VWI<br />

2018 übergeben wurden, erläutert Susanne<br />

Uslu-Pauer, die Leiterin des IKG-Archivs.<br />

Zugang bietet das VWI aber auch zu Zeitzeugendatenbanken:<br />

Das Fortunoff-Videoarchiv<br />

der Yale University bietet etwa<br />

4.400 Interviews mit einer Gesamtlaufzeit<br />

von mehr als 12.000 Stunden in 22 Sprachen.<br />

Das Austrian Heritage Archive ist<br />

Teil der 800 Interview umfassenden aufgezeichnete<br />

Austrian Heritage Collection.<br />

Sie wurden mit österreichisch-jüdischen<br />

Emigranten in den USA sowie Palästina/Israel<br />

geführt und werden transkribiert und<br />

mit Dokumenten zur Lebensgeschichte der<br />

jeweiligen Person versehen. Und schließlich<br />

sind am VWI rund 245 Videointerdas<br />

Material und übermittle es in digitaler<br />

Form. Aber es sei auch die persönliche Arbeit<br />

eben im Lesesaal am Rabensteig möglich,<br />

etwa für Studierende und Forschende.<br />

Berührende Begegnungen. Ein Teil der Anfragen<br />

wird allerdings von Privatpersonen<br />

gestellt: Entweder handelt es sich dabei um<br />

Familienmitglieder von Opfern, die mehr<br />

über ihre Vorfahren herausfinden möchten.<br />

Aber auch Nachkommen von Tätern<br />

melden sich immer wieder. Sie haben etwa<br />

ein Foto des Großvaters oder Urgroßvaters,<br />

das diesen in einer SS-Uniform zeigt, gefunden<br />

und wollen nun wissen, ob etwas<br />

über von ihm verübte Verbrechen bekannt<br />

ist. Hier kann Weiss oft nicht weiterhelfen<br />

und muss an andere Einrichtungen verweisen,<br />

wie etwa das Staatsarchiv. Wiesenthal<br />

habe Akten zu den führenden Köpfen<br />

des NS-Unrechtsregimes angelegt, bei<br />

den Anfragen gehe es allerdings oft „nur“<br />

um SS-Männer.<br />

Berührend sind oft die<br />

Begegnungen mit Opferfamilien,<br />

die sich dann bedanken,<br />

weil sich im Archiv<br />

Dokumente fanden, erzählt<br />

Weiss. „Gestern war eine<br />

Familie da, die etwas zu den<br />

Großeltern gesucht hat, die<br />

ausgewandert waren und<br />

dazu Formulare ausfüllen<br />

mussten. Und dann saßen<br />

da Mutter und Tochter im<br />

Lesesaal vor einem dieser<br />

Formulare, und die Mutter<br />

sagte zur Tochter, ‚schau<br />

mal, das ist die Unterschrift<br />

meiner Großmutter und<br />

deiner Urgroßmutter.‘ Das<br />

zeigt, wie wichtig und wertvoll<br />

unsere Arbeit hier ist.“<br />

Das seien auch die Momente, in denen man<br />

spüre, „dass Menschen für jede Kleinigkeit<br />

dankbar sind, dafür, dass man etwas herausgefunden<br />

hat“.<br />

Um hier in Erinnerung an die 65.000 ermordeten<br />

österreichischen Juden und Jüdinnen<br />

sowie für deren Nachfahren bestehende<br />

Informationen und Dokumente<br />

noch besser zusammenzuführen, sind<br />

Weiss und Uslu-Pauer nun übrigens dabei,<br />

ein neues mehrjähriges Projekt zu designen.<br />

Dieses soll sich mit der personenbezogenen<br />

Erschließung von Dokumenten, wie<br />

etwa der Hauslisten, beschäftigten, und es<br />

sollen dafür auch zusätzliche Projektmitarbeiter<br />

und -arbeiterinnen zum Einsatz<br />

kommen.<br />

wına-magazin.at<br />

27<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 27 16.09.22 05:58


Umfassende Erschließung<br />

Ursula B. Weiss<br />

kennt die Bestände<br />

bereits sehr gut und<br />

hilft auch persönlich<br />

bei den Anfragen.<br />

Stichwort Unterstützung: An manchen<br />

Tagen weiß Weiss nicht, was sie als<br />

Erstes tun soll. Mailanfragen abarbeiten,<br />

Besprechungstermine absolvieren, Bestände<br />

sichten: Und schon ist der Tag wieder<br />

herum. Aktuell wird die Archiv-Leiterin<br />

von einer Archivarin unterstützt, die<br />

die Erschließung koordiniert, sowie einem<br />

Mitarbeiter, der Schriftstücke digitalisiert.<br />

Zudem gibt es eine studentische<br />

Kraft, internationale Praktikanten und<br />

Praktikantinnen und die wissenschaftliche<br />

Arbeit der Fellows. „Ich hätte natürlich<br />

gerne, dass alles erschlossen, ordentlich<br />

verzeichnet und für alle zugänglich<br />

ist“, erzählt Weiss. Dazu bräuchte sie allerdings<br />

ein größeres Team – ein Wunsch,<br />

von dem sie weiß, dass er schwer zu finanzieren<br />

ist.<br />

So freut sie sich auch über die kleinen<br />

Momente, etwa wenn sie für eine Familie<br />

das eine existierende Dokument finden<br />

konnte, und arbeitet sich ansonsten<br />

langsam Schritt für Schritt vor. Dazu gehört<br />

auch, sich um das Projekt EHRI zu<br />

kümmern, an dem das VWI teilnimmt.<br />

Dabei handelt es sich um die Errichtung<br />

eben einer European Holocaust Research Infrastructure.<br />

Hier wird Vernetzung europaweit<br />

gedacht.<br />

Das vernetzte Denken in großen Zusammenhängen<br />

ist Weiss seit ihrer Studienzeit<br />

ein Anliegen. Ihr Geschichtsstudium<br />

Die Bestände des Simon<br />

Wiesenthal Archivs<br />

Fast 60 Jahre lang spürte Simon<br />

Wiesenthal nationalsozialistischen<br />

Tätern nach, korrespondierte mit Zeugen,<br />

sammelte Zeitungsberichte, auch<br />

zum Thema Rechtsextremismus generell.<br />

Über die Jahre entstand auch<br />

eine umfangreiche Bibliothek und<br />

eine Fotosammlung. Das Archiv des<br />

VWI verfügt heute über Wiesenthals<br />

Sammlung zu NS-Tätern und NS-Verbrechenskomplexen<br />

(Umfang: 35<br />

Laufmeter bzw. rund 8.000 Akten),<br />

seine Bibliothek (etwa 3.500 Druckwerke),<br />

seine Sammlung von Lebensdokumenten,<br />

Manuskripten, Korrespondenzen<br />

in eigener Sache sowie<br />

Presseberichten (39 Laufmeter), seine<br />

Sammlung zu Rechtsextremismus,<br />

Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit,<br />

welche den Zeitraum 1960 bis<br />

2004 abdeckt, sowie die rund 3.500<br />

Bilder und Dias umfassende Fotosammlung,<br />

darunter viele Porträtaufnahmen<br />

Wiesenthals, aber auch Fotos,<br />

die bei Vorträgen oder Ehrungen<br />

aufgenommen wurden.<br />

vwi.ac.at<br />

begann sie eigentlich mit dem Wunsch,<br />

sich im Bereich der Holocaust-Forschung<br />

zu spezialisieren, nachdem sie in der<br />

Schule bereits eine vorwissenschaftliche<br />

Arbeit zur NS-Zeit geschrieben hatte.<br />

Doch 2001, als sie zu studieren begann,<br />

habe es außer Überblickslehrveranstaltungen<br />

dazu noch wenig gegeben. So ging<br />

sie in eine ganz andere Richtung, rückte<br />

das Thema Wissenschaftsgeschichte<br />

in den Vordergrund, widmete sich der<br />

Ägyptologie und schnupperte auch die<br />

Astronomie und Erdwissenschaften hinein.<br />

Ihre beruflichen Stationen führten<br />

sie schließlich im Rahmen von Projekten<br />

quer durch die historischen Epochen.<br />

„Mir ist das Verständnis von größeren<br />

Zusammenhängen wichtig“, sagt sie<br />

dazu. Es geht auch immer darum, eine<br />

Entwicklung zu sehen und nicht nur zu<br />

wissen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />

passiert ist. Das Studium der Hieroglyphen<br />

haben sie zudem Durchhaltevermögen<br />

und sich durchzubeißen<br />

gelehrt – beides Eigenschaften, die eine<br />

Archivarin brauchen kann, um die Mühen<br />

des Alltags gut zu meistern. Archivarbeit<br />

ist angesichts der großen Zahl der<br />

Dokumente, die einer fachgerechten Lagerung<br />

und Erschließung harren, niemals<br />

Sprint, sondern immer Marathon.<br />

Hier ist also Ausdauer gefragt. Und davon<br />

scheint Weiss jede Menge mitzubringen.<br />

28 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 28 16.09.22 05:58


LEBENS ART<br />

Schana towa!<br />

Auf in das neue Jahr – es soll ein gutes werden!<br />

WINA hat hier ein paar Dinge zusammengestellt,<br />

die dabei durchaus hilfreich<br />

sein könnten.<br />

Oh, wie süß<br />

Schana towa u'metuka: An Honig geht zu<br />

Rosch ha-Schana kein Weg vorbei. Wer das<br />

zuckrige Lebensmittel auch im restlichen Jahr<br />

gut verwahrt und gleichzeitig<br />

schön präsentiert<br />

wissen will, sollte es im<br />

Glas „Viva“ lagern. Mit<br />

dem Holzlöffel kann er<br />

perfekt portioniert werden.<br />

Z. B. über berlinerkaffeeroesterei.de<br />

Einiges auf der<br />

Pfanne<br />

Sonst hat man ja wenig<br />

Zeit, sich ausgiebig der Zubereitung von<br />

tollem Essen zu widmen. Dafür verbringt<br />

man an Feiertagen umso mehr Zeit in<br />

der Küche. Um alle Rezepte von Mame<br />

und Babe nachzukochen, empfehlen<br />

wir, sich direkt mit dem kompletten Set<br />

der Riess-Emailleformen einzudecken<br />

(und denken schon mal an Tsimmes,<br />

Lammbraten mit Rosinen,<br />

gerösteter Fisch, Lekach ...).<br />

riess.at<br />

Diary deluxe<br />

Das Muster dieses Journals trägt den Namen<br />

„Smudge“, was ja nicht nur „Fleck“ bedeutet,<br />

sondern auch „vollklecksen“ oder „beschmieren“.<br />

Wer also nicht an jedem Tag des neuen<br />

Jahres kluge Gedanken aufs Papier bringt, kann<br />

in dieses Heftchen auch gerne seine Strichmanderln<br />

zeichnen. Von The Completist London.<br />

Über etsy.com<br />

Parole Glück<br />

Gründe zum Feiern gibt es viele – da schadet es<br />

nicht, sich das Partymotto als Mantra an die Wand<br />

zu hängen: HAPPY NEW YEAR! Diese Girlande aus<br />

matt-schwarz beschichtetem Papier kommt vom<br />

dänischen Dekorshop Bloomingville und ist z. B.<br />

über sunflower-design.de zu beziehen.<br />

Runde Sache<br />

Nudel-Kugel! So recht weiß man nicht, ob<br />

Geschmack oder Name mehr begeistert. Ein<br />

richtig gutes Rezept für das traditionelle (Neujahrs-)Gericht<br />

gibt es auf jeden Fall auf dem<br />

Block mit der fantastischen URL freiwilligaufgesprungenergranatapfel.com.<br />

Hier trägt die Wienerin Ella Josephine<br />

Esque zusammen, was sie<br />

in ihrer Küche so alles entdeckt<br />

hat (u. a. auch Soleier in Sauerkrautsaft<br />

oder Fichten-Limo!)<br />

In Schale geworfen<br />

Unnötige Segenssprüche?<br />

Dagegen helfen am zweiten<br />

Neujahrstag das Tragen eines<br />

frischen Kleidungsstücks und<br />

der Genuss von Früchten, die<br />

man zu dieser Jahreszeit noch<br />

nicht gegessen hat. In der handgefertigten<br />

Keramikschüssel<br />

„Ourika“ von Chabi Chic kommen<br />

diese besonders hübsch<br />

zur Geltung.<br />

z. B. über debijenkorf.de<br />

Zahlen, bitte!<br />

1982 befand Prince Rogers Nelson,<br />

dass kurz vor der Jahrtausendwende<br />

wohl die ultimativ<br />

beste Zeit für eine verrückte<br />

Feier sein muss. „So tonight, I’m<br />

gonna party like it’s 1999!“, sang<br />

er. Wir finden, dass sich 5783<br />

auch ganz gut dafür eignen<br />

könnte. Wer will, kann es ja mit<br />

einer Kissenschlacht beginnen.<br />

Über redbubble.com<br />

Fotos: Ella Josephine Esque, Hersteller<br />

29 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 29 16.09.22 05:58


MATOK & MAROR<br />

the LaLa good life<br />

Very tasty Veganes im kalifornischen Stil<br />

Während Rosch ha-Schana, dem jüdischen<br />

Neujahr, und den folgenden<br />

Hohen Feiertagen genießen<br />

wir koschere heimische und manchmal auch<br />

etwas deftige Speisen. Will man sich dazwischen<br />

an manchen Tagen von Fisch, Fleisch<br />

und Eiern etwas erholen, dann kann man im<br />

the LaLa in der Neustiftgasse 23 veganes, frisches<br />

Essen zu sich nehmen.<br />

Die Schwestern Cecilia Havmöller und<br />

Susanna Paller haben sich einen Traum erfüllt,<br />

von dem sie gemeinsam vor Jahren in<br />

Los Angeles schwärmten: Sie wollten nämlich<br />

unbedingt ein Stück kalifornisches Lebensgefühl<br />

nach Wien bringen. „Lasst Plastik,<br />

Zucker, Laktose und tierische Produkte<br />

weg und entdeckt die vegane Revolution in<br />

Wien Neubau“, lautet die schwesterliche Lala-<br />

Philosophie, die durch das Motto „Weil gutes<br />

Essen plus gute Laune macht a good life!“<br />

verstärkt wird.<br />

Die Schwestern Cecilia und Susanna sind<br />

keine Neulinge in der Wiener Gastroszene:<br />

Bereit 2013 eröffneten sie mit Veganista den<br />

ersten voll veganen Eissalon Österreichs.<br />

Heute zählt man über ganz Wien verteilt elf<br />

Standorte, zusätzlich gibt es das koscher zertifizierte<br />

Eis auch am Flughafen Schwechat.<br />

(Gemeinderabbiner Hofmeister verantwortet<br />

das Koscher-Zertifikat, WINA berichtete<br />

darüber bereits vor zwei Jahren.)<br />

Die Schwestern, die selbst seit mehr als<br />

30 Jahren vegan leben, waren von der bescheidenen<br />

Auswahl an veganen Lokalen<br />

enttäuscht und schritten daher zur Tat. Im<br />

Fokus von the LaLa steht guter Geschmack:<br />

Täglich werden ausschließlich frisch zubereitete<br />

vegane Speisen serviert, und das mit<br />

so gesunden und außergewöhnlichen Zutaten<br />

wie Microgreens (beste Biokeimsaat),<br />

Kale (Grünkohl), Teff (Zwerghirse) oder<br />

Noriflocken (feine Meeresalgen als Streuwürze).<br />

Mit diesen und anderen Superfood-<br />

Beigaben zaubert man hier Salate, Roundies,<br />

Protein-Shakes, Smoothies, Botanical<br />

Lattes, Juices und Desserts, z. B. köstliche<br />

„Weil gutes Essen<br />

plus gute Laune<br />

macht a good life!“<br />

Von den<br />

Hollywood<br />

Hills bis zu den<br />

Beach Breads<br />

machen im the<br />

LaLa schon die Namen<br />

Appetit.<br />

WINA- TIPP<br />

THE LALA<br />

Neustiftgasse 23, 1070 Wien<br />

Mo.–So., 9–21 Uhr<br />

Tel.: +43/(0)660/710 78 51<br />

(Vorbestellungen auch über<br />

WhatsApp möglich)<br />

the-lala.com<br />

Schoko-Brownies, auf den Tisch und zum<br />

Mitnehmen.<br />

Die Chili-Portion mit Bohnen, Mais, fermentierten<br />

Soja-Würfeln, Polenta und Avocado<br />

um 12,90 € ist so groß, dass man diese<br />

nur zu zweit bewältigen kann. Auch die „Hollywood<br />

Hills“ benannte kalte Salat-Bowl<br />

mit Tempeh, frischem Spinat, Tomaten,<br />

Kürbiskernen, Hummus,<br />

Superfood Cracker und Crispy<br />

Chickpeas (12,90 €) ist für das<br />

Teilen sehr gut geeignet, noch<br />

dazu, weil es auf einem Reisoder<br />

Quinoa-Bett angerichtet ist.<br />

Um jeweils 7,90 € gibt es drei Frühstücksangebote<br />

mit reichlich Haferflocken<br />

und Kokosmilchreis. „Nuts About You“<br />

gehört zur Kategorie „Beach Breads“ und bietet<br />

Roggenbrot mit Cashew-, Erdnuss- oder<br />

Mandelmus, Marmelade, Banane und Chiasamen<br />

um wohlfeile 6,90 €.<br />

„Creamy Gary“ nennt sich hingegen<br />

das Roggenbrot mit Cream Cheese aus Cashew<br />

mit Schnittlauch, dazu gibt es noch<br />

Tomaten und Microgreens (7,90 €). Diverse<br />

Smoothies und Kaltgetränke findet man in<br />

der gekühlten Vitrine. Betrinken kann man<br />

sich hier nicht – no alcohol –, dafür aber mit<br />

ungesüßten Milchalternativen etwas Gutes<br />

tun: Gesunde Drinks werden aus Hafer, Mandel,<br />

Reis, Soja oder Kokos angeboten. <br />

<br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel<br />

30 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 30 16.09.22 05:58


Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion,<br />

auf ins neue Jahr! Bei Nehemia 8,10 heißt es dazu:<br />

„Geht hin und esst fette Speisen und trinkt süße Getränke<br />

und sendet davon auch denen, die nichts für<br />

sich bereitet haben …“ Genau das würde ich gern<br />

tun. Hättet Ihr denn eine Idee, was ich selbst herstellen<br />

könnte, um es in Flasche abgefüllt zu Rosch<br />

ha-Schana weiterzugeben, und das Erwachsenen<br />

und Kindern schmeckt?<br />

Deborah K.<br />

Wie wäre es, zwei der traditionellen, symbolischen<br />

Lebensmittel, die Rosch ha-<br />

Schana sonst auf dem Teller begleiten, in ein<br />

Getränk zu packen? Wir dachten da an Honig<br />

und Granatäpfel, die sich wunderbar zu einem<br />

Sirup verarbeiten und vereinen lassen.<br />

Dafür 6 bis 7 Granatäpfel (je nach Größe)<br />

halbieren und mit einer Zitronenpresse auspressen.<br />

Am Ende sollten Sie 600 ml Saft haben,<br />

den Sie durch ein feines Sieb in einen Topf<br />

abseihen. Die Flüssigkeit mit 400 Gramm Zucker<br />

und 100 Gramm Honig bei starker Hitze<br />

unter ständigem Rühren zehn Minuten aufkochen.<br />

Dabei den Schaum, der sich an der<br />

Oberfläche bildet, abschöpfen. Den heißen<br />

Sirup anschließend mittels eines Trichters in<br />

zuvor sterilisierte Fläschchen abfüllen und<br />

gut verschließen. Fertig!<br />

Kinder können den Sirup mit Soda gespritzt<br />

genießen. Für die erwachsenen Beschenkten<br />

hängen Sie einfach noch folgende<br />

Cocktailinspiration – am schönsten handgeschrieben<br />

– an die Flasche: „Ein hohes Glas<br />

mit Eiswürfeln und 1 EL Granatapfelkernen<br />

füllen, 4 cl Granatapfelsirup und 4 cl Dry Gin<br />

zugeben und mit 10 cl Tonic Water aufgießen.“ Damit lässt es sich<br />

dann herrlich auf das neue Jahr anstoßen.<br />

Der Sirup eignet sich übrigens auch ganz hervorragend,<br />

um das Rosch-ha-Schana-Rezept für das Henderl zu veredeln,<br />

das wir Ihnen auf dieser Seite vorstellen …<br />

Werte Kulinarik-Expert:innen,<br />

eine Frage: Vom Schmarrn bis zur Semmel,<br />

vom Knödel bis zum Schöberl und vom Spritzer<br />

bis zur Melange – wie kommt es eigentlich,<br />

dass so viele Speisen und Getränke, die eher<br />

WINAKOCHT<br />

Wie kam der Kaiserschmarrn<br />

zu seinem Adelstitel, …<br />

… und was kommt zu Rosch ha-Schana in die Flasche? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher<br />

Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />

Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

HÜHNCHEN MIT<br />

GRANATAPFEL<br />

ZUTATEN FÜR 2 PERSONEN<br />

400 g Hühnerbrust<br />

(in sehr grobe Stücke geschnitten)<br />

4 EL Granatapfelkerne<br />

gehackte breitblättrige Petersilie<br />

oder Minze nach Belieben<br />

Für die Marinade:<br />

2 EL Olivenöl<br />

80 ml Granatapfelsirup<br />

Saft einer Zitrone<br />

3 fein geriebene Knoblauchzehen<br />

2 EL Senf<br />

schwarzer Pfeffer aus der Mühe<br />

Salz<br />

ZUBEREITUNG<br />

Zutaten für die Marinade verrühren<br />

und mit Pfeffer und Salz abschmecken.<br />

In eine verschließbare Schale<br />

geben, die Hühnerbrustteile darin<br />

über Nacht im Kühlschrank ruhen lassen.<br />

Fleisch am nächsten Tag aus dem<br />

Kühlschrank holen und zirka eine<br />

Stunde ruhen lassen, bis es etwa<br />

Zimmertemperatur hat.<br />

Eine beschichtete Pfanne auf mittlere<br />

Hitze erhitzen und darin die Hähnchenteile<br />

von beiden Seiten solange<br />

braten, bis sie durch sind.<br />

Die Hähnchenteile auf einem Teller<br />

anrichten, mit Granatapfelkernen und<br />

ggf. Petersilie oder Minze bestreuen.<br />

Dazu schmeckt Reis oder Salat.<br />

einfach sind, den Zusatz „Kaiser“ tragen? Das können<br />

doch nicht alles Leibgerichte Seiner Majestät gewesen<br />

sein …<br />

Anna W.<br />

Was die Donaumonarchie-Wiener:innen<br />

kulinarisch ganz besonders liebten<br />

und schätzten, adelten sie gern mit dem<br />

Prädikat „Kaiser“, den sie ebenfalls ganz<br />

besonders liebten und schätzten. Gesteigert<br />

wurde diese allerhöchste Genussauszeichnung<br />

nur noch dadurch, dass man sie mitunter<br />

mit Geschichten unterlegte, die Seine<br />

Majestät direkt mit einem Gericht in Verbindung<br />

brachten – wie etwa jene rund um den<br />

Kaiserschmarrn.<br />

Die bekannteste „Anekdote“ zur Mehlspeise<br />

hat folgende Zutaten: Dereinst soll<br />

dem Kaiserpaar Sisi und Franz Joseph ein<br />

neues Gericht aus Omelettteig mit Zwetschkenröster<br />

serviert worden sein. Die auf<br />

ihre schlanke Linie bedachte Kaiserin verschmähte<br />

es jedoch. Und so soll ihr Gatte<br />

den Teller schließlich entnervt zu sich gezogen<br />

haben mit den Worten: „Na geb’ er mir<br />

halt her den Schmarren, den unser Leopold<br />

da wieder z’sammenkocht hat.“<br />

Dass die Bezeichnung „Kaiserschmarren“<br />

schon lange vor diesem angeblichen<br />

Vorfall existierte – 1835 hatte das Gasthaus<br />

„Zum Sperl“ zum ersten Mal einen Kaiserschmarrn<br />

auf seinen „Speisen-Tariff“ gesetzt,<br />

und zu dieser Zeit war Franz Joseph gerade<br />

einmal fünf Jahre alt und Sisi noch gar<br />

nicht geboren –, konnte weder der Erfolgsgeschichte<br />

des Schmarrns noch jener der<br />

Anekdote Abbruch tun. Genauso wenig wird ihnen auch die<br />

Überzeugung vieler moderner Sprachforscher:innen<br />

anhaben können, nach denen sich der Zusatz „Kaiser“<br />

eher vom italienischen „a la casa“, also „nach<br />

Art des Hauses“ oder „wie in einfachen Hütten“<br />

herleiten dürfte, was auch der einfachen Natur<br />

der Speisen entspricht. Denn wen interessieren<br />

schon etymologische Zusammenhänge,<br />

wenn die Überzeugung, man koche<br />

und esse wie bei Hofe, einfach viel besser<br />

mundet als die trockene Wissenschaft ...<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

schicken Sie sie bitte an:<br />

wına-magazin.at 31<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 31 16.09.22 05:59


Jude, Christ, Buddhist<br />

Von Pak bis Shanghai<br />

Das Leben des Ignaz Trebitsch, der sich<br />

später auch Timothy Trebich-Lincoln, dann<br />

wieder Moses Pinkeles und zuletzt sogar<br />

Chao Kung nannte, könnte filmreifer nicht<br />

sein. Versuch einer kurzen Lebensgeschichte.<br />

Von Viola Heilman<br />

Es gibt Lebensgeschichten, die<br />

so unglaublich ablaufen, dass<br />

sie kopfschüttelnd als viel zu<br />

unwahrscheinlich abgetan<br />

werden. Wenn sie dann auch<br />

noch gewürzt sind mit allerlei erfolgreichen<br />

kriminellen Handlungen, werden sie<br />

dem Reich der Übertreibung und Fantasie<br />

zugerechnet. Und dennoch gibt es sie.<br />

Schon beim Namen Moses Pinkeles<br />

muss man lächeln: Ignaz Timothy Trebich-<br />

Lincoln hatte viele Pseudonyme, denn für<br />

all die Stationen und Vorhaben seines Lebens<br />

konnte ein Name allein nicht reichen.<br />

Seine Geschichte beginnt am 4.<br />

April 1879 in Paks, einer kleinen, 120 Kilometer<br />

südlich von Budapest gelegenen<br />

Stadt. Seine Familie war wohlhabend, der<br />

Vater ein Getreidehändler und die Mutter<br />

eine entfernte Verwandte der Rothschilds.<br />

Die Familie hatte drei Söhne. Ignaz lernte<br />

in einer Jeschiwa und ging in eine ausgezeichnete<br />

säkulare Schule, wo er Französisch<br />

und Deutsch lernte. Sprachen, die er<br />

bereits mit zehn Jahren fließend sprach.<br />

Nach der Schule strebte Ignaz eine Kariere<br />

als Schauspieler an und besuchte die<br />

beste Schauspielschule in Budapest. Zu<br />

dieser Zeit verlor sein Vater bei Börsenspekulationen<br />

den Großteil seines Vermögens.<br />

Um das verlorene Geld zu kompensieren,<br />

begann Ignaz, Uhren zu stehlen.<br />

Er beendete sein Schauspielstudium und<br />

startete eine Weltreise, die bis zu seinem<br />

Tod nicht mehr endete. Um sich finanziell<br />

über Wasser zu halten, schrieb er Reisegeschichten<br />

für ungarische Zeitungen über<br />

Südamerika. Allerdings hielt er sich dort<br />

niemals auf.<br />

1898 ließ sich Ignaz taufen und zog im<br />

Jahr darauf nach London. Dort lebte er<br />

bei einer christlichen Mission, die von einem<br />

ebenfalls getauften Juden namens<br />

Lipschitz geführt wurde. Sein Leben als<br />

Christ begann etwas unglücklich,<br />

nachdem er eine Uhr von<br />

Frau Lipschitz stahl und erwischt<br />

wurde. Er floh daraufhin<br />

nach Deutschland, wo er<br />

zum Priester geweiht wurde.<br />

In dieser neuen Berufung begab<br />

er sich auf eine Reise nach<br />

Kanada, wo er als Missionar<br />

für die irische presbyterianische<br />

Mission arbeitete.<br />

Trebitsch war sehr erfolgreich in<br />

seiner Tätigkeit, bei der er anderen<br />

Juden das Evangelium beibrachte.<br />

Es dauerte aber nicht<br />

lange, und er zerstritt sich mit<br />

seinen Vorgesetzten. Aus Trotz schloss er<br />

sich der anglikanischen Kirche an und begeisterte<br />

in seinen inspirierenden Predigten<br />

zahlreiche Gläubige. Doch schon 1903<br />

kehrt er aus unbekannten Gründen wieder<br />

nach England zurück, wo ihn der Erzbischof<br />

von Canterbury zum Pfarrer einer<br />

Gemeinde in der Grafschaft Kent ernannte.<br />

Dort gab es kaum Juden, die kon-<br />

Trebitsch<br />

schrieb ein<br />

Buch über<br />

öffentliche<br />

Ordnung,<br />

das später zu<br />

einer zentralen<br />

Referenz für<br />

die liberale<br />

Partei Englands<br />

wurde.<br />

vertieren wollten, und so beendete Trebitsch<br />

diese Tätigkeit sehr bald wieder, um<br />

neue Aufgaben zu suchen.<br />

Während seiner vielen Reisen durch<br />

Großbritannien lernte er auf einer Zugfahrt<br />

Benjamin Seebohm Rowntree kennen,<br />

einen erfolgreichen Schokoladenhersteller,<br />

der später seine politische Karriere<br />

finanzierte. Trebitsch begann sich nun für<br />

Politik zu interessieren<br />

und strebte eine Karriere<br />

im Parlament an.<br />

Rowntree machte ihn<br />

zu seinem Privatsekretär<br />

und schickte ihn auf<br />

das europäische Festland,<br />

um über Armut<br />

zu forschen.<br />

Trebitsch schrieb<br />

für Rowntree ein Buch<br />

über öffentliche Ordnung,<br />

das später zu einer<br />

zentralen Referenz<br />

für die liberale Partei<br />

Englands wurde. Zu<br />

dieser Zeit änderte er<br />

auch seinen Namen in Timothy Trebich-<br />

Lincoln. Er wählte den Zusatznahmen Lincoln<br />

aus Bewunderung für den amerikanischen<br />

Präsenten, der für ihn ein großes<br />

Vorbild war.<br />

1910, sieben Jahre nach seiner Priestertätigkeit,<br />

wurde „Timothy“ zum „Liberal Member“<br />

für den Bezirk Darlington in das<br />

© Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com;<br />

32 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 32 16.09.22 05:59


Politischer Berater und Spekulant<br />

© Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com;<br />

House of Commons des englischen Parlaments<br />

gewählt.<br />

Ignaz Trebitsch hatte die Fähigkeit, jede<br />

Ideologie oder religiöse Weltanschauung<br />

mit der Leidenschaft eines Missionars<br />

zu vertreten und zu fördern, große Menschenmengen<br />

anzuziehen und sie zu<br />

leichtfertigen Handlungen zu veranlassen,<br />

etwa, ihm ihr Geld zu übergeben.<br />

Als Parlamentsabgeordneter baute<br />

sich Timothy Trebich-Lincoln gute Kontakte<br />

auf, die ihm halfen, in die ganz großen<br />

Geschäfte einzusteigen. Damals spekulierten<br />

viele mit Ölaktien, und so begab<br />

er sich nach Südosteuropa, wo Öl gefunden<br />

worden war. Er gründete das Anglo-Austrian<br />

Petroleum Syndikat und erzählte seinen<br />

Geldgebern über hervorragend laufende<br />

Geschäfte. Doch das stimmte alles<br />

nicht, und er machte Bankrott. Durch diesen<br />

Skandal verlor er auch seinen Sitz im<br />

Parlament. Anfang 1911 stand er vor dem<br />

existenziellen Aus, hatte überall Schulden,<br />

keinen Job und eine Familie mit vier Kindern.<br />

Verzweiflung war für Trebitsch aber<br />

keine Option, und so stieg er nun richtig<br />

ins Ölgeschäft ein, indem er seine besten<br />

Kontakte nutzte und Investoren zu den Ölfeldern<br />

in Galizien und Rumänien brachte,<br />

die bereitwillig investierten. Er gründete<br />

eine Aktienfirma, trieb noch mehr Geld<br />

auf, verhandelte, überzeugte und reiste –<br />

bis er wieder bankrottging.<br />

Inzwischen brach der Erste Weltkrieg<br />

aus, und Trebitsch nahm eine schlecht bezahlte<br />

Arbeit als Zensor deutscher Briefe<br />

an. Da er sich dabei unterfordert fühlte,<br />

bot er dem englischen Geheimdienst an,<br />

Doppelagent zu werden. Diese Karriere<br />

scheiterte bald daran, dass er keine interessanten<br />

Informationen liefern konnte.<br />

Seine finanzielle Situation wurde immer<br />

prekärer. Mit Scheckbetrug versuchte er<br />

seine Situation zu ändern, wurde deshalb<br />

bald polizeilich gesucht und setzte sich<br />

1915 in die USA ab. Seine Frau ließ er mit<br />

den Schulden zurück.<br />

In den USA setzte Trebitsch die Scheckbetrügereien<br />

fort und schrieb ein Buch,<br />

in dem er behauptete, britische Kriegsgeheimnisse<br />

aufzudecken. All das, während<br />

er weiterhin Schulden anhäufte. Auf<br />

Druck von Scotland Yard, ihn auszuliefern,<br />

wurde er in den USA festgenommen. Um<br />

sich einfallsreich aus dieser Schlinge zu<br />

ziehen, bot Trebitsch den USA an, Staatsgeheimnisse<br />

auszuplaudern, diesmal Deutsche.<br />

Anfänglich glaubten ihm die amerikanischen<br />

Behörden und gaben ihm sogar<br />

ein Büro samt Personenschutz. Doch der<br />

Ignaz „Timothy“ Trebich-<br />

Lincoln, 1879 in Budapest<br />

geboren, hatte so viele<br />

Namen wie Gesichter und<br />

Berufe.<br />

Ignaz „Timothy“<br />

Trebich-<br />

Lincoln an Bord<br />

der „Empress of<br />

Russia“, um mit<br />

weiteren buddhistischen<br />

Mönchen<br />

am Bodenseee<br />

ein Kloster zu<br />

gründen.<br />

Bernard Wasserstein<br />

beschreibt in seinem<br />

Buch The Secret Lives of<br />

Trebitsch Lincoln (1988,<br />

Yale University Press)<br />

das Leben dieses außergewöhnlichen<br />

Menschen.<br />

Ohne die aufwendige<br />

Recherche von Wasserstein<br />

wären die vielen<br />

Leben des<br />

Ignaz Trebtisch<br />

Lincoln<br />

gänzlich in<br />

Vergessenheit<br />

geraten.<br />

Treb<br />

18<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 33 16.09.22 05:59


Schillernder Betrüger<br />

Druck der Auslieferung durch die Briten<br />

wurde zu groß, und so wurde Trebich-Lincoln<br />

in New York festgenommen und in ein<br />

Gefängnis in Brooklyn gebracht. Aus diesem<br />

gelang ihm kurzzeitig ein Ausbruch,<br />

bald darauf wurde er jedoch wieder festgenommen<br />

und diesmal sofort an die Briten<br />

ausgeliefert. In England wurde er 1916<br />

zu drei Jahren Haft wegen Fälschung verurteilt.<br />

Während seines Gefängnisaufenthaltes<br />

entwickelte er einen rachsüchtigen<br />

Hass gegen alles Britische, der von nun an<br />

sein Leben dominieren sollte.<br />

Kaum entlassen, ging er nach Deutschland,<br />

wo er sich 1920 reaktionären Kreisen<br />

anschloss, um die Weimarer Republik zu<br />

stürzen. Der Putsch war aber nicht erfolgreich,<br />

und Trebitsch, der für die Putschisten<br />

als Pressesprecher fungierte, wurde in<br />

Berlin erneut festgenommen. Es wundert<br />

nicht, dass ihm auch Kontakte zu Adolf<br />

Hitler und Miklós Horthy, damaliges antisemitisches<br />

Staatsoberhaupt Ungarns,<br />

nachgesagt wurden. Bemerkenswert, weil<br />

er damals unter dem Alias Moses Pinkeles<br />

lebte.<br />

Auch in Berlin brach er aus dem Gefängnis<br />

aus und flüchtete nach Ungarn.<br />

Diesmal nahm er einen Koffer voller Dokumente<br />

mit, die die rechten politischen<br />

Strömungen Deutschlands inkriminierten,<br />

und bot sie vergeblich den britischen<br />

und französischen Geheimdiensten an.<br />

Wenig verwunderlich, kam Trebitsch<br />

in Ungarn abermals in Konflikt mit dem<br />

Gesetz und musste sich absetzen. Er be-<br />

Noch Ende 1932<br />

trat Chao Kung,<br />

wie sich Trebitsch<br />

nun nannte, in<br />

Berlin auf, um über<br />

den Buddhismus zu<br />

referieren.<br />

Sein letztes Interview<br />

gab Ignaz<br />

Trebitsch-<br />

Lincoln einer<br />

jüdischen Exilzeitung<br />

in<br />

Shanghai, der<br />

er von seiner<br />

Idee eines Tel<br />

Aviv im Miniaturformat<br />

erzählte.<br />

schloss als nächsten Racheakt<br />

gegen das britische<br />

Imperium, China<br />

in eine Militärmacht zu<br />

verwandeln, die es Indien<br />

ermöglichen sollte,<br />

die Briten von dort zu<br />

vertreiben.<br />

Mit dieser neuen Idee<br />

vor Augen schiffte er sich<br />

1922 mit falschen Papieren<br />

nach China ein. Dort<br />

angekommen, schloss er<br />

sich der Bürgerkriegsarmee unter General<br />

Wu Pei Fu an. In den folgenden Jahren half<br />

Trebich-Lincoln den Japanern von China<br />

aus bei ihrem Kampf, die Mandschurei zu<br />

erobern, und trug damit gleichzeitig dazu<br />

bei, dass die britische Vormachtstellung in<br />

Asien zusammenbrach.<br />

1931 beschloss Trebich-Lincoln, dass es an der<br />

Zeit war, seinen Glauben und die religiösen<br />

Aspekte seines Lebens wiederzubeleben.<br />

Also wurde er zum buddhistischen<br />

Mönch ordiniert und änderte seinen Namen<br />

in Chao Kung. Er übernahm, ganz seinem<br />

Charakter folgend, auch jetzt wieder<br />

eine Führungsrolle. Nach der Gründung<br />

eines Klosters und einer Sekte übernahm<br />

er, wie schon Jahre zuvor als Priester, wieder<br />

missionarische Aufgaben und reiste<br />

nach Europa. Wie er das alles finanziert<br />

hat, ist nicht bekannt. Gerüchteweise<br />

wird angenommen, dass er durch seine<br />

Geheimdiensttätigkeit zu Geld kam.<br />

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs<br />

suchte Trebitsch Kontakt zu einem NS-<br />

Beamten und bot seine Dienste an. Doch<br />

das Angebot wurde von Reinhard Heydrich,<br />

dem Leiter des NS-Reichssicherheitshauptamts,<br />

aufgrund der jüdischen Herkunft<br />

Trebitschs abgelehnt.<br />

Nach dem Tod des damaligen Dalai<br />

Lama versuchte der damals bereits 60-Jährige,<br />

Heinrich Himmler davon zu überzeugen,<br />

dass es eine gute Idee wäre, ihn zu<br />

seinem Nachfolger zu ernennen. Im Gegensatz<br />

zu den Nazis waren die Briten und<br />

die Tibeter nicht begeistert von der Idee,<br />

und Trebitsch schaffte es nie nach Tibet.<br />

Unermüdlich ging es für ihn in Shanghai<br />

weiter mit neuen hochtrabenden<br />

Ideen. Vor dem Hintergrund<br />

der Massenmorde durch die<br />

Nationalsozialisten schrieb er<br />

einen Brief an Hitler, in dem<br />

er die Beendigung der Ermordung<br />

von Juden forderte. Als<br />

Reaktion darauf befahl das<br />

Nazi-Kommando seine japanischen<br />

Verbündeten, nachdem<br />

diese 1937 Shanghai erobert<br />

hatten, Trebitsch hinzurichten.<br />

Zu dieser Zeit war er in<br />

Shanghai jedoch eine wichtige<br />

intellektuelle Persönlichkeit,<br />

die buddhistische Studiensitzungen<br />

und Riten beaufsichtigte,<br />

und so verhallte die Forderung<br />

der Nazis, ihn zu töten.<br />

Ignaz Trebich-Lincoln<br />

hatte schon früh seine Nähe<br />

zum Judentum aufgegeben. Umso erstaunlicher<br />

ist es, dass im Jahr 1943 ein Interview<br />

in der jiddisch-russisch-englischen<br />

Wochenzeitung Lebn erschien, die von den<br />

jüdischen Flüchtlingen in Shanghai herausgegeben<br />

wurde.<br />

In diesem letzten Interview beschreibt<br />

der Reporter den in Mönchsgewändern<br />

gekleideten Ignaz Trebich-Lincoln als gelassenen<br />

Menschen. Trebitsch nutzte die<br />

Gelegenheit, die ihm dieses Gespräch bot,<br />

um seine Ansichten zu jüdischen Themen<br />

zu erklären. Obwohl er vehement gegen<br />

den Zionismus war, hatte er seinen eigenen<br />

Plan zur Lösung der jüdischen Flüchtlingsprobleme<br />

und der Obdachlosigkeit in<br />

Shanghai. Seine Lösung sah vor, die jüdischen<br />

Flüchtlinge auf buddhistischem Territorium<br />

in der Nähe von Shanghai anzusiedeln<br />

und dort eine Modellsiedlung zu<br />

bauen: ein Tel Aviv im Miniaturformat.<br />

Ignaz Trebitsch-Lincoln starb am 7. <strong>Oktober</strong><br />

1943.<br />

© Austrian Archives (S) / brandstaetter images / picturedesk.com<br />

34 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 34 16.09.22 05:59


Pionier der Nuklearmarine<br />

Der Admiral<br />

und die Reaktoren<br />

Hyman Rickover, ein Einwandererkind aus einem<br />

polnischen Stetl, wurde zum Vater der amerikanischen<br />

Nuklearflotte. Eine aktuelle Biografie ist nun in der Serie<br />

Jewish Lives der Yale University Press erschienen.<br />

Von Reinhard Engel<br />

bin Kapitän Rickover. Ich bin<br />

dumm.“ Mit diesen knappen Sätzen<br />

stellte sich Hyman Rickover<br />

„Ich<br />

Edward Teller vor, dem bekannten<br />

Nuklearwissenschaftler, der später als<br />

Vater der Wasserstoffbombe bezeichnet<br />

werden sollte. Es war sicher Ehrfurcht vor<br />

Teller, die ihn so sprechen ließ, aber wohl<br />

auch ein Gutteil Koketterie des drahtigen,<br />

klein gewachsenen Marineingenieurs.<br />

Rickover war freilich kein einfacher<br />

Offizier der US-Kriegsmarine. Er hielt<br />

bereits einen Master-Abschluss in Elektrotechnik<br />

der Columbia University. Und<br />

er hatte sich schon intensiv in das neue<br />

Feld der Nukleartechnik eingelesen. Doch<br />

anders als die tausenden Ingenieure des<br />

Manhattan-Projekts, die sich während<br />

des Zweiten Weltkriegs ausschließlich<br />

auf die Entwicklung der Bombe konzentriert<br />

hatten, wollte er etwas ganz anderes:<br />

die neue Energie zum Antrieb von U-<br />

Booten und – später – Überwasserschiffen<br />

bändigen.<br />

Das Umfeld dafür war alles andere als<br />

bereitet. Mit Kriegsende wurde die US-<br />

Marine drastisch redimensioniert, auf<br />

etwa ein Zehntel des Stands von 1945.<br />

Und Rickover hatte dabei seinen organisatorischen<br />

Anteil. Für die Männer zur<br />

See war der Ausblick auch in einem größeren<br />

strategischen Feld äußerst ungünstig.<br />

Der Sieg über Japan durch den Abwurf<br />

der beiden Atombomben hatte die Prioritäten<br />

Washingtons ganz klar in Richtung<br />

Kernwaffen und Bomber gelegt. Zwar<br />

hatte es schon zu Kriegsbeginn in den<br />

USA erste – sehr theoretische – Überlegungen<br />

zum Einsatz der Atomenergie als<br />

Antriebsmittel für große Schiffe gegeben,<br />

doch diese waren inzwischen fast völlig<br />

in den Hintergrund getreten. Mit dem<br />

Nachziehen der Sowjetunion auf dem<br />

Gebiet der nuklearen Bewaffnung wurde<br />

diesen Gedanken wieder neuer Auftrieb<br />

gegeben. Rickover erkannte seine Chance.<br />

„Er war kein Mensch technischer Details“,<br />

erinnerte sich später ein enger<br />

Mitarbeiter an ihn. „Er war ein meisterhafter<br />

Politiker und ein Experte dafür,<br />

Dinge durchzusetzen, auch dafür, welche<br />

technische Option zu unterstützen.“<br />

Rickover selbst meinte damals: „Ich<br />

weiß bereits mehr als alle Firmenchefs<br />

und Regierungsbeamten, mit denen<br />

ich zu tun haben werde.“ Und<br />

er nutzte seine Chance als Leiter<br />

des Marine-Reaktorenprogramms,<br />

eine Chance, die vom<br />

Großteil der Navy-Hierarchie<br />

äußerst gering eingeschätzt<br />

wurde. Wenn es möglich sein<br />

sollte, einmal ein Schiff mit der<br />

neuen Technologie über die<br />

Meere fahren zu lassen, dann würde das<br />

noch Jahrzehnte dauern. Rickover legte<br />

sich frech fest: Anfang 1955 würde ein<br />

Atom-getriebenes Unterseeboot vom Stapel<br />

laufen.<br />

Dafür brauchte es nicht nur viel Geld,<br />

das der Marinemanager, der meist im<br />

Anzug ins Büro kam, sich mit intensivem<br />

Lobbying über die Köpfe seiner Vorgesetzten<br />

hinweg in Washington beim<br />

Kongress besorgte. Es brauchte Grundlagenforschung,<br />

Heerscharen ziviler In-<br />

„Er war ein meisterhafter<br />

Politiker und ein Experte<br />

dafür, Dinge durchzusetzen.“<br />

Ein enger Mitarbeiter über Hyman Rickover<br />

genieure, ein intensives Schulungsprogramm<br />

für Techniker der Marine selbst<br />

und dann konkrete Pläne zur Konstruktion<br />

des Reaktors wie des neuen Bootes.<br />

Der Reaktor durfte nicht zu groß sein,<br />

sonst würde er nicht in die enge Hülle eines<br />

Unterwasserfahrzeugs passen, und er<br />

müsste so gut abgeschirmt sein, damit die<br />

Besatzung, die ja monatelang unmittelbar<br />

daneben arbeiten und leben würde,<br />

keinen Schaden nehmen dürfe. Schließlich<br />

müssten alle Systeme auf extreme Sicherheit<br />

ausgelegt sein, der Reaktor dürfe<br />

weder bei schwerer See, im Gefecht noch<br />

bei Wartungsarbeiten im Hafen irgendeine<br />

Gefahr darstellen. Er habe selbst einen<br />

Sohn, sagte Rickover einmal, und alles<br />

an Bord müsse so sicher sein, dass er<br />

seinen Sohn ohne Bedenken dort einsetzen<br />

würde.<br />

Besessener Dickschädel. Für diese Riesenaufgabe,<br />

quasi aus dem Nichts ein derart<br />

komplexes Programm aufzubauen,<br />

brauchte es mehr als nur einen nüchternen,<br />

kühlen Manager. Es brauchte einen<br />

überzeugten, um nicht zu sagen be-<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 35 16.09.22 05:59


Schwieriger Zeitgenosse<br />

Ryman Rickover auf dem<br />

United States Ship (USS) „Nautilus“,<br />

dem ersten nukleargetriebenen<br />

U-Boot der Welt, das am<br />

21. Jänner 1954 vom Stapel lief.<br />

Rickover und Laboratoriumsleiter<br />

Waldo<br />

Lyon an Bord der „USS<br />

Nautilus“.<br />

sessenen Dickschädel. Und das<br />

war Rickover. Er hatte sein Organisationstalent<br />

schon zu<br />

Kriegszeiten bewiesen, als er<br />

als stellvertretender Leiter der<br />

Elektroabteilung des Marinebüros<br />

in Washington mit zahlreichen<br />

Werften und Lieferanten<br />

verhandelte. Und er tat dies<br />

stets mit äußerster Schärfe und<br />

ohne jede Kompromissbereitschaft.<br />

Der Vorstand eines großen<br />

Industriebetriebs sagte einmal<br />

zu einem Reporter: „Bitte<br />

verstehen Sie mich nicht falsch.<br />

Es ist nicht so, dass ich Rickover<br />

nicht mag. Ich hasse ihn.“<br />

Auch intern war er alles andere<br />

als ein angenehmer Chef.<br />

Er brüllte seine Befehle im Büro<br />

und über das Telefon, legte<br />

grußlos auf, kontrollierte immer wieder<br />

peinlich genau Mitarbeiter und Zulieferteile.<br />

Was funktioniere, interessiere ihn<br />

nicht, nur was nicht klappe, so Rickover.<br />

Am schlimmsten führte er sich beim Rekrutieren<br />

von Personal auf. Er suchte Mitarbeiter,<br />

die selbstständig denken konnten<br />

und nicht nur auswendig Gelerntes<br />

wiedergaben. Dabei machte er immer<br />

wieder die jungen Ingenieure herunter,<br />

die sich vorstellten, drängte sie auf die<br />

unterschiedlichsten Arten in die Defensive,<br />

entschied oft sehr spontan und ruppig,<br />

wen er nicht brauchen könne und wer<br />

bleiben dürfe. Legende wurde sogar der<br />

Bewerbungsstuhl, dem er die vorderen<br />

© Wikipedia/U.S. Navy Office of Information web site.<br />

36 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 36 16.09.22 05:59


Unwahrscheinliche Karriere<br />

© Wikipedia/U.S. Navy Office of Information web site.<br />

Marc Wortman:<br />

Admiral Hyman<br />

Rickover. Engineer<br />

of Power.<br />

Yale University<br />

Press <strong>2022</strong><br />

(Jewish Lives),<br />

336 S.<br />

Beine gekürzt hatte, damit der Befragte<br />

immer wieder wegrutschte und noch zusätzlich<br />

verunsichert wurde. Dennoch<br />

wollten viele junge Offiziere und auch zivile<br />

Ingenieure für ihn arbeiten, Letztere<br />

oft zu einem reduzierten Gehalt: Die große<br />

Aufgabe ließ sie sogar den Verrückten in<br />

Kauf nehmen. Denn auch wenn<br />

er jemanden als Mitarbeiter akzeptiert<br />

hatte, leichter im täglichen<br />

Umgang wurde er auch<br />

später nicht.<br />

Doch es ging etwas weiter.<br />

Was kaum jemand für möglich<br />

gehalten hatte: Im Jänner 1954<br />

taufte Mamie Eisenhower, die<br />

Frau des Präsidenten Dwight<br />

D., die „Nautilus“.<br />

Mehrere Grundsatzentscheidungen<br />

fielen. Das U-Boot mit<br />

dem ersten Atomantrieb sollte<br />

kein Versuchsfahrzeug sein, sondern ein<br />

taugliches Kriegsgerät mit Torpedorohren<br />

und einer militärischen Besatzung, nicht<br />

gesteuert von Wissenschaftlern. In Idaho<br />

– weit weg vom Meer – entstand ein modernes<br />

Labor mit Versuchsreaktoren, die<br />

bereits von der Dimension her jenen in<br />

U-Booten entsprachen. Parallel dazu begann<br />

eine Werft mit der Detailplanung<br />

des Schiffs.<br />

Es sollte sich ausgehen – in sieben Jahren.<br />

Was kaum jemand für möglich gehalten<br />

hatte: Im Jänner 1954 taufte Mamie<br />

Eisenhower, die Frau des Präsidenten<br />

Dwight D., die „Nautilus“. Im Jänner 1955<br />

stach sie in See, setzte sofort eine Reihe<br />

von Rekorden in Tauchstrecken, denn das<br />

Fehlen von Dieselmotoren und das schier<br />

unendliche Angebot von Antriebskraft<br />

machte Überwasserfahrten praktisch unnötig.<br />

Die „Nautilus“ errang dann internationalen<br />

Ruhm mit ihrer Tauchfahrt unter<br />

dem Eis des Nordpols.<br />

Die gesamte Taktik des möglichen Seekriegs<br />

hatte sich damit verändert. U-Boote<br />

konnten nun monatelang unentdeckt<br />

zwischen den Kontinenten patrouillieren.<br />

Wenige Jahre später kamen noch Interkontinentalraketen<br />

dazu, die – unter<br />

Wasser abgeschossen – vom Gegner nicht<br />

vorweg auszuschalten wären wie die fest<br />

verbunkerten an Land. Das Gleichgewicht<br />

des Schreckens war damit quasi stabilisiert,<br />

ein Erstschlag unwahrscheinlicher<br />

geworden.<br />

Die U.S. Navy setzte in den nächsten<br />

Jahren voll auf diese Technologie. 1965<br />

waren 102 nuklear betriebene U-Boote<br />

oder Überwasserschiffe im Einsatz oder<br />

im Bau – zu immensen Kosten. Und daran<br />

schieden sich die Geister. So akzeptierte<br />

das Verteidigungsministerium Reaktoren<br />

für die großen Flugzeugträger, die<br />

Begleitschiffe wurden weiterhin konventionell<br />

bewegt. Rickover kämpfte für mehr<br />

Reaktoren, wurde aber nicht gehört. Sogar<br />

Präsident Jimmy Carter, der in der Marine<br />

einst als Ingenieur von ihm eingestellt<br />

worden war und mit dem er auch später<br />

befreundet war, drehte aus Budgetgründen<br />

den Bau weiterer Super-Carrier ab.<br />

Rickover schaffte zwar, nach einigen<br />

Verzögerungen und Blockaden durch die<br />

Marinebürokratie, die Beförderungen<br />

die Admiralsränge hinauf. Und er legte<br />

sich weiterhin mit den privaten Zulieferfirmen<br />

an, die seiner Meinung nach die<br />

Steuerzahler aussaugten. Aber sein Einfluss<br />

schwand, schließlich musste er unter<br />

Präsident Ronald Reagan gehen – mit 82<br />

und nach 63 Jahren aktivem Marinedienst.<br />

Zuletzt hatte dem stets frugal auftretenden<br />

Rickover noch ein Skandal über Geschenke<br />

zu schaffen gemacht, die er von<br />

den Industrie angenommen hatte. Es war<br />

keine große Korruption, aber Fernseher,<br />

Schmuckstücke und Möbel summierten<br />

sich doch auf einige zehntausend Dollar.<br />

Rickover, der bereits in der Arbeit mehrere<br />

Herzattacken erlitten hatte, starb<br />

1986 und wurde in Arlington begraben.<br />

VOM STETL ZUR<br />

US-MARINE<br />

Chaim Godalia Rykower, Jahrgang<br />

1900, besuchte als Vierjähriger<br />

in einem polnisch-russischen Stetl<br />

die religiöse Schule, den Cheder, und<br />

kam mit sechs Jahren ohne ein Wort<br />

Englisch in die USA. Sein Vater Abraham,<br />

ein Schneider, war von der russischen<br />

Armee desertiert und schon einige<br />

Jahre zuvor emigriert. Dann hatte<br />

er die Familie nachgeholt. Zunächst<br />

wohnten die Rickovers, wie sie sich<br />

jetzt nannten, in Manhattan, dann zog<br />

der Vater wieder voraus nach Chicago<br />

und ließ die Family nachfolgen.<br />

Er sollte dort zwar später ins mittlere<br />

Management aufsteigen, zunächst<br />

lebte man aber weiterhin in sehr angespannten<br />

Verhältnissen.<br />

Hyman musste schon als Kind zum<br />

Familieneinkommen beitragen, erst<br />

als Lagerhelfer in einer Greißlerei, später<br />

als Telegrammbote für Western<br />

Union – per Fahrrad oder Straßenbahn.<br />

Das machte er dann sogar als<br />

Vollzeitangestellter, freilich am Nachmittag<br />

und am Abend, damit er am<br />

Vormittag die Highschool besuchen<br />

konnte. Sein Traum war die Marineakademie<br />

in Annapolis, damals fest<br />

in der Hand der alten Eliten. Durch<br />

eine Intervention eines lokalen Chicagoer<br />

Abgeordneten durfte er die Aufnahmsprüfung<br />

ablegen und schaffte<br />

sie knapp.<br />

In der Akademie gab es damals gerade<br />

einmal 17 Juden unter den fast<br />

1.000 Kadetten. Antisemitismus war<br />

üblich, weniger unter den Lehrern<br />

denn unter den Mitschülern, die Juden<br />

wurden sozial isoliert, manchmal<br />

auch verächtlich gemacht. Doch Hyman<br />

biss sich durch und schloss als<br />

107. einer Klasse von 540 jungen Offizieren<br />

ab.<br />

Rickover heiratete zwei Mal, jedesmal<br />

Christinnen, konvertierte aber<br />

selbst nicht, auch wenn ihn Religion<br />

– anders als Literatur und Philosophie<br />

– nicht besonders interessierte.<br />

Seine Wurzeln dürfte er aber nie vergessen<br />

haben. An seinem Sterbebett,<br />

als er schon nicht mehr selbst lesen<br />

konnte, las ihm seine zweite Frau<br />

aus einem Buch vor, das sich mit dem<br />

polnischen Stetl und der Shoah beschäftigte.<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 37 16.09.22 05:59


Faden um Faden<br />

Arbeit und Material: Das Syracuse University<br />

Art Museum zeigt eine Anni-Albers-Ausstellung<br />

Anni Albers<br />

(1899–1994).<br />

Auch wenn sich das Bauhaus zu Weimar, gegründet von<br />

Walter Gropius, progressiv gab: Frauen wurde doch in<br />

deutlich paternalistisch-machohafter Art und Weise sehr<br />

häufig, und zwar regelmäßig, die Textilwerkstatt zugewiesen.<br />

Anfangs behagte dies Anneliese Fleischmann ganz und<br />

gar nicht. Heute gilt sie, die 1994 hochbetagt im Alter von<br />

95 Jahren starb, als eine der größten und<br />

der kreativsten Web- und Stoffkünstlerin<br />

nicht nur des 20. Jahrhunderts.<br />

1899 in Berlin geboren, war sie mütterlicherseits<br />

mit der Großverlegerfamilie<br />

Ullstein verwandt. Sie war rebellisch und<br />

apart, und sie studierte ab 1922 am Bauhaus,<br />

wo sie noch im selben Jahr den Leiter<br />

eines Vorkurses heiratete, Josef Albers.<br />

Was sie bei Paul Klee gelernt hatte über<br />

Farbe, geometrische Modulationen und Kontraste,<br />

setzte sie nun um. 1933 floh sie mit ihrem<br />

Mann nach Amerika. In North Carolina bauten<br />

sie das Black Mountain College zu einem legendär<br />

gewordenen Campus avantgardistischer Experimente<br />

aus, die heute universitär unmöglich<br />

wären.<br />

Mit mehr als einhundert Exponaten, von Zeichnungen<br />

über Drucke zu Gewebtem und Teppichen<br />

aus dem Bestand der Josef and Anni Albers<br />

Foundation, führt die Schau Anni Albers – Work<br />

with Materials in Syracuse im US-Bundesstaat<br />

New York ihre große Bandbreite und künstlerische<br />

Spannweite fein vor Augen. A.K.<br />

ANNI ALBERS: WORK WITH MATERIALS<br />

Syracuse University Art Museum<br />

bis 11. Dezember <strong>2022</strong><br />

museum.syr.edu<br />

Marjorie Strider, Girl<br />

with Radish, 1963.<br />

Made in New York<br />

Kunst und Stadt: Eine opulente<br />

Schau im New Yorker Jewish Museum<br />

über Kunst der frühen 1960er-Jahre<br />

Drei Jahre, in der sich ein Land, in der<br />

sich die Welt grundlegend wandelte.<br />

Das klingt wie eine Floskel. Aber auf die<br />

Jahre 1962, 1963, 1964 trifft es zu.<br />

1962: das Jahr der Kubakrise, in der der<br />

Globus, wie man heute weiß, nur einen<br />

Hauch entfernt von einem Atomkrieg war.<br />

1963: im August der Marsch auf Washington<br />

für Arbeit und Freiheit, bei dem Martin<br />

Luther King seine berühmte Rede I have a<br />

dream hielt. Im November das Attentat auf<br />

John F. Kennedy.<br />

1964: das Jahr, in dem Kennedys Nachfolger Johnson<br />

das Engagement des US-Militärs in Vietnam entschieden<br />

wie entscheidend steigerte.<br />

Auch in der bildenden Kunst waren es entscheidende<br />

Jahre. Das wird in New York: 1962–1964 im Jewish Museum<br />

of New York überdeutlich. Der abstrakte Expressionismus<br />

wurde von Pop Art verdrängt. Statt Pollock und<br />

Wols nun Robert Rauschenberg. Jim Dine, Robert Indiana,<br />

Claes Oldenburg, George Segal, Carolee Schneemann<br />

drängten nach und wurden ausgestellt. Malten,<br />

zeichneten, tanzten in New York, damals noch leistbar<br />

für ganz junge Künstlerinnen und Maler.<br />

Dieses letzte Projekt des 2020 verstorbenen italienischen<br />

Kurators und Ausstellungsmachers Germano<br />

Celant, das sein Studio nun zu Ende führte, ist mit 150<br />

Gemälden und Objekten, alle in New York entstanden,<br />

überbordend bestückt. Opulent und fulminant. A.K.<br />

NEW YORK: 1962–1964<br />

New Yorker Jewish Museum<br />

bis 8. Jänner 2023<br />

thejewishmuseum.org<br />

MUSIKTIPPS<br />

DAVID POPPER<br />

Als David Popper 1913 70-jährig in<br />

Baden bei Wien einem Herzinfarkt<br />

erlag, verlor das 19. Jahrhundert einen seiner bedeutendsten<br />

Cellisten. Seine Werke für Violoncello<br />

zählen noch heute zum Hörenswertesten.<br />

Martin Rummel, Mari Cato und das Tschechische<br />

Kammerorchester Pardubice haben nun seine so<br />

unterschiedlichen Cellokonzerte Nr. 1–3 (plus das<br />

Konzert Nr. 4 in einer Fassung für Violoncello und<br />

Klavier) prägnant eingespielt (Naxos).<br />

REYNALDO HAHN<br />

Was vielen zu Reynaldo Hahn<br />

(1874–1947) einfällt? Vielleicht Marcel<br />

Proust. Auch Monte Carlo. Aber Hahns Klavierwerk?<br />

Hierzulande fast unbekannt – sehr zu<br />

Unrecht! Pavel Kolesnikov führt auf Reynaldo<br />

Hahn – Poèmes & Valses (Hyperion) mit großer<br />

Sensibilität den Klangreichtum, die Schönheit,<br />

den Melos dieser exquisiten Piècen vor, ein Walzer<br />

heißt nicht umsonst Avec élégance. Musik, in<br />

die man sich hineinfallen lassen will.<br />

MEL TORMÉ<br />

Nicht umsonst wurde der Sänger<br />

Mel Tormé (1925–1999) „The Velvet<br />

Fog“ genannt. Samtig sanft war seine Stimme,<br />

ungemein beruhigend. Seine Interpretationen von<br />

Standards und eigenen Kompositionen waren<br />

klug und einfühlsam. Chart Years: Selected Singles<br />

1949–1962 (Acrobat) versammelt nun auf zwei CDs<br />

nicht weniger als 55 Songs, von Jazz zu frühem Pop<br />

zu R & B, von Blue Moon zu Goody Goody zu Don’t<br />

fan the flame mit Peggy Lee. Wohlig schön. A.K.<br />

© museum.syr.edu; Collection of Ruth and Theodore Baum, New York/Palm Beach, FL<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 39 16.09.22 05:59


WINA: Vor wenigen Monaten habe ich mit Ihrer<br />

Mutter Maya Kupferberg in Wien ein Gespräch<br />

über deren Vater, also Ihren Großvater, den<br />

Historiker Walter Grab, geführt (WINA, Juni <strong>2022</strong>). Dabei<br />

hat sie mir erzählt, dass Sie gerade ein Buch über dessen<br />

Onkel Isidor geschrieben haben und nun „alles“ über die<br />

Wiener Familiengeschichte wüssten. Isidor war, wie Sie<br />

schreiben, „ein Parvenü, ein Multimillionär“, aber auch<br />

ein „Hochstapler“ und nicht unbedingt nur sympathisch.<br />

Sie sind in Israel geboren, in Berlin aufgewachsen und<br />

dort auch als Journalistin tätig. Was hat Sie denn an diesem<br />

doch sehr entfernten Verwandten gereizt?<br />

Shelly Kupferberg: Ja, er war Jahrgang 1886, das ist<br />

wirklich eine ganze Weile her. Isidor hat mich gepackt,<br />

weil er so ein Selfmade-Man war und ich großen<br />

Respekt vor Menschen habe, die sich aus der<br />

eigenen Misere selbst herausziehen. Ich hab mich<br />

am Anfang meiner Recherche gefragt, welche Kunst<br />

hing im Palais meines Urgroßonkels um 1920, 1930,<br />

und wurde auch relativ schnell fündig. Die Frage war<br />

für mich auch, wieso war er eigentlich so steinreich,<br />

er kam ja aus ganz armen, ultraorthodoxen galizischen<br />

Verhältnissen, und weiters bewegte mich die<br />

Frage, was bleibt von einem Menschen übrig, wenn<br />

nichts von ihm übrig bleibt. Denn das haben die Nazis<br />

ja geschafft, sie haben nicht nur Menschen ausgelöscht,<br />

sondern auch die Erinnerung an sie. Er war<br />

wahrscheinlich wirklich nicht sehr sympathisch, er<br />

war herrisch, autoritär, sehr stolz auf das, was er<br />

geschafft hatte, das kann ich durchaus nachvollziehen.<br />

Diese Zeit der Selfmade Men und Women hat<br />

mich fasziniert, und offenbar bot Wien trotz ganz<br />

massivem Antisemitismus einen Humus für solche<br />

Menschen. Es gab Möglichkeitsräume, die wollte<br />

ich beleuchten und rekapitulieren, wie ein Charakter<br />

beschaffen sein muss, um einen derartigen Aufstiegswillen<br />

zu entwickeln.<br />

Sie hatten eine besondere Beziehung zu Ihrem Großvater,<br />

der in Ihrem Buch als Neffe auch eine wesentliche Rolle<br />

spielt. Hat er viel von seinem Onkel Isidor, den er offenbar<br />

sehr bewunderte, erzählt?<br />

I Es war ein großes Glück, dass in unserer Familie<br />

überhaupt sehr viel erzählt wurde und wir unsere<br />

INTERVIEW MIT SHELLY KUPFERBERG<br />

„Was bleibt von<br />

einem Menschen<br />

übrig, wenn nichts<br />

von ihm übrig<br />

bleibt“<br />

Vom märchenhaften Aufstieg und jähen<br />

Fall ihres schillernden Urgroßonkels<br />

erzählt die deutsche Kulturjournalistin<br />

Shelly Kupferberg in ihrer<br />

berührenden Spurensuche Isidor.<br />

Interview: Anita Pollak<br />

© privat<br />

40 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 40 16.09.22 05:59


Ein jüdischer Dandy<br />

© privat<br />

Großeltern, wenn wir in Tel Aviv zu Besuch waren,<br />

auch immer löcherten: Erzählt uns von früher! Mein<br />

Großvater Walter konnte als Historiker alles auch geschichtlich<br />

einordnen und war ein hervorragender<br />

Geschichtenerzähler, ein Performer, und man hing<br />

an seinen Lippen. Über Isidor selbst erzählte er ganz<br />

wenig, aber dennoch, dass er ihn vor Hitler gewarnt<br />

hatte, der aber nur gesagt hätte, von so einem Grünschnabel<br />

lass ich mich nicht verjagen. Erst als ich vor<br />

einigen Jahren eine Tagung in Berlin über Raubkunst<br />

moderieren durfte, kam mir Isidor in Wien in den<br />

Sinn, der angeblich so reich gewesen war.<br />

Erstaunlich sind die reichlich vorhandenen Familiendokumente.<br />

Für eine Familie, die nach Israel ausgewandert<br />

ist, ist es schon ungewöhnlich, dass so viel komplett und<br />

sogar aufgearbeitet vorhanden zu sein scheint.<br />

I Nein, eigentlich war es nur ein ungeordneter Haufen,<br />

geordnet war nur ein großes, dickes, beschriftetes<br />

Fotoalbum, das wir erst nach Walters Tod fanden<br />

und vorher nie zu Gesicht bekommen haben. Ansonsten<br />

gab es in Tel Aviv stapelweise Briefe, Dokumente<br />

und Urkunden in Mappen und Kisten.<br />

Beachtlich, was Sie bei Ihren Recherchen alles zutage fördern<br />

konnten, wie Dokumente aus diversen Archiven und<br />

unter anderem ein Scheidungsprotokoll. Was mich amüsierte,<br />

war der detaillierte Bericht eines Privatdetektivs<br />

über Ihre Urgroßmutter im Auftrag Ihres Urgroßvaters,<br />

der sich vor der Heirat nach deren Ruf erkundigte. Sie<br />

haben, wie Sie selbst einmal sagten, eine detektivisches<br />

Gen. Auch ein Familienerbe?<br />

I Gute Frage. Mein Großvater hat seinen Namen Walter<br />

Grab als Historiker so verstanden: Walter, grab!<br />

Vielleicht hat sich dieser Drang des Grabens, Wühlens<br />

und Aufdeckens in mir insofern fortgepflanzt,<br />

als ich Spaß daran habe. Auch mein neues Projekt,<br />

eine Berliner Geschichte über mein Wohnhaus, ist<br />

wieder sehr detektivisch angelegt. Ich bin ja auch<br />

nicht umsonst Journalistin geworden.<br />

Auch in seinem Faible für Kunst, Musik und Kultur ist<br />

Isidor fast typisch für den Assimilationswillen jüdischer<br />

Aufsteiger, die ihre Religion verdrängen oder sich gar tau-<br />

ISIDOR. EIN JÜDISCHES LEBEN<br />

Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz.<br />

Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel.“<br />

Mit diesem Auftakt stimmt Shelly Kupferberg bereits den Ton ihres Buchdebüts<br />

an, das kein Roman im eigentlichen Sinn ist. Die Faszination, die Isidors<br />

Lebensgeschichte auf sie ausübt, wird darin durchgehend spürbar.<br />

Geboren und aufgewachsen im tiefsten Galizien in eine blutarme orthodoxe<br />

Familie, der Vater ein Talmudgelehrter, besucht Israel wie seine Brüder<br />

den Cheder, bildet sich aber schrittweise und indem er sich immer weiter<br />

von seinem Heimatort entfernt schulmäßig weiter. In Wien mutiert er nach<br />

seinem Jusstudium schließlich zu Dr. Isidor Geller, es ist der Startschuss für<br />

seine Karriere. Im Ersten Weltkrieg durch Aktienspekulationen steinreich geworden<br />

ist, wird er Kommerzialrat und berät sogar den österreichischen Staat.<br />

In der Beletage eines Stadtpalais in der Canovagasse, ausgestattet mit erlesener<br />

Kunst und stilvollem Mobiliar, lädt er jeden Sonntag zu einem Mittagstisch,<br />

ein gesellschaftlicher Fixpunkt, bei dem er auch seinen bildungsbeflissenen<br />

Neffen Walter stolz vorführt. Seine Geschwister und seine Mutter hat<br />

er längst nach Wien geholt und unterstützt sie großzügig.<br />

Zweimal verheiratet, geschieden, kinderlos und ein Womanizer, fördert er<br />

mit seinen Mitteln und Kontakten auch seine Geliebte, die ungarische Sängerin<br />

Ilona Hajmássy, die in Hollywood zum Star wird, während es mit Isidor<br />

rapide bergab geht. Nach Hitlers Einmarsch verraten ihn seine Hausangestellten,<br />

er wird verhaftet, überschreibt unter Druck seinen gesamten Besitz<br />

den Nazis und stirbt als gebrochener Mann 52-jährig am 17. November 1938<br />

an den Folgen der Folterhaft in seiner Wiener Wohnung.<br />

Um dieses Zentralgestirn ihres charismatischen Uronkels gruppiert Shelly<br />

Kupferberg andere authentische, aber teilweise auch fiktive<br />

Geschichten, die Zeitgeist, Milieu und Atmosphäre rund<br />

um Isidors Biografie abrunden. Auch Kupferbergs Großvater<br />

Walter Grab, dem die Flucht nach Palästina gelingt, zu<br />

der er seinen Onkel nicht überreden konnte, ist einer der<br />

Helden dieser empathisch erzählten Familiengeschichte.<br />

Shelly Kupferberg:<br />

Isidor. Ein jüdisches Leben.<br />

Diogenes <strong>2022</strong>, 256 S., € 24,70<br />

fen lassen. Ist er damit ein Prototyp oder doch eher eine<br />

Ausnahmeerscheinung?<br />

I Im Personaltableau und gerade in der Kulturszene<br />

Wiens um 1900 fällt auf, wie viele Juden waren und<br />

sich oft anders genannt haben, um nicht als Juden<br />

erkannt zu werden, da scheint er schon eine Art Prototyp<br />

zu sein. Isidor ist zwar aus der Kultusgemeinde<br />

ausgetreten, aber kurz vor seinem Tod wieder zum Judentum<br />

zurückgekehrt und am Jüdischen Friedhof in<br />

Wien begraben.<br />

Sie erzählen in diesem Buch mehrere Geschichten quasi<br />

parallel, etwa auch die Geschichte einer Schneiderfamilie<br />

Goldfarb oder sehr ausführlich die an Skandalen reiche<br />

Geschichte von Isidors letzter Geliebter, der ungarischen<br />

Sängerin Ilona. Wie viel ist da Fakt und wie viel Fiktion?<br />

I Das Buch beruht im Wesentlichen auf Fakten und Recherchen,<br />

aber die Familie Goldfarb gab es nicht. Ich<br />

brauchte, um Isidors Haltung zum Judentum, zum Zionismus<br />

etc. plastisch zu machen, einen Dialogpart-<br />

„Diese Zeit der<br />

Selfmade Men<br />

und Women<br />

hat mich fasziniert,<br />

und<br />

offenbar bot<br />

Wien trotz<br />

ganz massivem<br />

Antisemitismus<br />

einen<br />

Humus für solche<br />

Menschen.“<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 41 16.09.22 05:59


Komplexe Identität<br />

Shelly Kupferberg<br />

wurde 1974 in Tel Aviv<br />

geboren und lebt seit<br />

ihrer Kindheit in Berlin.<br />

Die Journalistin und<br />

Moderatorin hat sich<br />

in ihrem Buchdebüt<br />

auf die Spurensuche<br />

nach ihrem Urgroßonkel<br />

Isidor Geller<br />

begegeben.<br />

„Ich wollte<br />

nie als jüdische<br />

Journalistin gelabelt<br />

werden.“<br />

Shelly Kupferberg<br />

JÜDISCHES BADEN<br />

Entdeckungsreisen Spurensuche<br />

Stadtwanderungen<br />

ner für ihn. Meine Großmutter väterlicherseits war<br />

Haute-Couture-Schneiderin, und viele ihrer Erzählungen<br />

sind da eingeflossen. Ilonas unglaubliche Geschichte<br />

ist total recherchiert und rekapituliert, weil<br />

sie in Hollywood und auch für ungarische Zeitungen<br />

zahlreiche Interviews über ihr Leben gab. In Ungarn<br />

war Ilona Hajmássy absolut ein Star.<br />

Baden war seit<br />

jeher ein beliebtes<br />

Ziel für Erholung-<br />

suchende und Sommerfrischler.<br />

Die<br />

jüdische Gemeinde<br />

und deren Mit-<br />

glieder trugen mit<br />

Errungenschaften<br />

in Medizin, Kultur,<br />

Wissenschaft und<br />

Wirtschaft ganz<br />

wesentlich zum Erfolg der Kleinstadt bei. Jahr für Jahr waren<br />

auch Prominente wie Literaturstar Arthur Schnitzler, die<br />

Salonière Fanny Arnstein oder Automobilpionier Emil Jellinek<br />

gern gesehene Sommergäste. Abseits der üblichen Touristenpfade<br />

begibt sich Elie Rosen in drei abwechslungsreichen<br />

Spazierrouten und gedanklichen Streifzügen auf die Suche nach<br />

vielfach vergessenen Spuren jüdischen Lebens: Er erzählt von Literaten,<br />

Musikern, Industriellen oder Rabbinern genauso wie von<br />

Synagogen und schmucken Bürgervillen – und lässt auf diese Art<br />

und Weise eine versunkene Welt wiederauferstehen.<br />

Mit Entdeckungstouren, Karte und zahlreichen Abbildungen.<br />

Von Elie Rosen<br />

Amalthea Signum Verlag<br />

Trotz des umfangreichen Quellenmaterials imaginieren Sie<br />

viel, was Gedanken oder Gefühle vor allem Isidors betrifft,<br />

doch eher romanhaft. Sie nennen das Buch im Untertitel<br />

„Ein jüdisches Leben“, also keine Gattungsbezeichnung.<br />

I Das war keine bewusste Entscheidung. Es gab aber so<br />

viele Blackboxes in meinen Recherchen, und die Frage<br />

war, wie gehe ich damit um. Ich versuchte, meine Ich-<br />

Perspektive, meine Interpretationen, Reflexionen mit<br />

einzubringen, und habe mir auch erlaubt, manche<br />

Blackboxes mit Fiktion zu füllen. Ich wollte mich auf<br />

keine Gattungsbezeichnung einlassen, es ist ein Hybrid,<br />

offiziell ein erzählendes Sachbuch. Ich wollte auch<br />

keine Fotos im Buch haben, es sollte eher ein Kino im<br />

Kopf auslösen. Und ich würde mich freuen, wenn es<br />

andere Menschen ermutigen würde, in ihren eigenen<br />

Familiengeschichten herumzuwühlen, egal ob jüdisch<br />

oder nicht. Es ist erstaunlich, was es alles noch in Archiven<br />

zu finden gibt.<br />

Das materielle Erbe Isidors ist perdu, übrig blieb nur ein Silberbesteckkasten<br />

für 24 Personen. Wurde von der Familie,<br />

laut Testament waren seine drei Geschwister seine Erben, je<br />

eine Restitution angestrebt?<br />

I Das ist geschehen, aber es wurde so gut wie gar nichts<br />

restituiert, weil offiziell nichts da war. Sehen Sie, hier<br />

habe ich seine komplette Vermögenserklärung, dieser<br />

Mann war vielfacher Millionär, aber angeblich ist<br />

alles für Verwaltungskosten etc. aufgegangen. Es war<br />

einfach Raub.<br />

Sie haben drei Kinder. Ist es für diese auch eine Art aufgearbeitete<br />

Familienchronik?<br />

I Ich habe es nicht in Hinblick darauf geschrieben,<br />

habe mich aber sehr über das Interesse meiner Kinder<br />

gefreut, die meine Recherchen sehr aufmerksam<br />

verfolgt und mitgefiebert haben.<br />

Sie beschäftigen sich beruflich oft mit jüdischen Themen,<br />

ebenso mit Israel und israelischer Literatur. Wie würden<br />

Sie Ihre diesbezügliche Identität gerade in Deutschland beschreiben?<br />

I Ich habe schon mit Anfang 20 als Kulturjournalistin<br />

zu arbeiten begonnen und wollte nie als jüdische<br />

Journalistin gelabelt werden, obwohl ich immer wieder<br />

gern jüdische Themen behandelt habe. Aber nach<br />

über 25 Jahren im Journalismus kam das Fest 1700 Jahre<br />

deutsch-jüdische Geschichte, und ich wurde gefragt, dabei<br />

Veranstaltungen zu moderieren. Das war so eine<br />

Art Outing, und ich stehe selbstverständlich zu dieser<br />

Identität als Teil meiner sehr komplexen Identität.<br />

Mit diesem Buch wird es einmal mehr geschehen.<br />

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie heute nach Wien kommen?<br />

I Ich gehe mit den Augen meiner Vorfahren durch<br />

diese Stadt, und es schmerzt, weil ich spüre, was sie<br />

vermisst haben und was ihnen genommen wurde. Ich<br />

habe auch durch die Geschichten, die ich recherchiert<br />

habe, eine besondere Beziehung zu Wien. Gleichzeitig<br />

sehe ich auch die Schönheit und Ambivalenz dieser<br />

Stadt, die irgendwie in mein Leben gehört.<br />

© Heike Steinweg / © Diogenes Verlag<br />

42 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 42 16.09.22 05:59


Von der Hitlerei beschädigt<br />

Eine Kindheit in ständiger Todesangst. Von seinen<br />

Jahren auf der Flucht und in Verstecken erzählt<br />

Georges-Arthur Goldschmidt im wieder<br />

aufgelegten Band Der unterbrochene Wald.<br />

Von Anita Pollak<br />

Georges-Arthur Goldschmidt:<br />

Der unterbrochene Wald. Erzählung.<br />

Aus dem Französischen von Peter Handke.<br />

Wallstein <strong>2022</strong>,<br />

121 S., € 20,60<br />

Beim Spaziergang an der Hand des<br />

Vaters durch den deutschen Wald<br />

stößt der Bub auf den moosbewachsenen<br />

Gedenkstein für einen an dieser<br />

Stelle ermordeten jüdischen Hausierer,<br />

und „so als sei seine Angst im Moment<br />

seines Todes derart stark gewesen, daß sie<br />

sich, Jahrhunderte später, eingrub in den<br />

Kopf des anderen“, sieht er ihn immer<br />

wieder vor sich.<br />

Bilder der Angst, der Todesangst, werden<br />

das Kind begleiten auf seinen Fluchten.<br />

Im Wald wird es sich Gruben graben,<br />

sich im Stall bei französischen Bauern vor<br />

den deutschen Soldaten verstecken, deren<br />

Sprache es doch so gut versteht. Vor<br />

der Peitsche der Internatsleiterin wird der<br />

Junge zittern und die Züchtigung gleichzeitig<br />

herbeisehnen.<br />

Ausgestoßen. Bereits 1938 erkennen die<br />

aus einer jüdischen Familie stammenden,<br />

aber längst protestantisch getauften<br />

Eltern Goldschmidt die herannahende<br />

Gefahr und senden ihre beiden<br />

Söhne, den zehnjährigen Jürgen-Arthur<br />

und den vier Jahre älteren Erich, weg aus<br />

dem Kindheitsparadies in einer großen<br />

weißen Villa bei Hamburg nach Italien in<br />

Sicherheit.<br />

Als der nunmehrige Georges-Arthur<br />

1949 sein Geburtshaus wieder besucht,<br />

stellt er fest: „Die Möbel waren geblieben,<br />

und er, er hatte wegmüssen.“<br />

Dazwischen liegen die von Furcht,<br />

Angst, Scham und Schuldgefühlen geprägten<br />

Jahre, die sein ganzes weiteres Leben<br />

bestimmen werden. In mehreren autobiografischen<br />

Büchern hat der in Frankreich<br />

lebende Schriftsteller und Essayist Georges-Arthur<br />

Goldschmidt davon erzählt.<br />

So auch in der 1991 auf Französisch verfassten<br />

Erzählung Der unterbrochene Wald.<br />

Sein Freund Peter Handke, dessen Bücher<br />

Goldschmidt wiederum ins Französische<br />

übersetzte, hat sie kongenial und einfühlsam<br />

in ein poetisches Deutsch übertragen.<br />

Damals im Schweizer Amman Verlag erschienen,<br />

war der Band lange vergriffen<br />

und ist jetzt mit einem luziden deutschsprachigen<br />

Nachwort des heute 94-jährigen<br />

Autors im Wallstein Verlag neu zugänglich.<br />

„Die ganze Natur, alles, Wiesen und<br />

Wälder waren von der Hitlerei ausgesogen,<br />

herabgesetzt,<br />

vermindert, vergällt,<br />

beschädigt, verdorben,<br />

bis in die Ewigkeit<br />

hinein“, heißt es<br />

da über die mit „Leib<br />

und Seele“ geliebte Landschaft Schleswig-<br />

Holsteins, aus der er als „Nicht-Arier“ verstoßen<br />

worden war.<br />

Erst mit über 50 konnte Goldschmidt<br />

ein Buch in seiner Muttersprache schreiben,<br />

Die Absonderung, in dem er ebenso die<br />

traumatisierenden Erfahrungen aus der<br />

Zeit des Holocaust thematisiert.<br />

Perverse Rituale. Weite Landschaften,<br />

Züge, Gleise, Schienen, ferne Horizonte<br />

bilden die fast idyllisch imaginierte Kulisse<br />

für das Schreckliche, das aber dennoch<br />

vor dem noch Schrecklicheren bewahrt.<br />

„Alles war gut, wenn es um das<br />

Überleben ging.“<br />

Quälend auch für den Lesenden die<br />

perversen Rituale der Züchtigungen, der<br />

ständigen Bestrafungen im französischen<br />

Internat, dem der dort gleichsam als versklavter<br />

„Domestik“ Dienende seine Rettung<br />

verdankt. Andeutungen von Missbrauch,<br />

dunkle Verrätselungen wechseln<br />

mit peniblen Schilderungen, präzisen<br />

Selbstbeobachtungen, detaillierten Erinnerungen<br />

an Demütigungen und teils masochistische<br />

Angstlust.<br />

Herzzerreißend die Einsamkeit, als der<br />

Junge nach dem Krieg Fotos aus den KZs<br />

sieht und vom Tod seiner Mutter erfährt,<br />

die Scham, wenn er, „eingeschlossen in<br />

der Toilette, sich das Gesicht streichelte,<br />

um zu erfahren, wie es war, gestreichelt<br />

zu werden“.<br />

„Die Möbel waren geblieben, und er,<br />

er hatte wegmüssen.“<br />

Der Vater überlebt Theresienstadt,<br />

stirbt aber 1947, ohne seinen Sohn wiedergesehen<br />

zu haben. Kein Wort, nirgends,<br />

über den älteren Bruder Erich, mit dem<br />

er als Kind das Elternhaus verlassen, das<br />

Schicksal geteilt hatte. Eine Leerstelle,<br />

auf die Goldschmidt erst Jahrzehnte später<br />

sein Verleger aufmerksam gemacht haben<br />

soll, woraufhin vor einem Jahr Der versperrte<br />

Weg, der „Roman des Bruders“ im<br />

Wallstein Verlag erschien, dem wir nun<br />

auch die Wiederentdeckung des zeitlos<br />

gültigen Dokuments einer beschädigten<br />

Kindheit verdanken.<br />

wına-magazin.at<br />

43<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 43 16.09.22 05:59


Laurence Dreyfus ist nicht<br />

nur gefeierte Musiker und<br />

Ensemble-Gründer, sondern<br />

auch vielbeachteter Musikhistoriker<br />

und Autor.<br />

INTERVIEW MIT LAURENCE DREYFUS <br />

Musik ist Leben<br />

und umgekehrt<br />

„… sitzt ein ehemaliger Jeschiwa-Bocher* in<br />

einer Pfarrkirche vor einem üppig geschmückten<br />

Barockaltar und spielt Kammermusik …“: So<br />

könnte ein guter jüdischer Witz beginnen. Doch<br />

das geschah tatsächlich – und zwar im Sommer<br />

<strong>2022</strong> beim Kammermusikfest im burgenländischen<br />

Lockenhaus. Gespräch mit Marta S. Halpert<br />

Laurence Dreyfus:<br />

Parsifals Verführung.<br />

Faber & Faber,<br />

219 S., € 24,70<br />

WINA: Sie wurden in Boston in eine traditionelle Musikerfamilie<br />

hineingeboren und lernten von Ihrem Vater, der<br />

Geiger im Philadelphia Orchestra war, und Ihre Mutter, einer<br />

Opernsängerin, Notenlesen, noch bevor Sie Englisch<br />

lesen konnten. Als Kind spielten Sie Klavier und Cello.<br />

Aber Ihre musikalische Karriere machten Sie mit Viola da<br />

Gamba**, dem großen Repertoire an hochvirtuosen Solostücken<br />

aus dem Barock sowie Kammermusik aus der<br />

Renaissance. Und mit dem von Ihnen gegründeten und<br />

vielfach preisgekrönten Gamben-Ensemble Phantasm.<br />

Wie kam es dazu?<br />

I Laurence Dreyfus: Der wahre Grund dafür liegt in<br />

meinem Jüdischsein. Ich war seit frühester Jugend<br />

interessiert daran, meine jüdischen Wurzeln zu entdecken.<br />

Meine Eltern waren zwar säkular, aber von<br />

meiner Großmutter, deren Familie aus dem westlichem<br />

Teil der Ukraine stammt, konnte ich einiges erfahren.<br />

Als ich 17 Jahre alt war, konvertierte ich fast<br />

über Nacht zum Chabadnik.*** Da ich aber während<br />

meines Cellostudiums bei Leonard Rose an der Juilliard<br />

School in New York auch Gründungsmitglied<br />

des späteren renommierten Emerson String Quartet<br />

war, konnte ich das wegen Schabbes und anderer<br />

jüdischer Feiertage nicht mehr machen. Ob Sie<br />

es glauben oder nicht: Der Lubavitcher Rebbe gab<br />

mir die Genehmigung, an die Yeshiva University in<br />

New York zu gehen – daher musste ich meine Musikstudien<br />

aufgeben.<br />

Aber glücklicherweise nur für kurze Zeit?<br />

I Ja, denn ich habe gefühlt, dass ich einen Weg zurück<br />

finden muss. Daher habe ich nach meinem Bachelor<br />

an der Yeshiva University ein Studium in Musikwissenschaften<br />

an der Columbia University begonnen –<br />

und so musste ich nicht an den „verbotenen“ Abenden<br />

spielen. Im ersten Studienjahr habe ich meine Notizen<br />

an der Universität noch in Hebräisch und Jiddisch<br />

gemacht – und auf jeder Seite ein Boruch Hashem (B’H<br />

die Abkürzung für „G-tt sei gelobt“) hingekritzelt.<br />

Empfanden Sie die Musikwissenschaft nicht als etwas<br />

trockene Materie, nachdem Sie ja schon viel musiziert<br />

hatten?<br />

I Nein, ganz im Gegenteil, ich habe mich in das Fach<br />

verliebt, denn es beinhaltet so viel Musikgeschichte.<br />

Außerdem hatte ich das große Glück, dass der berühmte<br />

Johann-Sebastian-Bach-Forscher Christoph<br />

Wolff mein Doktorvater wurde und mich immer wie-<br />

© Reinhard Engel; Marco Borggreve<br />

44 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 44 16.09.22 05:59


Was Bach und Wagner vereint<br />

DAS GAMBENCONSORT PHANTASM<br />

Das vielfach preisgekrönte Gambenensemble Phantasm wurde 1994 von Laurence Dreyfus gegründet und gilt heute als<br />

das aufregendste Gambenconsort im weltweiten Konzertleben. Zu internationaler Bekanntheit gelangte Phantasm bereits<br />

durch seine Debüt-CD mit Werken von Henry Purcell, die mit einem Gramophone Award für die beste instrumentale Barockeinspielung<br />

des Jahres 1997 ausgezeichnet wurde. Seitdem tourte das Ensemble durch die ganze Welt und konzertierte<br />

auf den jeweils bedeutendsten Kammermusikpodien in Städten wie London, Prag, Tokio, Istanbul, Helsinki, Berlin, New York<br />

und Washington, D.C. Die Teilnahme an Festivals der Alten Musik in Barcelona, Utrecht, Warschau, Stockholm, Brüssel und<br />

Wien gehört ebenso dazu.<br />

Der Schwerpunkt des breiten Repertoires liegt auf der englischen Musik der Renaissance und des Barock – mit Namen<br />

wie Purcell, Byrd, Gibbons, Locke oder Lawes –, doch auch italienische oder französische Gambenliteratur stehen auf den<br />

Programmen des Ensembles, ebenso wie Bachs Kunst der Fuge und Mozarts Bearbeitungen der Bach’schen Fugen aus dem<br />

Wohltemperierten Klavier. Die bislang 20 eingespielten CDs haben zahlreiche Preise gewonnen. Seit Anfang 2016 ist das<br />

Ensemble, dessen Mitglieder aus Finnland, Großbritannien und Deutschland stammen, offiziell in Berlin zu Hause.<br />

© Reinhard Engel; Marco Borggreve<br />

der zum Musizieren ermunterte. Dabei entdeckte<br />

ich die Gambe und begann mir das<br />

Spielen darauf selbst beizubringen. Ich bin<br />

diesem Instrument richtig verfallen, und daher<br />

habe ich nach meiner Promotion am Königlichen<br />

Konservatorium in Brüssel beim<br />

Spezialisten Wieland Kuijken in zwei Jahren<br />

noch zwei Diplome gemacht.<br />

Das war der erste Sprung nach Europa?<br />

I Eigentlich schon: Durch meinen großartigen<br />

Lehrer Wolff war ich bereits ein Bach-Jünger<br />

geworden, und dann habe ich gleichzeitig<br />

zwei Stipendien für die Forschung in Berlin<br />

und Leipzig bekommen, dort, wo sich die umfassendsten<br />

Archive zu Bachs Leben und Werk<br />

befinden: Eines vergab der Deutsche Akademische<br />

Austauschdienst (DAAD) für Westberlin, das zweite<br />

vergaben die Ostdeutschen an Amerikaner für Ostberlin<br />

und Leipzig. Da durfte ich auch auf den Original-Bach-Instrumenten<br />

spielen.<br />

Eines Ihrer jüngsten Bücher trägt den englischen Titel Wagner<br />

and the Erotic Impulse. Sie argumentieren darin unter<br />

anderem, dass Wagners Hörerschaft im 19. Jahrhunderts<br />

weniger über seine politischen und antisemitischen Ansichten<br />

empört war, sondern viel mehr Wagners ungezügelte<br />

Sinnlichkeit im Leben und in seiner Musik als skandalös<br />

und aufregend empfanden. Unter anderem beschreiben<br />

Sie seine Vorliebe für seidene Frauen-Dessous. Darf ich Sie<br />

– als einen von „Jiddischkeit“ erfüllten Menschen – fragen,<br />

wieso die Faszination mit Bach Sie auch gleich zum tieferen<br />

Verständnis von Richard Wagner führte?<br />

I Als Student habe ich nicht nur viel Wagner-Musik<br />

gehört, sondern auch gespielt. Wagner war von<br />

Bachs Technik und Werk regelrecht besessen, nahm<br />

gelegentlich auch Anleihen bei ihm. Für mich als<br />

Wissenschaftler haben die beiden Komponisten<br />

doch einiges, das sie verbindet – und zwar ein tiefes<br />

Verständnis für menschliches Leid. Das mag bei<br />

Wagners widerlichem Antisemitismus manchen jüdischen<br />

Menschen nicht offensichtlich sein, aber<br />

weder jüdische Musiker noch jüdische Wagnerianer<br />

seiner Zeit konnten sich ein späteres Vernichtungslager<br />

Auschwitz vorstellen. Sie nahmen seinen<br />

Judenhass damals als notorische „Narrischkeit“ in<br />

Kauf und frönten seiner Musik.<br />

Zahlreiche Bücher befassten sich schon mit Wagners antisemitischen<br />

Schriften. Konnten Sie das bei all der erotischen<br />

Schlüpfrigkeit auslassen?<br />

I Natürlich nicht, ich widme diesem Thema ein ganzes<br />

Kapitel. Ich recherchierte ausgiebig über die jüdischen<br />

Wagnerianer, vor allem wie sie mit all diesen<br />

Schwierigkeiten und Ambivalenzen umgingen.<br />

Aber bitte stellen Sie sich auch diese Szene vor: Der<br />

Gießener Rabbiner des Großherzoglich hessischen<br />

Landkreises geht in die koscheren Suppenküche in<br />

Bayreuth, bevor er die Vorstellung auf dem Grünen<br />

Hügel besucht, wo sein Sohn, Hermann Levi, den<br />

Parsifal dirigiert. Einer Anekdote nach traf Vater Levi<br />

Richard Wagner danach, und der meinte: „Also Sie<br />

sind der Vater meines Alter Ego.“ Es ist doch alles viel<br />

komplizierter und etwas nuancierter.<br />

Sie spielen auf Ihr druckfrisches Buch an, das soeben im<br />

Verlag Faber & Faber erschienen ist: Parsifals Verführung,<br />

ein Roman, in dem Sie das Leben und Wirken des<br />

jüdisch-deutschen Dirigenten Hermann Levi (1839–1900)<br />

im Umfeld von Richard und Cosima Wagner, aber auch<br />

seine enge Freundschaft mit Johannes Brahms ungemein<br />

plastisch und spannend nacherzählen und dank Ihrer<br />

langjährigen akribischen Recherchen zudem mit Originalbriefen<br />

anreichern. Nach mehreren akademischen<br />

Publikationen führt uns Ihr Romandebüt nach Bayreuth<br />

im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie sparen weder<br />

die von Hermann Levi erlittenen Erniedrigungen noch die<br />

Privilegien aus, wie zum Beispiel die Uraufführung des<br />

Parsifal auf persönlichen Wunsch des Komponisten. Levi<br />

hatte seine Gewissensbisse?<br />

„Im ersten<br />

Studienjahr<br />

habe ich meine<br />

Notizen<br />

an der Universität<br />

noch in<br />

Hebräisch<br />

und Jiddisch<br />

gemacht.“<br />

* Die Jeschiwa ist eine jüdische Hochschule,<br />

an der sich meist männliche<br />

Schüler (Bocher im Jiddischen für<br />

Burschen) dem Tora-und Talmud-<br />

Studium widmen.<br />

** Viola da Gamba (deutsch: Gambe,<br />

früher auch Knie- oder Schoßgeige)<br />

entsteht im 15. Jahrhundert, vermutlich<br />

in Spanien, und ist eine Sammelbezeichnung<br />

für eine Familie historischer<br />

Streichinstrumente. Es gibt sie in<br />

sämtlichen Größen und Stimmlagen,<br />

von der kleinen Diskantgambe über die<br />

Alt- oder Tenorgambe bis hin zur großen<br />

Bassgambe.<br />

*** Chabad oder Lubawitsch ist als<br />

neochassidische Gruppierung, im<br />

späten 18. Jahrhundert in Belarus<br />

gegründet worden und wurde zu einer<br />

internationalen Bewegung mit Hauptsitz<br />

in New York und mit tausenden Zentren<br />

auf der ganzen Welt. Ihr Hauptanliegen<br />

besteht darin, anderen die Schönheit,<br />

Tiefe, das Bewusstsein und das Glück<br />

zu vermitteln, welches in einem Toratreuen<br />

Leben im Judentum liegt.<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 45 16.09.22 05:59


Ein Bostoner in Berlin<br />

„Zuletzt<br />

war ich zu<br />

Pessach bei<br />

Freunden in<br />

New York, und<br />

das gemeinsame<br />

Essen<br />

und Reden<br />

sind wichtig<br />

für mich, denn<br />

ich beschäftige<br />

mich mit<br />

meinem Jüdischsein.“<br />

Laurence Dreyfus<br />

I Selbstverständlich, er schrieb wortwörtlich an seinen<br />

Vater: „Das war bei Wagner kein kleinliches Risches<br />

(Jiddisch: Bosheit, Antisemitismus). Trotzdem<br />

fühlte sich Hermann Levi dem Kampf gegen die<br />

Kommerzialisierung der Kunst verpflichtet.<br />

Wieso das?<br />

I Levi macht in Leipzig die Erfahrung, dass seine<br />

Glaubensgenossen dort entweder von Schidduchim<br />

(Heiratsvermittlung) redeten oder vom Geldmachen.<br />

Daher versuchte er, wie viele andere Juden, die so<br />

dachten wie er, in ein weltlicheres Leben zu fliehen<br />

und sich dort zu behaupten. In meinem Wagner-Buch<br />

bringe ich das Beispiel von Theodor Herzl,<br />

der die Idee zum Judenstaat nach dem Besuch des<br />

Tannhäuser in Paris zu entwickeln begann. Er war ein<br />

glühender Wagnerianer und schrieb daher in Altneuland:<br />

„Das Einzige, was wir im Heiligen Land tun<br />

müssen, ist, deutsche Kultur hinbringen und Wagner-Opern<br />

spielen.“ Auch er sieht da überhaupt keinen<br />

Widerspruch, weil er nicht alles auf den Antisemitismus<br />

reduziert.<br />

Was war Ihre Motivation, über Hermann Levi zu schreiben?<br />

I Sein Leben und sein künstlerischer Werdegang boten<br />

zahlreiche persönliche und kulturelle Resonanzen,<br />

die mich unglaublich faszinierten. Nur ein Beispiel:<br />

Im Leo Baeck Institute in New York fand ich die<br />

Erinnerungen von Emanuel Kirschner (1857–1938),<br />

dem Kantor der Hauptsynagoge von München, in denen<br />

er eine bezaubernde Szene schildert: Er musste<br />

1881 bei seiner Bewerbung für den Posten dem bereits<br />

berühmten Hermann Levi vorsingen. Nachdem dieser<br />

als musikalischer Berater der Synagoge sein O.K.<br />

gegeben hatte, kam er auch zum Schabbes-Gottesdienst,<br />

um Kantor Kirschner zu lauschen. Nicht gerade<br />

ein Paradebeispiel für einen selbsthassenden<br />

Juden, oder? Zur gleichen Zeit wurde er von Richard<br />

und Cosima Wagner bedrängt, sich vor dem Uraufführungsdirigat<br />

des Parsifal im gleichen Sommer taufen<br />

zu lassen; was er aber nie tat.<br />

Sie haben eine duale Karriere als Musikwissenschaftler<br />

und Gambist beeindruckend vereinen können. Sie lehrten<br />

als Professor an den Universitäten Yale, Stanford, Chicago,<br />

am King’s College London und zuletzt an der Universität<br />

Oxford und dem dortigen Magdalen College. Für Ihre Verdienste<br />

um die Bach- und Wagner-Forschung wurden Sie<br />

unter anderem mit der Mitgliedschaft in der British Academy<br />

belohnt. 1994 verwirklichten Sie sich einen Traum mit<br />

der Gründung des Gambenquartetts Phantasm, mit dem<br />

Sie heuer zwei Tage beim Kammermusikfest in Lockenhaus<br />

gastierten. Und seit 2013 haben Sie eine Wohnung in<br />

Berlin.<br />

I Ja, ich habe eine Frühpensionierung als Universitätsprofessor<br />

angetreten und kann so öfter mit meinem<br />

Gambenconsort konzertieren. Ich lebe gerne in<br />

Berlin, wohne auch in einer jüdischen Gegend, nämlich<br />

Berlin-Wilmersdorf. Ich glaube, dass die deutsche<br />

Kultur Juden braucht, so trage ich etwas dazu<br />

bei. Meine Tochter, eine Germanistin, lebt auch in<br />

meiner Nähe.<br />

Mit „Dreyfus“ tragen Sie einen historisch berühmten Namen,<br />

der an die berüchtigte Affäre Alfred Dreyfus erinnert.<br />

Und es gibt heute noch eine große Industriellenfamilie<br />

aus Mulhouse im Elsass mit diesem Namen. Stammt Ihre<br />

Familie auch aus dieser Gegend?<br />

I Nein, ganz bestimmt nicht! Als mein Urgroßvater<br />

nach Amerika kam, trug er den schönen jüdischen<br />

Namen „Dreispitz“. Der Name gefiel der Familie<br />

dort nicht mehr, er war auch schwer ins Englische<br />

zu transkribieren. Dreyfus fanden sie schöner, und<br />

er drückte damals auch Selbstbewusstsein und jüdische<br />

Solidarität aus. Meinem Urgroßonkel gefiel es in<br />

den USA nicht, er kehrte zu seiner Familie in die Ukraine<br />

zurück. Alle wurden im Holocaust ermordet;<br />

nur einer seiner Söhne und ein Enkelsohn überlebten<br />

in der sowjetischen Armee. Einer von ihnen war<br />

unter den Befreiern von Berlin. Unglaublich, oder?<br />

Ausgestopfte Juden?“<br />

Geschichte, Gegenwart<br />

und Zukunft Jüdischer Museen<br />

26. Juni <strong>2022</strong>—19. März 2023<br />

Schweizer Str. 5, 6845 Hohenems<br />

www.jm-hohenems.at<br />

Öffnungszeiten Museum/Café:<br />

Di bis So und feiertags 10–17 Uhr<br />

46 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

Außer im Herzen und in der Neshume (Seele) und als ehemaliger<br />

Chabadnik, sind Sie noch religiös?<br />

I Ab und zu gehe ich noch in die Synagoge, ich liebe<br />

die Nigunim (Gebetsmelodien), aber es ist mehr Nostalgie<br />

als großer Glaube. Es war ein sehr wichtiger Abschnitt<br />

in meinem Leben. Zuletzt war ich zu Pessach<br />

bei Freunden in New York, und das gemeinsame Essen<br />

und Reden sind wichtig für mich, denn ich beschäftige<br />

mich mit meinem Jüdischsein, vielleicht schreibe<br />

ich auch bald darüber.<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 46 16.09.22 05:59


Sex and Crime<br />

in Be’er Scheva<br />

Mit ihren sozialkritischen Büchern ist Shulamit Lapid<br />

über die Grenzen Israels hinaus bekannt geworden. Lokalausgabe,<br />

das Krimidebüt der heute 87-jährigen Mutter des gegenwärtigen<br />

Premierministers Jair Lapid, gleichzeitig der erste<br />

Fall ihrer sympathisch verhuschten Heldin Lisi Badachi, ist<br />

nun als Taschenbuch neu zugänglich.<br />

Von Anita Pollak<br />

Großer Busen, große Plattfüße,<br />

große Plastikohrringe. Alles ist<br />

groß an Lisi Badichi, und trotzdem<br />

ist sie keine Frau, „die<br />

man groß bemerkte“. In Be’er Scheva , wo<br />

sie als Reporterin der Zeit im Süden allgegenwärtig<br />

ist, genießt sie als „Bekloppte“<br />

keinen allzu guten Ruf. Sehr zu Unrecht,<br />

denn Lisi ist professionell, fleißig, klug, loyal<br />

und verschwiegen. Und mit ihren dreißig<br />

Jahren immer noch Jungfrau.<br />

Mit ihrer Protagonistin Lisi Badachi ist<br />

der israelischen Kriminalautorin Shulamit<br />

Lapid ein Wurf gelungen. Ihr erster<br />

Fall erschien bereits 1989 in Israel und erhielt<br />

in der wunderbaren Übersetzung der<br />

leider schon verstorbenen Mirjam Pressler<br />

1996 den Deutschen Krimipreis.<br />

Mehrere Badachi-Fälle folgten, und<br />

die 1934 geborene Autorin gilt heute als<br />

eine der prominentesten Schriftstellerinnen<br />

des Landes. Dass sie auch die Mutter<br />

des gegenwärtigen Ministerpräsidenten<br />

Jair Lapid ist, wird vom Verlag diskreterweise<br />

verschwiegen. Wie sein Vater,<br />

der ehemalige Justizminister Josef Lapid,<br />

wechselte auch Jair erst nach Jahrzehnten<br />

vom Journalismus in die Politik. Und so<br />

schlägt sich Shulamit Lapids wohl familiär<br />

bedingte Insider-Kenntnis der journalistischen<br />

Szene auch in ihrer Lokalausgabe<br />

aufschlussreich nieder. Da gibt es den<br />

täglichen Konkurrenzkampf der Regionalblätter<br />

und ihrer Reporter, die lähmenden<br />

Pressekonferenzen kleinkarierter Kunst-,<br />

Garten- und sonstiger Vereine und die Mediengeilheit<br />

der Provinzkaiser.<br />

Schöne Leiche. So schmeißt Pinchas Hornstick<br />

anlässlich seiner Ernennung zum<br />

Shulamit Lapid:<br />

Lokalausgabe. Lisi<br />

Badachis erster Fall.<br />

Deutsch von Mirjam<br />

Pressler. Dörlemann,<br />

352 S., € 19,60<br />

neuen Bezirksrichter eine große Party,<br />

für Lisi quasi ein „Seitenblicke“-Pflichttermin,<br />

bei dem sie ihre lästige Jungfernschaft<br />

verlieren und sogar in einen<br />

Mordfall verstrickt werden soll. Denn genau<br />

in jener folgenschweren Nacht wird<br />

die Gattin des Bezirksrichters, die schöne<br />

und glamouröse Bauunternehmerin Alex<br />

Hornstick, tot im festlich geschmückten<br />

Garten der tollen Villa aufgefunden.<br />

Gut vernetzt in der örtlichen Polizei,<br />

die Männer ihrer beiden Schwestern sind<br />

Polizisten, die kurioserweise im besten<br />

Einvernehmen ihre Ehefrauen getauscht<br />

haben, recherchiert Lisi anfänglich aus<br />

journalistischem Interesse den rätselhaften<br />

Fall, schon um etwaigen Konkurrenten<br />

um die saftige Sex-and-Crime-Story immer<br />

einen Artikel voraus zu sein. Weil sie<br />

sich dabei auch als instinktreiche Kriminalistin<br />

entpuppt, werden, nachdem sie<br />

und die Leserschaft Blut geleckt haben,<br />

auf ihren ersten Fall natürlich weitere<br />

folgen. Seinen Reiz bezieht der fast naiv<br />

einfach gestrickte Plot aus dem so detailreich<br />

geschilderten Milieu, dem Beiwerk<br />

aus Korruption und Kleinkriminalität, in<br />

die unter anderen auch gut beleumundete<br />

Kibbuzmitglieder verstrickt sind, den<br />

mit wenigen Strichen gezeichneten Miniporträts,<br />

etwa von windigen Provinz-Gigolos<br />

oder verschlagenen Weinhändlern.<br />

Höchst liebevoll gemalt hingegen ist Lisis<br />

Tante Klara, eine ehemalige Opernsängerin,<br />

die früher Lisis Onkel, also ein Mann<br />

gewesen ist.<br />

Eindeutig von gestern, das heißt aus der<br />

Prä-Handy-Ära, sind die technologischen<br />

Mittel der Recherchen, umso zeitloser erscheinen<br />

hingegen politische Leitmotive<br />

„Wehe der Generation, deren Richter sich<br />

vor dem Gesetz verantworten müssen.“<br />

Israels wie die bereits damals aktive Jihad-<br />

Bewegung.<br />

Und die Warnung: „Wehe der Generation,<br />

deren Richter sich vor dem Gesetz<br />

verantworten müssen“, erweist sich aus<br />

heutiger Sicht geradezu prophetisch.<br />

Auch Nicht-Krimi-Fans werden diesen<br />

literarisch niveauvollen Unterhaltungsroman<br />

genießen können, Freund:innen des<br />

beliebten Genres handwerklich perfekt<br />

gemachter Whodunit mit stimmigem Lokalkolorit<br />

kommen hier vollends auf ihre<br />

Rechnung.<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 47 16.09.22 05:59


INTERVIEW MIT CHRISTIAN BERKEL<br />

„Es geht um das Wagnis der<br />

Erinnerung für jeden unter uns“<br />

Der prominente Schauspieler, Autor und Regisseur Christian<br />

Berkel beschäftigt sich in zwei beeindruckenden Büchern auch<br />

mit seiner mehrfachen Identität: als Deutscher und Jude.<br />

Interview: Marta S. Halpert, Foto: Reinhard Engel<br />

WINA: Sie sind nicht nur einer der bekanntesten deutschen<br />

Film- und Fernsehschauspieler, Sie reüssieren auch auf internationaler<br />

Ebene: Als Wirt Eric waren Sie in Quentin Tarantinos<br />

Kinofilm Inglourious Basterds besetzt; an der Seite<br />

von Isabelle Huppert spielten Sie in dem mehrfach ausgezeichneten<br />

französischen Thriller Elle. Und in der ZDF-Serie<br />

Der Kriminalist gaben Sie von 2006 bis 2020 dem Hauptkommissar<br />

Bruno Schumann ein höchst eigenwilliges Profil.<br />

Vor Kurzem feierten Sie Ihr Debüt als Theaterregisseur bei<br />

den Festspielen Reichenau. Warum jetzt und warum hier?<br />

Christian Berkel: Es hat sich jetzt einfach ergeben. Obwohl<br />

das etwas war, womit ich immer wieder geliebäugelt<br />

habe. Denn ich hatte in meinen Zwanzigerjahren<br />

an der Deutschen Filmakademie ein Regie- und Drehbuchstudium<br />

absolviert, aber danach ging das Spielen<br />

so extrem schnell los, dass ich gar keine Zeit mehr für<br />

Regie hatte. Aber letztes Jahr saßen wir mit Maria Happel<br />

beim Deutschen Filmpreis zusammen, die gerade<br />

mit meiner Frau, Andrea Sawatzki, die Komödie Freibad<br />

von Doris Dörre abgedreht hatte, der übrigens jetzt ins<br />

Kino kommt. Bei dieser Gelegenheit fragte mich Maria<br />

Happpel, ob ich glaube, dass man Frank Wedekinds<br />

Frühlings Erwachen heute noch aufführen kann. Als ich<br />

das bejahte, wollte sie wissen, ob ich Lust hätte, dieses<br />

Stück zu inszenieren. Ich war leicht verführbar, habe<br />

es sofort wieder gelesen und sehr schnell entschieden,<br />

dass ich es machen wollte.<br />

Frühlings Erwachen ist ein 1891 erschienenes gesellschaftskritisch-satirisches<br />

Drama, in dem es vor allem um die existenzielle<br />

Lebenskrise von Jugendlichen in der Pubertät, um<br />

Gefühlskälte und um zerrüttete Familienverhältnisse geht.<br />

Sie sehen diese Thematik als aktuell an?<br />

I Ich kenne tatsächlich kein Stück, keinen Roman, der<br />

diese schwierige Lebensphase gründlich erforscht.<br />

Kaum einer will in die Pubertät zurück, es findet sich<br />

kaum jemanden, der sagt, das war damals so schön –<br />

meistens wird diese Zeit massiv verdrängt. Das ist die<br />

erste Lebenskrise, die sehr intensiv erlebt wird, die Jugendlichen<br />

sind in dieser Phase hoch gefährdet, weil<br />

„Später<br />

sickerten<br />

immer mehr<br />

Geschichten<br />

durch, und<br />

ich bekam<br />

unglaubliche<br />

Schwierigkeiten<br />

mit dieser<br />

deutschen<br />

Identität [...].“<br />

Christian Berkel<br />

das Wachstum ohne Verletzbarkeit nicht möglich ist.<br />

Die Pubertät unterscheidet sich von späteren Krisen<br />

dadurch, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch keine vergleichsweisen<br />

Erfahrungen gemacht haben, also noch<br />

keine Instrumentarien dafür haben. Nach drei durchlebten<br />

Krisen sagt man, ok, das habe ich geschafft,<br />

dann werde ich die vierte auch noch meistern.<br />

Zusätzlich zu bekannten Schauspielern arbeiteten Sie hier<br />

mit Studierenden des Max Reinhardt Seminars. Hat Ihnen<br />

das Inszenieren Spaß gemacht? Wollen Sie in Zukunft weniger<br />

spielen und öfter Regie führen?<br />

I Sehr gerne, es hat mir großen Spaß gemacht. Es<br />

sind diese drei Ebenen, auf denen ich versuche, mich<br />

auszudrücken: Spielen, Inszenieren und Schreiben,<br />

denn es geht mir vordergründig immer um Sprache,<br />

wir sind Sprachwesen, das unterscheidet uns von anderen<br />

Lebewesen. Frisch geborene Säuglinge kommen<br />

aus Klangwelten. Erst zwischen zwei und drei<br />

Jahren kommen sie mit dem Sprechen in der Wirklichkeit<br />

an. Von da an konstruieren wir unsere Wirklichkeit<br />

über Sprache. Es gibt zwar einen Konsens<br />

über den Begriff Tisch, aber der ganze emotionale Bereich<br />

ist nicht mehr so eindeutig.<br />

Sie haben mit Ihrem ersten Buch gleich einen Riesenerfolg<br />

gelandet: In Ihrem Roman Der Apfelbaum erzählen Sie nicht<br />

nur auf berührende Weise große Teile Ihrer eigenen dramatischen<br />

Familiengeschichte, sondern beleuchten ebenso die<br />

aufwühlende deutsche Geschichte zwischen 1932 und 1955.<br />

Dabei stehen auch das Leid und die Odyssee Ihrer jüdischen<br />

Mutter während der NS-Zeit im Zentrum. Gibt es Pläne, das<br />

Buch zu verfilmen?<br />

I Natürlich befasse ich mich mit der Idee. Es ist schwierig,<br />

jemanden zu finden, der einem so viel Geld für die<br />

Produktion gibt. Denn der Stoff spielt ja in mehreren<br />

Ländern – in Frankreich, Spanien, Argentinien, Russland.<br />

Aber es geht auch um die Frage, welche Form<br />

man dafür wählt: Für eine Spielfilmlänge müsste man<br />

unglaublich viel reduzieren.<br />

48 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 48 16.09.22 05:59


Erfolgreiches Romandebüt<br />

CHRISTIAN BERKEL,<br />

1957 in Berlin geboren, ist der Enkel des Schriftstellers und<br />

Anarchisten Johannes Nohl sowie der Großneffe des Pädagogen<br />

Hermann Nohl; seine jüdische Großmutter kämpfte mit den internationalen<br />

Brigaden in Spanien; eine Großtante war die aus Polen<br />

stammende französische Modeschöpferin Lola Prusac (Prussak),<br />

Wie wäre es mit einer Serie?<br />

I Ja, daran habe ich auch schon gedacht, warten wir<br />

es ab.<br />

An einer Stelle heißt es in Der Apfelbaum: „Ich war Deutscher,<br />

ja, aber auch Jude, von einer jüdischen Mutter geboren.<br />

Katholisch erzogen, gut, aber aus dem Verein war ich<br />

schon früh ausgetreten. Und mein protestantischer Vater<br />

war zeit seines Lebens Atheist.“ Wann haben Sie persönlich<br />

erfahren, dass Ihre Mutter Jüdin ist?<br />

I Unter besagtem Apfelbaum saßen wir an einem Sonntagnachmittag,<br />

als ich sechs oder sieben Jahre alt war,<br />

und empfingen Besuch aus Amerika. Ich freute mich<br />

darauf, zum ersten Mal einen „echten“ Amerikaner<br />

kennen zu lernen. Ich war verblüfft und enttäuscht,<br />

dass der Gast plötzlich Deutsch gesprochen hat. „Onkel<br />

Walter ist Jude und kommt aus der Emigration<br />

zurück“, erklärte mir meine Mutter und fügte wie<br />

nebenbei hinzu: „Und du bist auch ein bisschen jüdisch.“<br />

Da fragte ich nach: „Nicht ganz?“ „Nein, nicht<br />

ganz, nur ein wenig“, lautete ihre Antwort. „Bin ich<br />

ganz deutsch?“ „Nein, das auch nicht ganz“, fügte sie<br />

hinzu. Daraufhin begann ich fürchterlich zu weinen,<br />

wahrscheinlich wegen der zwei kleinen Wörter „nicht<br />

ganz“. Für ein kleines Kind ist „nicht ganz“ etwas Kaputtes.<br />

Es war, als wäre etwas mit mir nicht in Ordnung,<br />

und das hat mich tief irritiert.<br />

die bei Hèrmes lernte und später in ihrer eigenen Boutique die<br />

Duchesse of Windsor einkleidete.<br />

Berkel lebte ab seinem vierzehnten Lebensjahr in Paris. Seine erste<br />

entscheidende Begegnung mit dem Theater war dort die Arbeit<br />

von Marcel Marceau, dessen Pantomimen er zu Hause nachspielte.<br />

Bereits neben der Schule nahm er stundenweise Schauspielunterricht,<br />

nach dem Abitur machte er eine Ausbildung an der<br />

Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. 1977, im Alter von<br />

19 Jahren, besetzte ihn Ingmar Bergman für die Rolle des Studenten<br />

in Das Schlangenei. Bis 1993 war er an namhaften deutschsprachigen<br />

Bühnen engagiert, unter anderen bei Claus Peymann am<br />

Schauspielhaus Bochum und am Wiener Burgtheater sowie am<br />

Residenztheater München und am Schillertheater Berlin.<br />

Ab 2002 spielte er hauptsächlich in europäischen Spielfilmen<br />

und TV-Produktionen; Hollywood meldete sich 2007 mit der Kinoproduktion<br />

Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat wieder,<br />

einem Thriller über das gescheiterte Hitler-Attentat von 1944.<br />

Wie ging es dann weiter?<br />

I Später sickerten immer mehr Geschichten durch,<br />

und ich bekam unglaubliche Schwierigkeiten mit<br />

dieser deutschen Identität – ich wollte das nicht mehr<br />

sein. Da ich zweisprachig aufgewachsen bin, wollte<br />

ich einfach Franzose werden. Noch in Frankreich, mit<br />

16 Jahren, wurde mir klar, dass ich vor meiner Geschichte<br />

nicht fortlaufen kann und mich damit auseinandersetzen<br />

muss. Deshalb kehrte ich auch nach<br />

Deutschland zurück.<br />

War das Jüdisch-Sein später noch ein Thema zwischen Ihnen<br />

und Ihrer Mutter?<br />

I Das blieb ein ewiges Streitthema zwischen meiner<br />

Mutter und mir, denn sie hat darauf bestanden zu sagen,<br />

dass sie Halbjüdin ist, weil ihr Vater kein Jude<br />

war. Ich sagte ihr, das sei im jüdischen Sinne absurd,<br />

das wäre komplett falsch. „Diese Halb-, Viertel-, Achtel-Jude-Bezeichnungen<br />

sind reine NS-Diktion, Teil<br />

der Nürnberger Rassegesetze: Du kannst doch nicht<br />

die Definition deiner Verfolger übernehmen!“ Aber<br />

es muss für sie etwas anderes bedeutet haben, nämlich<br />

nur halb deutsch zu sein. Sie wollte sich zugehörig<br />

fühlen. Da ihre jüdische Mutter sie verlassen hatte,<br />

als sie erst sechs Jahre alt war, hat sie ihr Jüdisch-Sein<br />

auch relativ spät erfahren. Da beide Eltern Atheisten<br />

wına-magazin.at<br />

49<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 49 16.09.22 05:59


Gefühl von Zuhause<br />

HEITER BIS WOLKIG: EIN MUTTER-SOHN-DIALOG<br />

Wie man schwierige Lebenssituationen nicht nur in den Griff<br />

bekommt, sondern diese humorvoll, berührend und durchaus<br />

politisch erzählen kann, zeigt Christian Berkel in seinem ersten<br />

Buch mit dem Titel Der Apfelbaum.<br />

ahrelang bin ich vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie<br />

„Jneu“, gesteht der Autor sehr offen und nicht ohne Augenzwinkern. Entstanden<br />

ist ein großer Familienroman vor dem Hintergrund eines ganzen Jahrhunderts<br />

deutscher Geschichte, konkret zwischen 1932 und 1955, die Erzählung einer<br />

ungewöhnlichen Liebe. Mit großem sprachlichen Können belebt Christian Berkel<br />

die spannungsreiche Geschichte seiner Familie: Diese führt über drei Generationen<br />

von Ascona, Berlin, Paris, Gurs und Moskau bis nach Buenos Aires. Am Ende<br />

steht die Geschichte zweier Liebender, die unterschiedlicher nicht sein könnten<br />

und doch ihr Leben lang nicht voneinander lassen.<br />

Mit diesem Debütroman gelang dem vielfältigen Darsteller der Durchbruch<br />

zum Literaten. Dieser Erfolg ermutigte ihn, die Verknüpfung seiner Familie mit<br />

der deutschen Geschichte zu einer Trilogie auszuweiten.<br />

Der zweite Band heißt Ada: Darin geht es um Wirtschaftswunder, Mauerbau, die<br />

68er-Bewegung – und eine vielschichtige junge Frau, die aus dem Schweigen der<br />

Elterngeneration heraustritt. Wenn Berkel von der Schuld und der Liebe, von der<br />

Sprachlosigkeit und der Sehnsucht, vom Suchen und Ankommen schreibt, beweist<br />

er sich wieder als mitreißender Erzähler.<br />

I Eher erleichtert, weil ich, wie schon gesagt, sehr früh<br />

mit mehreren Identitäten konfrontiert wurde. Mein<br />

Lehrer in Paris hat mich konkret dazu ermahnt, mich<br />

zwischen der französischen und deutschen Identität<br />

zu entscheiden. Solche Sätze habe ich auch später oft<br />

gehört. Aber durch das Schreiben über meine Familie<br />

habe ich immer klarer empfunden, dass ich mich gar<br />

nicht entscheiden muss: Es gibt Menschen mit mehreren<br />

Identitäten, deshalb bin ich Schauspieler geworden,<br />

das ist eine davon.<br />

Wie haben Sie es bei ihren beiden Söhnen mit der Religion<br />

gehalten?<br />

I Meine Söhne sind nicht getauft. Der Jüngere erlebte<br />

in seinem Umfeld mehrere Bat und Bar Mizwas<br />

und sagte eines Tages, er würde gerne zum Judentum<br />

übertreten. Weder meine Frau noch ich hatten<br />

etwas dagegen. Wir berieten uns mit einem Rabbiner,<br />

der uns als Erstes auf die nötige Beschneidung<br />

hinwies. Als wir unserem Sohn erklärten, dass dies<br />

bei einem Zehnjährigen anders wäre als bei einem<br />

achttägigen Baby, ging sein Drang ein wenig zurück.<br />

Ich hätte ihm in diesem Sinne auch kein richtiges jüdisches<br />

Leben bieten können. Daraufhin hat sich das<br />

alles ein wenig verlaufen.<br />

waren, wäre sie ohnehin nicht jüdisch erzogen worden,<br />

daher hatte sie diesen unmittelbaren Bezug zum<br />

Judentum nicht.<br />

So wie viele ihrer Generation, die erst Hitler zu Juden stempelte.<br />

Die Verfolgung war eigentlich ihre erste Berührung<br />

mit dem Judentum.<br />

I Ja, das stimmt. Ich habe damit im Grunde genommen<br />

mein Leben lang gehadert. Ich bedauerte das so<br />

sehr, weil mir ein Stück meiner Identität, meiner Kultur<br />

vorenthalten worden ist. Nicht böswillig, aber als<br />

ein Faktum.<br />

Haben Sie aus eigenem Antrieb nach Ihren jüdischen Wurzeln<br />

geforscht?<br />

I Ernsthaft gesucht und richtig recherchiert habe ich<br />

erst viel später, als ich mit meiner Mutter bei ihrer<br />

beginnenden Demenz schon für das Buchprojekt versucht<br />

habe zu sprechen. Wesentlich früher kam der<br />

Tag, als meine Kinder in Berlin jüdische Schulkollegen<br />

hatten. Wir freundeten uns mit deren Eltern an, ich erzählte<br />

meine Geschichte, und sie luden uns gleich für<br />

den nächsten Schabbat ein. Das war für mich schon<br />

sehr beeindruckend. Unser älterer Sohn wurde dann<br />

auch zur Bar Mizwa dieses Jungen eingeladen. Da habe<br />

ich die erste Bar-Mizwa-Zeremonie erlebt, ich saß da,<br />

und mir liefen die Tränen herunter. Aber nicht, weil<br />

ich traurig war, sondern weil es mich unheimlich bewegt<br />

hat. Es war ein Gefühl von „zu Hause sein“ in dem<br />

Moment, in dem ich die Synagoge betreten habe. Ich<br />

kann es gar nicht anders erklären. So war es.<br />

Hat das bewusste Wissen um Ihr Judentum Ihr Leben verändert?<br />

Christian Berkel:<br />

Der Apfelbaum.<br />

Ullstein 2019,<br />

416 S., € 11,90<br />

„Es war ein<br />

Gefühl von ‚zu<br />

Hause sein‘ in<br />

dem Moment,<br />

in dem ich die<br />

Synagoge betreten<br />

habe.“<br />

Christian Berkel<br />

In Frühlings Erwachen verursacht das Schweigen der Elterngeneration<br />

viel Leid. Sie haben, angefangen vom Ursprungsort<br />

in Łódź, die Vergangenheit ihrer Familie mütterlicherseits<br />

akribisch erforscht. In Ihrem stark autobiografisch<br />

geprägtem Roman (siehe Kasten) arbeiten Sie sich auch<br />

am Schweigen Ihrer jüdischen Mutter über die NS-Zeit ab.<br />

Werfen Sie ihr das vor?<br />

I Unmittelbar persönlich nicht, innerlich bestimmt.<br />

Durch das Schreiben erlebt man einen Prozess, der<br />

es einem ermöglicht, sich in die verschiedenen<br />

Schicksale hineinzuversetzen. Man muss sehr vorsichtig<br />

sein bei der Beurteilung dieser Lebenswege,<br />

denn aus heutiger Perspektive lässt es sich relativ<br />

leicht richten. Man sollte niemandem vorschreiben,<br />

wie er damit umzugehen hat.<br />

Der Ruf nach dem „endgültigen Schlussstrich unter die<br />

Debatte über die NS-Zeit und ihre Gräuel“ erhallt sowohl in<br />

Österreich wie auch in Deutschland immer wieder. Sie thematisieren<br />

das teils sehr emotional in Der Apfelbaum: „Es<br />

geht um das Wagnis der Erinnerung für jeden unter uns. Erst<br />

mit der Erinnerung gewinnt unser Leben ein Gesicht.“ Sie<br />

sprechen da aus eigener Erfahrung?<br />

I Wollen wir mit dem Satz „Irgendwann muss doch mal<br />

Schluss sein“ die Menschen von damals noch einmal<br />

ermorden? Wie viele Namen wollen wir denn mit einem<br />

sauberen Schlussstrich eliminieren?<br />

Ich will jedenfalls nicht wie ein Buch dastehen, aus<br />

dem einzelne Kapitel herausgerissen wurden, unverständlich<br />

für andere wie für mich selbst. Ich will versuchen,<br />

die leeren Seiten zu füllen. Für mich. Für meine<br />

Kinder. Für meine Familie. Zuerst stirbt der Mensch,<br />

dann die Erinnerung an ihn. Für diesen zweiten Tod<br />

tragen wir Nachgeborenen die Verantwortung.<br />

50 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 50 16.09.22 05:59


Freuds Retter<br />

Der amerikanische Autor und Journalist Andrew Nagorski schreibt<br />

in einem neuen Buch über Sigmund Freuds späte Flucht nach England<br />

und wer aller dabei geholfen hat.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Er wollte nicht aus Wien weg. „Politische<br />

Blindheit“ nennt Andrew Nagorski<br />

das Kapitel in seinem neuen<br />

Buch über Freuds Rettung, in Anlehnung<br />

an einen Ausspruch von Stefan Zweig. Dieser<br />

hatte wohl mit Freud mehrmals über<br />

die politische Lage gesprochen, aber der<br />

Professor gab sich ihr gegenüber sich noch<br />

realitätsfremder als der Schriftsteller.<br />

Zweig sollte dann auch Österreich schon<br />

1934 in Richtung England verlassen.<br />

1933, als Hitler in Deutschland an die<br />

Macht kam, beschworen mehrere Freunde<br />

Sigmund Freud eindringlich, doch aus Österreich<br />

zu emigrieren, die deutsche Bedrohung<br />

sei unübersehbar. Zu ihnen gehörte<br />

etwa sein Kollege Sándor Ferenczi in<br />

Budapest oder auch die französische Prinzessin<br />

Marie Bonaparte in Paris. Freud<br />

antwortete, dass es für ihn keine persönliche<br />

Bedrohung gebe. Er könne sich wohl<br />

eine österreichische Variante von Faschismus,<br />

Parteidiktatur und Antisemitismus<br />

vorstellen, „aber unsere Leute sind nicht<br />

ganz so brutal“. Doch er hatte auch seine<br />

dunklen Stunden. An Marie Bonaparte<br />

schrieb er einmal, dass sich die Welt in<br />

ein enormes Gefängnis verwandle, und<br />

es sei auch ungewiss, was mit Österreich<br />

passiere.<br />

Freuds Arzt, Max Schur, ebenfalls Jude,<br />

war freilich weniger ruhig. Er besorgte<br />

schon 1937 für seine Familie Visa für die<br />

USA, und er erinnerte Freud auch daran,<br />

dass Hitler schließlich Österreicher war,<br />

er solle sich nicht zu sicher fühlen. Anna<br />

Freud, Sigmunds Tochter, erzählte Jahre<br />

später, warum ihr Vater nicht fliehen<br />

wollte: Erstens war er bereits sehr krank,<br />

über 80 Jahre alt mit Krebs; darüber hinaus<br />

konnte er sich kein Leben anderswo<br />

mehr vorstellen.<br />

Doch mit dem „Anschluss“ im März<br />

1938 änderte sich die Lage dramatisch.<br />

Schon am 15. März, als Hitler am Heldenplatz<br />

seine Rede über die Rückkehr der so<br />

genannten Ostmark ins Deutsche Reich<br />

Andrew Nagorski:<br />

Saving Freud.<br />

A Life in Vienna and<br />

an Escape to Freedom<br />

in London.<br />

Simon & Schuster <strong>2022</strong>,<br />

352 S. sowie als Hörbuch<br />

hielt, tauchten in Freuds Wohnung bewaffnete<br />

Nazis auf. Freuds Frau Martha<br />

bewahrte die Contenance, sprach zu ihnen<br />

wie zu geladenen Gästen und offerierte<br />

Bargeld. Sie nahmen es und zogen<br />

überrascht wieder ab. Etwa zur selben Zeit<br />

bedrohten andere Freuds Sohn Martin im<br />

Psychoanalytischen Verlag ein paar Häuser<br />

weiter.<br />

Den endgültigen Entschluss zu emigrieren<br />

dürfte Freud nach der stundenlangen<br />

Gestapo-Befragung von Anna gefällt<br />

haben. Es ging dabei wohl auch um<br />

Devisen, die der Professor und der Verlag<br />

– vor dem „Anschluss“ durchaus legal<br />

– gegen die Inflation angespart hatten<br />

und die die Dollar-hungrigen Nazis nun<br />

haben wollten.<br />

Nagorski, ein langjähriger Newsweek-<br />

Korrespondent in zahlreichen europäischen<br />

und auch asiatischen Ländern, hat<br />

bereits eine Reihe historischer Bücher<br />

geschrieben. Hier konzentriert er sich –<br />

nach einem Überblick über Freuds nicht<br />

ganz leichten Aufstieg zu wissenschaftlichem<br />

Ansehen und öffentlichem Ruhm –<br />

auf jene Gruppe von Menschen, die dem<br />

greisen Professor die Ausreise oder eher<br />

Flucht nach England ermöglichten:<br />

... dass sich die Welt<br />

in ein enormes Gefängnis<br />

verwandle,<br />

und es sei auch<br />

ungewiss, was mit<br />

Österreich passiere.<br />

Das war erst einmal sein Arzt Schur, zwar<br />

um viele Jahre jünger, aber mit ihm sehr<br />

eng verbunden. Er sollte ihn auch später in<br />

London bis zu seinem Tod weiter betreuen.<br />

William Christian Bullet war ein amerikanischer<br />

Journalist, Autor und Diplomat,<br />

unter anderem Botschafter in der Sowjetunion<br />

und in Frankreich. Er hatte im Hintergrund<br />

Lobbying bei den US-Behörden<br />

betrieben, sie sollten Freuds Ausreise diplomatischen<br />

Flankenschutz geben.<br />

Marie Bonaparte, eine einstige Patientin<br />

Freuds und später selbst Psychoanalytikerin,<br />

war eine reiche angeheiratete Prinzessin<br />

der griechischen und dänischen Königsfamilien.<br />

Sie streckte unter anderem<br />

Geld für die Reichsfluchtsteuer vor. Sie<br />

schmuggelte weiters in griechischem Diplomatengepäck<br />

Goldmünzen und einige<br />

antike Statuen aus Freuds Wiener Wohnung<br />

nach Paris.<br />

Ernest Jones verfügte als walisischer Psychoanalytiker<br />

in London über beste Beziehungen.<br />

Er besorgte die notwendigen<br />

Papiere zu einer Zeit, als die westlichen<br />

Länder bereits sehr restriktiv gegenüber<br />

jüdischen Einwanderern waren.<br />

Und dann gab es noch – wohl etwas überraschend<br />

– den Wiener Nazi Anton Sauerwald.<br />

Er sollte als kommissarischer Leiter<br />

die Arisierung von Freuds Praxis und des<br />

Psychoanalytischen Verlags betreiben. Sauerwald<br />

begann während seiner „Arbeit“<br />

Freud zu schätzen und half ihm insofern,<br />

als er nicht über dessen Fremdwährungskonten<br />

berichtete. „Das hätte ihm eventuell<br />

die Ausreise verunmöglicht“, so Nagorski.<br />

Diese begann am 4. Juni 1938 mit dem<br />

Orient-Express nach Paris. Dort wurden<br />

Freud, seine Frau Marta und Tochter Anna<br />

von Marie Bonaparte abgeholt und in luxuriösen<br />

Limousinen in ihre Villa in St.<br />

Cloud gefahren. Am nächsten Tag ging<br />

es mit der Nachtfähre weiter nach London.<br />

Freud sollte noch mehr als ein Jahr<br />

in Freiheit leben. Er starb am 23. <strong>September</strong><br />

1939.<br />

wına-magazin.at<br />

51<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 51 16.09.22 05:59


Festspiel-Schwerpunkt<br />

Bejubelter Bartók des<br />

Jerusalem Quartet in Salzburg<br />

Auf dem Album The Yiddish Cabaret beweisen die vier Musiker ihre<br />

künstlerische Bandbreite: Sie beleuchten die jiddische Musik in Mitteleuropa<br />

zwischen den Weltkriegen sowie ihren weltweiten Einfluss.<br />

Aus Salzburg: Marta S. Halpert<br />

wurde das letzte<br />

Mal ein aktuelles Avantgardestück<br />

derart gefeiert?<br />

Immerhin trifft „Wann<br />

die neue Musik der 1920er-Jahre einen<br />

Nerv“, schreibt Dávid Gajdos, Musikkritiker<br />

der Tageszeitung Die Presse, sowohl<br />

über Markus Hinterhäusers Programmschwerpunkt<br />

Zeit mit Bartók bei den diesjährigen<br />

Salzburger Festspielen wie<br />

auch über die zwei Konzerte des Jerusalem<br />

Quartet. In den Salzburger Nachrichten<br />

lobt Clemens Panagl die Auftritte überschwänglich:<br />

„Das israelische Ensemble<br />

spielte alle sechs Quartette an zwei Abenden<br />

und zeichnete mit viel Leidenschaft<br />

und Akkuratesse, Energie und Sensibilität<br />

die Motive in stets neuen Schattierungen<br />

– auch immer wieder den Groove<br />

des Weltmusikers Bartók – heraus.“ Der<br />

Kritiker wertet die Konzerte im Mozarteum<br />

als jenes erfreuliche Ereignis, das<br />

die Entwicklungen und Wandlungen des<br />

Komponisten großartig hörbar macht.<br />

Das 1996 von vier jungen israelischen<br />

Musikern gegründete Jerusalem Quartet<br />

ist bei den Salzburger Festspielen ebenso<br />

kein Neuling wie auf zahlreichen Konzertbühnen<br />

der Welt: Häufige Tourneen<br />

nach Nordamerika gehören ebenso dazu<br />

wie Auftritte in Paris und Lissabon oder<br />

bei internationalen Festivals wie der<br />

Schubertiade Schwarzenberg, dem Verbier<br />

Festival oder dem Schleswig-Holstein<br />

Musik Festival. Trotz der Pandemie<br />

kam es <strong>2022</strong> im Frühjahr zu einem Beethoven-Zyklus<br />

in der Wigmore Hall und<br />

einer Asienreise im Juni sowie wiederholten<br />

Einladungen in die Tonhalle Zü-<br />

Das international<br />

besetzte<br />

Ensemble aus<br />

Israel feierte Publikumstriumphe<br />

bei den Salzburger<br />

Festspielen<br />

im Rahmen des<br />

diesjährigen<br />

dortigen Bartók-<br />

Schwerpunkts.<br />

rich, ins Concertgebouw Amsterdam und<br />

in die Elbphilharmonie Hamburg.<br />

Dieses Jahr widmet sich das israelische<br />

Ensemble dem Salzburger Béla-<br />

Bartók-Schwerpunkt, sonst greifen die<br />

vielseitigen Musiker auf ihr breites Repertoire<br />

zurück: Ihre Einspielungen von<br />

Haydns Streichquartetten und Schuberts<br />

Der Tod und das Mädchen wurden mit zahlreichen<br />

Preisen ausgezeichnet, wie dem<br />

BBC Music Magazine Award für Kammermusik.<br />

2018 veröffentlichte das Quartett<br />

zwei Alben mit Streichmusik von Dvořák,<br />

Ravel und Debussy.<br />

Bereits 2019 erschien das Album The<br />

Yiddish Cabaret, das die jiddische Musik in<br />

Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen<br />

und ihren umfassenden Einfluss weltweit<br />

beleuchtet. Die israelische Sopranistin<br />

Hila Baggio, die unter anderem auch<br />

an der Semperoper Dresden zu hören ist,<br />

gesellte sich zum Ensemble, um gemeinsam<br />

jiddische Kabarettlieder aus dem<br />

Warschau der 1920er-Jahre zu interpretieren.<br />

Außerdem beauftragte das Quartett<br />

den ukrainischen Komponisten Leonid<br />

Desyatnikov, die Lieder neu zu arrangieren.<br />

Desyatnikov hat sich nicht nur mit<br />

© Felix Broede, SALZBURGER FESTSPIELE<br />

52 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 52 16.09.22 05:59


Mutiger NS-Gegner<br />

© Felix Broede, SALZBURGER FESTSPIELE<br />

Bratschist Ori Kam stammt aus dem<br />

kalifornischen La Jolla. Das ist ein klares<br />

politisches Statement der jüdischen<br />

Musiker, das sehr wohl mit der späteren<br />

Gesinnung von Béla Bartók vereinbar<br />

ist: Der junge ungarische Komponist<br />

suchte zuerst eine nationale Zugehörigkeit,<br />

bevor er zum Europäer mit Haltung<br />

wurde – eine beeindruckende musikalische<br />

und politische Identitätssuche in<br />

den Wirren des 20. Jahrhunderts.<br />

Der 1881 im Groß-Sankt-Nikolaus/Nagyszentmiklós,<br />

Österreich-Ungarn, geborene<br />

Bartók war wie viele andere Künstler<br />

in ganz Europa musikalisch auf der<br />

Suche nach einem nationalen Stil. 1903<br />

schrieb er noch in einem Brief, dass er<br />

zeitlebens mit seinem Schaffen „der unseiner<br />

Filmmusik in Hollywood einen Namen<br />

gemacht, sondern auch Werke von<br />

Astor Piazzolla arrangiert, wie z. B. die<br />

Tango-Operita María de Buenos Aires. Das<br />

jüdische Programm wird mit den beiden<br />

jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff<br />

(Fünf Stücke für Streichquartett, 1924) und<br />

Erich Wolfgang Korngold (Streichquartett<br />

Nr. 2, 1937) vervollständigt.<br />

Bei den Salzburger Festspielen <strong>2022</strong> traten<br />

die israelischen Künstler mit blaugelben<br />

Einstecktüchern auf – wen wundert das?<br />

Wurden doch die beiden Geiger des Jerusalem<br />

Quartets Alexander Pavlovsky<br />

und Sergei Bresler in der Ukraine geboren;<br />

aus Minsk in Weißrussland kommt<br />

Kyril Zlotnikov am Violoncello, und der<br />

„Meine eigentliche<br />

Mission ist<br />

die Verbrüderung<br />

der Völker.<br />

Dieser Idee versuche<br />

ich [...] in<br />

meiner Musik<br />

zu dienen.“<br />

Béla Bartók, 1931<br />

garischen Nation, der ungarischen Heimat<br />

dienen“ wolle. Die Wende erfolgte<br />

durch seine intensiv betriebenen musikethnologischen<br />

Forschungen vor allem<br />

in Osteuropa, aber auch in der Türkei und<br />

in nordafrikanischen Ländern. Bartók erkannte,<br />

dass regionale Kulturen schwer<br />

auf eine Nationalität zu beschränken sind,<br />

und erfasste schnell ihre Interaktion. Bereits<br />

1931 klang das so: „Meine eigentliche<br />

Mission ist die Verbrüderung der Völker.<br />

Dieser Idee versuche ich [...] in meiner<br />

Musik zu dienen; deshalb entziehe ich<br />

mich keinem Einfluss [...].“<br />

Bartóks Vater starb, als Béla sieben Jahre<br />

alt war. Er lebte mit seiner Mutter in verschiedenen<br />

Ortschaften, bevor er für die höhere<br />

Schule nach Pozsony (Pressburg, heute<br />

Bratislava, Slowakei) wechselte. Bartóks außergewöhnliche<br />

musikalische Begabung und<br />

sein absolutes Gehör fielen früh auf. Seine<br />

Mutter förderte ihn mit aller Kraft. „Mit vier<br />

Jahren schlug er auf dem Klavier mit einem<br />

Finger die ihm bekannten Volkslieder an;<br />

vierzig Lieder kannte er, und wenn wir den<br />

Textanfang eines Liedes sagten, konnte er<br />

das Lied sofort spielen“, berichtete sie später.<br />

Im Alter von zwölf Jahren spielte Bartók<br />

bereits öffentlich Violinsonaten von Beethoven<br />

und Mendelssohns Violinkonzert.<br />

Nachdem die Nationalsozialisten 1933<br />

in Deutschland die Macht übernommen<br />

hatten, weigerte er sich, noch in Deutschland<br />

aufzutreten. 1937 verbot er deutschen<br />

und italienischen Rundfunksendern, seine<br />

Werke weiterhin zu senden. Als 1938 die Regierung<br />

Ungarns auf Wunsch des NS-Staats<br />

„Judengesetze“ erließ, unterzeichneten 61<br />

ungarische Prominente – darunter Béla<br />

Bartók und Zoltán Kodály – medienwirksam,<br />

aber erfolglos einen Protest dagegen.<br />

Durch seine liberalen Ansichten bekam<br />

Bartók große Schwierigkeiten mit dem<br />

rechtsradikalen Ungarn. Die Angst, dass sein<br />

Heimatland eine deutsche Kolonie werden<br />

könnte, trieb ihn „weg aus der Nachbarschaft<br />

dieses verpesteten Landes“ und veranlasste<br />

ihn 1940 zu einem „Sprung ins Ungewisse<br />

aus dem gewussten Unerträglichen“.<br />

Im August 1939, kurz vor Kriegsausbruch,<br />

hielt er sich im schweizerischen Saanen<br />

als Gast beim Dirigenten und Mäzen Paul<br />

Sacher auf, in dessen Auftrag er sein letztes<br />

Streichquartett und ein Divertimento<br />

für Streichorchester schrieb. Seine Manuskripte<br />

hatte er bereits in die USA geschickt,<br />

1940 landete er mit seiner zweiten Frau Ditta<br />

Pásztory auch dort. Er bekam nur noch wenige<br />

Aufträge, auch weil er weitgehend unbekannt<br />

war. 1945 starb er nach längerer<br />

Krankheit an Leukämie. Zunächst in New<br />

York begraben, wurde sein Leichnam 1988<br />

überstellt und im Rahmen eines Staatsbegräbnisses<br />

auf dem Farkasréti-Friedhof in<br />

Budapest beigesetzt.<br />

Im Jahr 1911 hatte Bartók seine einzige<br />

Oper Herzog Blaubarts Burg, die er seiner<br />

ersten Frau Márta Ziegler widmete, geschrieben.<br />

111 Jahre später wurde die Oper<br />

in einer neuen Inszenierung von Romeo<br />

Castellucci bei den Salzburger Festspielen<br />

dieses Jahres zu einem großem Publikumserfolg.<br />

wına-magazin.at<br />

53<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 53 16.09.22 05:59


Thema Anne Frank als Stadt-Ikone<br />

Postergirl Anne Frank<br />

Amsterdam ist so etwas wie der Inbegriff<br />

einer offenen europäischen<br />

Stadt. Gender-Diversität begegnet<br />

man hier auf Schritt und Tritt, rund um die<br />

Coffee Shops verbreitet sich der typisch<br />

süßliche Cannabisgeruch, und es wird<br />

durch die Straßen geradelt, was das Zeug<br />

hält. Geschäfte haben an sieben Tagen in<br />

der Woche geöffnet, bezahlt wird nahezu<br />

überall nur mehr bargeldlos. Das befördert<br />

dann auch eher skurrile Situationen,<br />

wenn etwa der Euro, der im Museum für<br />

die Aufbewahrung des Rucksacks verrechnet<br />

wird, nur mit Karte beglichen werden<br />

kann. Die verschmähte Euromünze wanderte<br />

wieder zurück ins Geldbörserl und<br />

ließ mich doch die Frage stellen: Wo sind<br />

die Grenzen des Sinnvollen?<br />

Aber auch andere Grenzen werden<br />

hier ausgelotet. Da ist auf der einen Seite<br />

der Geist von Anne Frank, der einem<br />

auf Schritt und Tritt begegnet. Das jüdische<br />

Mädchen aus Deutschland, geboren<br />

1929 in Frankfurt am Main, war nach der<br />

Machtübernahme durch die Nazis mit ihrer<br />

Familie nach Amsterdam gezogen. In<br />

den ersten Jahren im Exil war ein normales<br />

Alltagsleben möglich, doch in den<br />

1940er-Jahren änderte sich auch in den<br />

Niederlanden die Lage. Ab 1942 konnten<br />

sich die Franks zunächst erfolgreich in einem<br />

Hinterhaus in der Prinsengracht verstecken,<br />

1945 starb Anne Frank schließlich<br />

dennoch in Bergen-Belsen.<br />

Heute fungiert dieses viel zu früh verstorbene<br />

Mädchen, durch ihr postum veröffentlichtes<br />

Tagebuch eines der weltweit<br />

bekanntesten Opfer der Nationalsozialisten,<br />

als eine Art Ikone der Stadt. Das Anne-<br />

Frank-Haus ist eines der meistbesuchten<br />

Museen der Stadt, Tickets müssen Wochen<br />

im Vorhinein online gebucht werden. Didaktisch<br />

hat sich das Museum über die<br />

Jahre kaum verändert: Hier wandelt der<br />

Besucher in den Räumen, von denen Anne<br />

in ihrem Tagebuch erzählt. Wo ist das Regal,<br />

hinter dem sich die steile Treppe hinauf<br />

zu den heimlichen Räumen befindet?<br />

Wo schlief Anne, wo ihre Schwester?<br />

In der Nähe des Museums findet sich<br />

eine Statue von Anne Frank, ein 1977 vom<br />

Bildhauer Mari Andriessen geschaffenes<br />

Kunstwerk. Ob es in seinem Sinn<br />

ist, dass hier heute Touristen Selfies von<br />

sich und der Skulptur des NS-Opfers machen?<br />

Grenzwertig auch die Wachsfigur<br />

des Mädchens in der Amsterdamer Dependance<br />

von Madame Tussauds. Aber<br />

es kommt noch schlimmer: Postkarten<br />

54 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 54 16.09.22 05:59


#identities und Kolonialgeschichte Thema<br />

„Let me be myself.“ Eduardo Kobras<br />

riesiges Porträt-Graffiti von Anne Frank<br />

am Eingang des Straat Museum, 2016.<br />

Während diesen Sommer um die documenta fifteen in<br />

Kassel, die vom indonesischen Künstler*innenkollektiv<br />

ruangrupa kuratiert wurde, eine Antisemitismusdebatte<br />

entbrannte, weil Kunst aus dem globalen Süden<br />

judenfeindliche Motive zu Tage förderte, spiegelte sich<br />

genau diese Debatte bei einem Städtetrip nach Amsterdam.<br />

Über eine Stadt der Gegensätze, die sich teils<br />

schwer miteinander vereinbaren lassen.<br />

Text und Bild: Alexia Weiss und Lea Weiss<br />

seine Texte tragen, beweist, wie populär<br />

seine Poesie immer noch ist.<br />

Der Israel-Palästina-Konflikt begegnet<br />

einem noch zwei weitere Male in diesem<br />

Museum – und von Station zu Station wundert<br />

man sich mehr, was erstens dieses<br />

Thema in einem Haus zu suchen hat, das<br />

sich mit der Kolonialgeschichte der Niederlande<br />

auseinandersetzt, und zweitens,<br />

warum es zu der palästinensischen Position<br />

so gar kein Gegennarrativ gibt. Objektivität?<br />

Multiperspektivische Erzählung?<br />

Fehlanzeige.<br />

In einem Pavillon, der sich mit dem<br />

Thema kulturelle Aneignung befasst, wird<br />

ein Social-Media-Posting ausgestellt. Der<br />

Begleittext trägt die Überschrift „Hummus-Krieg“.<br />

Während Israel Hummus als<br />

Nationalgericht vermarkte, würden Paläsim<br />

Pop-Art-Design stecken auf den Kartenständern<br />

der Souvenirshops. Da mündet<br />

die Vergangenheitsbewältigung inzwischen<br />

in die Ikonisierung des NS-Opfers<br />

Anne Frank, die auch der touristischen<br />

Vermarktung dient.<br />

Wer das Postkartensujet in natura sehen<br />

möchte, der fährt in den Norden der<br />

Stadt. Dort befindet sich das Straat Museum,<br />

das in einem früheren Lagerhaus<br />

Street Art präsentiert. Wer urbane Straßenkunst<br />

mag, kommt hier voll auf seine<br />

Rechnung. Nur das 240 Quadratmeter<br />

große Graffito neben dem Eingang des<br />

Museums hinterlässt einigermaßen ratlos.<br />

Gestaltet wurde es 2016 vom brasilianischen<br />

Künstler Eduardo Kobra. Er hat<br />

das weltbekannte Foto des Mädchens in<br />

kleine bunte Kästchen zerlegt und mit<br />

dem Schriftzug „Let me be myself“ versehen.<br />

Was will uns, den Betrachtern und<br />

Betrachterinnen, dieser Satz allerdings sagen?<br />

Wäre „Let me live“ nicht passender<br />

gewesen? So mutet die Parole eher wie ein<br />

Beitrag zu den allerorten dieser Tage so beliebten<br />

Identitätsdebatten.<br />

Womit ich beim nächsten Stichwort<br />

bin: #identities. Tropenmuseum nennt<br />

sich heute jenes Haus, das 1864 zunächst<br />

in Haarlem begründet wurde und 1910 in<br />

den Osten Amsterdams übersiedelte. Der<br />

Zweck: über das Leben in den niederländischen<br />

Kolonien zu informieren. Gleich<br />

im ersten Raum setzt sich das Museum<br />

heute mit seiner schwierigen Geschichte<br />

auseinander. Hier werden Fragen verhandelt,<br />

wie jene, ob es sich bei den Museumsobjekten<br />

allesamt um geraubte Gegenstände<br />

handelt. Oder ob es heute okay ist,<br />

einen Schrumpfkopf – also einen menschlichen<br />

Schädel – auszustellen.<br />

Es wäre wünschenswert, würde sich<br />

das Museum heute zur Gänze mit Fragen<br />

dieser Art beschäftigten. Stattdessen wird<br />

der Umgang mit anderen Kulturen ausgestellt,<br />

mit durchaus positiven Ansätzen<br />

– doch wie so oft sitzt der Teufel im Detail.<br />

Da ist zum Beispiel die Ausstellungskoje<br />

zum Thema Schrift. Darin zu sehen<br />

ein grünes T-Shirt mit einem in Schwarz<br />

aufgemalten arabischen Text. Der erklärende<br />

Text dazu: „Grünes T-Shirt. ‚Ich<br />

sehne mich nach dem Brot meiner Mutter,<br />

dem Kaffee meiner Mutter‘ steht in<br />

klassischer Schrift auf diesem T-Shirt und<br />

bezieht sich auf die ersten Zeilen eines der<br />

bekanntesten Gedichte von Mahmud Darwish<br />

(1941–2008). Er wurde als Dichter des<br />

palästinensischen Freiheitskampfes berühmt.<br />

Die Tatsache, dass junge Hipster<br />

Die Songs der britische Rapperin Shadia<br />

Mansou werden als Ausstellungsobjekt unkommentiert<br />

im Tropenmuseum in Amsterdam ausgestrahlt.<br />

Lässt man ihre Texte übersetzen, so sind sie<br />

in ihrer Agression sehr klar.<br />

wına-magazin.at<br />

55<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 55 16.09.22 05:59


Thema Antisemitismus und Israel-Bashing<br />

(li.) Samar and Louis, beim Dizengoff Center, by Iris Hassid ,<br />

Tel Aviv (2014-2020). (m.) Majdoleen und Saja im Fauteuil, in<br />

ihrem Wohnzimmer, by Iris Hassid, Ramat Aviv (2014-2020).<br />

Offen(heit) wird im Jüdischen Museum<br />

Amsterdam bereits über den Eingang großgeschrieben.<br />

tinenser sagen, Israel habe nicht nur ihr<br />

Land gestohlen, sondern auch ihr Essen,<br />

wird dazu erläutert.<br />

Und im Museumsbereich, der sich mit<br />

traditioneller Kleidung beschäftigt, findet<br />

sich ein kurzes Video in Dauerschleife. Es<br />

zeigt die britisch-palästinensische Rapperin<br />

Shadia Mansour und einen Ausschnitt<br />

aus ihrem Song Al Kufiyee – auf Arabisch.<br />

Eine englische Übersetzung liefern die<br />

Ausstellungsmacher nicht mit. So bleiben<br />

dem nicht des Arabischen mächtigen<br />

Besucher nur bunte Bilder aus Jerusalem.<br />

Die Künstlerin inszeniert sich hier in traditionellem<br />

Gewand und umgibt sich mit<br />

Kindern. Präsent ist auch das so genannte<br />

Palästinensertuch.<br />

Auch der Begleittest erklärt nichts zum<br />

Inhalt des Videos. Dafür wird festgehalten:<br />

„Aktivisten auf der ganzen Welt nutzen<br />

eine Reihe kreativer Methoden, sowohl<br />

traditionell wie auch modern, um<br />

auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.<br />

Sie kombinieren soziale Medien mit alter<br />

Kunst und Popkultur mit traditioneller<br />

Kleidung. Mansour singt ihre mitreißenden<br />

Texte in traditioneller Kleidung,<br />

um ihr Engagement für die palästinensische<br />

Sache zu demonstrieren. Und als Zeichen<br />

der Vergebung für die Verbrechen der<br />

Vergangenheit.<br />

Googelt man dann nach dem Museumsbesuch<br />

die Lyrics des hier präsentierten<br />

Songs und lässt den arabischen Text<br />

durch Übersetzungssoftware laufen, zeigt<br />

sich: Der Text ist in seiner Aggression sehr<br />

klar. Da heißt es etwa an einer Stelle: „Wir<br />

reiten mit erhobenem Mittelfinger zu den<br />

Zionisten.“ Und an anderer: „Sie ahmen<br />

uns mit ihrer Kleidung nach. Dieses Land<br />

Hier ist nichts schwarz<br />

und weiß, hier wird<br />

die funktionierende<br />

Koexistenz von Israelis<br />

und Palästinensern<br />

gezeigt.<br />

ist nicht genug für sie. Sie sind gierig auf<br />

Jerusalem.“<br />

Al Kufiyee hat Mansour gemeinsam mit<br />

dem Rapper M-1 aufgenommen. Er begleitete<br />

2009 einen Konvoi der britischen<br />

Hilfsorganisation Viva Palestina,<br />

der Hilfsgüter nach Gaza brachte. Proponenten<br />

dieser NGO waren im selben<br />

Jahr unter Terrorismusverdacht geraten,<br />

die Spendeneinnahmen sanken daraufhin<br />

drastisch. Mitglieder der Organisation<br />

beteiligten sich 2010 auch an der Flotilla<br />

nach Gaza. Von all dem erfährt der Museumsbesucher<br />

nicht.<br />

Welche Geschichte wird hier also erzählt?<br />

Welche Position untermauert? Man<br />

gewinnt leider den Eindruck, dass, quasi<br />

um die eigene koloniale Vergangenheit ein<br />

Stück zu relativieren, hier mit dem Finger<br />

auf Israel gezeigt wird. Das mutet gerade<br />

im Kontext eines Museums, das sich mit<br />

Kolonialismus, mit Rassismus, mit Identität<br />

auseinandersetzt, allerdings grotesk.<br />

Doch andererseits – nun sind wir gedanklich<br />

wieder in Kassel – fügt es sich ein in<br />

ein anderes Bild.<br />

Da ist etwa der kamerunische Historiker<br />

und Politikwissenschafter Achille<br />

Mbembe, der sich mit Postkolonialismus<br />

und strukturellem Rassismus befasst. Er<br />

vergleicht Israel mit dem Apartheidsystem<br />

Afrika – und stellt auch das Existenzrecht<br />

Israels in Frage. Der israelische Soziologe<br />

Natan Sznaider hält dazu in seinem<br />

aktuellen Buch Fluchtpunkte der Erinnerung<br />

fest, eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts<br />

sei, welche Minderheit zur universalen<br />

Kategorie werde, zum Symbol für<br />

Vertreibung: „Sind es die Juden und damit<br />

der Versuch ihrer Vernichtung oder<br />

[...] die Schwarzen, die Nichtweißen, die,<br />

wenn man Mbembe folgt, im Mittelpunkt<br />

der Weltgeschichte stehen?“ Während Israel<br />

aus österreichischer und deutscher<br />

Sicht Juden das Überleben ermöglichte,<br />

ist es aus der Perspektive des globalen Südens<br />

heute so etwas wie ein Kolonialstaat,<br />

der Millionen Palästinenser vertrieb. Damit<br />

vermischt sich der Kampf gegen<br />

Rassismus mit Antisemitismus, der als<br />

Israel-Bashing daherkommt. Doch Amsterdam<br />

kann auch anders. Das Jüdische<br />

Museum, dessen Dauerausstellung zwar<br />

etwas bieder daherkommt, präsentierte<br />

diesen Sommer eine spannende Sonderausstellung,<br />

die ein ganz anderes Bild Israels<br />

zeichnete. A Place of our own zeigte Fotografien<br />

der israelischen Fotografin Iris<br />

Hassid, die palästinensische Studentinnen<br />

in Tel Aviv proträtierte. Hier ist nichts<br />

schwarz und weiß, hier wird die funktionierende<br />

Koexistenz von Israelis und Palästinensern<br />

gezeigt. Solche Einordungen<br />

sucht man im Tropenmuseum leider<br />

vergeblich. Und so bleibt am Ende dieser<br />

Reise ein etwas schaler Nachgeschmack.<br />

56 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 56 16.09.22 05:59


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wına-magazin.at<br />

57<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 57 16.09.22 05:59


Rückwidmung des Friedhofs<br />

Jüdisches Leben in Lendava<br />

Die kleine slowenische Stadt<br />

Lendava liegt in der sonnenverwöhnten,<br />

hügeligen<br />

Landschaft der Prekmurje<br />

(deutsch: Übermurgebiet). Dieses Gebiet<br />

rund um den slowenischen Murabschnitt<br />

im Dreiländereck Österreich-<br />

Ungarn-Slowenien war bis 1944 Sitz der<br />

jüdischen Gemeinde Sloweniens. Lendava<br />

gehörte seit Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

zu den Besitztümern der Esterházy,<br />

die es Juden durch besondere Schutzbestimmungen<br />

ermöglichten, ein gutes Leben<br />

in der östlichsten Gemeinde Sloweniens<br />

zu führen.<br />

Der 1837 angelegte jüdische Friedhof<br />

war einer der wenigen, die den Zweiten<br />

Weltkrieg unangetastet überstanden. In<br />

Folge der Nationalisierung im ehemaligen<br />

Jugoslawien ging er dann 1945 in den Besitz<br />

der Kommune über und verlor seine<br />

religiöse Nutzung. Das bedeutete, dass es<br />

auch keine Begräbnisse mehr gab und der<br />

Friedhof nur mehr als Kulturstätte der<br />

Stadtgemeinde gepflegt wurde.<br />

Die jüdische Gemeinde Graz und Präsident<br />

Elie Rosen haben dazu beigetragen,<br />

dass die Jüdische Gemeinde Sloweniens<br />

im Mai <strong>2022</strong> unter dem Triester Oberrabbiner<br />

Ariel Haddad als Religionsgemeinschaft<br />

traditioneller Juden in Slowenien<br />

anerkannt wurde. Die Judovsko združenje<br />

Slovenije ist die einzige jüdische Gemeinschaft<br />

in Slowenien, die sich in ihrer Satzung<br />

dem traditionellen Judentum nach<br />

der Halacha verpflichtet hat. Gemeinsam<br />

mit der Gemeinde Graz wird das jüdische<br />

Leben in Slowenien ausgebaut und<br />

gefördert. Darüber hinaus versteht sich<br />

die Judovsko združenje Slovenije als Botschafterin<br />

der eigenen jüdischen Kultur<br />

in einem nicht-jüdischen Umfeld und im<br />

Auftreten gegen Antisemitismus.<br />

Ein außergewöhnliches Ereignis. Der fast<br />

200 Jahre alte Friedhof in Lendava ist mit<br />

seinen über 600 Gräbern der größte jüdische<br />

Friedhof in Slowenien. Am 4. Juli<br />

Seit Juli <strong>2022</strong> gibt es wieder aktives jüdisches<br />

Leben in Lendava, zu dem auch die Rückwidmung<br />

des jüdischen Friedhofs zählt. Ein wichtiger<br />

Schritt, der weit über die Grenzen für<br />

große Aufmerksamkeit sorgt.<br />

Von Viola Heilman<br />

<strong>2022</strong> wurde der Friedhof im Rahmen eines<br />

historischen Abkommens mit der<br />

Stadtgemeinde Lendava der slowenischjüdischen<br />

Gemeinde zur religiösen Nutzung<br />

zurückgegeben. Elie Rosen konnte<br />

das durch zahlreiche Gespräche mit dem<br />

Bürgermeister von Lendava erreichen.<br />

Dass der Friedhof nun wieder „zu einer<br />

Beerdigungsstätte für die lokalen Mitglieder<br />

wird, wo nicht nur Blumen oder<br />

Steine bei Gedenkfeiern abgelegt werden“,<br />

darüber freut sich der Präsident.<br />

„National hatte diese Rückwidmung eine<br />

breite Resonanz gehabt. Denn so ein Ereignis<br />

ist für Slowenien außergewöhnlich.<br />

Für mich ist es wichtig, eine Kultur<br />

nicht als tot zu betrachten, sondern eine<br />

Lebendigkeit anzustreben, auch wenn<br />

das bei einem Friedhof widersprüchlich<br />

erscheint. Doch dort, wo Friedhöfe aktiv<br />

genutzt werden, existiert auch jüdisches<br />

Leben.“ Derzeit gibt es noch keine Chevra<br />

Kadisha in Slowenien. Rabbiner Ariel<br />

Haddad und Elie Rosen müssen daher gemeinsam<br />

mit einem Freiwilligen die Tahara<br />

selbst machen. „Rabbiner Haddad<br />

und ich sind die Chevra Kadisha und machen<br />

die Leichenwaschungen“, resümiert<br />

Elie Rosen.<br />

Die Feier der Rückwidmung fand in<br />

der 1866 erbauten, vorbildlich renovierten<br />

Synagoge von Lendava statt. Shmuel<br />

Barzilai und der israelische Jazzpianist<br />

Elias Meiri führten die hochrangigen<br />

Gäste aus Politik und Religionsgemein-<br />

schaften durch eine Reise jüdischer Kantoralgesänge<br />

und jiddischer Musik. Für<br />

die slowenisch-jüdischen Mitglieder war<br />

diese Feier eine völlig neue Erfahrung,<br />

denn bisher beschränkten sich jüdische<br />

Veranstaltungen auf das Gedenken an die<br />

Toten. „Ich möchte, dass man unsere jüdischen<br />

Gemeinden dahingehend sieht,<br />

dass wir Kultur machen, und nicht darauf<br />

reduziert, dass vor über 70 Jahren Millionen<br />

umgebracht wurden“, beschreibt Elie<br />

Rosen seine ehrgeizigen Ziele für die Gemeinden<br />

Graz und Slowenien.<br />

Obwohl die jüdische Bevölkerung in<br />

Slowenien während des Zweiten Weltkriegs<br />

fast ausgelöscht wurde und daher<br />

ein strukturiertes jüdisches Leben nicht<br />

stattfand, sieht Elie Rosen viele Möglichkeiten<br />

für die Zukunft. „Ich glaube nicht,<br />

dass das jüdische Erbe in Slowenien die<br />

© Ziga Pale; kraji.eu<br />

58 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 58 16.09.22 05:59


Ehrgeizige Ziele<br />

Der jüdische Friedhof<br />

von Lendava ist fast<br />

200 Jahre alt und fasst<br />

um die 600 Gräber. Nun<br />

wurde er im Rahmen<br />

eines feierlichen Aktes<br />

der Jüdischen Gemeinde<br />

zurückgegeben.<br />

Ausstellung<br />

in der wunderschön<br />

renovierten<br />

ehemaligen<br />

Synagoge in<br />

Lendava.<br />

„Ich möchte,<br />

dass man unsere<br />

jüdischen<br />

Gemeinden dahingehend<br />

sieht,<br />

dass wir Kultur<br />

machen […].“<br />

Elie Rosen<br />

© Ziga Pale; kraji.eu<br />

letzten 70 Jahre gänzlich zerstört wurde.<br />

Die Situation in Slowenien ist vielschichtig,<br />

denn jüdische Kultur wurde in den<br />

Ländern des ehemaligen Jugoslawiens<br />

anders gelebt und war stark vom Staatsgefüge<br />

beeinflusst. Der Zugang war ein<br />

kultureller, das heißt losgelöst von der Religion.<br />

Auch heute haben die Menschen<br />

einen areligiösen Zugang zu ihrem Judentum.<br />

Man merkt das beispielsweise auch<br />

bei den Beisetzungen, denn es ist den jüdischen<br />

Menschen hier nicht wichtig,<br />

nach welcher Tradition beerdigt wird.“<br />

Auch für die geplanten zukünftigen<br />

Veranstaltungen wird, wie für die Feier<br />

am 4. Juli dieses Jahres, die Synagoge in<br />

Lendava genutzt werden. Elie Rosen: „Die<br />

Zukunft wird zeigen, wie gut wir uns als<br />

jüdische Gemeinde etablieren können.“<br />

JOOP<br />

Seilergasse 6 | 1010 Wien<br />

Kohlmarkt 11 | 1010 Wien<br />

wına-magazin.at<br />

59<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 59 16.09.22 05:59


WINA WERK-STÄDTE<br />

Das Fest des Posaunenschalls.<br />

Das<br />

Gemälde aus dem Jahr<br />

1884 gehört zur Sammlung<br />

des Polnischen<br />

Nationalmuseums in<br />

Warschau.<br />

Rom<br />

Rosch-ha-Schana-Darstellungen<br />

sind in der jüdischen Kunst<br />

selten. Die meisten zeigen das<br />

Blasen des Schofars, und nur<br />

ganz wenige thematisieren den<br />

Brauch des Taschlich.<br />

Von Esther Graf<br />

osch ha-Schana gehört zu<br />

den seltenen Feiertagsmotiven<br />

innerhalb der jüdischen<br />

Kunst. Wenn es malerisch<br />

aufgegriffen wurde, dann<br />

kam zumeist das Blasen des<br />

Schofars zur Darstellung. Nur wenige<br />

Werke sind überliefert, die den Brauch<br />

des Taschlich abbilden. Tatsächlich bedeutet<br />

wörtlich übersetzt „du wirst werfen“.<br />

Gemeint ist damit das symbolische<br />

Abschütteln der Sünden, indem man am<br />

ersten Tag von Rosch ha-Schana nach<br />

dem Mincha-Gebet an ein fließendes Gewässer<br />

geht und sich aller Krümel entledigt,<br />

die sich in den Kleidungstaschen<br />

befinden. Ein herausragendes Taschlich-<br />

Gemälde stammt von dem polnischen<br />

Maler Ignacy Aleksander Gierymski.<br />

1850 in Warschau geboren, absolvierte er<br />

die Kunstakademie in München, gefolgt<br />

von einem ersten Aufenthalt in Italien.<br />

Rom hat ihn dermaßen fasziniert, dass<br />

er, nach einer kurzen Rückkehr nach Polen,<br />

von 1874 bis 1879 in der Ewigen Stadt<br />

blieb. Nach seiner Rückkehr nach Warschau<br />

stellte er vor allem Menschen dar,<br />

die in Armut lebten. Aus dieser Schaffensperiode<br />

stammt auch die Taschlich-<br />

Szene. Sie geht auf das Jahr 1884 zurück<br />

und trägt den Titel Das Fest des Posaunenschalls.<br />

Zu sehen sind chassidisch gekleidete<br />

Männer, die verstreut im Bild mit<br />

einem Gebetbuch in Händen an einem<br />

Hafenbecken stehen. Die Darstellungsweise<br />

offenbart, mit welchem Respekt<br />

und welcher Zurückhaltung Gierymski<br />

den Menschen begegnete, die er malerisch<br />

festhielt.<br />

ROM<br />

In der italienischen Hauptstadt lebten Juden seit der Antike vor Christi Geburt. Die Christianisierung<br />

brachte eine Verschlechterung der Lage mit sich und schließlich 1555 die Errichtung<br />

des Ghettos. Dieses fiel erst 1870 mit der Gründung des italienischen Nationalstaats.<br />

1938 lebten 13.000 Juden in Rom. Nach der deutschen Besatzung wurden 1943<br />

über 1.000 Juden deportiert und ermordet. Viele entkamen durch rechtzeitige Flucht<br />

und mehr als 4.000 überlebten, indem sie sich in Einrichtungen der katholischen Kirche<br />

verstecken konnten. Heute leben etwa 16.000 Juden hier.<br />

© wikipedia.org/wiki/File:Aleksander_Gierymski<br />

60 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 60 16.09.22 05:59


achdem neulich eine Stellenausschreibung<br />

des MAK – Museum für Angewandte<br />

Kunst („Du stehst gerne vor der Kamera<br />

und weißt, welche Social Media Challenge<br />

gerade auf TikTok im Trend ist …“) einmal<br />

mehr mein Interesse auf die rasant wachsende chinesische<br />

Plattform gelenkt hatte, beschloss ich, die<br />

ominöse Zeitschlucker-App einmal genauer unter<br />

die Lupe zu nehmen. Schon ein erster Blick hinsichtlich Präsenz der<br />

Museumslandschaft auf TikTok zeigt den aktuellen Aufholbedarf im Kulturellen:<br />

Das Kunsthistorische Museum Wien hat gerade einmal 3.494<br />

Follower, das MAK 1.304, das Jüdische Museum Wien 1.156 Follower, das<br />

MQ Wien 702 Follower.* Das Leopold Museum etwa<br />

ist gar nicht vertreten.<br />

Von Paul Divjak<br />

A-, B- und Z-Promis: Hier tummeln sie sich alle.<br />

Wer auch auf anderen Kanälen schon immer die<br />

Öffentlichkeit gesucht hat, tut dies auch auf TikTok.<br />

Freilich klappt es nicht immer ganz so wie geplant.<br />

Klassische Medien, Unternehmen unterschiedlichster<br />

Größe und Institutionen wie Museen scheinen<br />

oftmals vor dem Rätsel der Funktionsweise des Video-<br />

und Social-Media-Portals zu stehen, das, so<br />

heißt es, vorrangig junge Menschen bis 25 anspricht.<br />

In persönlichen Mini-Clips wird Selbstoffenbarung<br />

mit Unterhaltungswert auf der Plattform großgeschrieben;<br />

Drama inklusive. Drew Barrymore etwa<br />

bricht beim Renovieren ihres Hauses in Tränen aus.<br />

Der Grund: Sie hat in der Wand ein bisher verborgenes Fenster entdeckt.<br />

Hier schaukeln künstliche Brüste im Takt, dort werden genüsslich<br />

Riesenpusteln ausgedrückt, anderswo seltene Krankheiten und physische<br />

Anomalien gezeigt, von Anorexie, OPs oder Adipositas geprägte<br />

Körper in Szene gesetzt; gepierct, tätowiert, auftrainiert, gender-fluid<br />

oder -transformiert. Ein sympathischer Junge teilt „die lustigsten Momente<br />

mit Tourette“, das Mädchen von nebenan seine wiederholte<br />

wundersame Verwandlung; ihr Haarausfall ist offensichtlich Thema.<br />

Sie ist wunderschön; es glitzert und blinkt. Schon ist die nächste faszinierende<br />

Nummer der virtuellen Endlosrevue am Start. Und du erhältst<br />

Antworten auf Fragen, die du nie gestellt hast.<br />

Die kurzen Videobeiträge erzählen allesamt von Selbstinszenierung<br />

und -ermächtigung, Body Positivity, (behauptetem) Celebrity-<br />

Status sowie dem Wunsch, gesehen und „entdeckt zu werden“, zu<br />

gefallen oder zu polarisieren. Alle sind hier dauerhaft auf Sendung.<br />

Zwischen der Vermittlung eines „authentischen“ Selbstbildes und<br />

der Etablierung einer Markenidentität sorgen die exhibitionistischen<br />

Selbstentblößungen nicht selten für Irritation, bisweilen für Befremden,<br />

und doch befriedigen sie eine unbestimmte Neugier. Der massive<br />

Content-Overload triggert mit Nonstop-Attraktionspotenzial und<br />

knalligen Dopamin-Kicks en suite.<br />

URBAN LEGENDS<br />

That’s Entertainment<br />

TikTok ist nicht zuletzt pandemiebedingt zum globalen kulturellen Phänomen geworden.<br />

Was aber erzählt die boomende Plattform über uns selbst, die anderen und die<br />

Welt? Eine Bestandsaufnahme nach 24-stündigem Selbstversuch.<br />

„We’ve moved away<br />

from having a toolsbased<br />

technology<br />

environment to an<br />

addiction and manipulation-based<br />

technology<br />

environment.“<br />

(Tristan Harris)<br />

„Ihr hattet Recht […]. Ich bereue, meine Mastektomie nicht schon<br />

früher gemacht zu haben“, verkündet ein Insert, bevor die nächsten<br />

Posen die vernarbte Brust eines jungen Menschen zeigen.<br />

Bisweilen scheint es, als handle es sich um ein überbordendes<br />

Mash-up von Shows der Privatsender der 1980er-Jahre – wer erinnert<br />

sich nicht an Colpo Grosso, zu Deutsch: Tutti Frutti? (Berlusconis<br />

„Beitrag zur Weltkultur“, wie sein Biograf einmal festgestellt hat) – und<br />

Big Brother- und Reality-Formate sowie YouTube- und Instagram-Aspekte,<br />

unterlegt mit Mainstream-Musik-Memen, verdichtet zu einem grellen<br />

Do-it-yourself- und Promote-yourself-Kanal. Challenges und Hashtags<br />

heizen die potenzielle Meme-Produktion weiter an.<br />

Filter, Effekte, Deep Fakes. Schon singen Selenskyi und Putin gemeinsam<br />

Cold Cold Heart von Elton John.<br />

Unterhaltung ist alles. Konsum rules und Sex<br />

sells. Viele der Public-Performances evozieren Instant-Fremdscham<br />

und funktionieren genau deshalb.<br />

Alte Witze werden einmal mehr aufgewärmt,<br />

der Bunte-Abend-Sketch feiert seine virtuelle Wiederkehr<br />

als wenige Sekunden langes, selbstgedrehtes<br />

Home-Video. Soundsamples werden lippensynchron<br />

performt, Dialekte nachgeahmt; Marotten, Klamauk<br />

und Kalauer. Es wimmelt von Stereotypen und Klischees.<br />

Kulturelle Aneignungen allerorts. Und immer<br />

diese Hoffnung, mittels dieser „fundamental parasitären“<br />

App (Steve Huffman, CEO Reddit) „chinesischer<br />

Malware“ (Anonymous) endlich auch einmal<br />

viral zu gehen.<br />

Schillernde Fragmente, Kommentare, Real-Life-Impressionen:<br />

Advokat:innen des Konsums aka Influencer verändern die Celebrity-<br />

Kultur. Alle melden sich gleichzeitig zu Wort. Das Geschäft mit der<br />

(Selbst-)Vermarktung brummt. Und die A.I. weiß genau, was dich<br />

wirklich interessiert. Die Inhalte werden individuell an die Vorlieben,<br />

sensiblen persönlichen Daten und das Rezeptionsverhalten angepasst.<br />

Miriam gibt Einblick in ihren orthodoxen Alltag in Brooklyn. Sie<br />

interviewt ihre Großmutter, eine Holocaust-Überlebende, zu Menstruation<br />

im KZ und dem Kinderkriegen nach dem Holocaust. Und in<br />

einem nächsten Post tanzen IDF-Soldatinnen in Uniform mit geschultertem<br />

Maschinengewehr zu pumpenden Beats.<br />

TikTok, das ist unbestritten, hat Einfluss auf Gesellschaft, Politik und<br />

Kultur. Ein Politiker, der das in Österreich als einer der Ersten verstanden<br />

hatte, war Sebastian Kurz. (121.000 Follower – letzter Beitrag:<br />

10.5.2021. Zum Vergleich: Karl Nehammer: 142 Follower – keine Beiträge.<br />

Pamela Rendi-Wagner: 49 Follower – keine eigenen Beiträge.)*<br />

„Genießt diesen Sommer, denn der Winter wird wirklich beschissen“,<br />

verkündet ein nicht unumstrittener deutscher Oppositionspolitiker.<br />

Und aus dem Archiv meldet sich schließlich auch noch Pamela<br />

Rendi-Wagner unvermittelt zu Wort: „Wie viele Tote müssen noch sterben,<br />

bis wir Corona besiegt haben?“<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

* Stand: August <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

61<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 61 16.09.22 05:59


HERBST KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

AUSSTELLUNG<br />

Barockschlössl,<br />

Museumsgasse 4,<br />

2130 Mistelbach<br />

kunstverein-mistelbach.at<br />

BIS 2. OKTOBER <strong>2022</strong><br />

ÜBER DAS FLIESSENDE<br />

IN DER KUNST<br />

Die seit 2005 in Wien lebenden<br />

Künstlerin Dora Kuthy wurde 1981<br />

in Budapest geboren und wuchs<br />

in der Nähe von Mailand auf, ehe<br />

sie ihre Studien in Design, Architektur<br />

und Kunstpädagogik an Universität<br />

für angewandte Kunst in<br />

Wien abschloss. Dieser auch in ihren<br />

künstlerischen Arbeiten stets<br />

vielsprachige und transmediale Zugang<br />

zu den Themen, Orten, Materialen,<br />

aber auch Menschen,<br />

mit denen und über die Kuthy arbeitet,<br />

ist auch in ihrem aktuellen<br />

Projekt flow, das sie auf Einladung<br />

des Kunstvereins Mistelbach<br />

in den letzten Monaten entwickelt<br />

hat, deutlich zu erkennen. flow,<br />

das heißt stetige Bewegung, ungebrochene<br />

Offenheit und hohes Bewusstsein,<br />

das die unter anderem<br />

an der Kunstschule Herbststraße<br />

unterrichtende vielseitige Künstlerin<br />

anhand einer Bandbreite an<br />

durchwegs für die Schau neu konzipierten<br />

Werken unter Beweis stellt.<br />

dorakuthy.com<br />

SPRECHTHEATER<br />

Burgtheater,<br />

Universitätsring 2,<br />

1010 Wien<br />

burgtheater.at<br />

NEU IM REPERTOIRE<br />

„INS DUNKEL HINEIN“<br />

„Zur Unruhe war doch wahrhaftig nie ein Anlass“,<br />

heißt es zu Beginn von Arthur Schnitzlers<br />

1910 in Petersburg uraufgeführtem und<br />

bald danach in ganz Europa nachgespieltem Erfolgsstück<br />

Das weite Land. Dass diese Feststellung<br />

so gar nicht zu den Geschehnissen rund<br />

um das weit vorn in die Theatergeschichte des<br />

20. Jahrhunderts eingegangene Ehepaar Genia<br />

und Friedrich Hofreiter passt, wird relativ rasch<br />

klar: wohlsituiert und scheinbar sorgenlos, verstricken<br />

sich beide in Lügen und Betrug: aneinander<br />

wie an allen, denen sie begegnen und<br />

mit denen sie auf die eine oder andere Weise<br />

in tragische Verstrickungen geraten, die zu Verrat,<br />

Mord und, so Schnitzler selbst in einer seiner<br />

Aufzeichnungen, Irrsinn führen. Expansionsund<br />

Vergnügungsdrang, Langeweile und Lust,<br />

Privilegien und Spekulationen, die zu nichts weniger<br />

als den Untergang vieler führen, stehen in<br />

diesem bis heute vielgespielten, zeitlos unsentimentalen<br />

Stück zur Verhandlung. Das weite<br />

Land nichts an Weite und Relevanz verloren. Da<br />

Wiener Burgtheater eröffnet die neue Spielzeit<br />

mit einer Interpretation des Stoffes der künstlerischen<br />

Intendantin der Ruhrtriennale, Barbara<br />

Frey, und mit so starken Ensemblestimmen wie<br />

Michael Maertens, Sabine Haupt, Dorothee Hartinger<br />

und Branko Samarovski.<br />

FOTOGRAFIE<br />

Bezirksmuseum Leopoldstadt,<br />

Karmelitergasse 9,<br />

1020 Wien<br />

bezirksmuseum.at<br />

7. SEPT. BIS 21. DEZ.<br />

WIENER FOTOGRAFIE-<br />

GESCHICHTE, WEIBLICH<br />

Die Wiener Bezirksmuseen sind eine<br />

wahre Fundgrube, wenn es um gelebte<br />

Stadt- und Grätzelgeschichte<br />

geht. Jedes von ihnen widmet sich<br />

großteils ehrenamtlich und mit viel<br />

phantasiereicher Energie und persönlichem<br />

Einsatz den jeweiligen Bezirksgeschichten<br />

und ihren so vielfältigen<br />

wie oft auch ambivalenten Entwicklungen.<br />

So zeigt das Bezirksmuseum<br />

Leopoldstadt ganz aktuell eine Sonderausstellung,<br />

die den Titel Reflecting<br />

HERstory trägt und sich im Rahmen<br />

dessen auf die Spuren von vier<br />

jüdischen Wiener Fotografinnen und<br />

Künstlerinnen begibt, die heute nahezu<br />

vergessen sind – unter anderem,<br />

weil sie jüdischer Herkunft und, eben,<br />

Frauen waren. Vorgestellt werden<br />

Madame d’Ora, Trude Fleischmann,<br />

Adele Perlmutter und Pepa Feldscharek.<br />

Sie werden von den zeitgenössischen<br />

Künstler:innen Antonia Coffey,<br />

Helmut Haider, Helga Knirsch und Gabriele<br />

Johanna Schatzl auf sehr<br />

persönliche Weise präsentiert und<br />

dabei Biografien und Werk, aber<br />

auch deren politisches und<br />

soziales Engagement beleuchtet.<br />

© Dora Kuthy; Werk X Petersplatz; ullstein bild - d' Ora / Ullstein Bild/picturedesk.com; Burgtheater/Presse; KlezMore Festival/Presse; 123RF<br />

62 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 62 16.09.22 05:59


BENEFIZKONZERT<br />

19 Uhr<br />

Concordia-Haus, Bankgasse 8,<br />

1010 Wien<br />

concordia.at<br />

FESTIVAL<br />

THEATER div. Orte in Wien<br />

19.30 Uhr<br />

klezmore-vienna.at<br />

WERK X-Petersplatz,<br />

Petersplatz 1, 1010 Wien<br />

werk-x.at<br />

22. SEPT. BIS 1. OKT.<br />

REGENBOGENKINDER<br />

Mit der Uraufführung von The power<br />

of the fucking rainbow des zwischen<br />

Wien und London pendelnden vielseitigen<br />

Bühnen- und Film-Schauspielers<br />

und Autors Lukas Johne eröffnet<br />

das Werk X Petersplatz seine<br />

letzte Spielzeit in der künstlerischen<br />

Leitung von Cornelia Anhaus. Und<br />

keine Geringere als Tania Golden<br />

führt bei diesem Vierpersonenstück<br />

Regie, in dem die beiden Geschwister<br />

Elsa und Burt, Enkelkinder einst<br />

vom NS-Regime vertriebener jüdischer<br />

Bewohner:innen Wiens, in einen<br />

wilden ideologischen Schlagabtausch<br />

mit ihren Freunden Gery und<br />

Sasha geraten – über Identitäten und<br />

Masken, Liebe und Erotik, Trauer,<br />

Hass und Zukunftsmusik. Mitten in<br />

Europa. Mitten in Wien. Mitten im<br />

Sommer. Und mittendrin in all den<br />

Wirren des Verstehens und Nicht-<br />

(mehr-)Verstehens, in denen wir alle<br />

uns im Moment befinden.<br />

19. OKTOBER<br />

KONZERT FÜR DIE FREIHEIT<br />

DES JOURNALISMUS<br />

Unter dem wunderbaren Titel Uns flog ein<br />

Bösendorfer zu lädt der Presseclub Concordia<br />

am 19. <strong>Oktober</strong> zu einem Benefizkonzert<br />

zugunsten von Journalist:innen im Exil<br />

ein. Der Flügel, um den es hier geht, gehörte<br />

einst dem langjährigen Concordia-Präsidenten<br />

Leopold Lipschütz (1870–1939), u. a. Mitarbeiter<br />

der Presse ab 1892 und wenige Jahre<br />

später Gründer der Illustrierten Kronenzeitung,<br />

daneben Erzähler und Dramatiker.<br />

1938 wurde der vielbeachtete Wiener Journalist<br />

von den Nationalsozialisten enteignet,<br />

seine Villa „arisiert“ und Lipschütz aller Ämter<br />

enthoben. Er floh mit seiner Frau nach<br />

Frankreich, wo er am 25. Jänner 1939 Selbstmord<br />

beging. Der nun von seinem Enkel dem<br />

Presseclub Concordia vermachte historische<br />

Flügel ist nicht zuletzt Symbol für die Folgen<br />

von Verfolgung, Vertreibung – und vielfach<br />

auch Ermordung von Journalist:innen, weltweit.<br />

Rudolf Buchbinder erklärte sich bereit,<br />

für diesen Abend Beethovens Klaviersonate<br />

Nr. 8 c-Moll, op. 13, „Pathétique“, zu spielen<br />

und so den Flügel in seiner neuen Wiener<br />

Heimat, dem Concordia-Haus, feierlich im<br />

Rahmen eines Benefizkonzerts einzuweihen.<br />

VORSCHAU!<br />

5. BIS 20. NOVEMBER <strong>2022</strong><br />

KLEZMORE: EINS VOR 20!<br />

Wir wollen an dieser Stelle nur kurz schon auf<br />

das kommende KlezMORE Festival Vienna<br />

hinweisen. 19 Jahre jährliches weltoffenes<br />

Feiern der Geschichte, Gegenwart und Zukunft<br />

des Klezmer in all seinen Varianten, Variationen<br />

und Vielstimmigkeiten. Zahlreiche<br />

Stimmen sind so auch dieses Jahr zu Gast<br />

– aus Wien kommende und internationale<br />

Künstler:innen spielen von 5. bis 20. November<br />

an so unterschiedlichen Orten der Stadt<br />

wie dem Theater Akzent (4.) und dem Metropol<br />

(17.), dem Porgy & Bess (1.) und der Sargfabrik<br />

(14.), am Spittelberg und gegenüber der<br />

Oper. Und es ist nur eines von vielen mutigen<br />

künstlerischen Statements in dieser<br />

Zeit, dass dieses Jahr die junge Wiener Musikerin<br />

und politische Aktivistin Isabel Frey –<br />

„Revolutionary Yiddish Music!“ – zu den<br />

zentralen Künstler:innen des Festivals zählt:<br />

eine starke weibliche Stimme, neben vielen<br />

anderen, auf die wir uns bei gleich mehreren<br />

Terminen freuen können. Vielfältig<br />

kuratiert von Festivalgründer Friedl Preisl gemeinsam<br />

mit Musiker und Ensemblegründer<br />

Roman Britschgi bietet KlezMORE auch dieses<br />

Jahr wieder zwei Wochen mit vielfältiger<br />

(musikalischer) Kultur, begleitet von Film, Literatur,<br />

Gespräch und mehr. Ein gemeinsames<br />

Fest, ohne dabei den Ernst unserer Zeit aus<br />

den Augen zu verlieren.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

63<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 63 16.09.22 05:59


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich ein Battle gegen meine Tochter<br />

verloren habe, war … gestern.<br />

Es ging darum, ein zum Wetter passendes<br />

Kleidungsstück zu tragen … Meine<br />

Tochter ist knapp sechs Jahre – und ich<br />

muss gestehen, dass ich gegen sie eigentlich<br />

fast alle Battles verliere.<br />

Das letzte Mal, dass ich auf einen<br />

Reim von mir richtig stolz war, war …<br />

Es gibt bei jedem Song einen Rhyme<br />

oder eine Line, die man so richtig abfeiert.<br />

Das letzte Mal, dass mir ein Song etwas<br />

über das Leben beigebracht hat,<br />

war … Es gibt ein Lied von Hanan Ben-<br />

Ari, bei dem es darum geht, dass er<br />

seinen Kindern wünscht, immer fröhlich<br />

zu sein und dass sie keine seiner<br />

Narben erben mögen. Das hat mich<br />

sehr berührt.<br />

Das letzte Mal als „Sohn des Friedens“<br />

gefühlt habe ich mich …, wenn<br />

ich bei Schulveranstaltungen oder<br />

Vorträgen auf Menschen mit verschiedenen<br />

Hintergründen treffe und es<br />

dort schaffe, Verständigung, Dialog<br />

und Empathie aufzubauen und man<br />

plötzlich merkt, dass bei aller Unterschiedlichkeit<br />

doch so viel Gemeinsamkeit<br />

existiert.<br />

Das letzte Mal, dass ich dachte, Rap<br />

und Judentum passen klasse zusammen,<br />

war … Das passiert immer, wenn<br />

ich in die Synagoge gehe! So schnell,<br />

wie die Vorbeter es schaffen, die Verse<br />

aus den Gebetsbüchern vorzutragen –<br />

das erinnert mich schon stark an Doubletime-Rap!<br />

Das letzte Mal, dass ich etwas von den<br />

Kids aus meinen Workshops gelernt<br />

habe, war … Ich lerne eigentlich immer<br />

etwas, vor allem beeindruckt mich, wie<br />

manche Jugendliche mit ihrer Fluchtgeschichte<br />

umgehen. Aber grundsätzlich<br />

würde ich sagen: Ich lerne jeden Tag<br />

und von jedem Menschen etwas.<br />

LEBENSLANGES<br />

LERNEN<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal, aber auch ein letztes! In<br />

diesem Monat erzählt uns der Rapper, Autor und Aktivist<br />

Ben Salomo über Battles mit einer Fünfjährigen und<br />

Doubletime in der Synagoge.<br />

Ben Salomo, 1977 in Rechovot als Jonathan Kalmanovich geboren,<br />

lebt seit über vierzig Jahren in Berlin und bezeichnet<br />

sich selbst als „Israeli mit Integrationshintergrund“. Als Rapper<br />

und Veranstalter wurde er bekannt, 2018 kehrte er, nach<br />

einem antisemitischen Zwischenfall bei der Echo-Verleihung,<br />

der Hip-Hop-Szene den Rücken. 2019 veröffentlichte der<br />

45-Jährige seine Autobiografie Ben Salomo bedeutet Sohn des<br />

Friedens*, in der er sich unter anderem mit dem Antisemitismus<br />

im Deutsch-Rap auseinandersetzt. Eine überarbeitete<br />

Neuauflage erscheint heuer im November. Dem gesamtgesellschaftlichen<br />

Problem Rassismus stellt er sich auch aktiv<br />

entgegen, hält Vorträge und Workshops an Schulen.<br />

bensalomo.de<br />

64 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

© Thomas Koehler/photothek.net;<br />

* Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens erscheint im November<br />

in einer überarbeiteten Neuauflage in der Reihe Europa Pocket im Europa Verlag.<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 64 16.09.22 05:59


Thema<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 19 16.09.22 05:58


Die IKG.Kultur präsentiert dieses Jahr ein ganz besonderes<br />

Kantorenkonzert<br />

Shai Abramson<br />

Shmuel Barzilai<br />

Oberkantor des Staates<br />

Israel und der Israel<br />

Defense Forces<br />

Oberkantor der<br />

Israelitischen<br />

Kultusgemeinde Wien<br />

20.10.<strong>2022</strong>, 19:00 Uhr<br />

Stadttempel<br />

Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Genießen Sie einen schwungvollen Abend<br />

mit einer besonderen Mischung aus kantoraler<br />

Musik, bekannten israelischen Songs, sowie<br />

berühmten Pop und Rock Highlights.<br />

Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie,<br />

einen Lichtbildausweis mitzuführen.<br />

Tickets und Informationen unter:<br />

www.ikg-wien.at/event/kantorenkonzert-<strong>2022</strong><br />

38 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />

sept_<strong>2022</strong>.indb 38 16.09.22 05:59

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