wina September/Oktober 2022
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Sept/<strong>Oktober</strong> <strong>2022</strong><br />
Tischrei 5783<br />
#9/10. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
„JAHRELANG BIN ICH VOR MEINER GESCHICHTE<br />
DAVONGELAUFEN. DANN ERFAND ICH SIE NEU.“<br />
Christian Berkel über seine drei Identitäten, seine Arbeit und<br />
den Apfelbaum, unter dem alles begann<br />
VIELE REGIONALMUSEEN SIND<br />
IMMER NOCH WEISSE FLECKEN<br />
auf der österreichischen<br />
Restitutionslandkarte –<br />
eine Momentaufnahme<br />
aus Salzkammergut<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
09<br />
9 120001 135738<br />
DIE SCHILLERNDEN LEBEN<br />
DES IGNAC TREBITSCH<br />
eine filmreife Biografie, viel Leidenschaft<br />
und noch mehr (Be)Trug<br />
„WAS BLEIBT VON EINEM MENSCHEN ÜBRIG,<br />
WENN NICHTS VON IHM ÜBRIG BLEIBT“<br />
Autorin Shelly Kupferberg auf<br />
Spurensuche nach Uronkel Isidor<br />
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Wut Wut Wut<br />
Eine Schande für die Stadt Salzburg<br />
Zwei Trampelsteine als unwürdige Erinnerung an den einzigartigen Marko Feingold<br />
Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert<br />
Wut Wut Wut<br />
Wut Wut<br />
Am Sonntag, den 28. August <strong>2022</strong>,<br />
nur einige Tage vor dem Ende der<br />
Salzburger Festspiele, erwartet einen<br />
auf dem schmalen Steg, der<br />
die Salzach überquert, das gewohnte Bild: Einwohner,<br />
aber auch Touristen aus aller Welt laufen,<br />
drängeln<br />
Wut<br />
oder stehen auf der Brücke, deren<br />
Wut Wut<br />
einfaches Gittergeflecht zu beiden Seiten mit<br />
tausenden von farbigen Schlössern behängt ist.<br />
Als Makartsteg bekannt, wurde dieser nach<br />
Gemeinderatsbeschluss der Stadt am 28. Mai<br />
2021 in Marko-Feingold-Steg umbenannt: An<br />
diesem Tag hätte der große jüdische Sohn dieser<br />
Stadt seinen 108. Geburtstag feiern können,<br />
wäre er nicht<br />
Wut<br />
im <strong>September</strong> 2019 gestorben.<br />
Wut Wut<br />
Wir suchen vergeblich nach einem Hinweis<br />
auf jenen Mann, der trotz seines unvorstellbaren<br />
Leidensweges während der Shoah nicht nur Boden der Brücke ange-<br />
ein Hohn: „Lesen Sie nach, falls Sie etwas wis-<br />
Grau und unscheinbar<br />
scheint sich die am<br />
Die Zeile www.marko-feingold.at klingt wie<br />
dieser Stadt, diesem Land großherzig verziehen bracht Erinnerungstafel sen wollen.“<br />
fast verstecken zu wollen.<br />
hat, sondern zu einem geliebten Vorbild tausender<br />
Jugendlicher und Schüler:innen wurde,<br />
dass man sich erstens nicht darauf einigen<br />
Ist das so beabsichtigt?!<br />
Es ist eine Schande für die Stadt Salzburg,<br />
denen er als jüdischer Zeitzeuge aus seinem Leben<br />
erzählte. Zahlreiche Politiker aller Couleurs<br />
nen Platz zu widmen (eine Postadresse, wie es<br />
konnte, Marko Feingold eine Straße oder ei-<br />
schmückten sich jahrzehntelang mit dem geistreichen<br />
Präsidenten der Israelitischen Kultusge-<br />
hatte), und zweitens seelenruhig zulässt, dass<br />
sich seine Witwe Hanna Feingold gewünscht<br />
meinde Salzburgs.<br />
Menschen und Hunde auf diesem sogenannten<br />
„Gedenkstein“ stampfen und latschen.<br />
Wo ist das mehrsprachige sichtbare Schild,<br />
die Tafel, eine Stele? Auf beiden Seiten des Stegs<br />
Wenigstens ein Schlössersegment des Brückengeländes,<br />
hätte man Marko Feingold frei<br />
heften wir nun die Augen auf den Boden. Und<br />
siehe da: Auf Für einer alle, Metallplatte, die nicht die Grau Nerven in Grau, verlieren.<br />
machen können, denn er hat der Stadt so viel<br />
Unbequemer Journalismus. Jede Woche.<br />
farblich kaum vom Asphalt unterscheidbar,<br />
sind vier Zeilen (jeweils deutsch und englisch)<br />
zu Feingold zu finden – aber nur, wenn gerade<br />
niemand darüber hinweg trampelt.<br />
Mut<br />
Hol mich hier raus, FALTER!<br />
mehr geschenkt. Wer in der Salzburger Zivilgesellschaft<br />
noch einen Funken Feingefühl und<br />
Bewusstsein übrighat, sollte sich dafür einsetzen,<br />
dass hier schleunigst etwas geschieht.<br />
wına-magazin.at<br />
5<br />
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Editorial<br />
Julia Kaldori<br />
Den heißen<br />
Sommer<br />
genießen,<br />
denn der<br />
Winter folgt<br />
bestimmt.<br />
Endlich wieder Sommer! Endlich wieder<br />
ein Sommer zum Genießen. Und genau<br />
deshalb würde ich gerne auch hier nur<br />
über die sommerliche Leichtigkeit des Seins<br />
schreiben.<br />
Nein, ich möchte jetzt nicht über die ungewöhnliche<br />
Hitze sinnieren, die uns in Zukunft<br />
vermutlich zu großen Zugeständnissen zwingen<br />
wird. Nicht über die dadurch entstehende Wasserknappheit,<br />
Walbrände und nicht über ihre<br />
langfristigen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt.<br />
Ein Sommer, der endlich wieder ein bisschen<br />
weniger von Covid-19 gekennzeichnet<br />
wird, in dem wir endlich ein wenig reisen, das<br />
Meer wieder genießen und fremde Länder besuchen<br />
können. Fast so ein Sommer, wie er einst<br />
war. Nein, ich möchte mich kurz nicht mit den<br />
rasant steigenden Infektionszahlen, den tragischen<br />
und langfristigen Folgen der Infektionen<br />
befassen. Und auch nicht damit, was uns<br />
im Herbst covidtechnisch erwartet.<br />
Ich möchte gerne auf den nächtlichen Sommerhimmel<br />
blicken und die Sterne betrachten<br />
und mir dabei nicht überlegen müssen, ob<br />
die Flieger, die über unserem Urlaubsort in der<br />
Nähe eines NATO-Flughafens fliegen, glückliche<br />
Urlauber oder nervöse Soldaten transportieren.<br />
Und während ich versuche, die aufgeheizten<br />
Räume ein wenig abzukühlen, möchte ich nicht<br />
darüber nachdenken, ob wir im Winter das<br />
Thermostat weiterhin unbedacht auf eine für<br />
uns angenehme Temperatur einstellen werden<br />
können, oder aus vielerlei Gründen versuchen<br />
werden, es ein paar Grade herunterzudrehen.<br />
Und ich möchte mir im herrlichen Sommerwetter<br />
kurz nicht vorstellen müssen, wie viele Menschen<br />
in Europa sich das Heizen bald kaum oder<br />
gar nicht mehr leisten werden können.<br />
Und während ich mich endlich wieder durch<br />
herrliche Kunstausstellungen schlinge und die<br />
zahlreichen Sommerkulturfestivals genieße,<br />
möchte ich auch nicht darüber reflektieren,<br />
wie ein documenta-Skandal diesen Ausmaßes<br />
entstehen konnte. Wie im Jahr <strong>2022</strong> einer<br />
so renommierten Kunstinstitution in Deutschland<br />
eine derart offensichtliche Fehlentscheidung<br />
passieren kann. Und ob „zu viel“ Zeit seit<br />
der Shoah vergangen sei und ob jene hauchdünne<br />
Schicht der Scham, die in Europa solch<br />
antisemitische Artikulationen zumindest aus<br />
dem öffentlichen Leben für Jahrzehnte verbannt<br />
hatte, wieder brüchig geworden ist.<br />
Oder wird die Gesellschaft durch die Folgen der<br />
Pandemie, die kriegerischen Vorgänge an Europas<br />
Grenze, die Hungersnöte in Nordafrika<br />
und die Klimaerwärmung zunehmend unaufmerksam<br />
für die „Geschmackslosigkeiten“ des<br />
Alltags? Nein, auch über diese Entwicklungen<br />
und deren Folgen möchte ich bei herrlichem<br />
Sonnenschein und Vogelgezwitscher draußen<br />
nicht nachdenken.<br />
Doch da drängt sich leider, kurz bevor ich<br />
mit diesen Zeilen fertig bin, noch die martialische<br />
Stimme eines europäischen Politikers<br />
dazwischen, der in der Hitze seines immerwährenden<br />
Gefechts diesmal vor Tausenden<br />
Anhängern bei einem sommerlichen Politfestival<br />
von „reinen und gemischten Rassen“<br />
spricht, vom baldigen Untergang des Westens<br />
und von der Kriegsverzögerungstaktik Europas<br />
in der Ukraine. Und seine Stimme – wie auch<br />
die seiner Fangemeinde – ist so laut, dass ich<br />
nicht weghören kann. Und ich hoffe auch sonst<br />
niemand, denn diese Hassrede ist eine zu lebendige<br />
Reminiszenz an eine Zeit, die Leid, Tod<br />
und Grauen bedeutet hat. Nein, ich möchte<br />
darüber in diesem Sommer nicht nachdenken<br />
– doch ich fürchte, das werde ich müssen,<br />
denn wie es bereits vor Jahren in der immer<br />
noch großartigen Fantasy-Serie Game of Thrones<br />
geheißen hat: Winter is coming*. Der Winter<br />
naht. Und seine kühlen Winde sind bereits<br />
im Sommer zu spüren.<br />
„Und während wir<br />
jetzt einen der<br />
heißesten Sommer<br />
unseres Lebens<br />
erleben, sollten wir<br />
bedenken, dass dieser<br />
vielleicht einer der<br />
kühlsten Sommer<br />
für den Rest unseres<br />
Lebens sein<br />
könnte....“<br />
Diana Ürge-Vorsatz,<br />
Klimawissenschaftlerin und<br />
Professorin an der CEU<br />
*© wellington/pixabay *Winter is Coming: Why Vladimir Putin and the Enemies of the Free World Must Be Stopped, so<br />
lautet auch der Buchtitel des russischen Schachweltmeisters und Oppositionspolitikers<br />
Garry Kasparov, das 2016 erschienen ist.<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
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S.40<br />
Shelly Kupferberg ist gebürtige Israelin und<br />
lebt als Kulturjournalistin und Autorin in Berlin.<br />
INHALT<br />
„Mein Großvater hat<br />
seinen Namen Walter<br />
Grab als Historiker so<br />
verstanden:<br />
Walter, grab!“<br />
IMPRESSUM:<br />
Shelly Kupferberg<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
Herstellungsort: Bad Vöslau<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 Weiße Flecken<br />
Seit 1998 gibt es in Österreich das<br />
Kunst rückgabe gesetz. Trotzdem gibt<br />
es immer noch weiße Flächen – zum<br />
Beispiel im Salzkammergut.<br />
12 Die Welt ein bisschen<br />
besser machen<br />
Forschen, feiern, den öffentlichen<br />
Raum erobern und über Stereotypen<br />
nachdenken. Direktorin Barbara<br />
Staudinger hat im Jüdischen Museum<br />
Wien viel vor.<br />
16 Viele Arten jüdisch zu sein<br />
Der langjährige Gewerkschafterin<br />
und Frauenrechtlerin Dwora Stein<br />
macht das Engagement im Jüdischen<br />
Museum Wien, bei ESRA und im MZ<br />
große Freude.<br />
22 Viele Wege führen<br />
zur Matura<br />
Zuerst Beruf und dann die Matura:<br />
Zahlreiche Jugendliche entscheiden<br />
sich für die Berufsreifeprüfung – und<br />
den vorbereitenden Lehrgang dazu<br />
im JBBZ.<br />
26 Wiesenthals Schätze<br />
Sandra B. Weiss ist Leiterin des Archivs<br />
im Wiener Wiesenthal Institut, wo ihre<br />
Arbeitstage manchmal zu wenige Stunden<br />
haben.<br />
32 Ein Hochstapler mit<br />
Leidenschaft<br />
Jeschiwa-Bocher, Parlamentsabgeordneter,<br />
christlicher Missionar und buddhistischer<br />
Mönch – Ignaz Trebitsch vertrat<br />
jede Weltanschauung mit der Leidenschaft<br />
eines Missionars.<br />
35 Admiral Rickover und<br />
die Reaktoren<br />
Hyman Rickover kam aus einem polnischen<br />
Stetl und wurde zum Vater amerikanischen<br />
Nuklearflotte.<br />
„Eine Weltchronik berichtet,<br />
dass Abraham nach der Sintflut<br />
sein Reich<br />
in Wien gegründet<br />
hat.“<br />
Barbara Staudinger<br />
S.12<br />
S.29<br />
Wie man sie in Schale wirft: hilfreiche Utensilien für<br />
ein gutes neues Jahr!<br />
2 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 2 16.09.22 05:58
KULTUR<br />
WINA wünscht allen Leserinnen und Lesern<br />
und Gmar Chatima Towa!<br />
40 Was bleibt von einem, wenn<br />
nichts von einem übrig bleibt<br />
Kulturjournalistin Shelly Kupferberg hat<br />
sich auf berührende Spurensuche nach<br />
Urgroßonkel Isidor begeben.<br />
43 Der unterbrochene Wald<br />
Georges-Arthur Goldschmidt erzählt<br />
von seiner Kindheit in ständiger Todesangst.<br />
Übersetzt von Peter Handke.<br />
44 Das Leben und die Musik<br />
Laurence Dreyfus über seine Leidenschaft<br />
für die Gambe, Erotik bei Wagner<br />
und die Nigunim in der Synagoge.<br />
47 Sex and Crime in Be’er Sheva<br />
Das Krimidebüt der 87-jährigen Autorin<br />
Shulamit Lapid – Mutter des israelischen<br />
Premierministers Jair Lapid.<br />
48 Deutscher, Jude, Schauspieler<br />
Christian Berkel erzählt in seinem Buch<br />
Apfelbaum über seine Mehrfachidentität<br />
und der Suche nach den eigenen<br />
Wurzeln.<br />
51 Leben in Wien,<br />
Überleben in London<br />
Journalist und Autor Andrew Nagorski<br />
rekonstruiert in seinem jüngsten Buch<br />
die späte und komplizierte Flucht des<br />
Sigmund Freud nach England.<br />
54 Postergirl Anne Frank<br />
Amsterdam – eine Stadt der Gegensätze<br />
zwischen kolonialem Muff und<br />
bunter Weltoffenheit.<br />
51 Jüdisches Lendava<br />
Friedhof und Synagoge erzählen von<br />
der jüdischen Geschichte Sloweniens.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
WINA ONLINE:<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />
Coverfoto:Eloisa Ramos / Westend61 / picturedesk.com<br />
11 Shame on Salzburg<br />
Wie unwürdig die Stadt sich an<br />
Marko Feingold (nicht) erinnert.<br />
Ein Lokalaugenschein<br />
20 Die Gegenwart der<br />
Zukunft<br />
Wahlkämpfende und TikTok-Stars<br />
in der herbstlichen Morgenluft Tel<br />
Avivs.<br />
29 Schana Towa<br />
Stilvolle Utensilien die für ein gutes<br />
neues Jahr sorgen!<br />
30 LaLaLaune<br />
Weil gutes Essen gute Laune macht:<br />
vegane Revolution in der Neustiftgasse.<br />
31 Des Kaisers Schmarren<br />
Wie der Schmarrn zu seinem Adelstitel<br />
und der Granatapfel zum Hühnchen<br />
kam.<br />
61 That’s Entertainment<br />
Paul Divjaks Bestandsaufnahme<br />
nach 24 Stunden Selbstversuch im<br />
TikTok-Universum.<br />
62 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den <strong>Oktober</strong><br />
64 Das letzte Mal<br />
Rapper Ben Salomon über Rap,<br />
Judentum und seine Tochter-<br />
Vater-Battles.<br />
„Zuerst stirbt der<br />
Mensch,dann die<br />
Erinnerung an ihn.<br />
Für diesen<br />
zweiten Tod<br />
tragen wir<br />
Nachgeborenen<br />
die Verantwortung.“<br />
Christian Berkel<br />
S.48<br />
Christian Berkel ist<br />
Schauspieler und Regisseur. In<br />
seinem Roman Der Apfelbaum<br />
hat er seine Auseinandersetzung<br />
mit seiner jüdischen Identität<br />
literarisch aufgearbeitet.<br />
wına-magazin.at<br />
3<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 3 16.09.22 05:58
96<br />
ist der Zahlenwert<br />
des hebräischen<br />
Wortes tzav, die Wurzel<br />
des Wortes mitzvah. Daran erinnerte<br />
der britische Konservative<br />
Baron David Wolfson, der<br />
unter Boris Johnson als Justizminister<br />
diente, in seiner Trauerrede<br />
im Londoner Oberhaus nach dem<br />
Tod von Queen Eliza-beth II: „Ihre verstorbene<br />
Majestät hat ihr ganzes Leben<br />
damit verbracht, das Richtige zu tun,<br />
und zwar nicht nur, weil ihr danach<br />
war oder weil es ihr gerade in den Sinn<br />
kam. Sie hat ihre 96 Jahre damit verbracht,<br />
tagein, tagaus das Richtige zu<br />
tun, aus einem bewussten Pflichtgefühl<br />
heraus.“<br />
BEIT HA’CHAJIM<br />
HAUS DES LEBENS<br />
Der jüdische Friedhof von Graz<br />
Vom Tod und Sterben im Judentum<br />
Seit fast 160<br />
Jahren dient der<br />
jüdische Friedhof<br />
von Graz den Juden<br />
als Begräbnis-<br />
platz. Er ist heute<br />
einer der letz-<br />
ten, regelmäßig<br />
genutzten jü-<br />
dischen Friedhöfe<br />
Österreichs.<br />
Auf ihm fanden<br />
bekannte Persön-<br />
lichkeiten wie die<br />
Fotografin Dora<br />
Kallmus oder der<br />
Drehbuchautor und Filmregisseur Peter Paul Felner ebenso ihre<br />
letzte Ruhestätte wie Funktionäre der jüdischen Gemeinde oder<br />
lokale Wirtschaftsgrößen. Untermalt von Gedichten und literarischen<br />
Szenen jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller<br />
erzählt Elie Rosen von hier Bestatteten und der wechselhaften<br />
Geschichte des Ortes. Begleitet wird er dabei vom slowenischen<br />
Fotografen Le.Luka, der dem Friedhof und seinen Toten mit<br />
außergewöhnlichen Schwarzweißaufnahmen ein<br />
ergreifend-künstlerisches Denkmal setzt.<br />
HIGHLIGHTS | 01<br />
„Seit jeher hat die Königin ihr Leben der Toleranz<br />
und Menschenwürde gewidmet und<br />
dazu beigetragen, das Vermächtnis von<br />
Sir Winston Churchill und der Millionen<br />
Menschen, die mit ihrem<br />
Opfer den Nationalsozialismus<br />
besiegt haben, zu bewahren<br />
und darauf aufzubauen.“<br />
Prinzessin<br />
Elizabeth mit einem<br />
ihrer geliebten Corgis<br />
1936 in London.<br />
Entscheidendes<br />
Treffen: Yair<br />
Lapid (li,) traf Ende Juli<br />
in Amman mit Jordaniens<br />
König Abdullah<br />
II. zusammen, um das<br />
gemeinsame Projekt an<br />
den Start zu bringen.<br />
Business Park<br />
auf beiden Seiten<br />
des Jordan<br />
In das lange schläfrige Projekt<br />
Jordan Gateway könnte jetzt<br />
Bewegung kommen.<br />
Die<br />
grenzüberschreitende<br />
Industriezone Israels mit<br />
Jordanien schlummerte lange<br />
Jahre dahin – einen ersten Vorschlag<br />
dafür gab es immerhin<br />
schon 1994. Jetzt könnte Bewegung<br />
in das Projekt kommen.<br />
Nach einem offiziellen Besuch<br />
von Premierminister Yair Lapid bei<br />
König Abdullah II. in Amman hat die<br />
israelische Regierung einen Beschluss gefasst,<br />
die Umsetzung des Jordan Gateway-<br />
Projekts zu beschleunigen – der gemeinsamen<br />
Industriezone zwischen dem Staat<br />
Israel und dem haschemitischen Königreich<br />
Jordanien.<br />
Die geplante Freihandelszone befindet<br />
sich südlich vom See Genezareth, weniger<br />
als 70 Kilometer östlich von Haifa, dem<br />
nächstgelegenen Hafen. Die Idee dahinter<br />
ist, eine Art Drehscheibe für Produkte zwischen<br />
Jordanien und Israel, aber auch für<br />
Exporte in Richtung EU und USA zu etablieren.<br />
Der größere Teil des Parks liegt in Jordanien,<br />
dort finden sich derzeit einige kleinere<br />
Produktionsbetriebe mit insgesamt rund<br />
500 Beschäftigten. Der kleinere Teil auf israelischer<br />
Seite ist noch unbebaut, gedacht<br />
ist hier unter anderem an einen Hightech-<br />
Park und ein Medizinzentrum. Eine Brücke<br />
über den Jordan zwischen den beiden Teilen<br />
wurde bereits errichtet. RE<br />
Von Elie Rosen<br />
4 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong> Amalthea Signum Verlag<br />
© YOUSEF ALLAN / AFP / picturedesk.com; © Illustrated London News Ltd / Mary Evans / picturedesk.com<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 4 16.09.22 05:58<br />
WUT
Provenienzforschung in den Regionen<br />
Seit 1998 gibt es in Österreich das Kunstrückgabegesetz.<br />
Seit diesem Jahr durchforstet auch die Kommission<br />
für Provenienzforschung die Museen des<br />
Bundes nach Exponaten, die einst jüdische Besitzer<br />
hatten und diesen entzogen wurden. So sie beziehungsweise<br />
deren Nachkommen ausgeforscht werden<br />
können, kommt es dann zur Rückgabe der betreffenden<br />
Objekte. Auch auf Länderebene gibt es<br />
inzwischen entsprechende Gesetzgebungen. Anders<br />
sieht es aber im Bereich der Regionalmuseen aus.<br />
Über einen weißen Fleck der Provenienzforschung<br />
am Beispiel des Salzkammerguts.<br />
Von Alexia Weiss<br />
WEISSE FLECKEN<br />
Monika Löscher ist<br />
nicht nur Provenienzforscherin<br />
im<br />
Kunsthistorischen<br />
Museum und damit<br />
Mitglied der<br />
Kommission für Provenienzforschung des<br />
Bundes, sie urlaubt auch seit vielen Jahren<br />
gerne im Salzkammergut. Seit 2014 ist sie<br />
auch dort museal engagiert, und zwar als<br />
Mitglied des Vereins Arbeitsgemeinschaft<br />
Ausseer Kammerhofmuseum. Dieses im<br />
Jahr 1395 erstmals urkundlich erwähnten<br />
Kammerhof untergebrachte Museum versteht<br />
sich laut eigener Definition als „Heimatmuseum,<br />
das in erster Linie zur kulturellen<br />
Identität der Region beitragen<br />
und Bezugspunkt für Identitätsdiskussionen<br />
sein will“.<br />
13 Abteilungen umfasst die Dauerausstellung<br />
des 1950 gegründeten Museums,<br />
wie die ehrenamtliche Leiterin Sieglinde<br />
Köberl erläutert. Sie ist die Obfrau jenes<br />
Vereins, der das Museum im Auftrag der<br />
Gemeinde Bad Aussee leitet. Bei zwei dieser<br />
Abteilungen wäre nach Ansicht Löschers<br />
eine genaue Abklärung der Herkunft<br />
einiger Exponate und wie sie genau<br />
den Weg ins Museum fanden, wünschenswert.<br />
Es handelt sich dabei einerseits um<br />
eine historische Trachtensammlung und<br />
andererseits um den Bereich Ausseer<br />
Handdruck. In beiden Sammlungen finden<br />
sich Objekte, die sich einst im Besitz<br />
der in der Gegend bekannten Familie<br />
Mautner befanden.<br />
Einerseits hatte der 1924 verstorbene<br />
Konrad Mautner gemeinsam mit seinem<br />
Bruder Stephan Trachten aus der Steiermark<br />
aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />
gesammelt. Konrads Witwe Anna<br />
Mautner wiederum begründete mit alten<br />
Modeln aus der stillgelegten südsteirischen<br />
Stoffdruckerei Gagl und neu entwickelten,<br />
chemisch hergestellten Farben<br />
1935 mit ihrem zunächst in Grundlsee,<br />
später auch in Wien angemeldeten Gewerbe<br />
Grundlseer Handdruck den Ausseer<br />
Handdruck. Dabei ordnete sie mehrere<br />
Muster und Farben übereinander an<br />
und schuf so mit altem Handwerk innovative<br />
Stoffe.<br />
Noch 1938 wurden sowohl die Trachtensammlung<br />
wie auch das Inventar der<br />
Handdruckfirma samt Modeln beschlagnahmt.<br />
Anna Mautner wurde zudem gezwungen,<br />
beides unter Wert zu verkaufen.<br />
Den Zuschlag bekam der nationalsozialistische<br />
Bürgermeister von Bad Aussee,<br />
Hanns Wöll, so Köberl. Wöll war Mitbegründer<br />
des Heimathauses, eines Museums,<br />
um dessen Eröffnung 1942 sich<br />
viele Persönlichkeiten bemüht hätten, so<br />
die Museumsleiterin. Die Mautner’sche<br />
Trachtensammlung wurde in diesem<br />
„Heimathaus“ gezeigt. Weitere Exponate<br />
seien Spenden und Leihgaben der örtlichen<br />
Bevölkerung gewesen, betont Köberl.<br />
Die Modeln wurden von Wöll dagegen<br />
beruflich eingesetzt, dazu später mehr.<br />
Wie aber kamen Teile der Mautner’schen<br />
Trachtensammlung und Modeln schließlich<br />
ins heutige Museum (das nicht der<br />
Rechtsnachfolger dieses Heimathauses<br />
ist, da dieses aufgelöst wurde, wie Köberl<br />
betont)? Und unter welchen Rahmenbedingungen?<br />
© Martin R¸gner / Westend61 / picturedesk.com<br />
6 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 6 16.09.22 05:58
Beispiel Salzkammergut<br />
© Martin R¸gner / Westend61 / picturedesk.com<br />
Monika Löscher regte an, sich eben das<br />
genauer anzusehen. Im Herbst 2019 organisierte<br />
sie zunächst einen Workshop zum<br />
Thema Kunstraub und -politik in der NS-<br />
Zeit im Ausseerland sowie zur Geschichte<br />
des Heimathauses. Und sie nahm Kontakt<br />
mit der Leitung von Salzkammergut<br />
2024 auf. Erstmals in der 37-jährigen Geschichte<br />
der Europäischen Kulturhauptstadt<br />
schließen sich dabei 23 Gemeinden<br />
zu einer Kulturhauptstadt im ländlichen<br />
Raum zusammen. Löscher ortete hier<br />
eine Möglichkeit, im Rahmen dieses Kulturjahres<br />
Provenienzforschung in den 40<br />
Museen in dieser Region anzustoßen.<br />
Der Projektvorschlag, den sie schließlich<br />
gemeinsam mit Birgit Johler, Kuratorin<br />
im Volkskundemuseum Graz, unter dem<br />
Titel Was wurde aus ...? Provenienzforschung<br />
in den Regionalmuseen im Salzkammergut ausarbeitete,<br />
stieß beim zunächst eingesetzten<br />
Leiter, Stephan Rabl, auf Interesse.<br />
Er regte sogar an, das Projekt größer zu<br />
denken und im Projektantrag drei Bereiche<br />
– Forschung, Vermittlung und Präsentation<br />
sowie Nachhaltigkeit und Verwertbarkeit<br />
– auszuformulieren, erzählt<br />
Löscher. Das war im Februar 2021. Als Finanzierungsbedarf<br />
dafür hatten die beiden<br />
einen Betrag von 536.200 Euro veranschlagt,<br />
wobei sie 90.000 Euro an<br />
Drittmitteln eingeplant hatten. Für etwas<br />
über 50.000 Euro davon hatten sie<br />
bereits konkrete Zusagen.<br />
Das Europäische Kulturjahr<br />
Salzkammergut<br />
2024 war schon nahe am<br />
Zuschlag für ein wichtiges<br />
Pilotprojekt zur lokalen Provenienzforschung.<br />
Nun ist es<br />
endgültig gescheitert. Doch<br />
warum?<br />
„Wir sind nach<br />
wie vor davon<br />
überzeugt, dass<br />
eine kritische<br />
Auseinandersetzung<br />
mit der<br />
Geschichte sowie<br />
der Anstoß für<br />
eine umfassende<br />
Provenienzforschung<br />
in den<br />
Regionalmuseen<br />
im Salzkammergut<br />
dringend<br />
geboten ist.“<br />
Birgit Johler,<br />
Monika Löscher<br />
Doch im März 2021 wurde Rabl als Leiter<br />
von Salzkammergut 2024 abgesetzt,<br />
und in der Folge hing die Finanzierung<br />
des Projekts in der Luft. Im Bidbook, das<br />
ist eine Art Bewerbungsmappe für die jeweilige<br />
Kulturhauptstadt, mit der es dem<br />
Salzkammergut überhaupt erst gelungen<br />
war, sich 2024 als Kulturhauptstadt präsentieren<br />
zu können, wurden für dieses<br />
Vorhaben lediglich 150.000 Euro veranschlagt.<br />
Mehrmals wiesen Löscher und<br />
Johler darauf hin, dass diese Mittel nicht<br />
ausreichen, redimensionierten das Konzept<br />
allerdings und legten es im <strong>Oktober</strong><br />
2021 nochmals vor. Das dafür veranschlagte<br />
Budget lag nun bei 218.150 Euro.<br />
Doch plötzlich wurden nicht einmal die<br />
150.000 Euro seitens Salzkammergut 2024<br />
als fix kommuniziert und darüber hinaus<br />
erklärt, dass sich das Projektteam um<br />
mehr Drittmittel bemühen müsse.<br />
Für Löscher und Johler war dies<br />
schließlich der Punkt, an dem sie der<br />
neuen Leiterin des Kulturjahres, Elisabeth<br />
Schweeger, mitteilten, dass eine Realisierung<br />
des Projekts mit so wenig Mitteln<br />
nicht möglich sei und sie es daher zurückziehen.<br />
In dem Schreiben an Schweeger<br />
im Jänner <strong>2022</strong> hielten sie aber auch fest:<br />
„Wir sind nach wie vor davon überzeugt,<br />
dass eine kritische Auseinandersetzung<br />
mit der Geschichte sowie der Anstoß für<br />
eine umfassende Provenienzforschung in<br />
den Regionalmuseen im Salzkammergut<br />
dringend geboten ist (ein besonders be-<br />
wına-magazin.at<br />
7<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 7 16.09.22 05:58
Strukturelles Problem<br />
passieren, wenn es durch die Forschung<br />
eventuell zu Restitutionsansprüchen<br />
käme?“ Gut vorstellen könne sie sich dagegen<br />
Rahmenprogramme für Bewusstseinsbildung.<br />
Allerdings sei sie auch der Ansicht, dass<br />
Provenienzforschung nicht nur in Bundes-<br />
und Landesmuseen durchgeführt<br />
werden sollte, sondern auch in den kleinen<br />
Museen im ländlichen Raum, die teils<br />
durch Gemeinden, teils durch private Vereine<br />
ehrenamtlich geführt werden. Diese<br />
Forschung müsse dann allerdings „auch<br />
gesetzlich ordentlich geregelt werden“.<br />
Was das Salzkammergut anbelange, sei es<br />
zwar nicht so, dass diesbezüglich noch gar<br />
nichts passiert sei. „Aber es gibt eben auch<br />
Bestände, in denen es noch zu keiner Aufarbeitung<br />
gekommen ist.“ Was sie daher<br />
nun gemacht habe: Sie habe Kontakt mit<br />
dem Bundeskanzleramt und den Landeshauptleuten<br />
aufgenommen und gebeten,<br />
dass Provenienzforschung im ländlichen<br />
Raum, ähnlich wie in Deutschland durch<br />
das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste,<br />
auch in privaten Einrichtungen finanziell<br />
unterstützt wird.<br />
Johler kann diese Argumentation nicht<br />
ganz nachvollziehen. Bei dem für Salzkammergut<br />
2024 eingereichten Projekt<br />
sei es nicht um eine umfassende Provenienzforschung<br />
in allen 40 Museen der<br />
Region gegangen, sondern vielmehr um<br />
„Probebohrungen“, aber auch um Knowhow-Transfer<br />
an die Museen, die sich bereit<br />
erklärt hätten, hier teilzunehmen.<br />
Man habe sich als Angebot verstanden, als<br />
Hilfestellung. Die Idee sei gewesen, hier<br />
einmal von außen einen Bewusstseinsbilschämendes<br />
Beispiel dafür ist die beigelegte<br />
Korrespondenz um die Objekte der<br />
Sammlung Mautner im Kammerhofmuseum<br />
Bad Aussee, das sich bis heute einer<br />
kritischen Auseinandersetzung verweigert.)“<br />
Nun stellt sich die Frage: Warum ist<br />
ein Projekt, das zunächst begrüßt wird,<br />
schließlich nicht mehr willkommen? Löscher<br />
sieht hier einerseits ein strukturelles<br />
Problem. In Deutschland gebe es mit<br />
dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste<br />
eine Anlaufstelle, aber auch Finanzierung<br />
von Provenienzforschung für Regionalmuseen.<br />
In Österreich seien die<br />
Regionalmuseen dagegen leider ein weißer<br />
Fleck, wenn es um die Aufarbeitung<br />
der Herkunft von Sammlungsexponaten<br />
geht.<br />
Sie ortet allerdings auch Vorbehalte<br />
seitens der örtlichen Verantwortlichen.<br />
Konkret bezogen auf ihre Bemühungen,<br />
die Sammlung des Kammerhofmuseums<br />
professionell aufzuarbeiten, sei sie mit informell<br />
getätigten Aussagen konfrontiert<br />
gewesen, dass sich Widerstand gegen ein<br />
solches Projekt formiere. Sinngemäß habe<br />
es da geheißen: Man wolle am Thema Nationalsozialismus<br />
nicht anstreifen.<br />
WINA kontaktierte Elisabeth Schweeger,<br />
um zu erfragen, woran es aus ihrer Sicht<br />
schließlich hakte, dass das Projekt nicht<br />
die nötige Finanzierung im Rahmen von<br />
Salzkammergut 2024 erhält. Weil Provenienzforschung<br />
nicht die Aufgabe der Kulturhauptstadt<br />
sei, meinte sie, denn 2025<br />
werde es die Kulturhauptstadt GmbH<br />
nicht mehr geben. „Und was würde dann<br />
Die Aufarbeitung<br />
der<br />
Bestände von<br />
Regionalmuseen<br />
scheint<br />
schließlich an<br />
der fehlenden<br />
Zuständigkeit<br />
zu scheitern.<br />
dungsprozess anzustoßen, der offenbar<br />
von innen nicht so recht in Gang komme.<br />
Der Stups von außen: Diesen hatte ja<br />
auch Schweeger mit ihrer Kontaktaufnahme<br />
von Bund und Ländern im Sinn.<br />
Allein: Wie die weiteren WINA-Recherchen<br />
zeigten – das Ansprechen des Themas<br />
Provenienzforschung fühlt sich ein bisschen<br />
an wie eine heiße Kartoffel. Jedem ist<br />
die Wichtigkeit des Themas bewusst. Aber<br />
Österreich ist föderal organisiert – und die<br />
Aufarbeitung der Bestände von Regionalmuseen<br />
scheint schließlich an der fehlenden<br />
Zuständigkeit zu scheitern.<br />
Pia Schölnberger ist die Leiterin der<br />
Kommission für Provenienzforschung im<br />
Ministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher<br />
Dienst und Sport. Für sie ist die Sachlage<br />
ganz klar: „Der Bund ist nicht zuständig<br />
für Sammlungen, die nicht in seinem<br />
Eigentum stehen.“ Sie betont aber auch:<br />
Der Kunstrückgabebeirat könne auch von<br />
Dritten, wie beispielsweise Vereinen oder<br />
Gemeinden, angerufen werden. Wie ein<br />
Verein oder eine Gemeinde mit der Beiratsempfehlung<br />
umgehe, liege dann allein<br />
in seiner oder ihrer Verantwortung.<br />
„Wir bieten seit Jahren an, andere Institutionen<br />
etwa mit der Bereitstellung von<br />
Expertise oder dem Transfer von Methodenwissen<br />
zu unterstützen. Aber es gibt<br />
hier keinen gesetzlichen Auftrag.“ Sie begrüße<br />
jedenfalls alles, war zur Bewusstseinsbildung<br />
in Sachen Provenienzforschung<br />
beitrage.<br />
Ähnliches verlautet aus den Ländern. WINA<br />
fragte hier bei jenen drei Bundesländern<br />
an, in denen das Salzkammergut liegt:<br />
Oberösterreich, der Steiermark und Salzburg.<br />
Martina Berger-Klingler, Referentin<br />
für Kunst und Kultur im Büro des für Kultur<br />
zuständigen Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreters,<br />
Heinrich Schellhorn,<br />
meinte etwa, wenn im Zug der Inventarisierung<br />
von Beständen etwas mit<br />
zweifelhafter Provenienz auftauchen<br />
würde, „leisten wir natürlich Unterstützung<br />
und Hilfe“. Aber zu Provenienzforschung<br />
verpflichten können man die Regionalmuseen<br />
nicht. Zudem stehe die<br />
Provenienzforschung in Regionalmuseen<br />
„nicht als oberstes auf unserer Todo-Liste.<br />
Worum wir uns derzeit aber<br />
bemühen, ist ein Professionalisierungsschwerpunkt<br />
für diese Häuser, etwa durch<br />
Digitalisierung und vollständige Inventarisierung.“<br />
Patrick Schnabl ist Leiter der Abteilung<br />
Kultur, Europa und Sport im Amt der Stei-<br />
8 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 8 16.09.22 05:58
Wert der Bestände<br />
Die entscheidende<br />
Frage sei<br />
also nicht, wie<br />
hoch der monetäre<br />
Wert sein,<br />
sondern, „ist<br />
das Objekt unrechtmäßig<br />
erworben<br />
worden<br />
oder nicht?“<br />
Brigitte Johler<br />
vatsammlungen, zum Teil seien Vereine<br />
Träger, zum Teil Gemeinden. Eine einheitliche<br />
gesetzliche Lösung, die alle Regionalmuseen<br />
umfasse, sei daher kaum möglich.<br />
Eine weitere Besonderheit bei regionalen<br />
Sammlungen: Sie werden oft von ehrenamtlich<br />
Tätigen geführt, erklärt Johler. So<br />
fehle in vielen Häusern oft Grundlegendes,<br />
wie etwa eine professionelle Inventarisierung.<br />
Löscher und Johler waren im Zug ihrer<br />
Bemühungen auch immer wieder mit<br />
dem Argument konfrontiert, bei den Objekten<br />
in Regionalmuseen handle es sich<br />
ja nicht um große, wertvolle Kunstschätze,<br />
wie sie dann bei der Restitution von Objekten<br />
aus Bundesmuseen in den vergangenen<br />
beiden Jahrzehnten immer wieder<br />
für Schlagzeilen sorgten. Nachhaltig in Erinnerung<br />
ist hier vor allem Gustav Klimts<br />
Gemälde Goldene Adele, das sich bis 2006<br />
im Belvedere befand. Nach einem Jahre<br />
langen Rechtsstreit von Maria Altmann<br />
gegen die Republik Österreich ging es<br />
schließlich an die Erbengemeinschaft des<br />
Paares Adele und Ferdinand Bloch-Bauer.<br />
2015 wurde die Geschichte dieses Prozesses<br />
auch fürs Kino verfilmt (Die Frau in Gold<br />
mit Helen Mirren als Maria Altmann).<br />
Ob etwas an die Erben der ehemaligen<br />
Besitzer oder Besitzerinnen zurückermärkischen<br />
Landesregierung. Auch er<br />
unterstreicht: Es könnte gemäß Landeskunstrückgabegesetz<br />
aus dem Jahr 2000<br />
nur zurückgegeben werden, was dem<br />
Land gehöre. Laut Geschäftseinteilung<br />
des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung<br />
sei seine Abteilung aber auch<br />
zuständig für den Bereich „Angelegenheiten<br />
der steirischen Regionalmuseen“.<br />
Und Schnabl betont, dass dabei auch das<br />
Thema Provenienzforschung ein Anliegen<br />
sei. Im Juli des Vorjahres sei hier bereits<br />
eine Veranstaltung zum Thema Provenienzforschung<br />
in Regionalmuseen angeboten<br />
worden. Das Land mache hier Angebote<br />
– diese müssen aber auch von den<br />
betroffenen Einrichtungen angenommen<br />
werden. Schnabl bedauert, dass das von<br />
Löscher und Johler designte Projekt im<br />
Rahmen Salzkammergut 2024 nun nicht<br />
zustande kommt. „Aufgrund der aktuellen<br />
Maßnahmen diesbezüglich des Landes<br />
Steiermark sowie der Universalmuseum<br />
Joanneum GmbH wäre das Zustandekommen<br />
dieses Projekts auf jeden Fall begrüßenswert<br />
gewesen.“<br />
Seitens Oberösterreichs meint Astrid<br />
Windtner von der Abteilung Kultur im<br />
Amt der Oberösterreichischen Landesregierung,<br />
die Letztentscheidung, welche<br />
Projekte aus dem Bidbook umgesetzt<br />
werden, treffe die künstlerische Leitung<br />
von Salzkammergut 2024. „Der Bund sowie<br />
die Länder Oberösterreich und Steiermark<br />
sind lediglich Fördergeber und finanzieren<br />
die Kulturhauptstadt zu zwei<br />
Drittel (mit insgesamt 20 Millionen Euro,<br />
davon rund 8,8 Millionen Euro aus Oberösterreich).“<br />
Man würde es aber begrüßen,<br />
würde die Kulturhauptstadt GmbH<br />
das Projekt aufgreifen und umsetzen. Dieses<br />
wäre „ein erster wichtiger Schritt, auch<br />
die Regionalmuseen in die Provenienzforschung<br />
einzubeziehen“. Auf Landesebene<br />
gebe es seit 2002 ein Restitutionsgesetz.<br />
Dieses sei aber eben nur Grundlage für<br />
die Rückgabe von Kunstgegenständen,<br />
die sich im Besitz des Landes Oberösterreich<br />
befänden. Hier bekenne sich das<br />
Land dazu, alle Seiten der Geschichte –<br />
auch die Schattenseiten – aufzuarbeiten<br />
und das Gedenken an alle Opfer des NS-<br />
Terrors zu wahren.<br />
Die Situation bei Regionalmuseen sei<br />
allerdings komplex, gibt Windtner zu bedenken.<br />
Ihr juristisches Fundament sei<br />
sehr unterschiedlich, je nach Geschichte<br />
und Entwicklung des jeweiligen Hauses<br />
beziehungsweise der jeweiligen Sammlung.<br />
Zum Teil handle es sich um Prigegeben<br />
werden soll, knüpfe sich aber<br />
nicht an den materiellen Wert eines Objekts,<br />
betont Johler. Sie findet es wichtig,<br />
dass jedes Museum schaut, wie Exponate<br />
Teil der Sammlung wurden. Sie sagt aber<br />
auch, dass jedes Objekt auch einen emotionalen<br />
Wert hat. Und wenn eine Familie<br />
nichts von ihren ermordeten Vorfahren<br />
besitze, bereite auch eine Haarbürste oder<br />
eine Rolle Stoff Freude. „Wir wissen aus<br />
vielen Rückgaben, wie auch die Nachfahren<br />
oft emotionale Beziehungen zu diesen<br />
Objekten entwickeln, obwohl man ja<br />
heute gar nicht mehr weiß, welche Beziehung<br />
die Vorfahren zu diesem Objekt hatten.<br />
Aber es ist eine Verbindung da.“ Die<br />
entscheidende Frage sei also nicht, wie<br />
hoch der monetäre Wert sei, sondern, „ist<br />
das Objekt unrechtmäßig erworben worden<br />
oder nicht?“<br />
Und wie geht es nun, da es kein Provenienzforschungsprojekt<br />
im Rahmen<br />
von Salzkammergut 2024 geben wird,<br />
im Kammerhofmuseum in Bad Aussee<br />
weiter? Sieglinde Köberl ist sich dessen<br />
bewusst, dass die Mautner’schen<br />
Bestände einer Aufarbeitung, vor allem<br />
aber eine digitale Inventarisierung bedürfen,<br />
sagt sie im Gespräch mit WINA.<br />
Die Geschichte von Anna Mautners Modeln<br />
sei dabei recht klar. Konkret sei das<br />
Handdruckinventar zunächst beschlagnahmt<br />
worden und dann an den damaligen<br />
Bürgermeister Hanns Wöll gegangen.<br />
(Den hier seitens der Redaktion verwendeten<br />
Begriff „arisiert“ bittet Köberl im<br />
Zug der Freigabe des Textes durch „beschlagnahmt“<br />
zu ersetzen.) Wöll habe in<br />
der NS-Zeit einen eigenen Handdruckereibetrieb<br />
begründet, der aber keinen Erfolg<br />
gehabt habe.<br />
1946 sei Anna Mautner nach Österreich<br />
zurückgekehrt, und die Modeln<br />
seien an sie restituiert worden, oder zumindest<br />
ein Teil – einige seien auch bei<br />
Wöll verblieben, und dessen Sohn Hellmut<br />
habe 1971 erneut eine Handdruckerei<br />
begründet, für die er einerseits Modeln<br />
aus dem Nachlass seines Vaters, aber auch<br />
neue verwendet habe. 2003 sei die Modelsammlung<br />
dem Museum zum Verkauf angeboten<br />
worden, so Köberl weiter. Dieses<br />
habe sich mit Anna Mautner-Wolsey, der<br />
Tochter von Anna Mautner, in Verbindung<br />
gesetzt, „und sie hat uns schriftlich die Erlaubnis<br />
gegeben, sie zu kaufen und auszustellen,<br />
bat aber, dass man sie unter Denkmalschutz<br />
stellt“. Das sei also nachweisbar<br />
geregelt, betont die Leiterin des Kammerhofmuseums.<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 9 16.09.22 05:58
Digitale Inventarisierung<br />
Was die in der NS-Zeit beschlagnahmte<br />
Trachtensammlung anbelange, sei diese<br />
nach 1945 an Anna Mautner restituiert<br />
worden. Diese habe der Gemeinde Bad<br />
Aussee dann den Kauf der Sammlung um<br />
20.000 Schilling angeboten. „Dass 1950<br />
10.000 Schilling an Anna Mautner bezahlt<br />
wurden, steht außer Frage“, sagt Köberl.<br />
„Aber wir konnten bisher den Nachweis<br />
noch nicht erbringen, dass auch der Rest<br />
bezahlt wurde.“<br />
Als ehrenamtlich geführtes Gemeindemuseum<br />
wolle man aber nicht, dass die<br />
Provenienzforschungskommission die<br />
Bestände durchforste, sagt Köberl. „Wir<br />
wollen das selbst aufarbeiten. Wir wollen<br />
selbst recherchieren.“ Nie im Traum habe<br />
sie daran gedacht, dass mit der Sammlung<br />
etwas nicht in Ordnung sei. „Ich gebe zu,<br />
wir haben uns bisher wenig bis gar nicht<br />
mit der Provenienz der Trachtensammlung<br />
Mautner beschäftigt. Aber nun wissen<br />
wir, dass es noch etwas nachzuweisen<br />
gilt.“ Sie habe sich daher ein halbes<br />
Jahr Zeit erbeten (bis zum Jahresbeginn<br />
2023), damit sie und ihre ebenfalls ehrenamtlich<br />
tätigen Kuratoren und „eigene<br />
Zeithistoriker“ Recherchen anstellen.<br />
Bis dahin wolle man auch die digitale<br />
Inventarisierung und fotografische Dokumentation,<br />
vor allem der Sammlung<br />
Historische Trachten mit einigen hundert<br />
Objekten, und die Recherchen zum<br />
Verbleib der Sammlung nach 1945 abgeschlossen<br />
haben. Danach, wenn Recherchen<br />
im Denkmalschutzamt Linz notwendig<br />
wären, würde wahrscheinlich die<br />
Unterstützung der Provenienzforschungskommission<br />
hilfreich sein, so Köberl.<br />
Auch die Leiterin des Kammerhofmuseums<br />
weist darauf hin, dass es eine Professionalisierung<br />
des Museumsbetriebs<br />
brauche. „Ich bin pensionierte Biologin<br />
„Ich gebe zu,<br />
wir haben uns<br />
bisher wenig<br />
bis gar nicht<br />
mit der Provenienz<br />
der Trachtensammlung<br />
Mautner beschäftigt.“<br />
Sieglinde Köberl<br />
und arbeite – so wie auch die Kustoden –<br />
ehrenamtlich für das Museum. Ich würde<br />
die Leitung des Museums gerne in professionelle<br />
Hände übergeben, denn die Arbeit<br />
für das Museum ist trotz Unterstützung<br />
durch die Gemeinde ehrenamtlich<br />
nur mehr schwer leistbar. Wir arbeiten<br />
auch an der Aufarbeitung und digitalen<br />
Inventarisierung unserer Zeitgeschichte-<br />
Bestände. Dafür bedarf es zusätzlicher<br />
Mitarbeiter, die der Ausseer Geschichte<br />
kundig sind.“<br />
Woran diese Professionalisierung bisher<br />
scheiterte? Wie so vieles am Geld. Das<br />
Museum sei in Gemeindebesitz, das Gemeindebudget<br />
erlaube aber keine großen<br />
Sprünge. Die eigenen Einnahmen<br />
seien im Verhältnis zum Arbeitsaufwand<br />
gering. „In den letzten Jahren vor Covid<br />
hatten wir etwa 5.000 Besucher. Heuer ist<br />
ein schlechtes Jahr. Bisher hatten wir nur<br />
1.000 Besucher.“ Urlauber gingen in diesem<br />
Jahr seltener ins Museum, und die<br />
meisten Ausseer kämen nur bei Eröffnungen<br />
neuer Sonderausstellungen oder<br />
in der Langen Nacht der Museen, „da viele<br />
ja ihr Museum kennen“. Nur seitens der<br />
Schulen und an Führungen gebe es weiterhin<br />
beständiges Interesse. Auch für<br />
Marketing, um mehr Besucher und Besucherinnen<br />
anzulocken, sei nur ein geringes<br />
Budget da.<br />
Versuche, den Bad Ausseer Bürgermeister<br />
Franz Frosch telefonisch und per<br />
Mail zu erreichen, um ihn einerseits zu<br />
fragen, ob es nicht doch möglich sei, aus<br />
dem Gemeindebudget eine Professionalisierung<br />
des Museum zu ermöglichen,<br />
aber auch, was er zum Thema Provenienzforschung<br />
und zur Sammlung Mautner<br />
zu sagen hat, scheiterten über mehrere<br />
Tage hinweg. Stets hieß es in seinem<br />
Büro im Stadtamt Bad Ausees, der Bürgermeister<br />
sei auch heute nicht erreichbar,<br />
bis auch die letzte gesetzte Deadline verstrichen<br />
war.<br />
Das Kammerhofmuseum weist übrigens<br />
inzwischen sowohl in der Ausstellung<br />
wie auch auf der Website auf das Schicksal<br />
der jüdischen Familie Mautner und ihre<br />
Sammlungen, die sich heute im Besitz des<br />
Museums befinden, hin. „Wir sind dafür<br />
kritisiert worden und haben es eingesehen.<br />
Da haben wir sicher zu wenig Wert<br />
darauf gelegt, aber nun informieren wir<br />
über die Provenienz der Sammlung Mautner<br />
und ihren Weg in unser Museum“, sagt<br />
Köberl.<br />
Zu diesem Punkt merkt Löscher allerdings<br />
an: In der Vergangenheit, als die<br />
Erben nach Stephan Mautner ihre Trachtenkammer<br />
zurückforderten, habe der<br />
damalige Museumsdirektor Hans Gielge<br />
in der unmittelbaren Nachkriegszeit gesagt,<br />
„wir können uns diese Handlungsweise<br />
der Erben gegen das Vermächtnis<br />
nicht bieten lassen“. Er habe dann eine<br />
Ausfuhrsperre beantragt, und so sei die<br />
Trachtenkammer als unentgeltliche Leihgabe<br />
gegen Ausfuhr der restlichen Sammlung<br />
in Bad Aussee geblieben.<br />
Ganz so geradlinig, wie nun vom Kammerhofmuseum<br />
dargestellt, seien die Abläufe<br />
rund um die Sammlungen der Familie<br />
Mautner eben nicht abgelaufen. Und<br />
auch bezüglich des Verkaufspreises – jene<br />
20.000 Schilling, von denen bisher nur<br />
die Bezahlung der Hälfte seitens des Museums<br />
nachgewiesen werden kann – stelle<br />
sich die Frage, ob es sich dabei um einen<br />
angemessenen Betrag gehandelt habe.<br />
Hierzu wird übrigens auch auf der Museumswebseite<br />
selbst auf eine Publikation<br />
Martin Pollners, er veröffentlich seit<br />
Jahren als Hobby-Historiker Beiträge zur<br />
Geschichte Bad Aussees, verwiesen. Demnach<br />
verwendete er hier die Bezeichnung<br />
„billiges Geld“.<br />
Und so scheint es, dass es eben doch<br />
den Anstoß von Provenienzforscherinnen<br />
wie Monika Löscher braucht, damit<br />
auch in Regionalmuseen die Geschichte<br />
der Bestände lückenlos aufgearbeitet<br />
wird. Es kommt allerdings dem Bohren<br />
harter Bretter gleich, jedes einzelne Museum<br />
hier von seiner diesbezüglichen<br />
Verantwortung zu überzeugen. Was im<br />
Bundesbereich in Sachen Provenienzforschung<br />
bereits gut gelungen ist, braucht<br />
in den Gemeinden wohl noch einen langen<br />
Atem.<br />
10 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 10 16.09.22 05:58
WINA VOR ORT<br />
Eine Schande<br />
für die Stadt Salzburg<br />
Zwei Trampelsteine als unwürdige Erinnerung an den einzigartigen<br />
Marko Feingold. Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert<br />
Am Sonntag, den 28. August <strong>2022</strong>, nur einige Tage<br />
vor dem Ende der Salzburger Festspiele, erwartet<br />
einen auf dem schmalen Steg, der die Salzach überquert,<br />
das gewohnte Bild: Einwohner, aber auch Touristen<br />
aus aller Welt laufen, drängeln oder stehen auf der Brücke,<br />
deren einfaches Gittergeflecht zu beiden Seiten mit tausenden<br />
von farbigen Schlössern behängt ist.<br />
Als Makartsteg bekannt, wurde dieser nach Gemeinderatsbeschluss<br />
der Stadt am 28. Mai 2021 in Marko-Feingold-<br />
Steg umbenannt: An diesem Tag hätte der große jüdische<br />
Sohn dieser Stadt seinen 108. Geburtstag feiern können,<br />
wäre er nicht im <strong>September</strong> 2019 gestorben.<br />
Wir suchen vergeblich nach einem Hinweis auf jenen<br />
Mann, der trotz seines unvorstellbaren Leidensweges während<br />
der Shoah nicht nur dieser Stadt, diesem Land großherzig<br />
verziehen hat, sondern zu einem geliebten Vorbild<br />
tausender Jugendlicher und Schüler:innen wurde, denen er<br />
als jüdischer Zeitzeuge aus seinem Leben erzählte. Zahlreiche<br />
Politiker aller Couleurs schmückten sich jahrzehntelang<br />
mit dem geistreichen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
Salzburgs.<br />
Wo ist das mehrsprachige sichtbare Schild, die Tafel, eine<br />
Stele? Auf beiden Seiten des Stegs heften wir nun die Augen<br />
auf den Boden. Und siehe da: Auf einer Metallplatte, Grau in<br />
Grau, farblich kaum vom Asphalt unterscheidbar, sind vier<br />
Zeilen (jeweils deutsch und englisch) zu Feingold zu finden<br />
– aber nur, wenn gerade niemand darüber hinweg trampelt.<br />
Die Zeile www.marko-feingold.at klingt wie ein Hohn:<br />
„Lesen Sie nach, falls Sie etwas wissen wollen.“<br />
Es ist eine Schande für die Stadt Salzburg, dass man sich<br />
erstens nicht darauf einigen konnte, Marko Feingold eine<br />
Straße oder einen Platz zu widmen (eine Postadresse, wie<br />
es sich seine Witwe Hanna Feingold gewünscht hatte), und<br />
zweitens seelenruhig zulässt, dass Menschen und Hunde auf<br />
diesem sogenannten „Gedenkstein“ stampfen und latschen.<br />
Wenigstens ein Schlössersegment<br />
Grau und<br />
unscheinbar<br />
scheint sich die am<br />
Boden der Brücke<br />
angebracht<br />
Erinnerungstafel<br />
fast verstecken zu<br />
wollen. Ist das so<br />
beabsichtigt?!<br />
des Brückengeländes, hätte man Marko<br />
Feingold frei machen können, denn er<br />
hat der Stadt so viel mehr geschenkt.<br />
Wer in der Salzburger Zivilgesellschaft<br />
noch einen Funken Feingefühl und Bewusstsein<br />
übrighat, sollte sich dafür einsetzen,<br />
dass hier schleunigst etwas geschieht.<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 11 16.09.22 05:58
INTERVIEW MIT BARBARA STAUDINGER<br />
„Stadt ist eigentlich<br />
ein permanentes<br />
Kommen von allen“<br />
Seit 1. Juli ist die Wiener Historikerin Barbara Staudinger Direktorin des<br />
Jüdischen Museums Wien, das ihre Vorgängerin Danielle Spera zwölf Jahre<br />
lang führte. Was sie in und außerhalb des Hauses plant und welche Aufgaben<br />
sie für ein Jüdisches Museum sieht, erklärt sie im Gespräch mit Anita Pollak.<br />
WINA: Sie haben sich früh auf jüdische Geschichte, auch<br />
auf österreichisch-jüdische Geschichte spezialisiert und<br />
Ihre Karriere als Wissenschaftlerin, Kuratorin und zuletzt<br />
als Direktorin des Jüdischen Museums in Augsburg auf diese<br />
Thematik ausgerichtet. Sie sind selbst keine Jüdin und<br />
haben nicht einmal die gern herbeizitierte jüdische Großmutter.<br />
Wie kam es zu diesem ausgeprägten Interesse?<br />
Barbara Staudinger: Ich habe mich im Geschichte-<br />
Studium auf historische Minderheiten spezialisiert<br />
und nach der Diplomarbeit bei einem Forschungsprojekt<br />
zur österreichisch-jüdischen Geschichte im<br />
16. und 17. Jahrhundert mitgearbeitet. Dabei habe ich<br />
gemerkt, dass mich all das, was mich an Minderheiten<br />
interessiert, in der jüdischen Geschichte kulminiert.<br />
Daraufhin habe ich noch berufsbegleitend Judaistik<br />
studiert und Hebräisch gelernt, denn wenn man die<br />
innerjüdischen Quellen nicht interpretieren kann,<br />
sieht man die jüdische Geschichte nur aus der Perspektive<br />
der Obrigkeit, und die jüdische Perspektive<br />
auszulassen bedeutet, nur die halbe Geschichte zu erzählen.<br />
Mir hat die Judaistik sehr viel Spaß gemacht.<br />
Da waren die Türen der Professoren immer offen, und<br />
es gab Vorlesungen mit sieben Leuten.<br />
Welche personelle Veränderungen gibt es noch im JMW?<br />
I Wir haben einen neuen Chefkurator, Hannes Sulzenbacher,<br />
der schon viele Ausstellungen für das Jüdischen<br />
Museum Hohenems gemacht hat, aber auch<br />
für die Jüdischen Museen Berlin und München.<br />
Im Gegensatz zu Augsburg gibt es in Wien eine höchst aktive,<br />
auch streitbare jüdische Gemeinde. Wie war deren Echo<br />
auf die Bestellung einer nicht-jüdischen Direktorin?<br />
I Mein Nicht-Jüdischsein wurde eigentlich nie thematisiert.<br />
Ich denke, den Menschen und der IKG geht es<br />
„Jeder<br />
Mensch,<br />
der im Kulturbereich<br />
arbeitet, will<br />
die Welt ein<br />
bisschen besser<br />
machen.“<br />
Barbara<br />
Staudinger<br />
um Expertise, um Themen und um eine Sensibilität.<br />
Ich glaube, dass ich gut klar machen kann, dass sich<br />
in der Museumsarbeit nichts ändern würde, wenn<br />
ich Jüdin wäre.<br />
Zurück in Ihrer Heimatstadt, fühlen Sie sich jetzt angekommen<br />
und aufgenommen?<br />
I Ja, denn mehr als andere bin ich Wienerin und habe<br />
eine nicht immer logisch erklärbare, aber riesengroße<br />
Liebe zu dieser Stadt. Ich war in meiner Karriere mehrere<br />
Jahre in Deutschland, und es ist wunderschön,<br />
wieder zurückzukommen.<br />
Ihre Vorgängerin hat erfolgreich auf eine Steigerung der Besucherzahlen<br />
gesetzt und diese sogar verdoppelt. Ist diese<br />
Zahl für Sie auch bedeutend bzw. was wäre für Sie ein Gradmesser<br />
des Erfolgs?<br />
I Besucherzahlen sind nicht allein das Ziel einer Direktion.<br />
Sie sind ein Gradmesser für den Mutterkonzern,<br />
denn sie zeigen, ob das Museum ankommt, und<br />
sind auch wirtschaftlich wichtig, aber nur ein Erfolgsparameter<br />
von vielen. Stark ausbaufähig ist hier am<br />
Museum die Form der digitalen Vermittlung und alles,<br />
was in den Outreach-Bereich geht, in den öffentlichen<br />
Raum und andere Institutionen, was sich besucherzahlensmäßig<br />
weniger niederschlägt. Dennoch<br />
finde ich es wichtig, dass jüdische Geschichte nicht<br />
nur im Museum stattfindet und im restlichen Stadtraum<br />
höchstens mit Erinnerungen an den Nationalsozialismus<br />
verbunden wird.<br />
Woran denken Sie da konkret?<br />
I Erstens an Vermittlungsprogramme, wobei nicht<br />
nur Schulen ins Museum kommen, sondern wir<br />
auch in Schulen gehen, was wir in Augsburg sehr<br />
© Daniel Shaked<br />
12 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 12 16.09.22 05:58
Outreach & Vermittlung<br />
erfolgreich gemacht haben. Das baut Hemmungen<br />
und Vorurteile ab. Wir haben dort auch einen<br />
Teil einer Ausstellung, der Shalom Sisters, einer<br />
jüdischen Frauendemonstration, auf einer Straßenbahn<br />
gemacht, die monatelang durch Augsburg<br />
gefahren ist. Solche Aktionen finde ich wichtig,<br />
weil sie komplett barrierefrei sind und jüdische<br />
Themen mit anderen verbunden werden können.<br />
Museumsbesucher:innen fragen sich ja, inwiefern<br />
ist das für mich wichtig, was geht mich das an? Man<br />
muss die Menschen mit etwas verbinden, das auch<br />
ihre Lebensrealität betrifft. Dann interessiert es sie,<br />
denn der Mensch ist ein wahnsinnig neugieriges Lebewesen.<br />
Diese Neugier zu wecken, sollte das Ziel jeder<br />
Art von Vermittlung sein.<br />
BARBARA STAUDINGER,<br />
geboren 1973 in Wien, wo sie Geschichte,<br />
Theaterwissenschaft und Judaistik<br />
studierte. Nach Tätigkeiten am Institut<br />
für Jüdische Geschichte in St. Pölten und<br />
am Jüdischen Museum in München,<br />
leitete sie von 2018 bis <strong>2022</strong> das Jüdische<br />
Museum Augsburg. Sie kuratierte etliche<br />
Ausstellungen, u. a. in der Gedenkstätte<br />
Auschwitz-Birkenau, und gab mehrere<br />
Bücher heraus. Sie ist Mutter eines<br />
Sohnes.<br />
Wie kann man neue Besucherschichten aktivieren, ohne<br />
das Stammpublikum, das es zweifellos gibt, zu verschrecken,<br />
wohl eine Kernfrage des Kulturbetriebs?<br />
I Ich glaube schon, dass wir mit unserem neuen<br />
Programm Ausstellungen machen, mit denen viele<br />
Menschen etwas anfangen können, natürlich ist es<br />
anders, denn jede neue Direktorin, jeder neue Direktor<br />
tritt an, um etwas Neues zu machen, das ist ja der<br />
Sinn einer Veränderung.<br />
Das Jüdische Museum ist schon wegen<br />
seiner Lage im Herzen der Stadt<br />
auch ein touristischer Hotspot. Sehen<br />
Sie das weiterhin als eine Priorität?<br />
I Es muss eine Priorität sein,<br />
denn in der Dorotheergasse sind<br />
40 Prozent der Besucher:innen<br />
Tourist:innen, am Judenplatz sogar<br />
60 Prozent, und an beiden<br />
Standorten gibt es sogar noch ein<br />
Steigerungspotenzial, andererseits<br />
ist unser wichtigster Stakeholder<br />
die Stadtgesellschaft und<br />
nicht die Tourismusindustrie. Von<br />
der Wertigkeit her muss die Priorität<br />
für ein Museum, das von Steuergeldern<br />
der Stadt gezahlt wird,<br />
daher auch die Bevölkerung der<br />
Stadt sein.<br />
© Daniel Shaked<br />
Sie sind nicht zuletzt auf Grund Ihrer<br />
wissenschaftlichen Meriten bestellt<br />
worden. Wie wichtig ist die Wissenschaft<br />
für ein lebendiges Museum?<br />
I Ich habe über 20 Jahren in der Forschung zur jüdischen<br />
Geschichte gearbeitet, das gibt einem einen<br />
sehr guten Überblick über Trends, man kennt<br />
die Kolleg:innen europaweit und auch in den USA,<br />
da kann man viel mitnehmen. Ich bin auch bestellt<br />
worden, weil ich eine erfahrene Kuratorin bin und<br />
schon ein Museum geleitet habe, und kann durch<br />
meine Kontakte – ich bin eine Netzwerkfrau – interessante<br />
und neue Erkenntnisse einbringen. Ein Museum<br />
ist kein außeruniversitäres Forschungsinstitut,<br />
es kann sich aber an Forschungen beteiligen, wenn<br />
die eigene Sammlung betroffen ist. Auch im Bereich<br />
der Provenienzforschung ist das Museum eine wichtige<br />
Forschungsstätte.<br />
Die Sammlung ist ein wichtiger Teil eines Museums. Sammeln<br />
sollte eine Kontinuität sein, wird aber budgetär immer<br />
schwieriger, wenn man keine nennenswerten Schenkungen<br />
erhält. Welche Rolle soll das Sammeln in Zukunft<br />
spielen?<br />
I Die kulturhistorischen Museen platzen aus allen<br />
Nähten, alle haben ein großes Storage-Problem, und<br />
Neue Direktion, neue<br />
Projekte: Barbara Staudinger<br />
blickt voller Ideen auf<br />
ihre kommenden Jahre im<br />
Jüdischen Museum Wien.<br />
wına-magazin.at<br />
13<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 13 16.09.22 05:58
Alle erreichen<br />
gerade über die Zukunft des Sammelns wird zurzeit<br />
sehr viel nachgedacht. Auch darüber, was überhaupt<br />
ein jüdisches Museum ist: Wie hat sich das<br />
gewandelt, in welche Richtung gehen jüdische Museen,<br />
und in welche Richtung geht das Sammeln?<br />
Die Sammlungen sind hier immer noch gewachsen,<br />
vor allem bei historischen Beständen, aber es gibt<br />
große Sammlungslücken, zum Beispiel über die bucharische<br />
und sephardische Gemeinde in Wien, dazu<br />
gibt es praktisch nichts. Wenn wir jetzt das Judentum<br />
heute zeigen, so zeigen wir Fotos aus der Dobrony-<br />
Sammlung aus den 1970er- und 1980er-Jahren, für<br />
junge Leute ist das die Steinzeit.<br />
Wie jüdisch soll, muss, kann ein jüdisches Museum sein,<br />
was soll es herzeigen und welches Bild vermitteln?<br />
I Auf jeden Fall muss ein jüdisches Museum jüdisch<br />
sein. Da gibt es einerseits die Dimension der Sammlung<br />
aus jüdischer Perspektive. Dann die Ebene<br />
des Personals, es wäre ganz komisch, wenn da niemand<br />
jüdisch wäre. Weiters gibt es die Dimension<br />
der Ausstellungen mit einer jüdischen Perspektive,<br />
was nicht heißt, dass man nicht auch Erkenntnisse<br />
mitnehmen kann, die für andere Minderheiten und<br />
Gruppen in der Stadt interessant sind. Und als letzten<br />
Punkt, dass ein jüdisches Museum nicht nur,<br />
aber auch ein jüdisches Publikum haben muss. Jüdische<br />
Museen wurden in der Nachkriegsgesellschaft<br />
oft in Gemeinden gegründet oder wiedergegründet,<br />
in denen es keine jüdische Gemeinden mehr gab, mit<br />
einem nichtjüdischen Zielpublikum, auch das finde<br />
ich problematisch.<br />
Also so eine Art voyeuristische Reservatsperspektive?<br />
I Ja, genau. Viele Leute gehen da rein, weil sie wissen<br />
wollen, wie die Juden leben, die Juden Feste feiern<br />
und die Juden glauben. Ich finde, ein jüdisches<br />
Museum soll diese Erwartungen enttäuschen und<br />
die Möglichkeit bieten, es anders zu sehen: dass es<br />
nämlich die Juden so gar nicht gibt, dass es nicht nur<br />
eine Vielfalt vom orthodoxen bis liberalen Judentum<br />
gibt, sondern auch persönliche Unterschiede, ganz<br />
weit weg von jedem Klischee. Das muss man auflösen,<br />
ansonsten transportiert man Stereotype.<br />
„Eine Weltchronik<br />
berichtet,<br />
dass<br />
Abraham<br />
nach der<br />
Sintflut sein<br />
Reich in Wien<br />
gegründet<br />
hat.“<br />
Barbara<br />
Staudinger<br />
Ihr Ausstellungsprogramm für die nächsten Monate steht<br />
bereits fest. Was haben wir da zu erwarten?<br />
I Unsere erste ganz kleine Ausstellung wird am 12.<br />
<strong>Oktober</strong> eröffnet, eine Videoarbeit des taiwanesischkoreanischen<br />
Künstlers James T. Hong, sie heißt Apologies.<br />
Da sieht man eineinhalb Stunden Staatsoberhäupter<br />
aus der ganzen Welt sich für Verbrechen gegen die<br />
Menschlichkeit entschuldigen. Die Arbeit ist unglaublich<br />
mitnehmend, denn man merkt ganz schnell, das<br />
geht ja immer weiter. Und dass sich auch die Worte, der<br />
symbolische Akt der staatlichen Entschuldigung, gleichen.<br />
Wir kontextualisieren das mit einem Zitat von<br />
Ruth Klüger: „Ihr sagt niemals wieder ...“<br />
Am 29. November eröffnen wir unsere große Ausstellung<br />
Hundert Missverständnisse über und unter Juden,<br />
die schon einen guten Einblick in das Programm der<br />
folgenden Jahre gibt, eine Ausstellung, die Vorurteile<br />
im Licht des kitschigen Denkens über Juden zeigt<br />
und auch mit einem Augenzwinkern damit spielt.<br />
Was ist am zweiten Standort auf dem Judenplatz geplant?<br />
Gibt es da einen Bezug zur mittelalterlich-jüdischen Geschichte<br />
des Ortes?<br />
I Dort ist die Dauerausstellung zum jüdischen Mittelalter<br />
erst 2021 eröffnet worden und wird bleiben. Der<br />
Judenplatz mit dieser Spange vom Shoah-Mahnmal<br />
zur mittelalterlichen Synagoge ist für mich ein Ort<br />
des Nachdenkens darüber, was Erinnern eigentlich<br />
ist, welche Geschichten erzählen wir und wie erzählen<br />
wir sie. Im Gegensatz zum Palais Eskeles in der<br />
Dorotheergasse, das ja nie ein Zentrum der jüdischen<br />
Gemeinde war, ist der Judenplatz ein authentisch jüdischer<br />
Ort, der von sich aus unendlich viel von der<br />
Geschichte erzählt. Insofern soll es da um Erinnerung<br />
in verschiedenen Facetten gehen. Anfang November<br />
eröffnen wir dort die Ausstellung My Blood<br />
Strangers über die Aneignung von Geschichte am Beispiel<br />
des Wiener Palais des Beaux Arts.<br />
Die Dauerausstellung im Haupthaus ist fast zehn Jahre<br />
alt. In schnelllebigen Zeiten also vielleicht schon veraltet.<br />
Was planen Sie da?<br />
I Nächstes Jahr ist ein Jubiläumsjahr, 30 Jahre Dorotheergasse,<br />
zehn Jahre Dauerausstellung – und ein<br />
Startschuss für das Nachdenken über eine neue Dauerausstellung.<br />
Ich finde es ganz wichtig, dass jüdische<br />
Museen selbstreflexiv sind, das heißt für uns<br />
auch, darüber nachzudenken, was in unserer Sammlung<br />
eigentlich Stereotype verstärkt. Jede Dauerausstellung<br />
eines jüdischen Museums beginnt mit der<br />
ersten Erwähnung der Juden in einer Stadt. Das produziert<br />
das Bild, die Stadt wäre schon da und die Juden<br />
kommen als Fremde dazu. Aber dieses Bild ist falsch,<br />
© David Bohamnn/ JMW<br />
14 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 14 16.09.22 05:58
Die Welt ein wenig verbessern<br />
Love me kosher: von<br />
der Erschaffung der Welt<br />
bis zur LGBTIQ-Bewegung<br />
aktuell im JMW.<br />
denn Stadt ist eigentlich ein permanentes Kommen<br />
von allen. Wir haben eine Weltchronik gefunden, die<br />
berichtet, dass Abraham zwei Wochen nach der Sintflut<br />
sein Reich in Wien gegründet hat! Man könnte also<br />
sagen, seht her, die Juden waren zuerst da und alle anderen<br />
sind nachher gekommen! Ein kurioses Beispiel,<br />
das einen aber schon zum Nachdenken bringt.<br />
Haben Sie, weil ich das leise durchhöre, auch eine aufklärerische<br />
Mission?<br />
I Ich glaube, jeder Mensch, der im Kulturbereich arbeitet,<br />
will die Welt ein bisschen besser machen. Das<br />
ist ja etwas sehr Jüdisches, Tikkun ha Olam, die Welt<br />
verbessern. Es mag vielleicht etwas idealistisch oder<br />
naiv klingen, aber letztlich ist es das, was einen treibt<br />
und woraus man die Freude an der Arbeit bezieht.<br />
Die Corona-Zeit hat gezeigt, dass man auch in einem<br />
zeitweise geschlossenen Haus auf andere Weise, sprich<br />
digital, überleben muss oder kann. Wie soll man diese<br />
Erfahrungen in Zukunft umsetzen?<br />
I Wir sind gerade dabei, die Online-Sammlung wirklich<br />
umzusetzen, ein Kurator wird sich vermehrt Online-Ausstellungen<br />
widmen, und wir werden auch<br />
ein digitales Outreach betreiben. Das Online-Angebot<br />
ersetzt nichts, es ist aber eine andere Ebene, die<br />
immer wichtiger wird, und das dürfen wir nicht versäumen.<br />
Es gibt viele Leute weltweit, die gar nicht ins<br />
Museum kommen können, denen aber zum Beispiel<br />
als Nachfahren der jüdischen Gemeinde in Wien das<br />
Museum am Herzen liegt. Die kann man nicht mit<br />
Online-Führungen mit verwackelten Bildern abholen.<br />
Man kann aber speziell für Online-User kreierte<br />
Programme zu den Ausstellungen entwickeln und so<br />
eine Verbindung herstellen.<br />
Was wünschen Sie sich persönlich als Direktorin für die<br />
nächsten fünf Jahre?<br />
I Ich wünsche mir viele Kooperationen, viele fröhliche<br />
Feste und spannende Diskussionen.<br />
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© David Bohamnn/ JMW<br />
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wına-magazin.at<br />
15<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 15 16.09.22 05:58
INTERVIEW MIT DWORA STEIN <br />
„Im konservativen Frauenbild Österreichs<br />
werden die Frauen immer noch als<br />
‚Dazu‘-Verdienerinnen gesehen.“<br />
Die Gleichstellung von Frauen privat wie im Beruf ist<br />
für die langjährige Gewerkschafterin Dwora Stein<br />
ein großes Anliegen. Als Aufsichtsratsvorsitzende des<br />
Jüdischen Museum Wien freut sie sich auf die Zusammenarbeit<br />
mit der neuen Direktorin. Ebenso bereitet<br />
ihr das Engagement im Maimonides-Zentrum und bei<br />
ESRA große Freude. Interview Marta S. Halpert,<br />
Foto: Reinhard Engel<br />
16 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 16 16.09.22 05:58
Wichtige Sammlungen<br />
Dwora Stein sieht in der Max-<br />
Berger-Judaica-Sammlung des<br />
Jüdischen Museums eine besondere<br />
Möglichkeit, jüdische<br />
Geschichte zu erzählen.<br />
WINA: Sie sind seit 2014 Aufsichtsratsvorsitzende<br />
des Jüdischen Museums Wien (JMW) und haben<br />
dieses Mandat der Stadt Wien übernommen, als<br />
Sie noch berufstätig waren, nämlich als Bundesgeschäftsführerin<br />
der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). In<br />
dieser größten Einzelgewerkschaft innerhalb des ÖGB waren<br />
Sie für internes Management, insbesondere für Finanzen<br />
und Personalführung verantwortlich. Was hat Sie motiviert,<br />
diese zusätzliche Bürde im Jüdischen Museum zu<br />
übernehmen?<br />
Dwora Stein: Es war und ist keine Bürde, sondern<br />
eine pure Freude. Dieses Jüdische Museum war immer<br />
schon ein besonders wichtiger Ort für mich. Ich<br />
kann mich an großartige Ausstellungen erinnern, z.<br />
B. an die Eröffnungsausstellung Hier hat Teitelbaum<br />
gewohnt oder jene über die Türkisch-Jüdische Gemeinde<br />
in Wien sowie die Ausstellung Prima la Musica<br />
über jüdische Musiker. Als dann das Angebot<br />
kam, den Vorsitz des Aufsichtsrates zu übernehmen,<br />
habe ich mich unglaublich gefreut. Mein erster Gedanke<br />
war, da schließt sich wieder ein Kreis. Ich bekomme<br />
jetzt eine Chance, meine berufliche Erfahrung<br />
– auch aus anderen Aufsichtsräten – diesem<br />
wichtigen Museum zur Verfügung zu stellen.<br />
Welchen Kreis meinen Sie?<br />
I Der Kreis hat sich insofern geschlossen, als ich in<br />
meiner bisherigen Tätigkeit in der Gewerkschaft und<br />
der Arbeiterkammer beruflich wenig mit jüdischen<br />
Themen zu tun hatte. Erst durch die Funktion im<br />
Aufsichtsrat bin ich damit wieder stark in Berührung<br />
gekommen, das hat mir sehr viel bedeutet. Daher<br />
habe ich mit großer Freude zugesagt.<br />
Derzeit arbeitet sich ein neues Führungsteam im Museum<br />
ein. Sie begleiten die Entwicklung dieses Hauses seit nunmehr<br />
acht Jahren. Was erwarten oder erhoffen Sie sich von<br />
dieser Veränderung?<br />
I Ich freue mich sehr auf die Arbeit mit Frau Dr. Staudinger,<br />
die seit 1. Juli im Amt ist. Was erwarte ich mir?<br />
Das Jüdische Museum verfügt über eine einzigartige<br />
Sammlung, und diese wieder stärker sichtbar zu machen,<br />
ist notwendig und auch in Planung.<br />
Welche Sammlungen meinen Sie?<br />
I Die Max-Berger-Judaica-Sammlung des Jüdischen<br />
Museums ist eine der weltweit bedeutendsten. Diese<br />
der Öffentlichkeit besser zu präsentieren, ist eine<br />
große Aufgabe – umso mehr, als sich die Sammlung<br />
hervorragend eignet, anhand von Objekten jüdische<br />
Geschichte zu erzählen. Zweitens ist es wichtig, jüdisches<br />
Leben hier und heute darzustellen und wichtige<br />
gesellschaftliche Fragen aus jüdischer Perspektive<br />
zu diskutieren, z. B. wie lebt eine Minderheit in<br />
einer Mehrheitsgesellschaft, wie geht man mit Antisemitismus,<br />
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />
um. Das sind alles Themen, die auch in einem jüdischen<br />
Museum in den Vordergrund gerückt werden<br />
sollten.<br />
Würde das auch mehr Besucherinnen und Besucher ins Museum<br />
locken?<br />
I Da kommen wir zu meinem dritten Anliegen, das<br />
ist die Digitalisierung. Das sinnliche Erlebnis kann<br />
durch nichts ersetzt werden, aber trotzdem muss ein<br />
Museum im virtuellen Raum präsent sein. Doch lediglich<br />
ein virtueller Rundgang reicht nicht, da muss<br />
es eigene Formate geben, die besser geeignet sind.<br />
Darüber hinaus ist es genauso wichtig, dass sich das<br />
Museum auch in die Stadt hinein öffnet, also im öffentlichen<br />
Raum präsent ist.<br />
In welcher Form könnte das geschehen?<br />
I Zum Beispiel, indem Veranstaltungen außerhalb<br />
der Räumlichkeiten im Palais Eskeles oder am Judenplatz<br />
stattfinden. Es muss ja nicht alles nur in<br />
Gebäuden gezeigt werden. Das Wien Museum hat<br />
während des Umbaus sogar Ausstellung rund um<br />
die Baustelle organisiert. Ich bin sicher, dass Barbara<br />
Staudinger viele Ideen hat, wie man Menschen<br />
in die Ausstellungen bringen kann, aber auch die Expositionen<br />
und Veranstaltungen zu den Menschen.<br />
Sie könnten sich derzeit nur Ihren großen Vorlieben, wie<br />
dem Besuch von Musik- und Sprechtheater, dem Reisen,<br />
dem Lesen von Literatur und Zeitgeschichte widmen. Trotzdem<br />
haben Sie die Initiative ergriffen und sich zur freiwilligen<br />
und unentgeltlichen Mitarbeit in Ihren Fachgebieten<br />
der jüdischen Gemeinde angeboten – und bereits etliche<br />
kleinere Beratungsaufgaben erfüllt. Seit März <strong>2022</strong> sind Sie<br />
auch Vorstandsmitglied bei ESRA. Warum machen Sie das?<br />
I Nach mehr als 40 Jahren durchaus anstrengender<br />
Berufstätigkeit wollte ich mich regenerieren und<br />
auf Bereiche konzentrieren, die zu kurz gekommen<br />
waren. Dazu gehörte sowohl reisen wie auch Kultur<br />
genießen. Die Familie und meine Freundschaften<br />
spielten immer schon eine wichtige Rolle, doch<br />
meine Freizeit war knapp bemessen. Nach einer gewissen<br />
Zeit hatte ich den Wunsch, meine berufli-<br />
„ Es gibt viele<br />
Arten, jüdisch<br />
zu sein. Das<br />
hat sich auch<br />
in unserer Familie<br />
gezeigt.“<br />
Dwora Stein<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 17 16.09.22 05:58
Frauen stärken<br />
chen Erfahrungen doch nicht ganz brach<br />
liegen zu lassen, sondern sie in eine Institution<br />
einzubringen, die mir persönlich<br />
wichtig ist – und das ist die IKG.<br />
Ich habe durch meine Mutter das Maimonides<br />
Zentrum (MZ) kennen und schätzen<br />
gelernt, deshalb wollte ich da etwas beitragen.<br />
Als ich meine Mitarbeit angeboten<br />
habe, wurde ich gebeten, mich an der Weiterentwicklung<br />
der Gesundheitseinrichtungen<br />
der IKG, Maimonides Zentrum und<br />
ESRA, zu beteiligen. In beiden Einrichtungen<br />
wird von engagierten und professionellen<br />
Menschen großartige Arbeit geleistet,<br />
aber es geht auch um die Zukunft. Die<br />
Zusammensetzung der Gemeinde ändert<br />
sich, die Bedürfnisse der Menschen verändern<br />
sich, wir wissen gar nicht, welche Erwartungen<br />
die Gemeindemitglieder an das MZ und<br />
an ESRA haben. Die neue Führung bei ESRA wird<br />
auch einiges in Bewegung setzen – das alles ein Stück<br />
beratend zu begleiten, mache ich sehr gerne, weil ich<br />
glaube, mit meiner Organisations- Führungs- und<br />
Managementerfahrung etwas bewirken zu können.<br />
Außerdem habe ich zusätzlich den Blick von außen<br />
und nicht nur die Innensicht.<br />
Nicht wenige Gemeindemitglieder kennen Sie unter Ihrem<br />
Mädchennamen Tessler. Sie haben zwei Schwestern, die<br />
beide in Jerusalem leben. Woher stammen Ihre Eltern?<br />
I Mein Vater stammt aus dem ungarisch-rumänischem<br />
Grenzgebiet, durch sein Geburtsjahr, 1908,<br />
war er eigentlich ein Altösterreicher. Meine Mutter,<br />
Jahrgang 1921, wurde schon in Wien geboren.<br />
Wie und wo haben Ihre Eltern die Shoah überlebt?<br />
I Mein Vater hat darüber immer geschwiegen. Meine<br />
Mutter konnte mit ihrer Schwester und den Großeltern<br />
1942 nach Ungarn fliehen, dort haben sie als<br />
U-Boote überlebt. In Budapest haben sich meine Eltern<br />
kennengelernt und auch dort geheiratet. 1948<br />
konnten sie mit falschen Papieren und Fluchthelfern<br />
nach Wien flüchten. Als ich von meinem Vater wissen<br />
wollte, warum sie schon 1948 zurückkamen und<br />
nicht wie viele andere erst 1956, sagte er kurz und<br />
knapp: „Weil ich nicht wollte, dass meine Kinder im<br />
Kommunismus aufwachsen.“<br />
Wie würden Sie Ihre jüdische Kindheit, den Stellenwert der<br />
Religion in der Familie definieren?<br />
I Es gibt viele Arten, jüdisch zu sein. Das hat sich auch<br />
in unserer Familie gezeigt: Mein Vater war ein gläubiger<br />
Jude, meine Mutter hingegen gar nicht religiös.<br />
Das Ergebnis war aber, dass wir Schwestern uns sehr<br />
„die Gemeinde hat<br />
sich vorbildlich<br />
bei der Betreuung<br />
der Geflüchteten<br />
aus der Ukraine<br />
engagiert. Ich<br />
freue mich, dass<br />
ich auch dieses<br />
humanitäre Projekt<br />
unterstützen<br />
konnte.“ Dwora Stein<br />
unterschiedlich entwickelt haben: Ich bin nicht religiös,<br />
meine Schwester Edith auch nicht, aber unsere<br />
jüngste Schwester Sylvia ist es sehr wohl.<br />
Das heißt, die Eltern ließen den Kindern völlige Freiheit?<br />
I Ja, nur die sogenannte Freiheit hinterlässt auch eine<br />
gewisse Orientierungslosigkeit. So mussten wir alle<br />
unseren Weg finden, und dieser gestaltete sich sehr<br />
unterschiedlich. Ich bin in Wien geblieben, habe mich<br />
hier etabliert. Meine Schwester Edith hat sich sehr<br />
früh für die Alija entschieden und wurde klinische<br />
Psychologin in Jerusalem. Unsere jüngste Schwester<br />
wiederum hat in Wien studiert und hier ihren israelischen<br />
Mann kennengelernt, mit dem sie nach Israel<br />
ging. Das ist sehr typisch für jüdische Familien.<br />
Als Vizepräsidentin der Arbeiterkammer Wien und durch die<br />
langjährige Tätigkeit im Berufsförderungsinstitut haben Sie<br />
konsequent für die Besserstellung von Frauen im Privat- und<br />
Berufsleben gekämpft. Was konnte erreicht werden, was gibt<br />
es noch zu tun?<br />
I Frauen sind im öffentlichen Leben, in der Politik wesentlich<br />
präsenter als noch vor einigen Jahren, was sicher<br />
ein großer Fortschritt ist. Sobald ich in einer Führungsposition<br />
war, habe ich dafür gesorgt, dass auch<br />
andere Frauen eine Chance bekommen Verantwortung<br />
zu übernehmen – und das ist mir auch gelungen.<br />
Tatsache ist aber, dass Frauen immer noch wesentlich<br />
weniger verdienen als Männer.<br />
Aber weshalb ist und bleibt das so?<br />
I Wenn Teilzeit gearbeitet wird, sind es meistens die<br />
Frauen. Dadurch werden sie nicht nur in der Karriere<br />
gebremst, sondern bekommen auch nur ein Teilzeitentgelt.<br />
Im konservativen Frauenbild Österreichs<br />
werden die Frauen immer noch als „Dazu“-Verdienerinnen<br />
gesehen. Und wenn sich an der Pflegesituation<br />
nichts ändert, wird das zukünftig auch auf dem Rücken<br />
der Familien, sprich Frauen, ausgetragen. Ich<br />
fürchte, da droht ein großer Rückschritt.<br />
Gibt es noch Bereiche im jüdischen Gemeindeleben, die Sie<br />
zur weiteren Mitarbeit reizen würden?<br />
I Das Vorhaben bei der Weiterentwicklung der Gesundheitseinrichtungen<br />
der IKG einen Beitrag zu leisten,<br />
ist schon sehr fordernd und umfangreich. Der<br />
Plan, sich auf die Zukunft des Maimonides Zentrums<br />
und von ESRA zu fokussieren, auch auf mögliche engere<br />
Kooperationen, musste in den letzten Monaten<br />
aufgeschoben werden, weil sich die Gemeinde vorbildlich<br />
bei der Betreuung der Geflüchteten aus der<br />
Ukraine engagiert hat. Ich freue mich, dass ich auch<br />
dieses humanitäre Projekt unterstützen konnte.<br />
18 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 18 16.09.22 05:58
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
The future<br />
is already here<br />
Über Tramprobefahrten, eine neue<br />
Kohorte wahlberechtigter Jugendlicher<br />
und die erste herbstliche Morgenluft.<br />
paar Mal wurde sie schon<br />
gesichtet, die zukünftige<br />
Tram mit ihren funkeln-<br />
Ein den weißen Wägen. Zur<br />
Probe glitt sie geschmeidig über die neuen Gleise<br />
im Süden der Stadt. Als ich sie vor ein paar Wochen<br />
erstmals entdeckte, dachte ich: „Wow, the future<br />
is already here.“ Manche hatten ja geglaubt,<br />
dass das Riesenprojekt nie fertig werden würde.<br />
Jetzt bekommt Tel Aviv tatsächlich ein (hoffentlich<br />
bald funktionierendes) öffentliches Transportsystem,<br />
das nicht nur aus Autobussen besteht, die oft<br />
auch nur mühsam im Verkehrschaos vorankommen.<br />
Die U-Bahn verläuft streckenweise oben, andernorts<br />
geht es durch Tunnel immer wieder nach<br />
unten. Ein ganzes Netz soll sich am Ende über die<br />
Stadt spannen.<br />
Der Start der ersten Linie war geplant für November.<br />
Er wird sich aber wohl noch ein bisschen<br />
verzögern. Inzwischen gibt es eine Debatte<br />
darüber, ob der Schienenverkehr<br />
auch am Schabbat stattfinden darf und<br />
sollte. Die Noch-Verkehrsministerin<br />
Merav Michaeli von der Arbeitspartei<br />
Von Gisela Dachs<br />
Hadar Muchtar, 20, aus Kiryat Ono, ist<br />
der neueste TikTok-Star. In ihren unzähligen<br />
Videoaufnahmen steht sie vor der<br />
Kamera, oft mit einem Megafon, und<br />
schimpft über die Preise [...].<br />
und Bürgermeister Ron Huldai sehen das jedenfalls<br />
so. Beide argumentieren im Namen von sozialer<br />
Gerechtigkeit: Wer kein eigenes Auto besitzt,<br />
soll am Wochenende nicht benachteiligt sein. Außerdem<br />
macht es auch wirtschaftlich angesichts der<br />
hohen Investitionen von mehreren zehn Milliarden<br />
Schekeln mehr Sinn, die U-Bahn an allen Wochentagen<br />
laufen zu lassen. Noch ist unklar, ob Tel Aviv<br />
jetzt tatsächlich dem Beispiel Haifa folgen könnte,<br />
wo am Schabbat ja auch öffentliche Transportmittel<br />
fahren.<br />
Religiöse Politiker warfen Michaeli vor, mit dem<br />
Thema Stimmenfang vor den Wahlen am 1. November<br />
zu betreiben. Sie verwiesen auf die Status-quo-<br />
Vereinbarung, die den öffentlichen Verkehr im Land<br />
bis auf wenige Ausnahmen von Freitagnachmittag<br />
bis Samstagabend zum Pausieren zwingt. Zugleich<br />
aber hat in dieser Hinsicht eine kleine Revolution<br />
stattgefunden, ohne dass es viel Aufhebens darum<br />
gibt. Seit dem 17. <strong>September</strong> fahren jetzt nämlich<br />
erstmals auch am Freitagabend und in der Nacht<br />
Züge vom und zum Flughafen Ben Gurion auf der<br />
Strecke Tel Aviv–Jerusalem.<br />
Der aktuelle Wahlkampf zeigt, dass sich die Menschen<br />
mit anderen Dingen beschäftigen: Das sind<br />
die hohen Preise, die weiter angestiegenen Lebenskosten<br />
und die Zukunftschancen der jungen Generation.<br />
Letztere ist auch als Wählergruppe zunehmend<br />
in den Fokus geraten. Da in den letzten Jahren<br />
so oft gewählt wurde, sind 22-jährige jetzt bereits<br />
zum fünften Mal berechtigt, ihre Stimme abgeben.<br />
Da sie untrennbar mit ihren Handys verbunden<br />
sind, haben sich die politischen Botschaften in Stil<br />
und Form angepasst.<br />
© Tomer Neuberg/Flash90<br />
20 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 20 16.09.22 05:58
© Tomer Neuberg/Flash90<br />
Hadar Muchtar, 20, aus Kiryat Ono, ist der neueste<br />
TikTok-Star. In ihren unzähligen Videoaufnahmen<br />
steht sie vor der Kamera, oft mit einem Megafon,<br />
und schimpft über die Preise, vergleicht sie mit<br />
dem Ausland, wirft Berufspolitikern vor, die Jungen<br />
zu vernachlässigen und sich nur für sich selbst zu<br />
interessieren. Ihre Partei heißt „Tze’irim Boarim“,<br />
stürmische oder flammende Jugend. Selten ist jemand<br />
so schnell berühmt geworden. In Windeseile<br />
hatte sie 68.000 Follower und hunderttausende Viewers.<br />
Dabei ist sie noch zu jung, um in die Knesset<br />
gewählt zu werden. Das geht erst ab 21. Für einen<br />
Ministerposten aber gibt es keine Altersbeschränkung,<br />
wie sie gerne betont.<br />
Alle dachten, was für ein netter Gimmick. Dann<br />
aber entschied sich ein Umfrageinstitut, nach der<br />
Popularität ihrer Partei zu fragen, und Tze’irim<br />
Boarim erhielt so viele Stimmen, dass damit ganze<br />
zwei Mandate abgedeckt würden. Nicht ausreichend,<br />
um in die Knesset einzuziehen, aber genug,<br />
um sich als junge Frau mit Potenzial zu positionieren.<br />
Sie will weder links noch rechts sein und sich<br />
auch von niemandem vereinnahmen lassen.<br />
Ein anderes Phänomen ist Sympathie gerade der<br />
Jungen für den Rechtsaußen-Politiker Itamar Ben-<br />
Gvir. Er ist – wie andere Politiker auch – inzwischen<br />
auch vor Gymnasiasten in Tel Aviv aufgetreten und<br />
hat dort versucht, sein neues Image als Geläuterter<br />
zu pflegen. In seinem Wohnzimmer hängt also<br />
nicht mehr das Bild von Baruch Goldstein, der 1994<br />
in der Moschee in Hebron das Feuer eröffnete und<br />
29 betende Muslime ermordete. Auf TikTok schlägt<br />
er heute „nur“ vor, arabische Knesset-Abgeordnete,<br />
die nicht loyal sind, ins Flugzeug zu setzen und au-<br />
Rechtsaußen-Politiker Itamar<br />
Ben-Gvir (46) von der Otzma Yehudit<br />
Partei polarisiert – und besucht u. a.<br />
auch Schulen. Das führt immer wieder<br />
zu heftigen Auseinandersetzungen, ßer Landes zu verweisen. Schulleiter<br />
zuletzt etwa am 6. <strong>September</strong> vor der und Eltern in Tel Aviv sind sich uneinig<br />
über die potenzielle Wirkung sei-<br />
Bleich High School in Ramat Gan.<br />
ner Auftritte. Radikalisiert er? Stößt<br />
er ab? Durchschaut man ihn? Ist es besser, ihn auszuschließen,<br />
obwohl er ja offiziell bei den Wahlen<br />
antreten darf, oder ihn offen herauszufordern? Unterschätzt<br />
man das Urteilsvermögen der Jungen?<br />
Was bedeutet wehrhafte Demokratie? All das kennt<br />
man ja genug auch in Europa.<br />
Unterschätzt man das Urteilsvermögen<br />
der Jungen? Was bedeutet<br />
wehrhafte Demokratie? All das kennt<br />
man ja genug auch in Europa.<br />
Bis zur Wahl aber ist es noch eine Weile hin. Da<br />
kann, wie immer, noch viel passieren. So wie der<br />
dreitägige Krieg gegen den islamischen Dschihad<br />
im August in Gaza, der fast schon wieder in Vergessenheit<br />
geraten ist. Aus dem Norden hört man,<br />
dass die His bol lah im Libanon sich auf eine Auseinandersetzung<br />
vorbereitet. Ein hebräisches Bonmot<br />
besagt, dass es in Israel nur drei Jahreszeiten<br />
gibt: Sommer, Krieg und Wahlen. Gefühlt mag das<br />
so sein. Aber deshalb bleibt das Leben nicht stehen.<br />
Was das Neue Jahr außer der neuen U-Bahn noch<br />
bringt, wird man sehen. Immerhin ist es gerade ein<br />
bisschen kühler geworden. Und mit etwas gutem<br />
Willen lässt sich die Morgenluft in Tel Aviv jetzt sogar<br />
als herbstlich bezeichnen.<br />
wına-magazin.at<br />
21<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 21 16.09.22 05:58
Lehre, Matura, Studium<br />
Der andere Weg<br />
zur Matura<br />
Am Jüdischen Beruflichen<br />
Bildungszentrum (JBBZ) ist<br />
es nicht nur möglich, eine<br />
Lehrausbildung oder berufliche<br />
Weiterbildung zu absolvieren.<br />
Hier kann man<br />
im Anschluss an eine Lehrausbildung<br />
oder berufsbildende<br />
mittlere Schule auch<br />
den Berufsreifeprüfungslehrgang<br />
besuchen. Davon<br />
machen jedes Jahr einige<br />
Jugendliche und junge Erwachsene<br />
Gebrauch – und<br />
legen dann erfolgreich die<br />
Matura ab. Wie alle anderen<br />
Maturanten und Maturantinnen<br />
auch müssen sie dabei<br />
zur Zentralmatura antreten.<br />
Danach steht ihnen<br />
der Zugang zu einem Studium<br />
an einer Universität<br />
oder Fachhochschule offen.<br />
Von Alexia Weiss,<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
Emanuel Djouraev (19):<br />
„Es war mir zunächst<br />
einmal wichtig, eine Ausbildung<br />
zu haben.<br />
Ruth Weiss-Gold (35):<br />
„Es hat sich am Ende bei<br />
mir alles sehr glücklich getroffen,<br />
auch wenn es kein<br />
geradliniger Weg war.“<br />
22 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 22 16.09.22 05:58
Lernen in Kleingruppen<br />
Emanuel Sivan (19):<br />
„Für mich war dieser Weg<br />
die Möglichkeit, doch<br />
auch studieren zu gehen.“<br />
„So habe ich<br />
zuerst die<br />
Fachschule<br />
absolviert<br />
und danach<br />
die Matura<br />
gemacht,<br />
und das,<br />
ohne Zeit zu<br />
verlieren.“<br />
Emanuel<br />
Djouraev (19)<br />
Emanuel Djouraev (19) ist auf der<br />
Zielgeraden: Im <strong>Oktober</strong> tritt er<br />
zur Matura an. Ein Jahr lang hat<br />
er sich darauf mit seinen sieben<br />
Klassenkollegen und -kolleginnen vorbereitet.<br />
30 Stunden pro Woche haben sie<br />
Unterricht erhalten, auf dem Stundenplan<br />
standen dabei die vier Maturafächer:<br />
Deutsch, Englisch, Mathematik sowie Medieninformatik<br />
beziehungsweise Eventmanagement<br />
als berufsspezifisches Fach.<br />
So ist eine Berufsreifeprüfung aufgebaut.<br />
Warum er sich für diesen Ausbildungsweg<br />
entschieden hat? „Es war mir zunächst<br />
einmal wichtig, eine Ausbildung zu haben.<br />
Deshalb habe ich mich für eine technische<br />
Fachschule und nicht für eine HTL<br />
entschieden. Dreieinhalb Jahre werde ich<br />
schaffen. Aber fünf Jahre könnten<br />
schon etwas kritisch werden,<br />
dachte ich mir. Und wenn<br />
ich dann abbrechen würde,<br />
wäre das verlorene Zeit. So<br />
habe ich zuerst die Fachschule<br />
absolviert und danach die Matura<br />
gemacht, und das, ohne<br />
Zeit zu verlieren.“<br />
Die Matura sei sicher nicht<br />
leichter, weiß Djouraev. Aber<br />
durch das Fokussieren in der<br />
Vorbereitung auf nur vier Fächer<br />
komme man gut mit. Das<br />
Lernen in der Kleingruppe<br />
sei ebenfalls ein großer Vorteil.<br />
Er ist daher zuversichtlich,<br />
die Prüfungen im <strong>Oktober</strong><br />
zu schaffen. Danach tritt er<br />
seinen Zivildienst an, und in einem Jahr<br />
möchte Djouraev an einer Universität zu<br />
studieren beginnen. Noch schwankt er dabei<br />
zwischen einem IT- und einem Kunststudium.<br />
Emanuel Sivan (19) hat eben am JBBZ<br />
seine Lehrausbildung zum Bürokaufmann<br />
abgeschlossen. Gefallen hat ihm daran vor<br />
allem, dass man dabei „für die echte Welt“<br />
vorbereitet wird. Zuvor hat er ein Gymnasium<br />
besucht, sah aber nicht, wie er es<br />
schaffen hätte sollen, dieses schließlich<br />
auch positiv zu absolvieren. „Ich hätte<br />
Französisch und Latein gehabt, ich habe<br />
wına-magazin.at<br />
23<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 23 16.09.22 05:58
Chancen nutzen<br />
„An sich selbst<br />
zu glauben<br />
und zu schauen,<br />
was macht<br />
mir Spaß?<br />
Aber auch,<br />
worin bin ich<br />
gut, was liegt<br />
mir, was interessiert<br />
mich.“<br />
Ruth Weiss-Gold<br />
niert. Es ist bis heute ein Beruf,<br />
den ich sehr mag.“<br />
Nach ihrem Lehrabschluss<br />
bei Jugend am Werk<br />
war Weiss-Gold einige Jahre<br />
im Technischen Museum<br />
im Bereich der Inventarisierung<br />
tätig. Dabei musste sie<br />
Objekte für das Lager verpacken.<br />
Dafür hat sie auch<br />
den Kran- und den Staplerführerschein<br />
gemacht. „Mit<br />
60 habe ich mich dort aber<br />
nicht mehr gesehen, so am<br />
Boden arbeitend oder kopfüber<br />
bohrend.“<br />
Deshalb entschloss sie sich, die Berufsreifeprüfung<br />
abzulegen – und besuchte<br />
dazu 2016 den Vorbereitungslehrgang am<br />
JBBZ. Die Maturaprüfung abzulegen, sei so<br />
nicht schwer gewesen. Im Anschluss habe<br />
sie zunächst noch drei Jahre in den städtischen<br />
Büchereien gearbeitet, doch dann<br />
entschloss sie sich doch, sich ihren Traum<br />
eines Kunststudiums zu erfüllen. Zwei Drittel<br />
des Studiums hat sie inzwischen bereits<br />
absolviert. „Es hat sich am Ende bei mir alles<br />
sehr glücklich getroffen, auch wenn es<br />
kein geradliniger Weg war.“<br />
Lehre plus Matura. Durchlässigkeit des Bildungssystems<br />
ist auch immer wieder eines<br />
der Argumente für das Modell Lehre<br />
plus Matura in bildungspolitischen Diskussionen.<br />
Rebecca Janker sieht aber<br />
noch mehr Vorteile. Arbeitgeber suchen<br />
heute nach jungen Arbeitskräften, die<br />
sowohl über einen Studienabschluss wie<br />
auch bereits Berufserfahrung verfügen.<br />
Mit einem Lehrabschluss, Matura und<br />
anschließendem Studium sei das zu bewerkstelligen.<br />
Zudem mache eine Lehrausbildung<br />
früher unabhängig. Worum<br />
Schüler und Schülerinnen noch ihre Eltern<br />
bitten müssten, könnten sich Lehrlinge<br />
bereits selbst bezahlen. Andererseits<br />
bekämen sie bereits mit, wie es ist, nicht<br />
mit Samthandschuhen angefasst zu werden.<br />
Der Ton seitens Kunden und Kundinnen<br />
sei doch manchmal rauer als der<br />
in der Schule. „Schule ist wirklich ein sehr<br />
geschützter Rahmen, Lehrlinge bestehen<br />
in der realen Welt.“<br />
Am JBBZ kann man seit dem Schuljahr<br />
1998/99 die Berufsreifeprüfung ablegen,<br />
sagt Geschäftsführer Markus Meyer. Anfangs<br />
habe man Lehre mit Matura angeboten,<br />
es wurde also gleichzeitig ein<br />
Lehrberuf erlernt und für die Reifeprüfung<br />
vorbereitet. Das habe sich allermir<br />
da keine Chancen<br />
ausgerechnet. Für mich<br />
war dieser Weg die Möglichkeit,<br />
doch auch studieren<br />
zu gehen.“<br />
Den Berufsreifeprüfungslehrgang<br />
hat Emanuel<br />
Sivan noch nicht<br />
begonnen. Dieser startet<br />
am JBBZ immer im<br />
<strong>Oktober</strong>. Zuvor müssen<br />
sich die Interessierten<br />
einem Auswahlverfahren<br />
stellen. Dieses stellt<br />
sicher, dass nur jene mit<br />
der Maturavorbereitung<br />
beginnen, die auch reelle Chancen haben,<br />
die Berufsreifeprüfung schließlich erfolgreich<br />
abzulegen, erklärt Rebecca Janker.<br />
Sie hat am JBBZ die pädagogische Leitung<br />
inne. Doch auch auf diese Prüfung könne<br />
man sich gut vorbereiten. Beherrscht werden<br />
können müsse jeweils der Lehrstoff<br />
der neunten Schulstufe in Deutsch, Englisch,<br />
Mathematik.<br />
Emanuel Sivan würde sich jedenfalls<br />
freuen, wenn es für ihn klappt und er ab<br />
<strong>Oktober</strong> am JBBZ für die Matura lernen<br />
kann. „Falls es möglich ist, würde ich das<br />
sehr gerne machen.“ Für seine weitere Zukunft<br />
würde er gerne ein wirtschaftsorientiertes<br />
Studium absolvieren – konkret<br />
schwebt ihm da Wirtschaftsrecht vor. Anderen<br />
Jugendlichen kann er, wenn sie sich<br />
mit dem Lernen in einem Gymnasium<br />
schwer tun, diesen Ausbildungsweg nur<br />
empfehlen. Die Lehrausbildung habe ihn<br />
gut auf das Leben vorbereitet. Und dennoch<br />
werde er an einer Universität studieren<br />
können.<br />
Ruth Weiss-Gold (35) studiert heute<br />
Kunst auf Lehramt an der Akademie der<br />
bildenden Künste. Ihr Bildungsweg bis dahin<br />
war kein geradliniger – aber schließlich<br />
jener, der sie an ihr Ziel gebracht hat.<br />
Genau das empfiehlt sie auch ihrem heute<br />
15-jährigen Sohn. „An sich selbst zu glauben<br />
und zu schauen, was macht mir Spaß?<br />
Aber auch, worin bin ich gut, was liegt mir,<br />
was interessiert mich? Und daran weiterzuarbeiten.“<br />
Sie selbst kam im Gymnasium nicht<br />
recht weiter, wiederholte in der Oberstufe<br />
mehrmals. „Ich war sehr oft müde<br />
und hatte wenig Lust.“ Aber woran sie<br />
in dieser Zeit Freude gehabt habe, war,<br />
ihr Zimmer umzugestalten und die Möbel<br />
umzustellen. „Meine Mutter hat dann<br />
gesagt, mach doch eine Tischlerlehre. Und<br />
das hat dann auch für mich gut funktiodings<br />
nicht bewährt. „Einerseits haben<br />
junge Leute vielleicht auch etwas anderes<br />
im Kopf, als zwei Mal in der Woche bis<br />
20 Uhr Unterricht zu haben. Andererseits<br />
haben es dann einige in der Berufsausbildung<br />
ziemlich schleifen lassen, und dann<br />
gab es ein böses Erwachen, weil der Lehrabschluss<br />
nicht gelang.“<br />
Das JBBZ setzt daher seit vielen Jahren<br />
auf das Modell Lehre plus Matura, erklärt<br />
Janker. Dabei absolviert man zunächst die<br />
Lehre und wird dann in einem einjährigen<br />
Lehrgang in den Maturafächern unterrichtet.<br />
Das habe sich sehr bewährt<br />
– und viele der Absolventen und Absolventinnen<br />
hätten danach auch ein Studium<br />
begonnen oder inzwischen schon abgeschlossen.<br />
Sowohl während den Lehrjahren<br />
wie auch im Maturalehrgang erhalten<br />
die Teilnehmenden übrigens eine Bezahlung,<br />
zunächst die Lehrlingsentschädigung,<br />
danach eine Beihilfe zur Deckung<br />
des Lebensunterhalts.<br />
Maturalehrgänge gibt es am JBBZ so gut<br />
wie jedes Jahr, sehr selten habe es keine<br />
solche Klasse gegeben, in manchen Jahren<br />
seien es aufgrund des großen Andrangs<br />
sogar zwei gewesen. Für den kommenden<br />
Herbst ortet Janker „riesengroßes Interesse“.<br />
Immer mehr sehr religiöse Gemeindemitglieder,<br />
die bisher ins Ausland an<br />
eine Jeschiwe gingen, möchten nun nach<br />
einer dreijährigen Fachschule für Kommunikation<br />
und Wirtschaft in Wien die<br />
Matura ablegen. „Also, wir sind übervoll.“<br />
Schade findet Janker, dass die Lehre<br />
teils einen schlechten Ruf hat. Diese brauche<br />
dringend eine Aufwertung – und dazu<br />
trage die Möglichkeit, nach einem Lehrabschluss<br />
die Matura abzulegen, eben bei.<br />
„Wäre ich heute noch einmal 15, würde<br />
ich mich wahrscheinlich für eine Lehre<br />
entscheiden“, sagt sie. Warum? Man lerne<br />
dort die lebenspraktischen Dinge, auch<br />
diese würden einen nicht nur gut auf das<br />
Bestehen in der Arbeitswelt, sondern auch<br />
auf ein Studium vorbereiten.<br />
Wichtig ist ihr außerdem zu sagen:<br />
Mit der Entscheidung für eine Lehre entscheide<br />
man sich eben nicht gegen ein<br />
Studium, sondern für frühere Selbstständigkeit.<br />
Sie selbst habe ein Lehramt absolviert<br />
und könne auch aus dieser Perspektive<br />
zudem sagen: „Es ist auch für Schüler<br />
und Schülerinnen, vor allem an Mittelschulen<br />
und berufsbildenden Schulen,<br />
extrem profitabel, Lehrpersonen zu haben,<br />
die auch wissen, was in der Berufswelt<br />
gefragt ist, und die eben vielleicht<br />
selbst ein Handwerk erlernt haben.“<br />
24 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 24 16.09.22 05:58
HIGHLIGHTS | 02<br />
Den Opfern eine Stimme geben<br />
Als „die namhafteste Holocaust-Forscherin ihrer Generation in Österreich“ wurde<br />
sie in der Laudatio bezeichnet: Historikerin Michaela Raggam-Blesch erhielt den<br />
Leon-Zelman-Preis <strong>2022</strong>.<br />
Mit ihrer langjährigen Forschungs- und Vermittlungsarbeit<br />
trage sie wesentlich dazu bei, öffentliches Bewusstsein<br />
für die Shoah und ihre Folgen für die jüdische<br />
Bevölkerung zu schaffen, heißt es in der Begründung der<br />
Jury. Und weiter: „Raggam-Blesch gibt durch ihre Oral-<br />
History-Projekte wie durch die Erforschung jüdischer<br />
Frauenbiografien den Opfern der Shoah eine Stimme. Sie<br />
trägt damit wesentlich zum Dialog zwischen den Überlebenden<br />
der NS-Verfolgung, ihren Nachkommen und dem<br />
heutigen Österreich bei.“ In ihren Publikationen wie im<br />
Rahmen ihrer kuratorischen Tätigkeit für Ausstellungen<br />
mache sie deutlich sichtbar, „dass Entrechtung, Beraubung,<br />
Vertreibung und Verfolgung der Wiener Jüdinnen<br />
und Juden mitten in der Stadt und unter den Augen der<br />
Wiener Bevölkerung stattgefunden haben“.<br />
Laudatorin Heidemarie Uhl, selbst Historikerin, würdigte<br />
Raggam-Blesch als „die namhafteste Holocaust-Forscherin<br />
ihrer Generation in Österreich“. Uhl nutzte ihre<br />
Laudatio auch, um auf die oft schwierige Lebensrealität<br />
junger Wissenschaftler:innen hinzuweisen, die durch prekäre<br />
Arbeitsverhältnisse und knappe Forschungsmittel<br />
geprägt sei.<br />
Raggam-Blesch selbst begann ihre kurze Dankesrede<br />
mit einem Verweis auf das Datum der Preisverleihung:<br />
den 14. <strong>September</strong>. An diesem Tag vor 80 Jahren – am 14.<br />
<strong>September</strong> 1942 – habe vom Aspangbahnhof ein Zug mit<br />
1.000 Personen in Richtung Maly Trostinec verlassen.<br />
Unter ihnen fanden sich 42 Mädchen aus dem jüdischen<br />
Mädchenheim in der Haasgasse und 33 Buben<br />
aus dem jüdischen Lehrlingsheim für Knaben<br />
in der Grünentorgasse.<br />
Besonders erinnerte Raggam-Blesch dabei an<br />
das Schicksal von Erika Fischer, einem jüdischen<br />
Mädchen, das von nicht-jüdischen Pflegeeltern<br />
großgezogen wurde, die sich nach der Machtübernahme<br />
durch die Nationalsozialisten<br />
1938 weigerten, das Kind den Behörden zu<br />
übergeben. Daran änderte auch der Entzug<br />
des Pflegegeldes nichts. Als man dem<br />
Vater, einem Straßenbahner, jedoch 1940<br />
mit Entlassung drohte, gab das Paar den<br />
Widerstand auf. Erika Fischer sollte schließlich<br />
wie auch alle anderen mit dem Zug am 14.<br />
<strong>September</strong> 1942 Deportierten sofort nach der Ankunft<br />
in Maly Trostinec ermordet werden.<br />
„Mir geht es in meiner Arbeit darum, die Menschen<br />
hinter den Zahlen sichtbar zu machen“, sagte die Historikerin.<br />
Die Verleihung des Leon-Zelman-Preises sehe sie<br />
als Auftrag, sich in neuen Forschungs- und Dokumentationsprojekten<br />
weiterhin dieser Aufgabe zu widmen. A.W.<br />
© Daniel Murtagh<br />
„Mir geht es in<br />
meiner Arbeit darum,<br />
die Menschen<br />
hinter den Zahlen<br />
sichtbar zu machen.“<br />
Michaela<br />
Raggam-Blesch<br />
SHANA TOVA!<br />
MIT DEN ALLERBESTEN WÜNSCHEN FÜR EIN FROHES<br />
UND GESUNDES JAHR 5783.<br />
IHR PALAIS HANSEN KEMPINSKI VIENNA<br />
wına-magazin.at<br />
25<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 25 16.09.22 05:58
Thema<br />
Die Schätze Wiesenthals<br />
in neuen Händen<br />
Die Historikerin Sandra B. Weiss leitet seit diesem Jahr<br />
das Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocauststudien<br />
(VWI). Warum die Arbeitstage immer<br />
zu wenige Stunden zu haben scheinen und in welchen<br />
Momenten sie weiß, warum sie diese Aufgabe<br />
so gerne übernommen hat, schildert sie im Gespräch<br />
mit WINA.<br />
Von Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shked<br />
Die Archivalien, die Simon Wiesenthal<br />
hinterließ, sichten,<br />
ordnen, fachgerecht aufbewahren,<br />
digitalisieren: Das ist<br />
der eine Aufgabenbereich von Weiss (mehr<br />
Infos zu dieser Sammlung siehe Kasten).<br />
Der andere: Anfragen aus aller Welt zu bearbeiten<br />
und zu beantworten und den Lesesaal<br />
zu betreuen, in dem Studierende,<br />
Wissenschafter und Wissenschafterinnen<br />
(darunter auch die Fellows, die am VWI tätig<br />
sind), aber auch Privatpersonen Materialien<br />
für ihre Studien oder Recherchen<br />
nutzen können.<br />
Dabei stehen ihnen auch weitere Bestände<br />
zur Verfügung, wie etwa die Holocaust-bezogenen<br />
Teile des Archivs der Israelitischen<br />
Kultusgemeinde (IKG) Wien.<br />
26 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 26 16.09.22 05:58
Persönliche und digitale Anfragen<br />
SANDRA B. WEISS,<br />
geb. 1982 in Sterzing/Südtirol, Matura in Brixen,<br />
danach Studium der Geschichte und Ägyptologie<br />
in Wien, 2008 Abschluss des Diplom-, 2012 des<br />
Master- und schließlich 2017 des Doktoratsstudiums.<br />
Seit 2009 als Historikerin in verschiedenen<br />
Kontexten und Themengebieten tätig, darunter<br />
etwa Mitarbeit an wissenschaftlichen Projekten für<br />
das Institut für Geschichte der Juden in Österreich<br />
in St. Pölten, wissenschaftliche Mitarbeiterin an<br />
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften<br />
beziehungsweise des Instituts für Rechts- und<br />
Verfassungsgeschichte der Universität Wien<br />
(Projekt Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats)<br />
oder Erstellung einer Datenbank für die Stadt Wien<br />
(Wiener Gelehrte und Buchbesitz. Handschriften und<br />
Inkunabeln der Palatina im Eigentum von Professoren<br />
der Universität Wien im 15. bis 16. Jahrhundert). Seit<br />
<strong>2022</strong> Archivarin im Wiener Wiesenthal-Institut<br />
für Holocauststudien (VWI). Weiss lebt mit ihrem<br />
Mann und ihren Kindern, dreijährigen Zwillingen,<br />
in Wien.<br />
sandra-weiss.at<br />
views mit in Großbritannien<br />
lebenden jüdischen<br />
Geflüchteten, ehemaligen<br />
Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen<br />
sowie Holocaust-Überlebenden<br />
(„Refugee<br />
Voices“) einsehbar.<br />
Außerdem betreut das VWI<br />
auch verschiedene Datenbanken,<br />
in denen auch im<br />
Internet recherchiert werden<br />
kann, wie die Datenbank<br />
zur ungarisch-jüdischen<br />
Zwangsarbeit oder ns-quellen.at.<br />
Demnächst werde auch eine digitale Ausstellung<br />
über Wiesenthals Zeit in Linz online<br />
gehen, kündigt Weiss an.<br />
Ziel bei der Gründung des VWI war es,<br />
hier Archivalien und Testimonials von Zeitzeugen<br />
zusammenzuführen und der Holocaustforschung<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
Dieses Angebot wird inzwischen auch<br />
gerne angenommen. Fünf bis zehn Anfragen<br />
pro Tag trudeln in ihrer Mailbox ein,<br />
erzählt Weiss. Die Erstrecherche übernehme<br />
sie dabei in allen Fällen, soll heißen:<br />
Sie sieht nach, was die Bestände, auf<br />
die im VWI Zugriff besteht, zu dem Thema<br />
oder der Person beinhalten. Leben die Anfragenden<br />
weit entfernt, sichte sie auch<br />
„[…] dass<br />
Menschen für<br />
jede Kleinigkeit<br />
dankbar<br />
sind, dafür,<br />
dass man etwas<br />
herausgefunden<br />
hat“.<br />
Sandra B. Weiss<br />
Sie sind eine Leihgabe der IKG bis Juni 2031<br />
und umfassen 332 Kartons, die dem VWI<br />
2018 übergeben wurden, erläutert Susanne<br />
Uslu-Pauer, die Leiterin des IKG-Archivs.<br />
Zugang bietet das VWI aber auch zu Zeitzeugendatenbanken:<br />
Das Fortunoff-Videoarchiv<br />
der Yale University bietet etwa<br />
4.400 Interviews mit einer Gesamtlaufzeit<br />
von mehr als 12.000 Stunden in 22 Sprachen.<br />
Das Austrian Heritage Archive ist<br />
Teil der 800 Interview umfassenden aufgezeichnete<br />
Austrian Heritage Collection.<br />
Sie wurden mit österreichisch-jüdischen<br />
Emigranten in den USA sowie Palästina/Israel<br />
geführt und werden transkribiert und<br />
mit Dokumenten zur Lebensgeschichte der<br />
jeweiligen Person versehen. Und schließlich<br />
sind am VWI rund 245 Videointerdas<br />
Material und übermittle es in digitaler<br />
Form. Aber es sei auch die persönliche Arbeit<br />
eben im Lesesaal am Rabensteig möglich,<br />
etwa für Studierende und Forschende.<br />
Berührende Begegnungen. Ein Teil der Anfragen<br />
wird allerdings von Privatpersonen<br />
gestellt: Entweder handelt es sich dabei um<br />
Familienmitglieder von Opfern, die mehr<br />
über ihre Vorfahren herausfinden möchten.<br />
Aber auch Nachkommen von Tätern<br />
melden sich immer wieder. Sie haben etwa<br />
ein Foto des Großvaters oder Urgroßvaters,<br />
das diesen in einer SS-Uniform zeigt, gefunden<br />
und wollen nun wissen, ob etwas<br />
über von ihm verübte Verbrechen bekannt<br />
ist. Hier kann Weiss oft nicht weiterhelfen<br />
und muss an andere Einrichtungen verweisen,<br />
wie etwa das Staatsarchiv. Wiesenthal<br />
habe Akten zu den führenden Köpfen<br />
des NS-Unrechtsregimes angelegt, bei<br />
den Anfragen gehe es allerdings oft „nur“<br />
um SS-Männer.<br />
Berührend sind oft die<br />
Begegnungen mit Opferfamilien,<br />
die sich dann bedanken,<br />
weil sich im Archiv<br />
Dokumente fanden, erzählt<br />
Weiss. „Gestern war eine<br />
Familie da, die etwas zu den<br />
Großeltern gesucht hat, die<br />
ausgewandert waren und<br />
dazu Formulare ausfüllen<br />
mussten. Und dann saßen<br />
da Mutter und Tochter im<br />
Lesesaal vor einem dieser<br />
Formulare, und die Mutter<br />
sagte zur Tochter, ‚schau<br />
mal, das ist die Unterschrift<br />
meiner Großmutter und<br />
deiner Urgroßmutter.‘ Das<br />
zeigt, wie wichtig und wertvoll<br />
unsere Arbeit hier ist.“<br />
Das seien auch die Momente, in denen man<br />
spüre, „dass Menschen für jede Kleinigkeit<br />
dankbar sind, dafür, dass man etwas herausgefunden<br />
hat“.<br />
Um hier in Erinnerung an die 65.000 ermordeten<br />
österreichischen Juden und Jüdinnen<br />
sowie für deren Nachfahren bestehende<br />
Informationen und Dokumente<br />
noch besser zusammenzuführen, sind<br />
Weiss und Uslu-Pauer nun übrigens dabei,<br />
ein neues mehrjähriges Projekt zu designen.<br />
Dieses soll sich mit der personenbezogenen<br />
Erschließung von Dokumenten, wie<br />
etwa der Hauslisten, beschäftigten, und es<br />
sollen dafür auch zusätzliche Projektmitarbeiter<br />
und -arbeiterinnen zum Einsatz<br />
kommen.<br />
wına-magazin.at<br />
27<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 27 16.09.22 05:58
Umfassende Erschließung<br />
Ursula B. Weiss<br />
kennt die Bestände<br />
bereits sehr gut und<br />
hilft auch persönlich<br />
bei den Anfragen.<br />
Stichwort Unterstützung: An manchen<br />
Tagen weiß Weiss nicht, was sie als<br />
Erstes tun soll. Mailanfragen abarbeiten,<br />
Besprechungstermine absolvieren, Bestände<br />
sichten: Und schon ist der Tag wieder<br />
herum. Aktuell wird die Archiv-Leiterin<br />
von einer Archivarin unterstützt, die<br />
die Erschließung koordiniert, sowie einem<br />
Mitarbeiter, der Schriftstücke digitalisiert.<br />
Zudem gibt es eine studentische<br />
Kraft, internationale Praktikanten und<br />
Praktikantinnen und die wissenschaftliche<br />
Arbeit der Fellows. „Ich hätte natürlich<br />
gerne, dass alles erschlossen, ordentlich<br />
verzeichnet und für alle zugänglich<br />
ist“, erzählt Weiss. Dazu bräuchte sie allerdings<br />
ein größeres Team – ein Wunsch,<br />
von dem sie weiß, dass er schwer zu finanzieren<br />
ist.<br />
So freut sie sich auch über die kleinen<br />
Momente, etwa wenn sie für eine Familie<br />
das eine existierende Dokument finden<br />
konnte, und arbeitet sich ansonsten<br />
langsam Schritt für Schritt vor. Dazu gehört<br />
auch, sich um das Projekt EHRI zu<br />
kümmern, an dem das VWI teilnimmt.<br />
Dabei handelt es sich um die Errichtung<br />
eben einer European Holocaust Research Infrastructure.<br />
Hier wird Vernetzung europaweit<br />
gedacht.<br />
Das vernetzte Denken in großen Zusammenhängen<br />
ist Weiss seit ihrer Studienzeit<br />
ein Anliegen. Ihr Geschichtsstudium<br />
Die Bestände des Simon<br />
Wiesenthal Archivs<br />
Fast 60 Jahre lang spürte Simon<br />
Wiesenthal nationalsozialistischen<br />
Tätern nach, korrespondierte mit Zeugen,<br />
sammelte Zeitungsberichte, auch<br />
zum Thema Rechtsextremismus generell.<br />
Über die Jahre entstand auch<br />
eine umfangreiche Bibliothek und<br />
eine Fotosammlung. Das Archiv des<br />
VWI verfügt heute über Wiesenthals<br />
Sammlung zu NS-Tätern und NS-Verbrechenskomplexen<br />
(Umfang: 35<br />
Laufmeter bzw. rund 8.000 Akten),<br />
seine Bibliothek (etwa 3.500 Druckwerke),<br />
seine Sammlung von Lebensdokumenten,<br />
Manuskripten, Korrespondenzen<br />
in eigener Sache sowie<br />
Presseberichten (39 Laufmeter), seine<br />
Sammlung zu Rechtsextremismus,<br />
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit,<br />
welche den Zeitraum 1960 bis<br />
2004 abdeckt, sowie die rund 3.500<br />
Bilder und Dias umfassende Fotosammlung,<br />
darunter viele Porträtaufnahmen<br />
Wiesenthals, aber auch Fotos,<br />
die bei Vorträgen oder Ehrungen<br />
aufgenommen wurden.<br />
vwi.ac.at<br />
begann sie eigentlich mit dem Wunsch,<br />
sich im Bereich der Holocaust-Forschung<br />
zu spezialisieren, nachdem sie in der<br />
Schule bereits eine vorwissenschaftliche<br />
Arbeit zur NS-Zeit geschrieben hatte.<br />
Doch 2001, als sie zu studieren begann,<br />
habe es außer Überblickslehrveranstaltungen<br />
dazu noch wenig gegeben. So ging<br />
sie in eine ganz andere Richtung, rückte<br />
das Thema Wissenschaftsgeschichte<br />
in den Vordergrund, widmete sich der<br />
Ägyptologie und schnupperte auch die<br />
Astronomie und Erdwissenschaften hinein.<br />
Ihre beruflichen Stationen führten<br />
sie schließlich im Rahmen von Projekten<br />
quer durch die historischen Epochen.<br />
„Mir ist das Verständnis von größeren<br />
Zusammenhängen wichtig“, sagt sie<br />
dazu. Es geht auch immer darum, eine<br />
Entwicklung zu sehen und nicht nur zu<br />
wissen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
passiert ist. Das Studium der Hieroglyphen<br />
haben sie zudem Durchhaltevermögen<br />
und sich durchzubeißen<br />
gelehrt – beides Eigenschaften, die eine<br />
Archivarin brauchen kann, um die Mühen<br />
des Alltags gut zu meistern. Archivarbeit<br />
ist angesichts der großen Zahl der<br />
Dokumente, die einer fachgerechten Lagerung<br />
und Erschließung harren, niemals<br />
Sprint, sondern immer Marathon.<br />
Hier ist also Ausdauer gefragt. Und davon<br />
scheint Weiss jede Menge mitzubringen.<br />
28 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 28 16.09.22 05:58
LEBENS ART<br />
Schana towa!<br />
Auf in das neue Jahr – es soll ein gutes werden!<br />
WINA hat hier ein paar Dinge zusammengestellt,<br />
die dabei durchaus hilfreich<br />
sein könnten.<br />
Oh, wie süß<br />
Schana towa u'metuka: An Honig geht zu<br />
Rosch ha-Schana kein Weg vorbei. Wer das<br />
zuckrige Lebensmittel auch im restlichen Jahr<br />
gut verwahrt und gleichzeitig<br />
schön präsentiert<br />
wissen will, sollte es im<br />
Glas „Viva“ lagern. Mit<br />
dem Holzlöffel kann er<br />
perfekt portioniert werden.<br />
Z. B. über berlinerkaffeeroesterei.de<br />
Einiges auf der<br />
Pfanne<br />
Sonst hat man ja wenig<br />
Zeit, sich ausgiebig der Zubereitung von<br />
tollem Essen zu widmen. Dafür verbringt<br />
man an Feiertagen umso mehr Zeit in<br />
der Küche. Um alle Rezepte von Mame<br />
und Babe nachzukochen, empfehlen<br />
wir, sich direkt mit dem kompletten Set<br />
der Riess-Emailleformen einzudecken<br />
(und denken schon mal an Tsimmes,<br />
Lammbraten mit Rosinen,<br />
gerösteter Fisch, Lekach ...).<br />
riess.at<br />
Diary deluxe<br />
Das Muster dieses Journals trägt den Namen<br />
„Smudge“, was ja nicht nur „Fleck“ bedeutet,<br />
sondern auch „vollklecksen“ oder „beschmieren“.<br />
Wer also nicht an jedem Tag des neuen<br />
Jahres kluge Gedanken aufs Papier bringt, kann<br />
in dieses Heftchen auch gerne seine Strichmanderln<br />
zeichnen. Von The Completist London.<br />
Über etsy.com<br />
Parole Glück<br />
Gründe zum Feiern gibt es viele – da schadet es<br />
nicht, sich das Partymotto als Mantra an die Wand<br />
zu hängen: HAPPY NEW YEAR! Diese Girlande aus<br />
matt-schwarz beschichtetem Papier kommt vom<br />
dänischen Dekorshop Bloomingville und ist z. B.<br />
über sunflower-design.de zu beziehen.<br />
Runde Sache<br />
Nudel-Kugel! So recht weiß man nicht, ob<br />
Geschmack oder Name mehr begeistert. Ein<br />
richtig gutes Rezept für das traditionelle (Neujahrs-)Gericht<br />
gibt es auf jeden Fall auf dem<br />
Block mit der fantastischen URL freiwilligaufgesprungenergranatapfel.com.<br />
Hier trägt die Wienerin Ella Josephine<br />
Esque zusammen, was sie<br />
in ihrer Küche so alles entdeckt<br />
hat (u. a. auch Soleier in Sauerkrautsaft<br />
oder Fichten-Limo!)<br />
In Schale geworfen<br />
Unnötige Segenssprüche?<br />
Dagegen helfen am zweiten<br />
Neujahrstag das Tragen eines<br />
frischen Kleidungsstücks und<br />
der Genuss von Früchten, die<br />
man zu dieser Jahreszeit noch<br />
nicht gegessen hat. In der handgefertigten<br />
Keramikschüssel<br />
„Ourika“ von Chabi Chic kommen<br />
diese besonders hübsch<br />
zur Geltung.<br />
z. B. über debijenkorf.de<br />
Zahlen, bitte!<br />
1982 befand Prince Rogers Nelson,<br />
dass kurz vor der Jahrtausendwende<br />
wohl die ultimativ<br />
beste Zeit für eine verrückte<br />
Feier sein muss. „So tonight, I’m<br />
gonna party like it’s 1999!“, sang<br />
er. Wir finden, dass sich 5783<br />
auch ganz gut dafür eignen<br />
könnte. Wer will, kann es ja mit<br />
einer Kissenschlacht beginnen.<br />
Über redbubble.com<br />
Fotos: Ella Josephine Esque, Hersteller<br />
29 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 29 16.09.22 05:58
MATOK & MAROR<br />
the LaLa good life<br />
Very tasty Veganes im kalifornischen Stil<br />
Während Rosch ha-Schana, dem jüdischen<br />
Neujahr, und den folgenden<br />
Hohen Feiertagen genießen<br />
wir koschere heimische und manchmal auch<br />
etwas deftige Speisen. Will man sich dazwischen<br />
an manchen Tagen von Fisch, Fleisch<br />
und Eiern etwas erholen, dann kann man im<br />
the LaLa in der Neustiftgasse 23 veganes, frisches<br />
Essen zu sich nehmen.<br />
Die Schwestern Cecilia Havmöller und<br />
Susanna Paller haben sich einen Traum erfüllt,<br />
von dem sie gemeinsam vor Jahren in<br />
Los Angeles schwärmten: Sie wollten nämlich<br />
unbedingt ein Stück kalifornisches Lebensgefühl<br />
nach Wien bringen. „Lasst Plastik,<br />
Zucker, Laktose und tierische Produkte<br />
weg und entdeckt die vegane Revolution in<br />
Wien Neubau“, lautet die schwesterliche Lala-<br />
Philosophie, die durch das Motto „Weil gutes<br />
Essen plus gute Laune macht a good life!“<br />
verstärkt wird.<br />
Die Schwestern Cecilia und Susanna sind<br />
keine Neulinge in der Wiener Gastroszene:<br />
Bereit 2013 eröffneten sie mit Veganista den<br />
ersten voll veganen Eissalon Österreichs.<br />
Heute zählt man über ganz Wien verteilt elf<br />
Standorte, zusätzlich gibt es das koscher zertifizierte<br />
Eis auch am Flughafen Schwechat.<br />
(Gemeinderabbiner Hofmeister verantwortet<br />
das Koscher-Zertifikat, WINA berichtete<br />
darüber bereits vor zwei Jahren.)<br />
Die Schwestern, die selbst seit mehr als<br />
30 Jahren vegan leben, waren von der bescheidenen<br />
Auswahl an veganen Lokalen<br />
enttäuscht und schritten daher zur Tat. Im<br />
Fokus von the LaLa steht guter Geschmack:<br />
Täglich werden ausschließlich frisch zubereitete<br />
vegane Speisen serviert, und das mit<br />
so gesunden und außergewöhnlichen Zutaten<br />
wie Microgreens (beste Biokeimsaat),<br />
Kale (Grünkohl), Teff (Zwerghirse) oder<br />
Noriflocken (feine Meeresalgen als Streuwürze).<br />
Mit diesen und anderen Superfood-<br />
Beigaben zaubert man hier Salate, Roundies,<br />
Protein-Shakes, Smoothies, Botanical<br />
Lattes, Juices und Desserts, z. B. köstliche<br />
„Weil gutes Essen<br />
plus gute Laune<br />
macht a good life!“<br />
Von den<br />
Hollywood<br />
Hills bis zu den<br />
Beach Breads<br />
machen im the<br />
LaLa schon die Namen<br />
Appetit.<br />
WINA- TIPP<br />
THE LALA<br />
Neustiftgasse 23, 1070 Wien<br />
Mo.–So., 9–21 Uhr<br />
Tel.: +43/(0)660/710 78 51<br />
(Vorbestellungen auch über<br />
WhatsApp möglich)<br />
the-lala.com<br />
Schoko-Brownies, auf den Tisch und zum<br />
Mitnehmen.<br />
Die Chili-Portion mit Bohnen, Mais, fermentierten<br />
Soja-Würfeln, Polenta und Avocado<br />
um 12,90 € ist so groß, dass man diese<br />
nur zu zweit bewältigen kann. Auch die „Hollywood<br />
Hills“ benannte kalte Salat-Bowl<br />
mit Tempeh, frischem Spinat, Tomaten,<br />
Kürbiskernen, Hummus,<br />
Superfood Cracker und Crispy<br />
Chickpeas (12,90 €) ist für das<br />
Teilen sehr gut geeignet, noch<br />
dazu, weil es auf einem Reisoder<br />
Quinoa-Bett angerichtet ist.<br />
Um jeweils 7,90 € gibt es drei Frühstücksangebote<br />
mit reichlich Haferflocken<br />
und Kokosmilchreis. „Nuts About You“<br />
gehört zur Kategorie „Beach Breads“ und bietet<br />
Roggenbrot mit Cashew-, Erdnuss- oder<br />
Mandelmus, Marmelade, Banane und Chiasamen<br />
um wohlfeile 6,90 €.<br />
„Creamy Gary“ nennt sich hingegen<br />
das Roggenbrot mit Cream Cheese aus Cashew<br />
mit Schnittlauch, dazu gibt es noch<br />
Tomaten und Microgreens (7,90 €). Diverse<br />
Smoothies und Kaltgetränke findet man in<br />
der gekühlten Vitrine. Betrinken kann man<br />
sich hier nicht – no alcohol –, dafür aber mit<br />
ungesüßten Milchalternativen etwas Gutes<br />
tun: Gesunde Drinks werden aus Hafer, Mandel,<br />
Reis, Soja oder Kokos angeboten. <br />
<br />
Paprikasch<br />
© Reinhard Engel<br />
30 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 30 16.09.22 05:58
Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion,<br />
auf ins neue Jahr! Bei Nehemia 8,10 heißt es dazu:<br />
„Geht hin und esst fette Speisen und trinkt süße Getränke<br />
und sendet davon auch denen, die nichts für<br />
sich bereitet haben …“ Genau das würde ich gern<br />
tun. Hättet Ihr denn eine Idee, was ich selbst herstellen<br />
könnte, um es in Flasche abgefüllt zu Rosch<br />
ha-Schana weiterzugeben, und das Erwachsenen<br />
und Kindern schmeckt?<br />
Deborah K.<br />
Wie wäre es, zwei der traditionellen, symbolischen<br />
Lebensmittel, die Rosch ha-<br />
Schana sonst auf dem Teller begleiten, in ein<br />
Getränk zu packen? Wir dachten da an Honig<br />
und Granatäpfel, die sich wunderbar zu einem<br />
Sirup verarbeiten und vereinen lassen.<br />
Dafür 6 bis 7 Granatäpfel (je nach Größe)<br />
halbieren und mit einer Zitronenpresse auspressen.<br />
Am Ende sollten Sie 600 ml Saft haben,<br />
den Sie durch ein feines Sieb in einen Topf<br />
abseihen. Die Flüssigkeit mit 400 Gramm Zucker<br />
und 100 Gramm Honig bei starker Hitze<br />
unter ständigem Rühren zehn Minuten aufkochen.<br />
Dabei den Schaum, der sich an der<br />
Oberfläche bildet, abschöpfen. Den heißen<br />
Sirup anschließend mittels eines Trichters in<br />
zuvor sterilisierte Fläschchen abfüllen und<br />
gut verschließen. Fertig!<br />
Kinder können den Sirup mit Soda gespritzt<br />
genießen. Für die erwachsenen Beschenkten<br />
hängen Sie einfach noch folgende<br />
Cocktailinspiration – am schönsten handgeschrieben<br />
– an die Flasche: „Ein hohes Glas<br />
mit Eiswürfeln und 1 EL Granatapfelkernen<br />
füllen, 4 cl Granatapfelsirup und 4 cl Dry Gin<br />
zugeben und mit 10 cl Tonic Water aufgießen.“ Damit lässt es sich<br />
dann herrlich auf das neue Jahr anstoßen.<br />
Der Sirup eignet sich übrigens auch ganz hervorragend,<br />
um das Rosch-ha-Schana-Rezept für das Henderl zu veredeln,<br />
das wir Ihnen auf dieser Seite vorstellen …<br />
Werte Kulinarik-Expert:innen,<br />
eine Frage: Vom Schmarrn bis zur Semmel,<br />
vom Knödel bis zum Schöberl und vom Spritzer<br />
bis zur Melange – wie kommt es eigentlich,<br />
dass so viele Speisen und Getränke, die eher<br />
WINAKOCHT<br />
Wie kam der Kaiserschmarrn<br />
zu seinem Adelstitel, …<br />
… und was kommt zu Rosch ha-Schana in die Flasche? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher<br />
Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />
Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
HÜHNCHEN MIT<br />
GRANATAPFEL<br />
ZUTATEN FÜR 2 PERSONEN<br />
400 g Hühnerbrust<br />
(in sehr grobe Stücke geschnitten)<br />
4 EL Granatapfelkerne<br />
gehackte breitblättrige Petersilie<br />
oder Minze nach Belieben<br />
Für die Marinade:<br />
2 EL Olivenöl<br />
80 ml Granatapfelsirup<br />
Saft einer Zitrone<br />
3 fein geriebene Knoblauchzehen<br />
2 EL Senf<br />
schwarzer Pfeffer aus der Mühe<br />
Salz<br />
ZUBEREITUNG<br />
Zutaten für die Marinade verrühren<br />
und mit Pfeffer und Salz abschmecken.<br />
In eine verschließbare Schale<br />
geben, die Hühnerbrustteile darin<br />
über Nacht im Kühlschrank ruhen lassen.<br />
Fleisch am nächsten Tag aus dem<br />
Kühlschrank holen und zirka eine<br />
Stunde ruhen lassen, bis es etwa<br />
Zimmertemperatur hat.<br />
Eine beschichtete Pfanne auf mittlere<br />
Hitze erhitzen und darin die Hähnchenteile<br />
von beiden Seiten solange<br />
braten, bis sie durch sind.<br />
Die Hähnchenteile auf einem Teller<br />
anrichten, mit Granatapfelkernen und<br />
ggf. Petersilie oder Minze bestreuen.<br />
Dazu schmeckt Reis oder Salat.<br />
einfach sind, den Zusatz „Kaiser“ tragen? Das können<br />
doch nicht alles Leibgerichte Seiner Majestät gewesen<br />
sein …<br />
Anna W.<br />
Was die Donaumonarchie-Wiener:innen<br />
kulinarisch ganz besonders liebten<br />
und schätzten, adelten sie gern mit dem<br />
Prädikat „Kaiser“, den sie ebenfalls ganz<br />
besonders liebten und schätzten. Gesteigert<br />
wurde diese allerhöchste Genussauszeichnung<br />
nur noch dadurch, dass man sie mitunter<br />
mit Geschichten unterlegte, die Seine<br />
Majestät direkt mit einem Gericht in Verbindung<br />
brachten – wie etwa jene rund um den<br />
Kaiserschmarrn.<br />
Die bekannteste „Anekdote“ zur Mehlspeise<br />
hat folgende Zutaten: Dereinst soll<br />
dem Kaiserpaar Sisi und Franz Joseph ein<br />
neues Gericht aus Omelettteig mit Zwetschkenröster<br />
serviert worden sein. Die auf<br />
ihre schlanke Linie bedachte Kaiserin verschmähte<br />
es jedoch. Und so soll ihr Gatte<br />
den Teller schließlich entnervt zu sich gezogen<br />
haben mit den Worten: „Na geb’ er mir<br />
halt her den Schmarren, den unser Leopold<br />
da wieder z’sammenkocht hat.“<br />
Dass die Bezeichnung „Kaiserschmarren“<br />
schon lange vor diesem angeblichen<br />
Vorfall existierte – 1835 hatte das Gasthaus<br />
„Zum Sperl“ zum ersten Mal einen Kaiserschmarrn<br />
auf seinen „Speisen-Tariff“ gesetzt,<br />
und zu dieser Zeit war Franz Joseph gerade<br />
einmal fünf Jahre alt und Sisi noch gar<br />
nicht geboren –, konnte weder der Erfolgsgeschichte<br />
des Schmarrns noch jener der<br />
Anekdote Abbruch tun. Genauso wenig wird ihnen auch die<br />
Überzeugung vieler moderner Sprachforscher:innen<br />
anhaben können, nach denen sich der Zusatz „Kaiser“<br />
eher vom italienischen „a la casa“, also „nach<br />
Art des Hauses“ oder „wie in einfachen Hütten“<br />
herleiten dürfte, was auch der einfachen Natur<br />
der Speisen entspricht. Denn wen interessieren<br />
schon etymologische Zusammenhänge,<br />
wenn die Überzeugung, man koche<br />
und esse wie bei Hofe, einfach viel besser<br />
mundet als die trockene Wissenschaft ...<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />
office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
schicken Sie sie bitte an:<br />
wına-magazin.at 31<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 31 16.09.22 05:59
Jude, Christ, Buddhist<br />
Von Pak bis Shanghai<br />
Das Leben des Ignaz Trebitsch, der sich<br />
später auch Timothy Trebich-Lincoln, dann<br />
wieder Moses Pinkeles und zuletzt sogar<br />
Chao Kung nannte, könnte filmreifer nicht<br />
sein. Versuch einer kurzen Lebensgeschichte.<br />
Von Viola Heilman<br />
Es gibt Lebensgeschichten, die<br />
so unglaublich ablaufen, dass<br />
sie kopfschüttelnd als viel zu<br />
unwahrscheinlich abgetan<br />
werden. Wenn sie dann auch<br />
noch gewürzt sind mit allerlei erfolgreichen<br />
kriminellen Handlungen, werden sie<br />
dem Reich der Übertreibung und Fantasie<br />
zugerechnet. Und dennoch gibt es sie.<br />
Schon beim Namen Moses Pinkeles<br />
muss man lächeln: Ignaz Timothy Trebich-<br />
Lincoln hatte viele Pseudonyme, denn für<br />
all die Stationen und Vorhaben seines Lebens<br />
konnte ein Name allein nicht reichen.<br />
Seine Geschichte beginnt am 4.<br />
April 1879 in Paks, einer kleinen, 120 Kilometer<br />
südlich von Budapest gelegenen<br />
Stadt. Seine Familie war wohlhabend, der<br />
Vater ein Getreidehändler und die Mutter<br />
eine entfernte Verwandte der Rothschilds.<br />
Die Familie hatte drei Söhne. Ignaz lernte<br />
in einer Jeschiwa und ging in eine ausgezeichnete<br />
säkulare Schule, wo er Französisch<br />
und Deutsch lernte. Sprachen, die er<br />
bereits mit zehn Jahren fließend sprach.<br />
Nach der Schule strebte Ignaz eine Kariere<br />
als Schauspieler an und besuchte die<br />
beste Schauspielschule in Budapest. Zu<br />
dieser Zeit verlor sein Vater bei Börsenspekulationen<br />
den Großteil seines Vermögens.<br />
Um das verlorene Geld zu kompensieren,<br />
begann Ignaz, Uhren zu stehlen.<br />
Er beendete sein Schauspielstudium und<br />
startete eine Weltreise, die bis zu seinem<br />
Tod nicht mehr endete. Um sich finanziell<br />
über Wasser zu halten, schrieb er Reisegeschichten<br />
für ungarische Zeitungen über<br />
Südamerika. Allerdings hielt er sich dort<br />
niemals auf.<br />
1898 ließ sich Ignaz taufen und zog im<br />
Jahr darauf nach London. Dort lebte er<br />
bei einer christlichen Mission, die von einem<br />
ebenfalls getauften Juden namens<br />
Lipschitz geführt wurde. Sein Leben als<br />
Christ begann etwas unglücklich,<br />
nachdem er eine Uhr von<br />
Frau Lipschitz stahl und erwischt<br />
wurde. Er floh daraufhin<br />
nach Deutschland, wo er<br />
zum Priester geweiht wurde.<br />
In dieser neuen Berufung begab<br />
er sich auf eine Reise nach<br />
Kanada, wo er als Missionar<br />
für die irische presbyterianische<br />
Mission arbeitete.<br />
Trebitsch war sehr erfolgreich in<br />
seiner Tätigkeit, bei der er anderen<br />
Juden das Evangelium beibrachte.<br />
Es dauerte aber nicht<br />
lange, und er zerstritt sich mit<br />
seinen Vorgesetzten. Aus Trotz schloss er<br />
sich der anglikanischen Kirche an und begeisterte<br />
in seinen inspirierenden Predigten<br />
zahlreiche Gläubige. Doch schon 1903<br />
kehrt er aus unbekannten Gründen wieder<br />
nach England zurück, wo ihn der Erzbischof<br />
von Canterbury zum Pfarrer einer<br />
Gemeinde in der Grafschaft Kent ernannte.<br />
Dort gab es kaum Juden, die kon-<br />
Trebitsch<br />
schrieb ein<br />
Buch über<br />
öffentliche<br />
Ordnung,<br />
das später zu<br />
einer zentralen<br />
Referenz für<br />
die liberale<br />
Partei Englands<br />
wurde.<br />
vertieren wollten, und so beendete Trebitsch<br />
diese Tätigkeit sehr bald wieder, um<br />
neue Aufgaben zu suchen.<br />
Während seiner vielen Reisen durch<br />
Großbritannien lernte er auf einer Zugfahrt<br />
Benjamin Seebohm Rowntree kennen,<br />
einen erfolgreichen Schokoladenhersteller,<br />
der später seine politische Karriere<br />
finanzierte. Trebitsch begann sich nun für<br />
Politik zu interessieren<br />
und strebte eine Karriere<br />
im Parlament an.<br />
Rowntree machte ihn<br />
zu seinem Privatsekretär<br />
und schickte ihn auf<br />
das europäische Festland,<br />
um über Armut<br />
zu forschen.<br />
Trebitsch schrieb<br />
für Rowntree ein Buch<br />
über öffentliche Ordnung,<br />
das später zu einer<br />
zentralen Referenz<br />
für die liberale Partei<br />
Englands wurde. Zu<br />
dieser Zeit änderte er<br />
auch seinen Namen in Timothy Trebich-<br />
Lincoln. Er wählte den Zusatznahmen Lincoln<br />
aus Bewunderung für den amerikanischen<br />
Präsenten, der für ihn ein großes<br />
Vorbild war.<br />
1910, sieben Jahre nach seiner Priestertätigkeit,<br />
wurde „Timothy“ zum „Liberal Member“<br />
für den Bezirk Darlington in das<br />
© Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com;<br />
32 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 32 16.09.22 05:59
Politischer Berater und Spekulant<br />
© Scherl / SZ-Photo / picturedesk.com;<br />
House of Commons des englischen Parlaments<br />
gewählt.<br />
Ignaz Trebitsch hatte die Fähigkeit, jede<br />
Ideologie oder religiöse Weltanschauung<br />
mit der Leidenschaft eines Missionars<br />
zu vertreten und zu fördern, große Menschenmengen<br />
anzuziehen und sie zu<br />
leichtfertigen Handlungen zu veranlassen,<br />
etwa, ihm ihr Geld zu übergeben.<br />
Als Parlamentsabgeordneter baute<br />
sich Timothy Trebich-Lincoln gute Kontakte<br />
auf, die ihm halfen, in die ganz großen<br />
Geschäfte einzusteigen. Damals spekulierten<br />
viele mit Ölaktien, und so begab<br />
er sich nach Südosteuropa, wo Öl gefunden<br />
worden war. Er gründete das Anglo-Austrian<br />
Petroleum Syndikat und erzählte seinen<br />
Geldgebern über hervorragend laufende<br />
Geschäfte. Doch das stimmte alles<br />
nicht, und er machte Bankrott. Durch diesen<br />
Skandal verlor er auch seinen Sitz im<br />
Parlament. Anfang 1911 stand er vor dem<br />
existenziellen Aus, hatte überall Schulden,<br />
keinen Job und eine Familie mit vier Kindern.<br />
Verzweiflung war für Trebitsch aber<br />
keine Option, und so stieg er nun richtig<br />
ins Ölgeschäft ein, indem er seine besten<br />
Kontakte nutzte und Investoren zu den Ölfeldern<br />
in Galizien und Rumänien brachte,<br />
die bereitwillig investierten. Er gründete<br />
eine Aktienfirma, trieb noch mehr Geld<br />
auf, verhandelte, überzeugte und reiste –<br />
bis er wieder bankrottging.<br />
Inzwischen brach der Erste Weltkrieg<br />
aus, und Trebitsch nahm eine schlecht bezahlte<br />
Arbeit als Zensor deutscher Briefe<br />
an. Da er sich dabei unterfordert fühlte,<br />
bot er dem englischen Geheimdienst an,<br />
Doppelagent zu werden. Diese Karriere<br />
scheiterte bald daran, dass er keine interessanten<br />
Informationen liefern konnte.<br />
Seine finanzielle Situation wurde immer<br />
prekärer. Mit Scheckbetrug versuchte er<br />
seine Situation zu ändern, wurde deshalb<br />
bald polizeilich gesucht und setzte sich<br />
1915 in die USA ab. Seine Frau ließ er mit<br />
den Schulden zurück.<br />
In den USA setzte Trebitsch die Scheckbetrügereien<br />
fort und schrieb ein Buch,<br />
in dem er behauptete, britische Kriegsgeheimnisse<br />
aufzudecken. All das, während<br />
er weiterhin Schulden anhäufte. Auf<br />
Druck von Scotland Yard, ihn auszuliefern,<br />
wurde er in den USA festgenommen. Um<br />
sich einfallsreich aus dieser Schlinge zu<br />
ziehen, bot Trebitsch den USA an, Staatsgeheimnisse<br />
auszuplaudern, diesmal Deutsche.<br />
Anfänglich glaubten ihm die amerikanischen<br />
Behörden und gaben ihm sogar<br />
ein Büro samt Personenschutz. Doch der<br />
Ignaz „Timothy“ Trebich-<br />
Lincoln, 1879 in Budapest<br />
geboren, hatte so viele<br />
Namen wie Gesichter und<br />
Berufe.<br />
Ignaz „Timothy“<br />
Trebich-<br />
Lincoln an Bord<br />
der „Empress of<br />
Russia“, um mit<br />
weiteren buddhistischen<br />
Mönchen<br />
am Bodenseee<br />
ein Kloster zu<br />
gründen.<br />
Bernard Wasserstein<br />
beschreibt in seinem<br />
Buch The Secret Lives of<br />
Trebitsch Lincoln (1988,<br />
Yale University Press)<br />
das Leben dieses außergewöhnlichen<br />
Menschen.<br />
Ohne die aufwendige<br />
Recherche von Wasserstein<br />
wären die vielen<br />
Leben des<br />
Ignaz Trebtisch<br />
Lincoln<br />
gänzlich in<br />
Vergessenheit<br />
geraten.<br />
Treb<br />
18<br />
wına-magazin.at<br />
33<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 33 16.09.22 05:59
Schillernder Betrüger<br />
Druck der Auslieferung durch die Briten<br />
wurde zu groß, und so wurde Trebich-Lincoln<br />
in New York festgenommen und in ein<br />
Gefängnis in Brooklyn gebracht. Aus diesem<br />
gelang ihm kurzzeitig ein Ausbruch,<br />
bald darauf wurde er jedoch wieder festgenommen<br />
und diesmal sofort an die Briten<br />
ausgeliefert. In England wurde er 1916<br />
zu drei Jahren Haft wegen Fälschung verurteilt.<br />
Während seines Gefängnisaufenthaltes<br />
entwickelte er einen rachsüchtigen<br />
Hass gegen alles Britische, der von nun an<br />
sein Leben dominieren sollte.<br />
Kaum entlassen, ging er nach Deutschland,<br />
wo er sich 1920 reaktionären Kreisen<br />
anschloss, um die Weimarer Republik zu<br />
stürzen. Der Putsch war aber nicht erfolgreich,<br />
und Trebitsch, der für die Putschisten<br />
als Pressesprecher fungierte, wurde in<br />
Berlin erneut festgenommen. Es wundert<br />
nicht, dass ihm auch Kontakte zu Adolf<br />
Hitler und Miklós Horthy, damaliges antisemitisches<br />
Staatsoberhaupt Ungarns,<br />
nachgesagt wurden. Bemerkenswert, weil<br />
er damals unter dem Alias Moses Pinkeles<br />
lebte.<br />
Auch in Berlin brach er aus dem Gefängnis<br />
aus und flüchtete nach Ungarn.<br />
Diesmal nahm er einen Koffer voller Dokumente<br />
mit, die die rechten politischen<br />
Strömungen Deutschlands inkriminierten,<br />
und bot sie vergeblich den britischen<br />
und französischen Geheimdiensten an.<br />
Wenig verwunderlich, kam Trebitsch<br />
in Ungarn abermals in Konflikt mit dem<br />
Gesetz und musste sich absetzen. Er be-<br />
Noch Ende 1932<br />
trat Chao Kung,<br />
wie sich Trebitsch<br />
nun nannte, in<br />
Berlin auf, um über<br />
den Buddhismus zu<br />
referieren.<br />
Sein letztes Interview<br />
gab Ignaz<br />
Trebitsch-<br />
Lincoln einer<br />
jüdischen Exilzeitung<br />
in<br />
Shanghai, der<br />
er von seiner<br />
Idee eines Tel<br />
Aviv im Miniaturformat<br />
erzählte.<br />
schloss als nächsten Racheakt<br />
gegen das britische<br />
Imperium, China<br />
in eine Militärmacht zu<br />
verwandeln, die es Indien<br />
ermöglichen sollte,<br />
die Briten von dort zu<br />
vertreiben.<br />
Mit dieser neuen Idee<br />
vor Augen schiffte er sich<br />
1922 mit falschen Papieren<br />
nach China ein. Dort<br />
angekommen, schloss er<br />
sich der Bürgerkriegsarmee unter General<br />
Wu Pei Fu an. In den folgenden Jahren half<br />
Trebich-Lincoln den Japanern von China<br />
aus bei ihrem Kampf, die Mandschurei zu<br />
erobern, und trug damit gleichzeitig dazu<br />
bei, dass die britische Vormachtstellung in<br />
Asien zusammenbrach.<br />
1931 beschloss Trebich-Lincoln, dass es an der<br />
Zeit war, seinen Glauben und die religiösen<br />
Aspekte seines Lebens wiederzubeleben.<br />
Also wurde er zum buddhistischen<br />
Mönch ordiniert und änderte seinen Namen<br />
in Chao Kung. Er übernahm, ganz seinem<br />
Charakter folgend, auch jetzt wieder<br />
eine Führungsrolle. Nach der Gründung<br />
eines Klosters und einer Sekte übernahm<br />
er, wie schon Jahre zuvor als Priester, wieder<br />
missionarische Aufgaben und reiste<br />
nach Europa. Wie er das alles finanziert<br />
hat, ist nicht bekannt. Gerüchteweise<br />
wird angenommen, dass er durch seine<br />
Geheimdiensttätigkeit zu Geld kam.<br />
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs<br />
suchte Trebitsch Kontakt zu einem NS-<br />
Beamten und bot seine Dienste an. Doch<br />
das Angebot wurde von Reinhard Heydrich,<br />
dem Leiter des NS-Reichssicherheitshauptamts,<br />
aufgrund der jüdischen Herkunft<br />
Trebitschs abgelehnt.<br />
Nach dem Tod des damaligen Dalai<br />
Lama versuchte der damals bereits 60-Jährige,<br />
Heinrich Himmler davon zu überzeugen,<br />
dass es eine gute Idee wäre, ihn zu<br />
seinem Nachfolger zu ernennen. Im Gegensatz<br />
zu den Nazis waren die Briten und<br />
die Tibeter nicht begeistert von der Idee,<br />
und Trebitsch schaffte es nie nach Tibet.<br />
Unermüdlich ging es für ihn in Shanghai<br />
weiter mit neuen hochtrabenden<br />
Ideen. Vor dem Hintergrund<br />
der Massenmorde durch die<br />
Nationalsozialisten schrieb er<br />
einen Brief an Hitler, in dem<br />
er die Beendigung der Ermordung<br />
von Juden forderte. Als<br />
Reaktion darauf befahl das<br />
Nazi-Kommando seine japanischen<br />
Verbündeten, nachdem<br />
diese 1937 Shanghai erobert<br />
hatten, Trebitsch hinzurichten.<br />
Zu dieser Zeit war er in<br />
Shanghai jedoch eine wichtige<br />
intellektuelle Persönlichkeit,<br />
die buddhistische Studiensitzungen<br />
und Riten beaufsichtigte,<br />
und so verhallte die Forderung<br />
der Nazis, ihn zu töten.<br />
Ignaz Trebich-Lincoln<br />
hatte schon früh seine Nähe<br />
zum Judentum aufgegeben. Umso erstaunlicher<br />
ist es, dass im Jahr 1943 ein Interview<br />
in der jiddisch-russisch-englischen<br />
Wochenzeitung Lebn erschien, die von den<br />
jüdischen Flüchtlingen in Shanghai herausgegeben<br />
wurde.<br />
In diesem letzten Interview beschreibt<br />
der Reporter den in Mönchsgewändern<br />
gekleideten Ignaz Trebich-Lincoln als gelassenen<br />
Menschen. Trebitsch nutzte die<br />
Gelegenheit, die ihm dieses Gespräch bot,<br />
um seine Ansichten zu jüdischen Themen<br />
zu erklären. Obwohl er vehement gegen<br />
den Zionismus war, hatte er seinen eigenen<br />
Plan zur Lösung der jüdischen Flüchtlingsprobleme<br />
und der Obdachlosigkeit in<br />
Shanghai. Seine Lösung sah vor, die jüdischen<br />
Flüchtlinge auf buddhistischem Territorium<br />
in der Nähe von Shanghai anzusiedeln<br />
und dort eine Modellsiedlung zu<br />
bauen: ein Tel Aviv im Miniaturformat.<br />
Ignaz Trebitsch-Lincoln starb am 7. <strong>Oktober</strong><br />
1943.<br />
© Austrian Archives (S) / brandstaetter images / picturedesk.com<br />
34 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 34 16.09.22 05:59
Pionier der Nuklearmarine<br />
Der Admiral<br />
und die Reaktoren<br />
Hyman Rickover, ein Einwandererkind aus einem<br />
polnischen Stetl, wurde zum Vater der amerikanischen<br />
Nuklearflotte. Eine aktuelle Biografie ist nun in der Serie<br />
Jewish Lives der Yale University Press erschienen.<br />
Von Reinhard Engel<br />
bin Kapitän Rickover. Ich bin<br />
dumm.“ Mit diesen knappen Sätzen<br />
stellte sich Hyman Rickover<br />
„Ich<br />
Edward Teller vor, dem bekannten<br />
Nuklearwissenschaftler, der später als<br />
Vater der Wasserstoffbombe bezeichnet<br />
werden sollte. Es war sicher Ehrfurcht vor<br />
Teller, die ihn so sprechen ließ, aber wohl<br />
auch ein Gutteil Koketterie des drahtigen,<br />
klein gewachsenen Marineingenieurs.<br />
Rickover war freilich kein einfacher<br />
Offizier der US-Kriegsmarine. Er hielt<br />
bereits einen Master-Abschluss in Elektrotechnik<br />
der Columbia University. Und<br />
er hatte sich schon intensiv in das neue<br />
Feld der Nukleartechnik eingelesen. Doch<br />
anders als die tausenden Ingenieure des<br />
Manhattan-Projekts, die sich während<br />
des Zweiten Weltkriegs ausschließlich<br />
auf die Entwicklung der Bombe konzentriert<br />
hatten, wollte er etwas ganz anderes:<br />
die neue Energie zum Antrieb von U-<br />
Booten und – später – Überwasserschiffen<br />
bändigen.<br />
Das Umfeld dafür war alles andere als<br />
bereitet. Mit Kriegsende wurde die US-<br />
Marine drastisch redimensioniert, auf<br />
etwa ein Zehntel des Stands von 1945.<br />
Und Rickover hatte dabei seinen organisatorischen<br />
Anteil. Für die Männer zur<br />
See war der Ausblick auch in einem größeren<br />
strategischen Feld äußerst ungünstig.<br />
Der Sieg über Japan durch den Abwurf<br />
der beiden Atombomben hatte die Prioritäten<br />
Washingtons ganz klar in Richtung<br />
Kernwaffen und Bomber gelegt. Zwar<br />
hatte es schon zu Kriegsbeginn in den<br />
USA erste – sehr theoretische – Überlegungen<br />
zum Einsatz der Atomenergie als<br />
Antriebsmittel für große Schiffe gegeben,<br />
doch diese waren inzwischen fast völlig<br />
in den Hintergrund getreten. Mit dem<br />
Nachziehen der Sowjetunion auf dem<br />
Gebiet der nuklearen Bewaffnung wurde<br />
diesen Gedanken wieder neuer Auftrieb<br />
gegeben. Rickover erkannte seine Chance.<br />
„Er war kein Mensch technischer Details“,<br />
erinnerte sich später ein enger<br />
Mitarbeiter an ihn. „Er war ein meisterhafter<br />
Politiker und ein Experte dafür,<br />
Dinge durchzusetzen, auch dafür, welche<br />
technische Option zu unterstützen.“<br />
Rickover selbst meinte damals: „Ich<br />
weiß bereits mehr als alle Firmenchefs<br />
und Regierungsbeamten, mit denen<br />
ich zu tun haben werde.“ Und<br />
er nutzte seine Chance als Leiter<br />
des Marine-Reaktorenprogramms,<br />
eine Chance, die vom<br />
Großteil der Navy-Hierarchie<br />
äußerst gering eingeschätzt<br />
wurde. Wenn es möglich sein<br />
sollte, einmal ein Schiff mit der<br />
neuen Technologie über die<br />
Meere fahren zu lassen, dann würde das<br />
noch Jahrzehnte dauern. Rickover legte<br />
sich frech fest: Anfang 1955 würde ein<br />
Atom-getriebenes Unterseeboot vom Stapel<br />
laufen.<br />
Dafür brauchte es nicht nur viel Geld,<br />
das der Marinemanager, der meist im<br />
Anzug ins Büro kam, sich mit intensivem<br />
Lobbying über die Köpfe seiner Vorgesetzten<br />
hinweg in Washington beim<br />
Kongress besorgte. Es brauchte Grundlagenforschung,<br />
Heerscharen ziviler In-<br />
„Er war ein meisterhafter<br />
Politiker und ein Experte<br />
dafür, Dinge durchzusetzen.“<br />
Ein enger Mitarbeiter über Hyman Rickover<br />
genieure, ein intensives Schulungsprogramm<br />
für Techniker der Marine selbst<br />
und dann konkrete Pläne zur Konstruktion<br />
des Reaktors wie des neuen Bootes.<br />
Der Reaktor durfte nicht zu groß sein,<br />
sonst würde er nicht in die enge Hülle eines<br />
Unterwasserfahrzeugs passen, und er<br />
müsste so gut abgeschirmt sein, damit die<br />
Besatzung, die ja monatelang unmittelbar<br />
daneben arbeiten und leben würde,<br />
keinen Schaden nehmen dürfe. Schließlich<br />
müssten alle Systeme auf extreme Sicherheit<br />
ausgelegt sein, der Reaktor dürfe<br />
weder bei schwerer See, im Gefecht noch<br />
bei Wartungsarbeiten im Hafen irgendeine<br />
Gefahr darstellen. Er habe selbst einen<br />
Sohn, sagte Rickover einmal, und alles<br />
an Bord müsse so sicher sein, dass er<br />
seinen Sohn ohne Bedenken dort einsetzen<br />
würde.<br />
Besessener Dickschädel. Für diese Riesenaufgabe,<br />
quasi aus dem Nichts ein derart<br />
komplexes Programm aufzubauen,<br />
brauchte es mehr als nur einen nüchternen,<br />
kühlen Manager. Es brauchte einen<br />
überzeugten, um nicht zu sagen be-<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 35 16.09.22 05:59
Schwieriger Zeitgenosse<br />
Ryman Rickover auf dem<br />
United States Ship (USS) „Nautilus“,<br />
dem ersten nukleargetriebenen<br />
U-Boot der Welt, das am<br />
21. Jänner 1954 vom Stapel lief.<br />
Rickover und Laboratoriumsleiter<br />
Waldo<br />
Lyon an Bord der „USS<br />
Nautilus“.<br />
sessenen Dickschädel. Und das<br />
war Rickover. Er hatte sein Organisationstalent<br />
schon zu<br />
Kriegszeiten bewiesen, als er<br />
als stellvertretender Leiter der<br />
Elektroabteilung des Marinebüros<br />
in Washington mit zahlreichen<br />
Werften und Lieferanten<br />
verhandelte. Und er tat dies<br />
stets mit äußerster Schärfe und<br />
ohne jede Kompromissbereitschaft.<br />
Der Vorstand eines großen<br />
Industriebetriebs sagte einmal<br />
zu einem Reporter: „Bitte<br />
verstehen Sie mich nicht falsch.<br />
Es ist nicht so, dass ich Rickover<br />
nicht mag. Ich hasse ihn.“<br />
Auch intern war er alles andere<br />
als ein angenehmer Chef.<br />
Er brüllte seine Befehle im Büro<br />
und über das Telefon, legte<br />
grußlos auf, kontrollierte immer wieder<br />
peinlich genau Mitarbeiter und Zulieferteile.<br />
Was funktioniere, interessiere ihn<br />
nicht, nur was nicht klappe, so Rickover.<br />
Am schlimmsten führte er sich beim Rekrutieren<br />
von Personal auf. Er suchte Mitarbeiter,<br />
die selbstständig denken konnten<br />
und nicht nur auswendig Gelerntes<br />
wiedergaben. Dabei machte er immer<br />
wieder die jungen Ingenieure herunter,<br />
die sich vorstellten, drängte sie auf die<br />
unterschiedlichsten Arten in die Defensive,<br />
entschied oft sehr spontan und ruppig,<br />
wen er nicht brauchen könne und wer<br />
bleiben dürfe. Legende wurde sogar der<br />
Bewerbungsstuhl, dem er die vorderen<br />
© Wikipedia/U.S. Navy Office of Information web site.<br />
36 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 36 16.09.22 05:59
Unwahrscheinliche Karriere<br />
© Wikipedia/U.S. Navy Office of Information web site.<br />
Marc Wortman:<br />
Admiral Hyman<br />
Rickover. Engineer<br />
of Power.<br />
Yale University<br />
Press <strong>2022</strong><br />
(Jewish Lives),<br />
336 S.<br />
Beine gekürzt hatte, damit der Befragte<br />
immer wieder wegrutschte und noch zusätzlich<br />
verunsichert wurde. Dennoch<br />
wollten viele junge Offiziere und auch zivile<br />
Ingenieure für ihn arbeiten, Letztere<br />
oft zu einem reduzierten Gehalt: Die große<br />
Aufgabe ließ sie sogar den Verrückten in<br />
Kauf nehmen. Denn auch wenn<br />
er jemanden als Mitarbeiter akzeptiert<br />
hatte, leichter im täglichen<br />
Umgang wurde er auch<br />
später nicht.<br />
Doch es ging etwas weiter.<br />
Was kaum jemand für möglich<br />
gehalten hatte: Im Jänner 1954<br />
taufte Mamie Eisenhower, die<br />
Frau des Präsidenten Dwight<br />
D., die „Nautilus“.<br />
Mehrere Grundsatzentscheidungen<br />
fielen. Das U-Boot mit<br />
dem ersten Atomantrieb sollte<br />
kein Versuchsfahrzeug sein, sondern ein<br />
taugliches Kriegsgerät mit Torpedorohren<br />
und einer militärischen Besatzung, nicht<br />
gesteuert von Wissenschaftlern. In Idaho<br />
– weit weg vom Meer – entstand ein modernes<br />
Labor mit Versuchsreaktoren, die<br />
bereits von der Dimension her jenen in<br />
U-Booten entsprachen. Parallel dazu begann<br />
eine Werft mit der Detailplanung<br />
des Schiffs.<br />
Es sollte sich ausgehen – in sieben Jahren.<br />
Was kaum jemand für möglich gehalten<br />
hatte: Im Jänner 1954 taufte Mamie<br />
Eisenhower, die Frau des Präsidenten<br />
Dwight D., die „Nautilus“. Im Jänner 1955<br />
stach sie in See, setzte sofort eine Reihe<br />
von Rekorden in Tauchstrecken, denn das<br />
Fehlen von Dieselmotoren und das schier<br />
unendliche Angebot von Antriebskraft<br />
machte Überwasserfahrten praktisch unnötig.<br />
Die „Nautilus“ errang dann internationalen<br />
Ruhm mit ihrer Tauchfahrt unter<br />
dem Eis des Nordpols.<br />
Die gesamte Taktik des möglichen Seekriegs<br />
hatte sich damit verändert. U-Boote<br />
konnten nun monatelang unentdeckt<br />
zwischen den Kontinenten patrouillieren.<br />
Wenige Jahre später kamen noch Interkontinentalraketen<br />
dazu, die – unter<br />
Wasser abgeschossen – vom Gegner nicht<br />
vorweg auszuschalten wären wie die fest<br />
verbunkerten an Land. Das Gleichgewicht<br />
des Schreckens war damit quasi stabilisiert,<br />
ein Erstschlag unwahrscheinlicher<br />
geworden.<br />
Die U.S. Navy setzte in den nächsten<br />
Jahren voll auf diese Technologie. 1965<br />
waren 102 nuklear betriebene U-Boote<br />
oder Überwasserschiffe im Einsatz oder<br />
im Bau – zu immensen Kosten. Und daran<br />
schieden sich die Geister. So akzeptierte<br />
das Verteidigungsministerium Reaktoren<br />
für die großen Flugzeugträger, die<br />
Begleitschiffe wurden weiterhin konventionell<br />
bewegt. Rickover kämpfte für mehr<br />
Reaktoren, wurde aber nicht gehört. Sogar<br />
Präsident Jimmy Carter, der in der Marine<br />
einst als Ingenieur von ihm eingestellt<br />
worden war und mit dem er auch später<br />
befreundet war, drehte aus Budgetgründen<br />
den Bau weiterer Super-Carrier ab.<br />
Rickover schaffte zwar, nach einigen<br />
Verzögerungen und Blockaden durch die<br />
Marinebürokratie, die Beförderungen<br />
die Admiralsränge hinauf. Und er legte<br />
sich weiterhin mit den privaten Zulieferfirmen<br />
an, die seiner Meinung nach die<br />
Steuerzahler aussaugten. Aber sein Einfluss<br />
schwand, schließlich musste er unter<br />
Präsident Ronald Reagan gehen – mit 82<br />
und nach 63 Jahren aktivem Marinedienst.<br />
Zuletzt hatte dem stets frugal auftretenden<br />
Rickover noch ein Skandal über Geschenke<br />
zu schaffen gemacht, die er von<br />
den Industrie angenommen hatte. Es war<br />
keine große Korruption, aber Fernseher,<br />
Schmuckstücke und Möbel summierten<br />
sich doch auf einige zehntausend Dollar.<br />
Rickover, der bereits in der Arbeit mehrere<br />
Herzattacken erlitten hatte, starb<br />
1986 und wurde in Arlington begraben.<br />
VOM STETL ZUR<br />
US-MARINE<br />
Chaim Godalia Rykower, Jahrgang<br />
1900, besuchte als Vierjähriger<br />
in einem polnisch-russischen Stetl<br />
die religiöse Schule, den Cheder, und<br />
kam mit sechs Jahren ohne ein Wort<br />
Englisch in die USA. Sein Vater Abraham,<br />
ein Schneider, war von der russischen<br />
Armee desertiert und schon einige<br />
Jahre zuvor emigriert. Dann hatte<br />
er die Familie nachgeholt. Zunächst<br />
wohnten die Rickovers, wie sie sich<br />
jetzt nannten, in Manhattan, dann zog<br />
der Vater wieder voraus nach Chicago<br />
und ließ die Family nachfolgen.<br />
Er sollte dort zwar später ins mittlere<br />
Management aufsteigen, zunächst<br />
lebte man aber weiterhin in sehr angespannten<br />
Verhältnissen.<br />
Hyman musste schon als Kind zum<br />
Familieneinkommen beitragen, erst<br />
als Lagerhelfer in einer Greißlerei, später<br />
als Telegrammbote für Western<br />
Union – per Fahrrad oder Straßenbahn.<br />
Das machte er dann sogar als<br />
Vollzeitangestellter, freilich am Nachmittag<br />
und am Abend, damit er am<br />
Vormittag die Highschool besuchen<br />
konnte. Sein Traum war die Marineakademie<br />
in Annapolis, damals fest<br />
in der Hand der alten Eliten. Durch<br />
eine Intervention eines lokalen Chicagoer<br />
Abgeordneten durfte er die Aufnahmsprüfung<br />
ablegen und schaffte<br />
sie knapp.<br />
In der Akademie gab es damals gerade<br />
einmal 17 Juden unter den fast<br />
1.000 Kadetten. Antisemitismus war<br />
üblich, weniger unter den Lehrern<br />
denn unter den Mitschülern, die Juden<br />
wurden sozial isoliert, manchmal<br />
auch verächtlich gemacht. Doch Hyman<br />
biss sich durch und schloss als<br />
107. einer Klasse von 540 jungen Offizieren<br />
ab.<br />
Rickover heiratete zwei Mal, jedesmal<br />
Christinnen, konvertierte aber<br />
selbst nicht, auch wenn ihn Religion<br />
– anders als Literatur und Philosophie<br />
– nicht besonders interessierte.<br />
Seine Wurzeln dürfte er aber nie vergessen<br />
haben. An seinem Sterbebett,<br />
als er schon nicht mehr selbst lesen<br />
konnte, las ihm seine zweite Frau<br />
aus einem Buch vor, das sich mit dem<br />
polnischen Stetl und der Shoah beschäftigte.<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 37 16.09.22 05:59
Faden um Faden<br />
Arbeit und Material: Das Syracuse University<br />
Art Museum zeigt eine Anni-Albers-Ausstellung<br />
Anni Albers<br />
(1899–1994).<br />
Auch wenn sich das Bauhaus zu Weimar, gegründet von<br />
Walter Gropius, progressiv gab: Frauen wurde doch in<br />
deutlich paternalistisch-machohafter Art und Weise sehr<br />
häufig, und zwar regelmäßig, die Textilwerkstatt zugewiesen.<br />
Anfangs behagte dies Anneliese Fleischmann ganz und<br />
gar nicht. Heute gilt sie, die 1994 hochbetagt im Alter von<br />
95 Jahren starb, als eine der größten und<br />
der kreativsten Web- und Stoffkünstlerin<br />
nicht nur des 20. Jahrhunderts.<br />
1899 in Berlin geboren, war sie mütterlicherseits<br />
mit der Großverlegerfamilie<br />
Ullstein verwandt. Sie war rebellisch und<br />
apart, und sie studierte ab 1922 am Bauhaus,<br />
wo sie noch im selben Jahr den Leiter<br />
eines Vorkurses heiratete, Josef Albers.<br />
Was sie bei Paul Klee gelernt hatte über<br />
Farbe, geometrische Modulationen und Kontraste,<br />
setzte sie nun um. 1933 floh sie mit ihrem<br />
Mann nach Amerika. In North Carolina bauten<br />
sie das Black Mountain College zu einem legendär<br />
gewordenen Campus avantgardistischer Experimente<br />
aus, die heute universitär unmöglich<br />
wären.<br />
Mit mehr als einhundert Exponaten, von Zeichnungen<br />
über Drucke zu Gewebtem und Teppichen<br />
aus dem Bestand der Josef and Anni Albers<br />
Foundation, führt die Schau Anni Albers – Work<br />
with Materials in Syracuse im US-Bundesstaat<br />
New York ihre große Bandbreite und künstlerische<br />
Spannweite fein vor Augen. A.K.<br />
ANNI ALBERS: WORK WITH MATERIALS<br />
Syracuse University Art Museum<br />
bis 11. Dezember <strong>2022</strong><br />
museum.syr.edu<br />
Marjorie Strider, Girl<br />
with Radish, 1963.<br />
Made in New York<br />
Kunst und Stadt: Eine opulente<br />
Schau im New Yorker Jewish Museum<br />
über Kunst der frühen 1960er-Jahre<br />
Drei Jahre, in der sich ein Land, in der<br />
sich die Welt grundlegend wandelte.<br />
Das klingt wie eine Floskel. Aber auf die<br />
Jahre 1962, 1963, 1964 trifft es zu.<br />
1962: das Jahr der Kubakrise, in der der<br />
Globus, wie man heute weiß, nur einen<br />
Hauch entfernt von einem Atomkrieg war.<br />
1963: im August der Marsch auf Washington<br />
für Arbeit und Freiheit, bei dem Martin<br />
Luther King seine berühmte Rede I have a<br />
dream hielt. Im November das Attentat auf<br />
John F. Kennedy.<br />
1964: das Jahr, in dem Kennedys Nachfolger Johnson<br />
das Engagement des US-Militärs in Vietnam entschieden<br />
wie entscheidend steigerte.<br />
Auch in der bildenden Kunst waren es entscheidende<br />
Jahre. Das wird in New York: 1962–1964 im Jewish Museum<br />
of New York überdeutlich. Der abstrakte Expressionismus<br />
wurde von Pop Art verdrängt. Statt Pollock und<br />
Wols nun Robert Rauschenberg. Jim Dine, Robert Indiana,<br />
Claes Oldenburg, George Segal, Carolee Schneemann<br />
drängten nach und wurden ausgestellt. Malten,<br />
zeichneten, tanzten in New York, damals noch leistbar<br />
für ganz junge Künstlerinnen und Maler.<br />
Dieses letzte Projekt des 2020 verstorbenen italienischen<br />
Kurators und Ausstellungsmachers Germano<br />
Celant, das sein Studio nun zu Ende führte, ist mit 150<br />
Gemälden und Objekten, alle in New York entstanden,<br />
überbordend bestückt. Opulent und fulminant. A.K.<br />
NEW YORK: 1962–1964<br />
New Yorker Jewish Museum<br />
bis 8. Jänner 2023<br />
thejewishmuseum.org<br />
MUSIKTIPPS<br />
DAVID POPPER<br />
Als David Popper 1913 70-jährig in<br />
Baden bei Wien einem Herzinfarkt<br />
erlag, verlor das 19. Jahrhundert einen seiner bedeutendsten<br />
Cellisten. Seine Werke für Violoncello<br />
zählen noch heute zum Hörenswertesten.<br />
Martin Rummel, Mari Cato und das Tschechische<br />
Kammerorchester Pardubice haben nun seine so<br />
unterschiedlichen Cellokonzerte Nr. 1–3 (plus das<br />
Konzert Nr. 4 in einer Fassung für Violoncello und<br />
Klavier) prägnant eingespielt (Naxos).<br />
REYNALDO HAHN<br />
Was vielen zu Reynaldo Hahn<br />
(1874–1947) einfällt? Vielleicht Marcel<br />
Proust. Auch Monte Carlo. Aber Hahns Klavierwerk?<br />
Hierzulande fast unbekannt – sehr zu<br />
Unrecht! Pavel Kolesnikov führt auf Reynaldo<br />
Hahn – Poèmes & Valses (Hyperion) mit großer<br />
Sensibilität den Klangreichtum, die Schönheit,<br />
den Melos dieser exquisiten Piècen vor, ein Walzer<br />
heißt nicht umsonst Avec élégance. Musik, in<br />
die man sich hineinfallen lassen will.<br />
MEL TORMÉ<br />
Nicht umsonst wurde der Sänger<br />
Mel Tormé (1925–1999) „The Velvet<br />
Fog“ genannt. Samtig sanft war seine Stimme,<br />
ungemein beruhigend. Seine Interpretationen von<br />
Standards und eigenen Kompositionen waren<br />
klug und einfühlsam. Chart Years: Selected Singles<br />
1949–1962 (Acrobat) versammelt nun auf zwei CDs<br />
nicht weniger als 55 Songs, von Jazz zu frühem Pop<br />
zu R & B, von Blue Moon zu Goody Goody zu Don’t<br />
fan the flame mit Peggy Lee. Wohlig schön. A.K.<br />
© museum.syr.edu; Collection of Ruth and Theodore Baum, New York/Palm Beach, FL<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 39 16.09.22 05:59
WINA: Vor wenigen Monaten habe ich mit Ihrer<br />
Mutter Maya Kupferberg in Wien ein Gespräch<br />
über deren Vater, also Ihren Großvater, den<br />
Historiker Walter Grab, geführt (WINA, Juni <strong>2022</strong>). Dabei<br />
hat sie mir erzählt, dass Sie gerade ein Buch über dessen<br />
Onkel Isidor geschrieben haben und nun „alles“ über die<br />
Wiener Familiengeschichte wüssten. Isidor war, wie Sie<br />
schreiben, „ein Parvenü, ein Multimillionär“, aber auch<br />
ein „Hochstapler“ und nicht unbedingt nur sympathisch.<br />
Sie sind in Israel geboren, in Berlin aufgewachsen und<br />
dort auch als Journalistin tätig. Was hat Sie denn an diesem<br />
doch sehr entfernten Verwandten gereizt?<br />
Shelly Kupferberg: Ja, er war Jahrgang 1886, das ist<br />
wirklich eine ganze Weile her. Isidor hat mich gepackt,<br />
weil er so ein Selfmade-Man war und ich großen<br />
Respekt vor Menschen habe, die sich aus der<br />
eigenen Misere selbst herausziehen. Ich hab mich<br />
am Anfang meiner Recherche gefragt, welche Kunst<br />
hing im Palais meines Urgroßonkels um 1920, 1930,<br />
und wurde auch relativ schnell fündig. Die Frage war<br />
für mich auch, wieso war er eigentlich so steinreich,<br />
er kam ja aus ganz armen, ultraorthodoxen galizischen<br />
Verhältnissen, und weiters bewegte mich die<br />
Frage, was bleibt von einem Menschen übrig, wenn<br />
nichts von ihm übrig bleibt. Denn das haben die Nazis<br />
ja geschafft, sie haben nicht nur Menschen ausgelöscht,<br />
sondern auch die Erinnerung an sie. Er war<br />
wahrscheinlich wirklich nicht sehr sympathisch, er<br />
war herrisch, autoritär, sehr stolz auf das, was er<br />
geschafft hatte, das kann ich durchaus nachvollziehen.<br />
Diese Zeit der Selfmade Men und Women hat<br />
mich fasziniert, und offenbar bot Wien trotz ganz<br />
massivem Antisemitismus einen Humus für solche<br />
Menschen. Es gab Möglichkeitsräume, die wollte<br />
ich beleuchten und rekapitulieren, wie ein Charakter<br />
beschaffen sein muss, um einen derartigen Aufstiegswillen<br />
zu entwickeln.<br />
Sie hatten eine besondere Beziehung zu Ihrem Großvater,<br />
der in Ihrem Buch als Neffe auch eine wesentliche Rolle<br />
spielt. Hat er viel von seinem Onkel Isidor, den er offenbar<br />
sehr bewunderte, erzählt?<br />
I Es war ein großes Glück, dass in unserer Familie<br />
überhaupt sehr viel erzählt wurde und wir unsere<br />
INTERVIEW MIT SHELLY KUPFERBERG<br />
„Was bleibt von<br />
einem Menschen<br />
übrig, wenn nichts<br />
von ihm übrig<br />
bleibt“<br />
Vom märchenhaften Aufstieg und jähen<br />
Fall ihres schillernden Urgroßonkels<br />
erzählt die deutsche Kulturjournalistin<br />
Shelly Kupferberg in ihrer<br />
berührenden Spurensuche Isidor.<br />
Interview: Anita Pollak<br />
© privat<br />
40 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 40 16.09.22 05:59
Ein jüdischer Dandy<br />
© privat<br />
Großeltern, wenn wir in Tel Aviv zu Besuch waren,<br />
auch immer löcherten: Erzählt uns von früher! Mein<br />
Großvater Walter konnte als Historiker alles auch geschichtlich<br />
einordnen und war ein hervorragender<br />
Geschichtenerzähler, ein Performer, und man hing<br />
an seinen Lippen. Über Isidor selbst erzählte er ganz<br />
wenig, aber dennoch, dass er ihn vor Hitler gewarnt<br />
hatte, der aber nur gesagt hätte, von so einem Grünschnabel<br />
lass ich mich nicht verjagen. Erst als ich vor<br />
einigen Jahren eine Tagung in Berlin über Raubkunst<br />
moderieren durfte, kam mir Isidor in Wien in den<br />
Sinn, der angeblich so reich gewesen war.<br />
Erstaunlich sind die reichlich vorhandenen Familiendokumente.<br />
Für eine Familie, die nach Israel ausgewandert<br />
ist, ist es schon ungewöhnlich, dass so viel komplett und<br />
sogar aufgearbeitet vorhanden zu sein scheint.<br />
I Nein, eigentlich war es nur ein ungeordneter Haufen,<br />
geordnet war nur ein großes, dickes, beschriftetes<br />
Fotoalbum, das wir erst nach Walters Tod fanden<br />
und vorher nie zu Gesicht bekommen haben. Ansonsten<br />
gab es in Tel Aviv stapelweise Briefe, Dokumente<br />
und Urkunden in Mappen und Kisten.<br />
Beachtlich, was Sie bei Ihren Recherchen alles zutage fördern<br />
konnten, wie Dokumente aus diversen Archiven und<br />
unter anderem ein Scheidungsprotokoll. Was mich amüsierte,<br />
war der detaillierte Bericht eines Privatdetektivs<br />
über Ihre Urgroßmutter im Auftrag Ihres Urgroßvaters,<br />
der sich vor der Heirat nach deren Ruf erkundigte. Sie<br />
haben, wie Sie selbst einmal sagten, eine detektivisches<br />
Gen. Auch ein Familienerbe?<br />
I Gute Frage. Mein Großvater hat seinen Namen Walter<br />
Grab als Historiker so verstanden: Walter, grab!<br />
Vielleicht hat sich dieser Drang des Grabens, Wühlens<br />
und Aufdeckens in mir insofern fortgepflanzt,<br />
als ich Spaß daran habe. Auch mein neues Projekt,<br />
eine Berliner Geschichte über mein Wohnhaus, ist<br />
wieder sehr detektivisch angelegt. Ich bin ja auch<br />
nicht umsonst Journalistin geworden.<br />
Auch in seinem Faible für Kunst, Musik und Kultur ist<br />
Isidor fast typisch für den Assimilationswillen jüdischer<br />
Aufsteiger, die ihre Religion verdrängen oder sich gar tau-<br />
ISIDOR. EIN JÜDISCHES LEBEN<br />
Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz.<br />
Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel.“<br />
Mit diesem Auftakt stimmt Shelly Kupferberg bereits den Ton ihres Buchdebüts<br />
an, das kein Roman im eigentlichen Sinn ist. Die Faszination, die Isidors<br />
Lebensgeschichte auf sie ausübt, wird darin durchgehend spürbar.<br />
Geboren und aufgewachsen im tiefsten Galizien in eine blutarme orthodoxe<br />
Familie, der Vater ein Talmudgelehrter, besucht Israel wie seine Brüder<br />
den Cheder, bildet sich aber schrittweise und indem er sich immer weiter<br />
von seinem Heimatort entfernt schulmäßig weiter. In Wien mutiert er nach<br />
seinem Jusstudium schließlich zu Dr. Isidor Geller, es ist der Startschuss für<br />
seine Karriere. Im Ersten Weltkrieg durch Aktienspekulationen steinreich geworden<br />
ist, wird er Kommerzialrat und berät sogar den österreichischen Staat.<br />
In der Beletage eines Stadtpalais in der Canovagasse, ausgestattet mit erlesener<br />
Kunst und stilvollem Mobiliar, lädt er jeden Sonntag zu einem Mittagstisch,<br />
ein gesellschaftlicher Fixpunkt, bei dem er auch seinen bildungsbeflissenen<br />
Neffen Walter stolz vorführt. Seine Geschwister und seine Mutter hat<br />
er längst nach Wien geholt und unterstützt sie großzügig.<br />
Zweimal verheiratet, geschieden, kinderlos und ein Womanizer, fördert er<br />
mit seinen Mitteln und Kontakten auch seine Geliebte, die ungarische Sängerin<br />
Ilona Hajmássy, die in Hollywood zum Star wird, während es mit Isidor<br />
rapide bergab geht. Nach Hitlers Einmarsch verraten ihn seine Hausangestellten,<br />
er wird verhaftet, überschreibt unter Druck seinen gesamten Besitz<br />
den Nazis und stirbt als gebrochener Mann 52-jährig am 17. November 1938<br />
an den Folgen der Folterhaft in seiner Wiener Wohnung.<br />
Um dieses Zentralgestirn ihres charismatischen Uronkels gruppiert Shelly<br />
Kupferberg andere authentische, aber teilweise auch fiktive<br />
Geschichten, die Zeitgeist, Milieu und Atmosphäre rund<br />
um Isidors Biografie abrunden. Auch Kupferbergs Großvater<br />
Walter Grab, dem die Flucht nach Palästina gelingt, zu<br />
der er seinen Onkel nicht überreden konnte, ist einer der<br />
Helden dieser empathisch erzählten Familiengeschichte.<br />
Shelly Kupferberg:<br />
Isidor. Ein jüdisches Leben.<br />
Diogenes <strong>2022</strong>, 256 S., € 24,70<br />
fen lassen. Ist er damit ein Prototyp oder doch eher eine<br />
Ausnahmeerscheinung?<br />
I Im Personaltableau und gerade in der Kulturszene<br />
Wiens um 1900 fällt auf, wie viele Juden waren und<br />
sich oft anders genannt haben, um nicht als Juden<br />
erkannt zu werden, da scheint er schon eine Art Prototyp<br />
zu sein. Isidor ist zwar aus der Kultusgemeinde<br />
ausgetreten, aber kurz vor seinem Tod wieder zum Judentum<br />
zurückgekehrt und am Jüdischen Friedhof in<br />
Wien begraben.<br />
Sie erzählen in diesem Buch mehrere Geschichten quasi<br />
parallel, etwa auch die Geschichte einer Schneiderfamilie<br />
Goldfarb oder sehr ausführlich die an Skandalen reiche<br />
Geschichte von Isidors letzter Geliebter, der ungarischen<br />
Sängerin Ilona. Wie viel ist da Fakt und wie viel Fiktion?<br />
I Das Buch beruht im Wesentlichen auf Fakten und Recherchen,<br />
aber die Familie Goldfarb gab es nicht. Ich<br />
brauchte, um Isidors Haltung zum Judentum, zum Zionismus<br />
etc. plastisch zu machen, einen Dialogpart-<br />
„Diese Zeit der<br />
Selfmade Men<br />
und Women<br />
hat mich fasziniert,<br />
und<br />
offenbar bot<br />
Wien trotz<br />
ganz massivem<br />
Antisemitismus<br />
einen<br />
Humus für solche<br />
Menschen.“<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 41 16.09.22 05:59
Komplexe Identität<br />
Shelly Kupferberg<br />
wurde 1974 in Tel Aviv<br />
geboren und lebt seit<br />
ihrer Kindheit in Berlin.<br />
Die Journalistin und<br />
Moderatorin hat sich<br />
in ihrem Buchdebüt<br />
auf die Spurensuche<br />
nach ihrem Urgroßonkel<br />
Isidor Geller<br />
begegeben.<br />
„Ich wollte<br />
nie als jüdische<br />
Journalistin gelabelt<br />
werden.“<br />
Shelly Kupferberg<br />
JÜDISCHES BADEN<br />
Entdeckungsreisen Spurensuche<br />
Stadtwanderungen<br />
ner für ihn. Meine Großmutter väterlicherseits war<br />
Haute-Couture-Schneiderin, und viele ihrer Erzählungen<br />
sind da eingeflossen. Ilonas unglaubliche Geschichte<br />
ist total recherchiert und rekapituliert, weil<br />
sie in Hollywood und auch für ungarische Zeitungen<br />
zahlreiche Interviews über ihr Leben gab. In Ungarn<br />
war Ilona Hajmássy absolut ein Star.<br />
Baden war seit<br />
jeher ein beliebtes<br />
Ziel für Erholung-<br />
suchende und Sommerfrischler.<br />
Die<br />
jüdische Gemeinde<br />
und deren Mit-<br />
glieder trugen mit<br />
Errungenschaften<br />
in Medizin, Kultur,<br />
Wissenschaft und<br />
Wirtschaft ganz<br />
wesentlich zum Erfolg der Kleinstadt bei. Jahr für Jahr waren<br />
auch Prominente wie Literaturstar Arthur Schnitzler, die<br />
Salonière Fanny Arnstein oder Automobilpionier Emil Jellinek<br />
gern gesehene Sommergäste. Abseits der üblichen Touristenpfade<br />
begibt sich Elie Rosen in drei abwechslungsreichen<br />
Spazierrouten und gedanklichen Streifzügen auf die Suche nach<br />
vielfach vergessenen Spuren jüdischen Lebens: Er erzählt von Literaten,<br />
Musikern, Industriellen oder Rabbinern genauso wie von<br />
Synagogen und schmucken Bürgervillen – und lässt auf diese Art<br />
und Weise eine versunkene Welt wiederauferstehen.<br />
Mit Entdeckungstouren, Karte und zahlreichen Abbildungen.<br />
Von Elie Rosen<br />
Amalthea Signum Verlag<br />
Trotz des umfangreichen Quellenmaterials imaginieren Sie<br />
viel, was Gedanken oder Gefühle vor allem Isidors betrifft,<br />
doch eher romanhaft. Sie nennen das Buch im Untertitel<br />
„Ein jüdisches Leben“, also keine Gattungsbezeichnung.<br />
I Das war keine bewusste Entscheidung. Es gab aber so<br />
viele Blackboxes in meinen Recherchen, und die Frage<br />
war, wie gehe ich damit um. Ich versuchte, meine Ich-<br />
Perspektive, meine Interpretationen, Reflexionen mit<br />
einzubringen, und habe mir auch erlaubt, manche<br />
Blackboxes mit Fiktion zu füllen. Ich wollte mich auf<br />
keine Gattungsbezeichnung einlassen, es ist ein Hybrid,<br />
offiziell ein erzählendes Sachbuch. Ich wollte auch<br />
keine Fotos im Buch haben, es sollte eher ein Kino im<br />
Kopf auslösen. Und ich würde mich freuen, wenn es<br />
andere Menschen ermutigen würde, in ihren eigenen<br />
Familiengeschichten herumzuwühlen, egal ob jüdisch<br />
oder nicht. Es ist erstaunlich, was es alles noch in Archiven<br />
zu finden gibt.<br />
Das materielle Erbe Isidors ist perdu, übrig blieb nur ein Silberbesteckkasten<br />
für 24 Personen. Wurde von der Familie,<br />
laut Testament waren seine drei Geschwister seine Erben, je<br />
eine Restitution angestrebt?<br />
I Das ist geschehen, aber es wurde so gut wie gar nichts<br />
restituiert, weil offiziell nichts da war. Sehen Sie, hier<br />
habe ich seine komplette Vermögenserklärung, dieser<br />
Mann war vielfacher Millionär, aber angeblich ist<br />
alles für Verwaltungskosten etc. aufgegangen. Es war<br />
einfach Raub.<br />
Sie haben drei Kinder. Ist es für diese auch eine Art aufgearbeitete<br />
Familienchronik?<br />
I Ich habe es nicht in Hinblick darauf geschrieben,<br />
habe mich aber sehr über das Interesse meiner Kinder<br />
gefreut, die meine Recherchen sehr aufmerksam<br />
verfolgt und mitgefiebert haben.<br />
Sie beschäftigen sich beruflich oft mit jüdischen Themen,<br />
ebenso mit Israel und israelischer Literatur. Wie würden<br />
Sie Ihre diesbezügliche Identität gerade in Deutschland beschreiben?<br />
I Ich habe schon mit Anfang 20 als Kulturjournalistin<br />
zu arbeiten begonnen und wollte nie als jüdische<br />
Journalistin gelabelt werden, obwohl ich immer wieder<br />
gern jüdische Themen behandelt habe. Aber nach<br />
über 25 Jahren im Journalismus kam das Fest 1700 Jahre<br />
deutsch-jüdische Geschichte, und ich wurde gefragt, dabei<br />
Veranstaltungen zu moderieren. Das war so eine<br />
Art Outing, und ich stehe selbstverständlich zu dieser<br />
Identität als Teil meiner sehr komplexen Identität.<br />
Mit diesem Buch wird es einmal mehr geschehen.<br />
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie heute nach Wien kommen?<br />
I Ich gehe mit den Augen meiner Vorfahren durch<br />
diese Stadt, und es schmerzt, weil ich spüre, was sie<br />
vermisst haben und was ihnen genommen wurde. Ich<br />
habe auch durch die Geschichten, die ich recherchiert<br />
habe, eine besondere Beziehung zu Wien. Gleichzeitig<br />
sehe ich auch die Schönheit und Ambivalenz dieser<br />
Stadt, die irgendwie in mein Leben gehört.<br />
© Heike Steinweg / © Diogenes Verlag<br />
42 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 42 16.09.22 05:59
Von der Hitlerei beschädigt<br />
Eine Kindheit in ständiger Todesangst. Von seinen<br />
Jahren auf der Flucht und in Verstecken erzählt<br />
Georges-Arthur Goldschmidt im wieder<br />
aufgelegten Band Der unterbrochene Wald.<br />
Von Anita Pollak<br />
Georges-Arthur Goldschmidt:<br />
Der unterbrochene Wald. Erzählung.<br />
Aus dem Französischen von Peter Handke.<br />
Wallstein <strong>2022</strong>,<br />
121 S., € 20,60<br />
Beim Spaziergang an der Hand des<br />
Vaters durch den deutschen Wald<br />
stößt der Bub auf den moosbewachsenen<br />
Gedenkstein für einen an dieser<br />
Stelle ermordeten jüdischen Hausierer,<br />
und „so als sei seine Angst im Moment<br />
seines Todes derart stark gewesen, daß sie<br />
sich, Jahrhunderte später, eingrub in den<br />
Kopf des anderen“, sieht er ihn immer<br />
wieder vor sich.<br />
Bilder der Angst, der Todesangst, werden<br />
das Kind begleiten auf seinen Fluchten.<br />
Im Wald wird es sich Gruben graben,<br />
sich im Stall bei französischen Bauern vor<br />
den deutschen Soldaten verstecken, deren<br />
Sprache es doch so gut versteht. Vor<br />
der Peitsche der Internatsleiterin wird der<br />
Junge zittern und die Züchtigung gleichzeitig<br />
herbeisehnen.<br />
Ausgestoßen. Bereits 1938 erkennen die<br />
aus einer jüdischen Familie stammenden,<br />
aber längst protestantisch getauften<br />
Eltern Goldschmidt die herannahende<br />
Gefahr und senden ihre beiden<br />
Söhne, den zehnjährigen Jürgen-Arthur<br />
und den vier Jahre älteren Erich, weg aus<br />
dem Kindheitsparadies in einer großen<br />
weißen Villa bei Hamburg nach Italien in<br />
Sicherheit.<br />
Als der nunmehrige Georges-Arthur<br />
1949 sein Geburtshaus wieder besucht,<br />
stellt er fest: „Die Möbel waren geblieben,<br />
und er, er hatte wegmüssen.“<br />
Dazwischen liegen die von Furcht,<br />
Angst, Scham und Schuldgefühlen geprägten<br />
Jahre, die sein ganzes weiteres Leben<br />
bestimmen werden. In mehreren autobiografischen<br />
Büchern hat der in Frankreich<br />
lebende Schriftsteller und Essayist Georges-Arthur<br />
Goldschmidt davon erzählt.<br />
So auch in der 1991 auf Französisch verfassten<br />
Erzählung Der unterbrochene Wald.<br />
Sein Freund Peter Handke, dessen Bücher<br />
Goldschmidt wiederum ins Französische<br />
übersetzte, hat sie kongenial und einfühlsam<br />
in ein poetisches Deutsch übertragen.<br />
Damals im Schweizer Amman Verlag erschienen,<br />
war der Band lange vergriffen<br />
und ist jetzt mit einem luziden deutschsprachigen<br />
Nachwort des heute 94-jährigen<br />
Autors im Wallstein Verlag neu zugänglich.<br />
„Die ganze Natur, alles, Wiesen und<br />
Wälder waren von der Hitlerei ausgesogen,<br />
herabgesetzt,<br />
vermindert, vergällt,<br />
beschädigt, verdorben,<br />
bis in die Ewigkeit<br />
hinein“, heißt es<br />
da über die mit „Leib<br />
und Seele“ geliebte Landschaft Schleswig-<br />
Holsteins, aus der er als „Nicht-Arier“ verstoßen<br />
worden war.<br />
Erst mit über 50 konnte Goldschmidt<br />
ein Buch in seiner Muttersprache schreiben,<br />
Die Absonderung, in dem er ebenso die<br />
traumatisierenden Erfahrungen aus der<br />
Zeit des Holocaust thematisiert.<br />
Perverse Rituale. Weite Landschaften,<br />
Züge, Gleise, Schienen, ferne Horizonte<br />
bilden die fast idyllisch imaginierte Kulisse<br />
für das Schreckliche, das aber dennoch<br />
vor dem noch Schrecklicheren bewahrt.<br />
„Alles war gut, wenn es um das<br />
Überleben ging.“<br />
Quälend auch für den Lesenden die<br />
perversen Rituale der Züchtigungen, der<br />
ständigen Bestrafungen im französischen<br />
Internat, dem der dort gleichsam als versklavter<br />
„Domestik“ Dienende seine Rettung<br />
verdankt. Andeutungen von Missbrauch,<br />
dunkle Verrätselungen wechseln<br />
mit peniblen Schilderungen, präzisen<br />
Selbstbeobachtungen, detaillierten Erinnerungen<br />
an Demütigungen und teils masochistische<br />
Angstlust.<br />
Herzzerreißend die Einsamkeit, als der<br />
Junge nach dem Krieg Fotos aus den KZs<br />
sieht und vom Tod seiner Mutter erfährt,<br />
die Scham, wenn er, „eingeschlossen in<br />
der Toilette, sich das Gesicht streichelte,<br />
um zu erfahren, wie es war, gestreichelt<br />
zu werden“.<br />
„Die Möbel waren geblieben, und er,<br />
er hatte wegmüssen.“<br />
Der Vater überlebt Theresienstadt,<br />
stirbt aber 1947, ohne seinen Sohn wiedergesehen<br />
zu haben. Kein Wort, nirgends,<br />
über den älteren Bruder Erich, mit dem<br />
er als Kind das Elternhaus verlassen, das<br />
Schicksal geteilt hatte. Eine Leerstelle,<br />
auf die Goldschmidt erst Jahrzehnte später<br />
sein Verleger aufmerksam gemacht haben<br />
soll, woraufhin vor einem Jahr Der versperrte<br />
Weg, der „Roman des Bruders“ im<br />
Wallstein Verlag erschien, dem wir nun<br />
auch die Wiederentdeckung des zeitlos<br />
gültigen Dokuments einer beschädigten<br />
Kindheit verdanken.<br />
wına-magazin.at<br />
43<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 43 16.09.22 05:59
Laurence Dreyfus ist nicht<br />
nur gefeierte Musiker und<br />
Ensemble-Gründer, sondern<br />
auch vielbeachteter Musikhistoriker<br />
und Autor.<br />
INTERVIEW MIT LAURENCE DREYFUS <br />
Musik ist Leben<br />
und umgekehrt<br />
„… sitzt ein ehemaliger Jeschiwa-Bocher* in<br />
einer Pfarrkirche vor einem üppig geschmückten<br />
Barockaltar und spielt Kammermusik …“: So<br />
könnte ein guter jüdischer Witz beginnen. Doch<br />
das geschah tatsächlich – und zwar im Sommer<br />
<strong>2022</strong> beim Kammermusikfest im burgenländischen<br />
Lockenhaus. Gespräch mit Marta S. Halpert<br />
Laurence Dreyfus:<br />
Parsifals Verführung.<br />
Faber & Faber,<br />
219 S., € 24,70<br />
WINA: Sie wurden in Boston in eine traditionelle Musikerfamilie<br />
hineingeboren und lernten von Ihrem Vater, der<br />
Geiger im Philadelphia Orchestra war, und Ihre Mutter, einer<br />
Opernsängerin, Notenlesen, noch bevor Sie Englisch<br />
lesen konnten. Als Kind spielten Sie Klavier und Cello.<br />
Aber Ihre musikalische Karriere machten Sie mit Viola da<br />
Gamba**, dem großen Repertoire an hochvirtuosen Solostücken<br />
aus dem Barock sowie Kammermusik aus der<br />
Renaissance. Und mit dem von Ihnen gegründeten und<br />
vielfach preisgekrönten Gamben-Ensemble Phantasm.<br />
Wie kam es dazu?<br />
I Laurence Dreyfus: Der wahre Grund dafür liegt in<br />
meinem Jüdischsein. Ich war seit frühester Jugend<br />
interessiert daran, meine jüdischen Wurzeln zu entdecken.<br />
Meine Eltern waren zwar säkular, aber von<br />
meiner Großmutter, deren Familie aus dem westlichem<br />
Teil der Ukraine stammt, konnte ich einiges erfahren.<br />
Als ich 17 Jahre alt war, konvertierte ich fast<br />
über Nacht zum Chabadnik.*** Da ich aber während<br />
meines Cellostudiums bei Leonard Rose an der Juilliard<br />
School in New York auch Gründungsmitglied<br />
des späteren renommierten Emerson String Quartet<br />
war, konnte ich das wegen Schabbes und anderer<br />
jüdischer Feiertage nicht mehr machen. Ob Sie<br />
es glauben oder nicht: Der Lubavitcher Rebbe gab<br />
mir die Genehmigung, an die Yeshiva University in<br />
New York zu gehen – daher musste ich meine Musikstudien<br />
aufgeben.<br />
Aber glücklicherweise nur für kurze Zeit?<br />
I Ja, denn ich habe gefühlt, dass ich einen Weg zurück<br />
finden muss. Daher habe ich nach meinem Bachelor<br />
an der Yeshiva University ein Studium in Musikwissenschaften<br />
an der Columbia University begonnen –<br />
und so musste ich nicht an den „verbotenen“ Abenden<br />
spielen. Im ersten Studienjahr habe ich meine Notizen<br />
an der Universität noch in Hebräisch und Jiddisch<br />
gemacht – und auf jeder Seite ein Boruch Hashem (B’H<br />
die Abkürzung für „G-tt sei gelobt“) hingekritzelt.<br />
Empfanden Sie die Musikwissenschaft nicht als etwas<br />
trockene Materie, nachdem Sie ja schon viel musiziert<br />
hatten?<br />
I Nein, ganz im Gegenteil, ich habe mich in das Fach<br />
verliebt, denn es beinhaltet so viel Musikgeschichte.<br />
Außerdem hatte ich das große Glück, dass der berühmte<br />
Johann-Sebastian-Bach-Forscher Christoph<br />
Wolff mein Doktorvater wurde und mich immer wie-<br />
© Reinhard Engel; Marco Borggreve<br />
44 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 44 16.09.22 05:59
Was Bach und Wagner vereint<br />
DAS GAMBENCONSORT PHANTASM<br />
Das vielfach preisgekrönte Gambenensemble Phantasm wurde 1994 von Laurence Dreyfus gegründet und gilt heute als<br />
das aufregendste Gambenconsort im weltweiten Konzertleben. Zu internationaler Bekanntheit gelangte Phantasm bereits<br />
durch seine Debüt-CD mit Werken von Henry Purcell, die mit einem Gramophone Award für die beste instrumentale Barockeinspielung<br />
des Jahres 1997 ausgezeichnet wurde. Seitdem tourte das Ensemble durch die ganze Welt und konzertierte<br />
auf den jeweils bedeutendsten Kammermusikpodien in Städten wie London, Prag, Tokio, Istanbul, Helsinki, Berlin, New York<br />
und Washington, D.C. Die Teilnahme an Festivals der Alten Musik in Barcelona, Utrecht, Warschau, Stockholm, Brüssel und<br />
Wien gehört ebenso dazu.<br />
Der Schwerpunkt des breiten Repertoires liegt auf der englischen Musik der Renaissance und des Barock – mit Namen<br />
wie Purcell, Byrd, Gibbons, Locke oder Lawes –, doch auch italienische oder französische Gambenliteratur stehen auf den<br />
Programmen des Ensembles, ebenso wie Bachs Kunst der Fuge und Mozarts Bearbeitungen der Bach’schen Fugen aus dem<br />
Wohltemperierten Klavier. Die bislang 20 eingespielten CDs haben zahlreiche Preise gewonnen. Seit Anfang 2016 ist das<br />
Ensemble, dessen Mitglieder aus Finnland, Großbritannien und Deutschland stammen, offiziell in Berlin zu Hause.<br />
© Reinhard Engel; Marco Borggreve<br />
der zum Musizieren ermunterte. Dabei entdeckte<br />
ich die Gambe und begann mir das<br />
Spielen darauf selbst beizubringen. Ich bin<br />
diesem Instrument richtig verfallen, und daher<br />
habe ich nach meiner Promotion am Königlichen<br />
Konservatorium in Brüssel beim<br />
Spezialisten Wieland Kuijken in zwei Jahren<br />
noch zwei Diplome gemacht.<br />
Das war der erste Sprung nach Europa?<br />
I Eigentlich schon: Durch meinen großartigen<br />
Lehrer Wolff war ich bereits ein Bach-Jünger<br />
geworden, und dann habe ich gleichzeitig<br />
zwei Stipendien für die Forschung in Berlin<br />
und Leipzig bekommen, dort, wo sich die umfassendsten<br />
Archive zu Bachs Leben und Werk<br />
befinden: Eines vergab der Deutsche Akademische<br />
Austauschdienst (DAAD) für Westberlin, das zweite<br />
vergaben die Ostdeutschen an Amerikaner für Ostberlin<br />
und Leipzig. Da durfte ich auch auf den Original-Bach-Instrumenten<br />
spielen.<br />
Eines Ihrer jüngsten Bücher trägt den englischen Titel Wagner<br />
and the Erotic Impulse. Sie argumentieren darin unter<br />
anderem, dass Wagners Hörerschaft im 19. Jahrhunderts<br />
weniger über seine politischen und antisemitischen Ansichten<br />
empört war, sondern viel mehr Wagners ungezügelte<br />
Sinnlichkeit im Leben und in seiner Musik als skandalös<br />
und aufregend empfanden. Unter anderem beschreiben<br />
Sie seine Vorliebe für seidene Frauen-Dessous. Darf ich Sie<br />
– als einen von „Jiddischkeit“ erfüllten Menschen – fragen,<br />
wieso die Faszination mit Bach Sie auch gleich zum tieferen<br />
Verständnis von Richard Wagner führte?<br />
I Als Student habe ich nicht nur viel Wagner-Musik<br />
gehört, sondern auch gespielt. Wagner war von<br />
Bachs Technik und Werk regelrecht besessen, nahm<br />
gelegentlich auch Anleihen bei ihm. Für mich als<br />
Wissenschaftler haben die beiden Komponisten<br />
doch einiges, das sie verbindet – und zwar ein tiefes<br />
Verständnis für menschliches Leid. Das mag bei<br />
Wagners widerlichem Antisemitismus manchen jüdischen<br />
Menschen nicht offensichtlich sein, aber<br />
weder jüdische Musiker noch jüdische Wagnerianer<br />
seiner Zeit konnten sich ein späteres Vernichtungslager<br />
Auschwitz vorstellen. Sie nahmen seinen<br />
Judenhass damals als notorische „Narrischkeit“ in<br />
Kauf und frönten seiner Musik.<br />
Zahlreiche Bücher befassten sich schon mit Wagners antisemitischen<br />
Schriften. Konnten Sie das bei all der erotischen<br />
Schlüpfrigkeit auslassen?<br />
I Natürlich nicht, ich widme diesem Thema ein ganzes<br />
Kapitel. Ich recherchierte ausgiebig über die jüdischen<br />
Wagnerianer, vor allem wie sie mit all diesen<br />
Schwierigkeiten und Ambivalenzen umgingen.<br />
Aber bitte stellen Sie sich auch diese Szene vor: Der<br />
Gießener Rabbiner des Großherzoglich hessischen<br />
Landkreises geht in die koscheren Suppenküche in<br />
Bayreuth, bevor er die Vorstellung auf dem Grünen<br />
Hügel besucht, wo sein Sohn, Hermann Levi, den<br />
Parsifal dirigiert. Einer Anekdote nach traf Vater Levi<br />
Richard Wagner danach, und der meinte: „Also Sie<br />
sind der Vater meines Alter Ego.“ Es ist doch alles viel<br />
komplizierter und etwas nuancierter.<br />
Sie spielen auf Ihr druckfrisches Buch an, das soeben im<br />
Verlag Faber & Faber erschienen ist: Parsifals Verführung,<br />
ein Roman, in dem Sie das Leben und Wirken des<br />
jüdisch-deutschen Dirigenten Hermann Levi (1839–1900)<br />
im Umfeld von Richard und Cosima Wagner, aber auch<br />
seine enge Freundschaft mit Johannes Brahms ungemein<br />
plastisch und spannend nacherzählen und dank Ihrer<br />
langjährigen akribischen Recherchen zudem mit Originalbriefen<br />
anreichern. Nach mehreren akademischen<br />
Publikationen führt uns Ihr Romandebüt nach Bayreuth<br />
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie sparen weder<br />
die von Hermann Levi erlittenen Erniedrigungen noch die<br />
Privilegien aus, wie zum Beispiel die Uraufführung des<br />
Parsifal auf persönlichen Wunsch des Komponisten. Levi<br />
hatte seine Gewissensbisse?<br />
„Im ersten<br />
Studienjahr<br />
habe ich meine<br />
Notizen<br />
an der Universität<br />
noch in<br />
Hebräisch<br />
und Jiddisch<br />
gemacht.“<br />
* Die Jeschiwa ist eine jüdische Hochschule,<br />
an der sich meist männliche<br />
Schüler (Bocher im Jiddischen für<br />
Burschen) dem Tora-und Talmud-<br />
Studium widmen.<br />
** Viola da Gamba (deutsch: Gambe,<br />
früher auch Knie- oder Schoßgeige)<br />
entsteht im 15. Jahrhundert, vermutlich<br />
in Spanien, und ist eine Sammelbezeichnung<br />
für eine Familie historischer<br />
Streichinstrumente. Es gibt sie in<br />
sämtlichen Größen und Stimmlagen,<br />
von der kleinen Diskantgambe über die<br />
Alt- oder Tenorgambe bis hin zur großen<br />
Bassgambe.<br />
*** Chabad oder Lubawitsch ist als<br />
neochassidische Gruppierung, im<br />
späten 18. Jahrhundert in Belarus<br />
gegründet worden und wurde zu einer<br />
internationalen Bewegung mit Hauptsitz<br />
in New York und mit tausenden Zentren<br />
auf der ganzen Welt. Ihr Hauptanliegen<br />
besteht darin, anderen die Schönheit,<br />
Tiefe, das Bewusstsein und das Glück<br />
zu vermitteln, welches in einem Toratreuen<br />
Leben im Judentum liegt.<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 45 16.09.22 05:59
Ein Bostoner in Berlin<br />
„Zuletzt<br />
war ich zu<br />
Pessach bei<br />
Freunden in<br />
New York, und<br />
das gemeinsame<br />
Essen<br />
und Reden<br />
sind wichtig<br />
für mich, denn<br />
ich beschäftige<br />
mich mit<br />
meinem Jüdischsein.“<br />
Laurence Dreyfus<br />
I Selbstverständlich, er schrieb wortwörtlich an seinen<br />
Vater: „Das war bei Wagner kein kleinliches Risches<br />
(Jiddisch: Bosheit, Antisemitismus). Trotzdem<br />
fühlte sich Hermann Levi dem Kampf gegen die<br />
Kommerzialisierung der Kunst verpflichtet.<br />
Wieso das?<br />
I Levi macht in Leipzig die Erfahrung, dass seine<br />
Glaubensgenossen dort entweder von Schidduchim<br />
(Heiratsvermittlung) redeten oder vom Geldmachen.<br />
Daher versuchte er, wie viele andere Juden, die so<br />
dachten wie er, in ein weltlicheres Leben zu fliehen<br />
und sich dort zu behaupten. In meinem Wagner-Buch<br />
bringe ich das Beispiel von Theodor Herzl,<br />
der die Idee zum Judenstaat nach dem Besuch des<br />
Tannhäuser in Paris zu entwickeln begann. Er war ein<br />
glühender Wagnerianer und schrieb daher in Altneuland:<br />
„Das Einzige, was wir im Heiligen Land tun<br />
müssen, ist, deutsche Kultur hinbringen und Wagner-Opern<br />
spielen.“ Auch er sieht da überhaupt keinen<br />
Widerspruch, weil er nicht alles auf den Antisemitismus<br />
reduziert.<br />
Was war Ihre Motivation, über Hermann Levi zu schreiben?<br />
I Sein Leben und sein künstlerischer Werdegang boten<br />
zahlreiche persönliche und kulturelle Resonanzen,<br />
die mich unglaublich faszinierten. Nur ein Beispiel:<br />
Im Leo Baeck Institute in New York fand ich die<br />
Erinnerungen von Emanuel Kirschner (1857–1938),<br />
dem Kantor der Hauptsynagoge von München, in denen<br />
er eine bezaubernde Szene schildert: Er musste<br />
1881 bei seiner Bewerbung für den Posten dem bereits<br />
berühmten Hermann Levi vorsingen. Nachdem dieser<br />
als musikalischer Berater der Synagoge sein O.K.<br />
gegeben hatte, kam er auch zum Schabbes-Gottesdienst,<br />
um Kantor Kirschner zu lauschen. Nicht gerade<br />
ein Paradebeispiel für einen selbsthassenden<br />
Juden, oder? Zur gleichen Zeit wurde er von Richard<br />
und Cosima Wagner bedrängt, sich vor dem Uraufführungsdirigat<br />
des Parsifal im gleichen Sommer taufen<br />
zu lassen; was er aber nie tat.<br />
Sie haben eine duale Karriere als Musikwissenschaftler<br />
und Gambist beeindruckend vereinen können. Sie lehrten<br />
als Professor an den Universitäten Yale, Stanford, Chicago,<br />
am King’s College London und zuletzt an der Universität<br />
Oxford und dem dortigen Magdalen College. Für Ihre Verdienste<br />
um die Bach- und Wagner-Forschung wurden Sie<br />
unter anderem mit der Mitgliedschaft in der British Academy<br />
belohnt. 1994 verwirklichten Sie sich einen Traum mit<br />
der Gründung des Gambenquartetts Phantasm, mit dem<br />
Sie heuer zwei Tage beim Kammermusikfest in Lockenhaus<br />
gastierten. Und seit 2013 haben Sie eine Wohnung in<br />
Berlin.<br />
I Ja, ich habe eine Frühpensionierung als Universitätsprofessor<br />
angetreten und kann so öfter mit meinem<br />
Gambenconsort konzertieren. Ich lebe gerne in<br />
Berlin, wohne auch in einer jüdischen Gegend, nämlich<br />
Berlin-Wilmersdorf. Ich glaube, dass die deutsche<br />
Kultur Juden braucht, so trage ich etwas dazu<br />
bei. Meine Tochter, eine Germanistin, lebt auch in<br />
meiner Nähe.<br />
Mit „Dreyfus“ tragen Sie einen historisch berühmten Namen,<br />
der an die berüchtigte Affäre Alfred Dreyfus erinnert.<br />
Und es gibt heute noch eine große Industriellenfamilie<br />
aus Mulhouse im Elsass mit diesem Namen. Stammt Ihre<br />
Familie auch aus dieser Gegend?<br />
I Nein, ganz bestimmt nicht! Als mein Urgroßvater<br />
nach Amerika kam, trug er den schönen jüdischen<br />
Namen „Dreispitz“. Der Name gefiel der Familie<br />
dort nicht mehr, er war auch schwer ins Englische<br />
zu transkribieren. Dreyfus fanden sie schöner, und<br />
er drückte damals auch Selbstbewusstsein und jüdische<br />
Solidarität aus. Meinem Urgroßonkel gefiel es in<br />
den USA nicht, er kehrte zu seiner Familie in die Ukraine<br />
zurück. Alle wurden im Holocaust ermordet;<br />
nur einer seiner Söhne und ein Enkelsohn überlebten<br />
in der sowjetischen Armee. Einer von ihnen war<br />
unter den Befreiern von Berlin. Unglaublich, oder?<br />
Ausgestopfte Juden?“<br />
Geschichte, Gegenwart<br />
und Zukunft Jüdischer Museen<br />
26. Juni <strong>2022</strong>—19. März 2023<br />
Schweizer Str. 5, 6845 Hohenems<br />
www.jm-hohenems.at<br />
Öffnungszeiten Museum/Café:<br />
Di bis So und feiertags 10–17 Uhr<br />
46 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
Außer im Herzen und in der Neshume (Seele) und als ehemaliger<br />
Chabadnik, sind Sie noch religiös?<br />
I Ab und zu gehe ich noch in die Synagoge, ich liebe<br />
die Nigunim (Gebetsmelodien), aber es ist mehr Nostalgie<br />
als großer Glaube. Es war ein sehr wichtiger Abschnitt<br />
in meinem Leben. Zuletzt war ich zu Pessach<br />
bei Freunden in New York, und das gemeinsame Essen<br />
und Reden sind wichtig für mich, denn ich beschäftige<br />
mich mit meinem Jüdischsein, vielleicht schreibe<br />
ich auch bald darüber.<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 46 16.09.22 05:59
Sex and Crime<br />
in Be’er Scheva<br />
Mit ihren sozialkritischen Büchern ist Shulamit Lapid<br />
über die Grenzen Israels hinaus bekannt geworden. Lokalausgabe,<br />
das Krimidebüt der heute 87-jährigen Mutter des gegenwärtigen<br />
Premierministers Jair Lapid, gleichzeitig der erste<br />
Fall ihrer sympathisch verhuschten Heldin Lisi Badachi, ist<br />
nun als Taschenbuch neu zugänglich.<br />
Von Anita Pollak<br />
Großer Busen, große Plattfüße,<br />
große Plastikohrringe. Alles ist<br />
groß an Lisi Badichi, und trotzdem<br />
ist sie keine Frau, „die<br />
man groß bemerkte“. In Be’er Scheva , wo<br />
sie als Reporterin der Zeit im Süden allgegenwärtig<br />
ist, genießt sie als „Bekloppte“<br />
keinen allzu guten Ruf. Sehr zu Unrecht,<br />
denn Lisi ist professionell, fleißig, klug, loyal<br />
und verschwiegen. Und mit ihren dreißig<br />
Jahren immer noch Jungfrau.<br />
Mit ihrer Protagonistin Lisi Badachi ist<br />
der israelischen Kriminalautorin Shulamit<br />
Lapid ein Wurf gelungen. Ihr erster<br />
Fall erschien bereits 1989 in Israel und erhielt<br />
in der wunderbaren Übersetzung der<br />
leider schon verstorbenen Mirjam Pressler<br />
1996 den Deutschen Krimipreis.<br />
Mehrere Badachi-Fälle folgten, und<br />
die 1934 geborene Autorin gilt heute als<br />
eine der prominentesten Schriftstellerinnen<br />
des Landes. Dass sie auch die Mutter<br />
des gegenwärtigen Ministerpräsidenten<br />
Jair Lapid ist, wird vom Verlag diskreterweise<br />
verschwiegen. Wie sein Vater,<br />
der ehemalige Justizminister Josef Lapid,<br />
wechselte auch Jair erst nach Jahrzehnten<br />
vom Journalismus in die Politik. Und so<br />
schlägt sich Shulamit Lapids wohl familiär<br />
bedingte Insider-Kenntnis der journalistischen<br />
Szene auch in ihrer Lokalausgabe<br />
aufschlussreich nieder. Da gibt es den<br />
täglichen Konkurrenzkampf der Regionalblätter<br />
und ihrer Reporter, die lähmenden<br />
Pressekonferenzen kleinkarierter Kunst-,<br />
Garten- und sonstiger Vereine und die Mediengeilheit<br />
der Provinzkaiser.<br />
Schöne Leiche. So schmeißt Pinchas Hornstick<br />
anlässlich seiner Ernennung zum<br />
Shulamit Lapid:<br />
Lokalausgabe. Lisi<br />
Badachis erster Fall.<br />
Deutsch von Mirjam<br />
Pressler. Dörlemann,<br />
352 S., € 19,60<br />
neuen Bezirksrichter eine große Party,<br />
für Lisi quasi ein „Seitenblicke“-Pflichttermin,<br />
bei dem sie ihre lästige Jungfernschaft<br />
verlieren und sogar in einen<br />
Mordfall verstrickt werden soll. Denn genau<br />
in jener folgenschweren Nacht wird<br />
die Gattin des Bezirksrichters, die schöne<br />
und glamouröse Bauunternehmerin Alex<br />
Hornstick, tot im festlich geschmückten<br />
Garten der tollen Villa aufgefunden.<br />
Gut vernetzt in der örtlichen Polizei,<br />
die Männer ihrer beiden Schwestern sind<br />
Polizisten, die kurioserweise im besten<br />
Einvernehmen ihre Ehefrauen getauscht<br />
haben, recherchiert Lisi anfänglich aus<br />
journalistischem Interesse den rätselhaften<br />
Fall, schon um etwaigen Konkurrenten<br />
um die saftige Sex-and-Crime-Story immer<br />
einen Artikel voraus zu sein. Weil sie<br />
sich dabei auch als instinktreiche Kriminalistin<br />
entpuppt, werden, nachdem sie<br />
und die Leserschaft Blut geleckt haben,<br />
auf ihren ersten Fall natürlich weitere<br />
folgen. Seinen Reiz bezieht der fast naiv<br />
einfach gestrickte Plot aus dem so detailreich<br />
geschilderten Milieu, dem Beiwerk<br />
aus Korruption und Kleinkriminalität, in<br />
die unter anderen auch gut beleumundete<br />
Kibbuzmitglieder verstrickt sind, den<br />
mit wenigen Strichen gezeichneten Miniporträts,<br />
etwa von windigen Provinz-Gigolos<br />
oder verschlagenen Weinhändlern.<br />
Höchst liebevoll gemalt hingegen ist Lisis<br />
Tante Klara, eine ehemalige Opernsängerin,<br />
die früher Lisis Onkel, also ein Mann<br />
gewesen ist.<br />
Eindeutig von gestern, das heißt aus der<br />
Prä-Handy-Ära, sind die technologischen<br />
Mittel der Recherchen, umso zeitloser erscheinen<br />
hingegen politische Leitmotive<br />
„Wehe der Generation, deren Richter sich<br />
vor dem Gesetz verantworten müssen.“<br />
Israels wie die bereits damals aktive Jihad-<br />
Bewegung.<br />
Und die Warnung: „Wehe der Generation,<br />
deren Richter sich vor dem Gesetz<br />
verantworten müssen“, erweist sich aus<br />
heutiger Sicht geradezu prophetisch.<br />
Auch Nicht-Krimi-Fans werden diesen<br />
literarisch niveauvollen Unterhaltungsroman<br />
genießen können, Freund:innen des<br />
beliebten Genres handwerklich perfekt<br />
gemachter Whodunit mit stimmigem Lokalkolorit<br />
kommen hier vollends auf ihre<br />
Rechnung.<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 47 16.09.22 05:59
INTERVIEW MIT CHRISTIAN BERKEL<br />
„Es geht um das Wagnis der<br />
Erinnerung für jeden unter uns“<br />
Der prominente Schauspieler, Autor und Regisseur Christian<br />
Berkel beschäftigt sich in zwei beeindruckenden Büchern auch<br />
mit seiner mehrfachen Identität: als Deutscher und Jude.<br />
Interview: Marta S. Halpert, Foto: Reinhard Engel<br />
WINA: Sie sind nicht nur einer der bekanntesten deutschen<br />
Film- und Fernsehschauspieler, Sie reüssieren auch auf internationaler<br />
Ebene: Als Wirt Eric waren Sie in Quentin Tarantinos<br />
Kinofilm Inglourious Basterds besetzt; an der Seite<br />
von Isabelle Huppert spielten Sie in dem mehrfach ausgezeichneten<br />
französischen Thriller Elle. Und in der ZDF-Serie<br />
Der Kriminalist gaben Sie von 2006 bis 2020 dem Hauptkommissar<br />
Bruno Schumann ein höchst eigenwilliges Profil.<br />
Vor Kurzem feierten Sie Ihr Debüt als Theaterregisseur bei<br />
den Festspielen Reichenau. Warum jetzt und warum hier?<br />
Christian Berkel: Es hat sich jetzt einfach ergeben. Obwohl<br />
das etwas war, womit ich immer wieder geliebäugelt<br />
habe. Denn ich hatte in meinen Zwanzigerjahren<br />
an der Deutschen Filmakademie ein Regie- und Drehbuchstudium<br />
absolviert, aber danach ging das Spielen<br />
so extrem schnell los, dass ich gar keine Zeit mehr für<br />
Regie hatte. Aber letztes Jahr saßen wir mit Maria Happel<br />
beim Deutschen Filmpreis zusammen, die gerade<br />
mit meiner Frau, Andrea Sawatzki, die Komödie Freibad<br />
von Doris Dörre abgedreht hatte, der übrigens jetzt ins<br />
Kino kommt. Bei dieser Gelegenheit fragte mich Maria<br />
Happpel, ob ich glaube, dass man Frank Wedekinds<br />
Frühlings Erwachen heute noch aufführen kann. Als ich<br />
das bejahte, wollte sie wissen, ob ich Lust hätte, dieses<br />
Stück zu inszenieren. Ich war leicht verführbar, habe<br />
es sofort wieder gelesen und sehr schnell entschieden,<br />
dass ich es machen wollte.<br />
Frühlings Erwachen ist ein 1891 erschienenes gesellschaftskritisch-satirisches<br />
Drama, in dem es vor allem um die existenzielle<br />
Lebenskrise von Jugendlichen in der Pubertät, um<br />
Gefühlskälte und um zerrüttete Familienverhältnisse geht.<br />
Sie sehen diese Thematik als aktuell an?<br />
I Ich kenne tatsächlich kein Stück, keinen Roman, der<br />
diese schwierige Lebensphase gründlich erforscht.<br />
Kaum einer will in die Pubertät zurück, es findet sich<br />
kaum jemanden, der sagt, das war damals so schön –<br />
meistens wird diese Zeit massiv verdrängt. Das ist die<br />
erste Lebenskrise, die sehr intensiv erlebt wird, die Jugendlichen<br />
sind in dieser Phase hoch gefährdet, weil<br />
„Später<br />
sickerten<br />
immer mehr<br />
Geschichten<br />
durch, und<br />
ich bekam<br />
unglaubliche<br />
Schwierigkeiten<br />
mit dieser<br />
deutschen<br />
Identität [...].“<br />
Christian Berkel<br />
das Wachstum ohne Verletzbarkeit nicht möglich ist.<br />
Die Pubertät unterscheidet sich von späteren Krisen<br />
dadurch, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch keine vergleichsweisen<br />
Erfahrungen gemacht haben, also noch<br />
keine Instrumentarien dafür haben. Nach drei durchlebten<br />
Krisen sagt man, ok, das habe ich geschafft,<br />
dann werde ich die vierte auch noch meistern.<br />
Zusätzlich zu bekannten Schauspielern arbeiteten Sie hier<br />
mit Studierenden des Max Reinhardt Seminars. Hat Ihnen<br />
das Inszenieren Spaß gemacht? Wollen Sie in Zukunft weniger<br />
spielen und öfter Regie führen?<br />
I Sehr gerne, es hat mir großen Spaß gemacht. Es<br />
sind diese drei Ebenen, auf denen ich versuche, mich<br />
auszudrücken: Spielen, Inszenieren und Schreiben,<br />
denn es geht mir vordergründig immer um Sprache,<br />
wir sind Sprachwesen, das unterscheidet uns von anderen<br />
Lebewesen. Frisch geborene Säuglinge kommen<br />
aus Klangwelten. Erst zwischen zwei und drei<br />
Jahren kommen sie mit dem Sprechen in der Wirklichkeit<br />
an. Von da an konstruieren wir unsere Wirklichkeit<br />
über Sprache. Es gibt zwar einen Konsens<br />
über den Begriff Tisch, aber der ganze emotionale Bereich<br />
ist nicht mehr so eindeutig.<br />
Sie haben mit Ihrem ersten Buch gleich einen Riesenerfolg<br />
gelandet: In Ihrem Roman Der Apfelbaum erzählen Sie nicht<br />
nur auf berührende Weise große Teile Ihrer eigenen dramatischen<br />
Familiengeschichte, sondern beleuchten ebenso die<br />
aufwühlende deutsche Geschichte zwischen 1932 und 1955.<br />
Dabei stehen auch das Leid und die Odyssee Ihrer jüdischen<br />
Mutter während der NS-Zeit im Zentrum. Gibt es Pläne, das<br />
Buch zu verfilmen?<br />
I Natürlich befasse ich mich mit der Idee. Es ist schwierig,<br />
jemanden zu finden, der einem so viel Geld für die<br />
Produktion gibt. Denn der Stoff spielt ja in mehreren<br />
Ländern – in Frankreich, Spanien, Argentinien, Russland.<br />
Aber es geht auch um die Frage, welche Form<br />
man dafür wählt: Für eine Spielfilmlänge müsste man<br />
unglaublich viel reduzieren.<br />
48 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 48 16.09.22 05:59
Erfolgreiches Romandebüt<br />
CHRISTIAN BERKEL,<br />
1957 in Berlin geboren, ist der Enkel des Schriftstellers und<br />
Anarchisten Johannes Nohl sowie der Großneffe des Pädagogen<br />
Hermann Nohl; seine jüdische Großmutter kämpfte mit den internationalen<br />
Brigaden in Spanien; eine Großtante war die aus Polen<br />
stammende französische Modeschöpferin Lola Prusac (Prussak),<br />
Wie wäre es mit einer Serie?<br />
I Ja, daran habe ich auch schon gedacht, warten wir<br />
es ab.<br />
An einer Stelle heißt es in Der Apfelbaum: „Ich war Deutscher,<br />
ja, aber auch Jude, von einer jüdischen Mutter geboren.<br />
Katholisch erzogen, gut, aber aus dem Verein war ich<br />
schon früh ausgetreten. Und mein protestantischer Vater<br />
war zeit seines Lebens Atheist.“ Wann haben Sie persönlich<br />
erfahren, dass Ihre Mutter Jüdin ist?<br />
I Unter besagtem Apfelbaum saßen wir an einem Sonntagnachmittag,<br />
als ich sechs oder sieben Jahre alt war,<br />
und empfingen Besuch aus Amerika. Ich freute mich<br />
darauf, zum ersten Mal einen „echten“ Amerikaner<br />
kennen zu lernen. Ich war verblüfft und enttäuscht,<br />
dass der Gast plötzlich Deutsch gesprochen hat. „Onkel<br />
Walter ist Jude und kommt aus der Emigration<br />
zurück“, erklärte mir meine Mutter und fügte wie<br />
nebenbei hinzu: „Und du bist auch ein bisschen jüdisch.“<br />
Da fragte ich nach: „Nicht ganz?“ „Nein, nicht<br />
ganz, nur ein wenig“, lautete ihre Antwort. „Bin ich<br />
ganz deutsch?“ „Nein, das auch nicht ganz“, fügte sie<br />
hinzu. Daraufhin begann ich fürchterlich zu weinen,<br />
wahrscheinlich wegen der zwei kleinen Wörter „nicht<br />
ganz“. Für ein kleines Kind ist „nicht ganz“ etwas Kaputtes.<br />
Es war, als wäre etwas mit mir nicht in Ordnung,<br />
und das hat mich tief irritiert.<br />
die bei Hèrmes lernte und später in ihrer eigenen Boutique die<br />
Duchesse of Windsor einkleidete.<br />
Berkel lebte ab seinem vierzehnten Lebensjahr in Paris. Seine erste<br />
entscheidende Begegnung mit dem Theater war dort die Arbeit<br />
von Marcel Marceau, dessen Pantomimen er zu Hause nachspielte.<br />
Bereits neben der Schule nahm er stundenweise Schauspielunterricht,<br />
nach dem Abitur machte er eine Ausbildung an der<br />
Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. 1977, im Alter von<br />
19 Jahren, besetzte ihn Ingmar Bergman für die Rolle des Studenten<br />
in Das Schlangenei. Bis 1993 war er an namhaften deutschsprachigen<br />
Bühnen engagiert, unter anderen bei Claus Peymann am<br />
Schauspielhaus Bochum und am Wiener Burgtheater sowie am<br />
Residenztheater München und am Schillertheater Berlin.<br />
Ab 2002 spielte er hauptsächlich in europäischen Spielfilmen<br />
und TV-Produktionen; Hollywood meldete sich 2007 mit der Kinoproduktion<br />
Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat wieder,<br />
einem Thriller über das gescheiterte Hitler-Attentat von 1944.<br />
Wie ging es dann weiter?<br />
I Später sickerten immer mehr Geschichten durch,<br />
und ich bekam unglaubliche Schwierigkeiten mit<br />
dieser deutschen Identität – ich wollte das nicht mehr<br />
sein. Da ich zweisprachig aufgewachsen bin, wollte<br />
ich einfach Franzose werden. Noch in Frankreich, mit<br />
16 Jahren, wurde mir klar, dass ich vor meiner Geschichte<br />
nicht fortlaufen kann und mich damit auseinandersetzen<br />
muss. Deshalb kehrte ich auch nach<br />
Deutschland zurück.<br />
War das Jüdisch-Sein später noch ein Thema zwischen Ihnen<br />
und Ihrer Mutter?<br />
I Das blieb ein ewiges Streitthema zwischen meiner<br />
Mutter und mir, denn sie hat darauf bestanden zu sagen,<br />
dass sie Halbjüdin ist, weil ihr Vater kein Jude<br />
war. Ich sagte ihr, das sei im jüdischen Sinne absurd,<br />
das wäre komplett falsch. „Diese Halb-, Viertel-, Achtel-Jude-Bezeichnungen<br />
sind reine NS-Diktion, Teil<br />
der Nürnberger Rassegesetze: Du kannst doch nicht<br />
die Definition deiner Verfolger übernehmen!“ Aber<br />
es muss für sie etwas anderes bedeutet haben, nämlich<br />
nur halb deutsch zu sein. Sie wollte sich zugehörig<br />
fühlen. Da ihre jüdische Mutter sie verlassen hatte,<br />
als sie erst sechs Jahre alt war, hat sie ihr Jüdisch-Sein<br />
auch relativ spät erfahren. Da beide Eltern Atheisten<br />
wına-magazin.at<br />
49<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 49 16.09.22 05:59
Gefühl von Zuhause<br />
HEITER BIS WOLKIG: EIN MUTTER-SOHN-DIALOG<br />
Wie man schwierige Lebenssituationen nicht nur in den Griff<br />
bekommt, sondern diese humorvoll, berührend und durchaus<br />
politisch erzählen kann, zeigt Christian Berkel in seinem ersten<br />
Buch mit dem Titel Der Apfelbaum.<br />
ahrelang bin ich vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie<br />
„Jneu“, gesteht der Autor sehr offen und nicht ohne Augenzwinkern. Entstanden<br />
ist ein großer Familienroman vor dem Hintergrund eines ganzen Jahrhunderts<br />
deutscher Geschichte, konkret zwischen 1932 und 1955, die Erzählung einer<br />
ungewöhnlichen Liebe. Mit großem sprachlichen Können belebt Christian Berkel<br />
die spannungsreiche Geschichte seiner Familie: Diese führt über drei Generationen<br />
von Ascona, Berlin, Paris, Gurs und Moskau bis nach Buenos Aires. Am Ende<br />
steht die Geschichte zweier Liebender, die unterschiedlicher nicht sein könnten<br />
und doch ihr Leben lang nicht voneinander lassen.<br />
Mit diesem Debütroman gelang dem vielfältigen Darsteller der Durchbruch<br />
zum Literaten. Dieser Erfolg ermutigte ihn, die Verknüpfung seiner Familie mit<br />
der deutschen Geschichte zu einer Trilogie auszuweiten.<br />
Der zweite Band heißt Ada: Darin geht es um Wirtschaftswunder, Mauerbau, die<br />
68er-Bewegung – und eine vielschichtige junge Frau, die aus dem Schweigen der<br />
Elterngeneration heraustritt. Wenn Berkel von der Schuld und der Liebe, von der<br />
Sprachlosigkeit und der Sehnsucht, vom Suchen und Ankommen schreibt, beweist<br />
er sich wieder als mitreißender Erzähler.<br />
I Eher erleichtert, weil ich, wie schon gesagt, sehr früh<br />
mit mehreren Identitäten konfrontiert wurde. Mein<br />
Lehrer in Paris hat mich konkret dazu ermahnt, mich<br />
zwischen der französischen und deutschen Identität<br />
zu entscheiden. Solche Sätze habe ich auch später oft<br />
gehört. Aber durch das Schreiben über meine Familie<br />
habe ich immer klarer empfunden, dass ich mich gar<br />
nicht entscheiden muss: Es gibt Menschen mit mehreren<br />
Identitäten, deshalb bin ich Schauspieler geworden,<br />
das ist eine davon.<br />
Wie haben Sie es bei ihren beiden Söhnen mit der Religion<br />
gehalten?<br />
I Meine Söhne sind nicht getauft. Der Jüngere erlebte<br />
in seinem Umfeld mehrere Bat und Bar Mizwas<br />
und sagte eines Tages, er würde gerne zum Judentum<br />
übertreten. Weder meine Frau noch ich hatten<br />
etwas dagegen. Wir berieten uns mit einem Rabbiner,<br />
der uns als Erstes auf die nötige Beschneidung<br />
hinwies. Als wir unserem Sohn erklärten, dass dies<br />
bei einem Zehnjährigen anders wäre als bei einem<br />
achttägigen Baby, ging sein Drang ein wenig zurück.<br />
Ich hätte ihm in diesem Sinne auch kein richtiges jüdisches<br />
Leben bieten können. Daraufhin hat sich das<br />
alles ein wenig verlaufen.<br />
waren, wäre sie ohnehin nicht jüdisch erzogen worden,<br />
daher hatte sie diesen unmittelbaren Bezug zum<br />
Judentum nicht.<br />
So wie viele ihrer Generation, die erst Hitler zu Juden stempelte.<br />
Die Verfolgung war eigentlich ihre erste Berührung<br />
mit dem Judentum.<br />
I Ja, das stimmt. Ich habe damit im Grunde genommen<br />
mein Leben lang gehadert. Ich bedauerte das so<br />
sehr, weil mir ein Stück meiner Identität, meiner Kultur<br />
vorenthalten worden ist. Nicht böswillig, aber als<br />
ein Faktum.<br />
Haben Sie aus eigenem Antrieb nach Ihren jüdischen Wurzeln<br />
geforscht?<br />
I Ernsthaft gesucht und richtig recherchiert habe ich<br />
erst viel später, als ich mit meiner Mutter bei ihrer<br />
beginnenden Demenz schon für das Buchprojekt versucht<br />
habe zu sprechen. Wesentlich früher kam der<br />
Tag, als meine Kinder in Berlin jüdische Schulkollegen<br />
hatten. Wir freundeten uns mit deren Eltern an, ich erzählte<br />
meine Geschichte, und sie luden uns gleich für<br />
den nächsten Schabbat ein. Das war für mich schon<br />
sehr beeindruckend. Unser älterer Sohn wurde dann<br />
auch zur Bar Mizwa dieses Jungen eingeladen. Da habe<br />
ich die erste Bar-Mizwa-Zeremonie erlebt, ich saß da,<br />
und mir liefen die Tränen herunter. Aber nicht, weil<br />
ich traurig war, sondern weil es mich unheimlich bewegt<br />
hat. Es war ein Gefühl von „zu Hause sein“ in dem<br />
Moment, in dem ich die Synagoge betreten habe. Ich<br />
kann es gar nicht anders erklären. So war es.<br />
Hat das bewusste Wissen um Ihr Judentum Ihr Leben verändert?<br />
Christian Berkel:<br />
Der Apfelbaum.<br />
Ullstein 2019,<br />
416 S., € 11,90<br />
„Es war ein<br />
Gefühl von ‚zu<br />
Hause sein‘ in<br />
dem Moment,<br />
in dem ich die<br />
Synagoge betreten<br />
habe.“<br />
Christian Berkel<br />
In Frühlings Erwachen verursacht das Schweigen der Elterngeneration<br />
viel Leid. Sie haben, angefangen vom Ursprungsort<br />
in Łódź, die Vergangenheit ihrer Familie mütterlicherseits<br />
akribisch erforscht. In Ihrem stark autobiografisch<br />
geprägtem Roman (siehe Kasten) arbeiten Sie sich auch<br />
am Schweigen Ihrer jüdischen Mutter über die NS-Zeit ab.<br />
Werfen Sie ihr das vor?<br />
I Unmittelbar persönlich nicht, innerlich bestimmt.<br />
Durch das Schreiben erlebt man einen Prozess, der<br />
es einem ermöglicht, sich in die verschiedenen<br />
Schicksale hineinzuversetzen. Man muss sehr vorsichtig<br />
sein bei der Beurteilung dieser Lebenswege,<br />
denn aus heutiger Perspektive lässt es sich relativ<br />
leicht richten. Man sollte niemandem vorschreiben,<br />
wie er damit umzugehen hat.<br />
Der Ruf nach dem „endgültigen Schlussstrich unter die<br />
Debatte über die NS-Zeit und ihre Gräuel“ erhallt sowohl in<br />
Österreich wie auch in Deutschland immer wieder. Sie thematisieren<br />
das teils sehr emotional in Der Apfelbaum: „Es<br />
geht um das Wagnis der Erinnerung für jeden unter uns. Erst<br />
mit der Erinnerung gewinnt unser Leben ein Gesicht.“ Sie<br />
sprechen da aus eigener Erfahrung?<br />
I Wollen wir mit dem Satz „Irgendwann muss doch mal<br />
Schluss sein“ die Menschen von damals noch einmal<br />
ermorden? Wie viele Namen wollen wir denn mit einem<br />
sauberen Schlussstrich eliminieren?<br />
Ich will jedenfalls nicht wie ein Buch dastehen, aus<br />
dem einzelne Kapitel herausgerissen wurden, unverständlich<br />
für andere wie für mich selbst. Ich will versuchen,<br />
die leeren Seiten zu füllen. Für mich. Für meine<br />
Kinder. Für meine Familie. Zuerst stirbt der Mensch,<br />
dann die Erinnerung an ihn. Für diesen zweiten Tod<br />
tragen wir Nachgeborenen die Verantwortung.<br />
50 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 50 16.09.22 05:59
Freuds Retter<br />
Der amerikanische Autor und Journalist Andrew Nagorski schreibt<br />
in einem neuen Buch über Sigmund Freuds späte Flucht nach England<br />
und wer aller dabei geholfen hat.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Er wollte nicht aus Wien weg. „Politische<br />
Blindheit“ nennt Andrew Nagorski<br />
das Kapitel in seinem neuen<br />
Buch über Freuds Rettung, in Anlehnung<br />
an einen Ausspruch von Stefan Zweig. Dieser<br />
hatte wohl mit Freud mehrmals über<br />
die politische Lage gesprochen, aber der<br />
Professor gab sich ihr gegenüber sich noch<br />
realitätsfremder als der Schriftsteller.<br />
Zweig sollte dann auch Österreich schon<br />
1934 in Richtung England verlassen.<br />
1933, als Hitler in Deutschland an die<br />
Macht kam, beschworen mehrere Freunde<br />
Sigmund Freud eindringlich, doch aus Österreich<br />
zu emigrieren, die deutsche Bedrohung<br />
sei unübersehbar. Zu ihnen gehörte<br />
etwa sein Kollege Sándor Ferenczi in<br />
Budapest oder auch die französische Prinzessin<br />
Marie Bonaparte in Paris. Freud<br />
antwortete, dass es für ihn keine persönliche<br />
Bedrohung gebe. Er könne sich wohl<br />
eine österreichische Variante von Faschismus,<br />
Parteidiktatur und Antisemitismus<br />
vorstellen, „aber unsere Leute sind nicht<br />
ganz so brutal“. Doch er hatte auch seine<br />
dunklen Stunden. An Marie Bonaparte<br />
schrieb er einmal, dass sich die Welt in<br />
ein enormes Gefängnis verwandle, und<br />
es sei auch ungewiss, was mit Österreich<br />
passiere.<br />
Freuds Arzt, Max Schur, ebenfalls Jude,<br />
war freilich weniger ruhig. Er besorgte<br />
schon 1937 für seine Familie Visa für die<br />
USA, und er erinnerte Freud auch daran,<br />
dass Hitler schließlich Österreicher war,<br />
er solle sich nicht zu sicher fühlen. Anna<br />
Freud, Sigmunds Tochter, erzählte Jahre<br />
später, warum ihr Vater nicht fliehen<br />
wollte: Erstens war er bereits sehr krank,<br />
über 80 Jahre alt mit Krebs; darüber hinaus<br />
konnte er sich kein Leben anderswo<br />
mehr vorstellen.<br />
Doch mit dem „Anschluss“ im März<br />
1938 änderte sich die Lage dramatisch.<br />
Schon am 15. März, als Hitler am Heldenplatz<br />
seine Rede über die Rückkehr der so<br />
genannten Ostmark ins Deutsche Reich<br />
Andrew Nagorski:<br />
Saving Freud.<br />
A Life in Vienna and<br />
an Escape to Freedom<br />
in London.<br />
Simon & Schuster <strong>2022</strong>,<br />
352 S. sowie als Hörbuch<br />
hielt, tauchten in Freuds Wohnung bewaffnete<br />
Nazis auf. Freuds Frau Martha<br />
bewahrte die Contenance, sprach zu ihnen<br />
wie zu geladenen Gästen und offerierte<br />
Bargeld. Sie nahmen es und zogen<br />
überrascht wieder ab. Etwa zur selben Zeit<br />
bedrohten andere Freuds Sohn Martin im<br />
Psychoanalytischen Verlag ein paar Häuser<br />
weiter.<br />
Den endgültigen Entschluss zu emigrieren<br />
dürfte Freud nach der stundenlangen<br />
Gestapo-Befragung von Anna gefällt<br />
haben. Es ging dabei wohl auch um<br />
Devisen, die der Professor und der Verlag<br />
– vor dem „Anschluss“ durchaus legal<br />
– gegen die Inflation angespart hatten<br />
und die die Dollar-hungrigen Nazis nun<br />
haben wollten.<br />
Nagorski, ein langjähriger Newsweek-<br />
Korrespondent in zahlreichen europäischen<br />
und auch asiatischen Ländern, hat<br />
bereits eine Reihe historischer Bücher<br />
geschrieben. Hier konzentriert er sich –<br />
nach einem Überblick über Freuds nicht<br />
ganz leichten Aufstieg zu wissenschaftlichem<br />
Ansehen und öffentlichem Ruhm –<br />
auf jene Gruppe von Menschen, die dem<br />
greisen Professor die Ausreise oder eher<br />
Flucht nach England ermöglichten:<br />
... dass sich die Welt<br />
in ein enormes Gefängnis<br />
verwandle,<br />
und es sei auch<br />
ungewiss, was mit<br />
Österreich passiere.<br />
Das war erst einmal sein Arzt Schur, zwar<br />
um viele Jahre jünger, aber mit ihm sehr<br />
eng verbunden. Er sollte ihn auch später in<br />
London bis zu seinem Tod weiter betreuen.<br />
William Christian Bullet war ein amerikanischer<br />
Journalist, Autor und Diplomat,<br />
unter anderem Botschafter in der Sowjetunion<br />
und in Frankreich. Er hatte im Hintergrund<br />
Lobbying bei den US-Behörden<br />
betrieben, sie sollten Freuds Ausreise diplomatischen<br />
Flankenschutz geben.<br />
Marie Bonaparte, eine einstige Patientin<br />
Freuds und später selbst Psychoanalytikerin,<br />
war eine reiche angeheiratete Prinzessin<br />
der griechischen und dänischen Königsfamilien.<br />
Sie streckte unter anderem<br />
Geld für die Reichsfluchtsteuer vor. Sie<br />
schmuggelte weiters in griechischem Diplomatengepäck<br />
Goldmünzen und einige<br />
antike Statuen aus Freuds Wiener Wohnung<br />
nach Paris.<br />
Ernest Jones verfügte als walisischer Psychoanalytiker<br />
in London über beste Beziehungen.<br />
Er besorgte die notwendigen<br />
Papiere zu einer Zeit, als die westlichen<br />
Länder bereits sehr restriktiv gegenüber<br />
jüdischen Einwanderern waren.<br />
Und dann gab es noch – wohl etwas überraschend<br />
– den Wiener Nazi Anton Sauerwald.<br />
Er sollte als kommissarischer Leiter<br />
die Arisierung von Freuds Praxis und des<br />
Psychoanalytischen Verlags betreiben. Sauerwald<br />
begann während seiner „Arbeit“<br />
Freud zu schätzen und half ihm insofern,<br />
als er nicht über dessen Fremdwährungskonten<br />
berichtete. „Das hätte ihm eventuell<br />
die Ausreise verunmöglicht“, so Nagorski.<br />
Diese begann am 4. Juni 1938 mit dem<br />
Orient-Express nach Paris. Dort wurden<br />
Freud, seine Frau Marta und Tochter Anna<br />
von Marie Bonaparte abgeholt und in luxuriösen<br />
Limousinen in ihre Villa in St.<br />
Cloud gefahren. Am nächsten Tag ging<br />
es mit der Nachtfähre weiter nach London.<br />
Freud sollte noch mehr als ein Jahr<br />
in Freiheit leben. Er starb am 23. <strong>September</strong><br />
1939.<br />
wına-magazin.at<br />
51<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 51 16.09.22 05:59
Festspiel-Schwerpunkt<br />
Bejubelter Bartók des<br />
Jerusalem Quartet in Salzburg<br />
Auf dem Album The Yiddish Cabaret beweisen die vier Musiker ihre<br />
künstlerische Bandbreite: Sie beleuchten die jiddische Musik in Mitteleuropa<br />
zwischen den Weltkriegen sowie ihren weltweiten Einfluss.<br />
Aus Salzburg: Marta S. Halpert<br />
wurde das letzte<br />
Mal ein aktuelles Avantgardestück<br />
derart gefeiert?<br />
Immerhin trifft „Wann<br />
die neue Musik der 1920er-Jahre einen<br />
Nerv“, schreibt Dávid Gajdos, Musikkritiker<br />
der Tageszeitung Die Presse, sowohl<br />
über Markus Hinterhäusers Programmschwerpunkt<br />
Zeit mit Bartók bei den diesjährigen<br />
Salzburger Festspielen wie<br />
auch über die zwei Konzerte des Jerusalem<br />
Quartet. In den Salzburger Nachrichten<br />
lobt Clemens Panagl die Auftritte überschwänglich:<br />
„Das israelische Ensemble<br />
spielte alle sechs Quartette an zwei Abenden<br />
und zeichnete mit viel Leidenschaft<br />
und Akkuratesse, Energie und Sensibilität<br />
die Motive in stets neuen Schattierungen<br />
– auch immer wieder den Groove<br />
des Weltmusikers Bartók – heraus.“ Der<br />
Kritiker wertet die Konzerte im Mozarteum<br />
als jenes erfreuliche Ereignis, das<br />
die Entwicklungen und Wandlungen des<br />
Komponisten großartig hörbar macht.<br />
Das 1996 von vier jungen israelischen<br />
Musikern gegründete Jerusalem Quartet<br />
ist bei den Salzburger Festspielen ebenso<br />
kein Neuling wie auf zahlreichen Konzertbühnen<br />
der Welt: Häufige Tourneen<br />
nach Nordamerika gehören ebenso dazu<br />
wie Auftritte in Paris und Lissabon oder<br />
bei internationalen Festivals wie der<br />
Schubertiade Schwarzenberg, dem Verbier<br />
Festival oder dem Schleswig-Holstein<br />
Musik Festival. Trotz der Pandemie<br />
kam es <strong>2022</strong> im Frühjahr zu einem Beethoven-Zyklus<br />
in der Wigmore Hall und<br />
einer Asienreise im Juni sowie wiederholten<br />
Einladungen in die Tonhalle Zü-<br />
Das international<br />
besetzte<br />
Ensemble aus<br />
Israel feierte Publikumstriumphe<br />
bei den Salzburger<br />
Festspielen<br />
im Rahmen des<br />
diesjährigen<br />
dortigen Bartók-<br />
Schwerpunkts.<br />
rich, ins Concertgebouw Amsterdam und<br />
in die Elbphilharmonie Hamburg.<br />
Dieses Jahr widmet sich das israelische<br />
Ensemble dem Salzburger Béla-<br />
Bartók-Schwerpunkt, sonst greifen die<br />
vielseitigen Musiker auf ihr breites Repertoire<br />
zurück: Ihre Einspielungen von<br />
Haydns Streichquartetten und Schuberts<br />
Der Tod und das Mädchen wurden mit zahlreichen<br />
Preisen ausgezeichnet, wie dem<br />
BBC Music Magazine Award für Kammermusik.<br />
2018 veröffentlichte das Quartett<br />
zwei Alben mit Streichmusik von Dvořák,<br />
Ravel und Debussy.<br />
Bereits 2019 erschien das Album The<br />
Yiddish Cabaret, das die jiddische Musik in<br />
Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen<br />
und ihren umfassenden Einfluss weltweit<br />
beleuchtet. Die israelische Sopranistin<br />
Hila Baggio, die unter anderem auch<br />
an der Semperoper Dresden zu hören ist,<br />
gesellte sich zum Ensemble, um gemeinsam<br />
jiddische Kabarettlieder aus dem<br />
Warschau der 1920er-Jahre zu interpretieren.<br />
Außerdem beauftragte das Quartett<br />
den ukrainischen Komponisten Leonid<br />
Desyatnikov, die Lieder neu zu arrangieren.<br />
Desyatnikov hat sich nicht nur mit<br />
© Felix Broede, SALZBURGER FESTSPIELE<br />
52 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 52 16.09.22 05:59
Mutiger NS-Gegner<br />
© Felix Broede, SALZBURGER FESTSPIELE<br />
Bratschist Ori Kam stammt aus dem<br />
kalifornischen La Jolla. Das ist ein klares<br />
politisches Statement der jüdischen<br />
Musiker, das sehr wohl mit der späteren<br />
Gesinnung von Béla Bartók vereinbar<br />
ist: Der junge ungarische Komponist<br />
suchte zuerst eine nationale Zugehörigkeit,<br />
bevor er zum Europäer mit Haltung<br />
wurde – eine beeindruckende musikalische<br />
und politische Identitätssuche in<br />
den Wirren des 20. Jahrhunderts.<br />
Der 1881 im Groß-Sankt-Nikolaus/Nagyszentmiklós,<br />
Österreich-Ungarn, geborene<br />
Bartók war wie viele andere Künstler<br />
in ganz Europa musikalisch auf der<br />
Suche nach einem nationalen Stil. 1903<br />
schrieb er noch in einem Brief, dass er<br />
zeitlebens mit seinem Schaffen „der unseiner<br />
Filmmusik in Hollywood einen Namen<br />
gemacht, sondern auch Werke von<br />
Astor Piazzolla arrangiert, wie z. B. die<br />
Tango-Operita María de Buenos Aires. Das<br />
jüdische Programm wird mit den beiden<br />
jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff<br />
(Fünf Stücke für Streichquartett, 1924) und<br />
Erich Wolfgang Korngold (Streichquartett<br />
Nr. 2, 1937) vervollständigt.<br />
Bei den Salzburger Festspielen <strong>2022</strong> traten<br />
die israelischen Künstler mit blaugelben<br />
Einstecktüchern auf – wen wundert das?<br />
Wurden doch die beiden Geiger des Jerusalem<br />
Quartets Alexander Pavlovsky<br />
und Sergei Bresler in der Ukraine geboren;<br />
aus Minsk in Weißrussland kommt<br />
Kyril Zlotnikov am Violoncello, und der<br />
„Meine eigentliche<br />
Mission ist<br />
die Verbrüderung<br />
der Völker.<br />
Dieser Idee versuche<br />
ich [...] in<br />
meiner Musik<br />
zu dienen.“<br />
Béla Bartók, 1931<br />
garischen Nation, der ungarischen Heimat<br />
dienen“ wolle. Die Wende erfolgte<br />
durch seine intensiv betriebenen musikethnologischen<br />
Forschungen vor allem<br />
in Osteuropa, aber auch in der Türkei und<br />
in nordafrikanischen Ländern. Bartók erkannte,<br />
dass regionale Kulturen schwer<br />
auf eine Nationalität zu beschränken sind,<br />
und erfasste schnell ihre Interaktion. Bereits<br />
1931 klang das so: „Meine eigentliche<br />
Mission ist die Verbrüderung der Völker.<br />
Dieser Idee versuche ich [...] in meiner<br />
Musik zu dienen; deshalb entziehe ich<br />
mich keinem Einfluss [...].“<br />
Bartóks Vater starb, als Béla sieben Jahre<br />
alt war. Er lebte mit seiner Mutter in verschiedenen<br />
Ortschaften, bevor er für die höhere<br />
Schule nach Pozsony (Pressburg, heute<br />
Bratislava, Slowakei) wechselte. Bartóks außergewöhnliche<br />
musikalische Begabung und<br />
sein absolutes Gehör fielen früh auf. Seine<br />
Mutter förderte ihn mit aller Kraft. „Mit vier<br />
Jahren schlug er auf dem Klavier mit einem<br />
Finger die ihm bekannten Volkslieder an;<br />
vierzig Lieder kannte er, und wenn wir den<br />
Textanfang eines Liedes sagten, konnte er<br />
das Lied sofort spielen“, berichtete sie später.<br />
Im Alter von zwölf Jahren spielte Bartók<br />
bereits öffentlich Violinsonaten von Beethoven<br />
und Mendelssohns Violinkonzert.<br />
Nachdem die Nationalsozialisten 1933<br />
in Deutschland die Macht übernommen<br />
hatten, weigerte er sich, noch in Deutschland<br />
aufzutreten. 1937 verbot er deutschen<br />
und italienischen Rundfunksendern, seine<br />
Werke weiterhin zu senden. Als 1938 die Regierung<br />
Ungarns auf Wunsch des NS-Staats<br />
„Judengesetze“ erließ, unterzeichneten 61<br />
ungarische Prominente – darunter Béla<br />
Bartók und Zoltán Kodály – medienwirksam,<br />
aber erfolglos einen Protest dagegen.<br />
Durch seine liberalen Ansichten bekam<br />
Bartók große Schwierigkeiten mit dem<br />
rechtsradikalen Ungarn. Die Angst, dass sein<br />
Heimatland eine deutsche Kolonie werden<br />
könnte, trieb ihn „weg aus der Nachbarschaft<br />
dieses verpesteten Landes“ und veranlasste<br />
ihn 1940 zu einem „Sprung ins Ungewisse<br />
aus dem gewussten Unerträglichen“.<br />
Im August 1939, kurz vor Kriegsausbruch,<br />
hielt er sich im schweizerischen Saanen<br />
als Gast beim Dirigenten und Mäzen Paul<br />
Sacher auf, in dessen Auftrag er sein letztes<br />
Streichquartett und ein Divertimento<br />
für Streichorchester schrieb. Seine Manuskripte<br />
hatte er bereits in die USA geschickt,<br />
1940 landete er mit seiner zweiten Frau Ditta<br />
Pásztory auch dort. Er bekam nur noch wenige<br />
Aufträge, auch weil er weitgehend unbekannt<br />
war. 1945 starb er nach längerer<br />
Krankheit an Leukämie. Zunächst in New<br />
York begraben, wurde sein Leichnam 1988<br />
überstellt und im Rahmen eines Staatsbegräbnisses<br />
auf dem Farkasréti-Friedhof in<br />
Budapest beigesetzt.<br />
Im Jahr 1911 hatte Bartók seine einzige<br />
Oper Herzog Blaubarts Burg, die er seiner<br />
ersten Frau Márta Ziegler widmete, geschrieben.<br />
111 Jahre später wurde die Oper<br />
in einer neuen Inszenierung von Romeo<br />
Castellucci bei den Salzburger Festspielen<br />
dieses Jahres zu einem großem Publikumserfolg.<br />
wına-magazin.at<br />
53<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 53 16.09.22 05:59
Thema Anne Frank als Stadt-Ikone<br />
Postergirl Anne Frank<br />
Amsterdam ist so etwas wie der Inbegriff<br />
einer offenen europäischen<br />
Stadt. Gender-Diversität begegnet<br />
man hier auf Schritt und Tritt, rund um die<br />
Coffee Shops verbreitet sich der typisch<br />
süßliche Cannabisgeruch, und es wird<br />
durch die Straßen geradelt, was das Zeug<br />
hält. Geschäfte haben an sieben Tagen in<br />
der Woche geöffnet, bezahlt wird nahezu<br />
überall nur mehr bargeldlos. Das befördert<br />
dann auch eher skurrile Situationen,<br />
wenn etwa der Euro, der im Museum für<br />
die Aufbewahrung des Rucksacks verrechnet<br />
wird, nur mit Karte beglichen werden<br />
kann. Die verschmähte Euromünze wanderte<br />
wieder zurück ins Geldbörserl und<br />
ließ mich doch die Frage stellen: Wo sind<br />
die Grenzen des Sinnvollen?<br />
Aber auch andere Grenzen werden<br />
hier ausgelotet. Da ist auf der einen Seite<br />
der Geist von Anne Frank, der einem<br />
auf Schritt und Tritt begegnet. Das jüdische<br />
Mädchen aus Deutschland, geboren<br />
1929 in Frankfurt am Main, war nach der<br />
Machtübernahme durch die Nazis mit ihrer<br />
Familie nach Amsterdam gezogen. In<br />
den ersten Jahren im Exil war ein normales<br />
Alltagsleben möglich, doch in den<br />
1940er-Jahren änderte sich auch in den<br />
Niederlanden die Lage. Ab 1942 konnten<br />
sich die Franks zunächst erfolgreich in einem<br />
Hinterhaus in der Prinsengracht verstecken,<br />
1945 starb Anne Frank schließlich<br />
dennoch in Bergen-Belsen.<br />
Heute fungiert dieses viel zu früh verstorbene<br />
Mädchen, durch ihr postum veröffentlichtes<br />
Tagebuch eines der weltweit<br />
bekanntesten Opfer der Nationalsozialisten,<br />
als eine Art Ikone der Stadt. Das Anne-<br />
Frank-Haus ist eines der meistbesuchten<br />
Museen der Stadt, Tickets müssen Wochen<br />
im Vorhinein online gebucht werden. Didaktisch<br />
hat sich das Museum über die<br />
Jahre kaum verändert: Hier wandelt der<br />
Besucher in den Räumen, von denen Anne<br />
in ihrem Tagebuch erzählt. Wo ist das Regal,<br />
hinter dem sich die steile Treppe hinauf<br />
zu den heimlichen Räumen befindet?<br />
Wo schlief Anne, wo ihre Schwester?<br />
In der Nähe des Museums findet sich<br />
eine Statue von Anne Frank, ein 1977 vom<br />
Bildhauer Mari Andriessen geschaffenes<br />
Kunstwerk. Ob es in seinem Sinn<br />
ist, dass hier heute Touristen Selfies von<br />
sich und der Skulptur des NS-Opfers machen?<br />
Grenzwertig auch die Wachsfigur<br />
des Mädchens in der Amsterdamer Dependance<br />
von Madame Tussauds. Aber<br />
es kommt noch schlimmer: Postkarten<br />
54 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 54 16.09.22 05:59
#identities und Kolonialgeschichte Thema<br />
„Let me be myself.“ Eduardo Kobras<br />
riesiges Porträt-Graffiti von Anne Frank<br />
am Eingang des Straat Museum, 2016.<br />
Während diesen Sommer um die documenta fifteen in<br />
Kassel, die vom indonesischen Künstler*innenkollektiv<br />
ruangrupa kuratiert wurde, eine Antisemitismusdebatte<br />
entbrannte, weil Kunst aus dem globalen Süden<br />
judenfeindliche Motive zu Tage förderte, spiegelte sich<br />
genau diese Debatte bei einem Städtetrip nach Amsterdam.<br />
Über eine Stadt der Gegensätze, die sich teils<br />
schwer miteinander vereinbaren lassen.<br />
Text und Bild: Alexia Weiss und Lea Weiss<br />
seine Texte tragen, beweist, wie populär<br />
seine Poesie immer noch ist.<br />
Der Israel-Palästina-Konflikt begegnet<br />
einem noch zwei weitere Male in diesem<br />
Museum – und von Station zu Station wundert<br />
man sich mehr, was erstens dieses<br />
Thema in einem Haus zu suchen hat, das<br />
sich mit der Kolonialgeschichte der Niederlande<br />
auseinandersetzt, und zweitens,<br />
warum es zu der palästinensischen Position<br />
so gar kein Gegennarrativ gibt. Objektivität?<br />
Multiperspektivische Erzählung?<br />
Fehlanzeige.<br />
In einem Pavillon, der sich mit dem<br />
Thema kulturelle Aneignung befasst, wird<br />
ein Social-Media-Posting ausgestellt. Der<br />
Begleittext trägt die Überschrift „Hummus-Krieg“.<br />
Während Israel Hummus als<br />
Nationalgericht vermarkte, würden Paläsim<br />
Pop-Art-Design stecken auf den Kartenständern<br />
der Souvenirshops. Da mündet<br />
die Vergangenheitsbewältigung inzwischen<br />
in die Ikonisierung des NS-Opfers<br />
Anne Frank, die auch der touristischen<br />
Vermarktung dient.<br />
Wer das Postkartensujet in natura sehen<br />
möchte, der fährt in den Norden der<br />
Stadt. Dort befindet sich das Straat Museum,<br />
das in einem früheren Lagerhaus<br />
Street Art präsentiert. Wer urbane Straßenkunst<br />
mag, kommt hier voll auf seine<br />
Rechnung. Nur das 240 Quadratmeter<br />
große Graffito neben dem Eingang des<br />
Museums hinterlässt einigermaßen ratlos.<br />
Gestaltet wurde es 2016 vom brasilianischen<br />
Künstler Eduardo Kobra. Er hat<br />
das weltbekannte Foto des Mädchens in<br />
kleine bunte Kästchen zerlegt und mit<br />
dem Schriftzug „Let me be myself“ versehen.<br />
Was will uns, den Betrachtern und<br />
Betrachterinnen, dieser Satz allerdings sagen?<br />
Wäre „Let me live“ nicht passender<br />
gewesen? So mutet die Parole eher wie ein<br />
Beitrag zu den allerorten dieser Tage so beliebten<br />
Identitätsdebatten.<br />
Womit ich beim nächsten Stichwort<br />
bin: #identities. Tropenmuseum nennt<br />
sich heute jenes Haus, das 1864 zunächst<br />
in Haarlem begründet wurde und 1910 in<br />
den Osten Amsterdams übersiedelte. Der<br />
Zweck: über das Leben in den niederländischen<br />
Kolonien zu informieren. Gleich<br />
im ersten Raum setzt sich das Museum<br />
heute mit seiner schwierigen Geschichte<br />
auseinander. Hier werden Fragen verhandelt,<br />
wie jene, ob es sich bei den Museumsobjekten<br />
allesamt um geraubte Gegenstände<br />
handelt. Oder ob es heute okay ist,<br />
einen Schrumpfkopf – also einen menschlichen<br />
Schädel – auszustellen.<br />
Es wäre wünschenswert, würde sich<br />
das Museum heute zur Gänze mit Fragen<br />
dieser Art beschäftigten. Stattdessen wird<br />
der Umgang mit anderen Kulturen ausgestellt,<br />
mit durchaus positiven Ansätzen<br />
– doch wie so oft sitzt der Teufel im Detail.<br />
Da ist zum Beispiel die Ausstellungskoje<br />
zum Thema Schrift. Darin zu sehen<br />
ein grünes T-Shirt mit einem in Schwarz<br />
aufgemalten arabischen Text. Der erklärende<br />
Text dazu: „Grünes T-Shirt. ‚Ich<br />
sehne mich nach dem Brot meiner Mutter,<br />
dem Kaffee meiner Mutter‘ steht in<br />
klassischer Schrift auf diesem T-Shirt und<br />
bezieht sich auf die ersten Zeilen eines der<br />
bekanntesten Gedichte von Mahmud Darwish<br />
(1941–2008). Er wurde als Dichter des<br />
palästinensischen Freiheitskampfes berühmt.<br />
Die Tatsache, dass junge Hipster<br />
Die Songs der britische Rapperin Shadia<br />
Mansou werden als Ausstellungsobjekt unkommentiert<br />
im Tropenmuseum in Amsterdam ausgestrahlt.<br />
Lässt man ihre Texte übersetzen, so sind sie<br />
in ihrer Agression sehr klar.<br />
wına-magazin.at<br />
55<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 55 16.09.22 05:59
Thema Antisemitismus und Israel-Bashing<br />
(li.) Samar and Louis, beim Dizengoff Center, by Iris Hassid ,<br />
Tel Aviv (2014-2020). (m.) Majdoleen und Saja im Fauteuil, in<br />
ihrem Wohnzimmer, by Iris Hassid, Ramat Aviv (2014-2020).<br />
Offen(heit) wird im Jüdischen Museum<br />
Amsterdam bereits über den Eingang großgeschrieben.<br />
tinenser sagen, Israel habe nicht nur ihr<br />
Land gestohlen, sondern auch ihr Essen,<br />
wird dazu erläutert.<br />
Und im Museumsbereich, der sich mit<br />
traditioneller Kleidung beschäftigt, findet<br />
sich ein kurzes Video in Dauerschleife. Es<br />
zeigt die britisch-palästinensische Rapperin<br />
Shadia Mansour und einen Ausschnitt<br />
aus ihrem Song Al Kufiyee – auf Arabisch.<br />
Eine englische Übersetzung liefern die<br />
Ausstellungsmacher nicht mit. So bleiben<br />
dem nicht des Arabischen mächtigen<br />
Besucher nur bunte Bilder aus Jerusalem.<br />
Die Künstlerin inszeniert sich hier in traditionellem<br />
Gewand und umgibt sich mit<br />
Kindern. Präsent ist auch das so genannte<br />
Palästinensertuch.<br />
Auch der Begleittest erklärt nichts zum<br />
Inhalt des Videos. Dafür wird festgehalten:<br />
„Aktivisten auf der ganzen Welt nutzen<br />
eine Reihe kreativer Methoden, sowohl<br />
traditionell wie auch modern, um<br />
auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.<br />
Sie kombinieren soziale Medien mit alter<br />
Kunst und Popkultur mit traditioneller<br />
Kleidung. Mansour singt ihre mitreißenden<br />
Texte in traditioneller Kleidung,<br />
um ihr Engagement für die palästinensische<br />
Sache zu demonstrieren. Und als Zeichen<br />
der Vergebung für die Verbrechen der<br />
Vergangenheit.<br />
Googelt man dann nach dem Museumsbesuch<br />
die Lyrics des hier präsentierten<br />
Songs und lässt den arabischen Text<br />
durch Übersetzungssoftware laufen, zeigt<br />
sich: Der Text ist in seiner Aggression sehr<br />
klar. Da heißt es etwa an einer Stelle: „Wir<br />
reiten mit erhobenem Mittelfinger zu den<br />
Zionisten.“ Und an anderer: „Sie ahmen<br />
uns mit ihrer Kleidung nach. Dieses Land<br />
Hier ist nichts schwarz<br />
und weiß, hier wird<br />
die funktionierende<br />
Koexistenz von Israelis<br />
und Palästinensern<br />
gezeigt.<br />
ist nicht genug für sie. Sie sind gierig auf<br />
Jerusalem.“<br />
Al Kufiyee hat Mansour gemeinsam mit<br />
dem Rapper M-1 aufgenommen. Er begleitete<br />
2009 einen Konvoi der britischen<br />
Hilfsorganisation Viva Palestina,<br />
der Hilfsgüter nach Gaza brachte. Proponenten<br />
dieser NGO waren im selben<br />
Jahr unter Terrorismusverdacht geraten,<br />
die Spendeneinnahmen sanken daraufhin<br />
drastisch. Mitglieder der Organisation<br />
beteiligten sich 2010 auch an der Flotilla<br />
nach Gaza. Von all dem erfährt der Museumsbesucher<br />
nicht.<br />
Welche Geschichte wird hier also erzählt?<br />
Welche Position untermauert? Man<br />
gewinnt leider den Eindruck, dass, quasi<br />
um die eigene koloniale Vergangenheit ein<br />
Stück zu relativieren, hier mit dem Finger<br />
auf Israel gezeigt wird. Das mutet gerade<br />
im Kontext eines Museums, das sich mit<br />
Kolonialismus, mit Rassismus, mit Identität<br />
auseinandersetzt, allerdings grotesk.<br />
Doch andererseits – nun sind wir gedanklich<br />
wieder in Kassel – fügt es sich ein in<br />
ein anderes Bild.<br />
Da ist etwa der kamerunische Historiker<br />
und Politikwissenschafter Achille<br />
Mbembe, der sich mit Postkolonialismus<br />
und strukturellem Rassismus befasst. Er<br />
vergleicht Israel mit dem Apartheidsystem<br />
Afrika – und stellt auch das Existenzrecht<br />
Israels in Frage. Der israelische Soziologe<br />
Natan Sznaider hält dazu in seinem<br />
aktuellen Buch Fluchtpunkte der Erinnerung<br />
fest, eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts<br />
sei, welche Minderheit zur universalen<br />
Kategorie werde, zum Symbol für<br />
Vertreibung: „Sind es die Juden und damit<br />
der Versuch ihrer Vernichtung oder<br />
[...] die Schwarzen, die Nichtweißen, die,<br />
wenn man Mbembe folgt, im Mittelpunkt<br />
der Weltgeschichte stehen?“ Während Israel<br />
aus österreichischer und deutscher<br />
Sicht Juden das Überleben ermöglichte,<br />
ist es aus der Perspektive des globalen Südens<br />
heute so etwas wie ein Kolonialstaat,<br />
der Millionen Palästinenser vertrieb. Damit<br />
vermischt sich der Kampf gegen<br />
Rassismus mit Antisemitismus, der als<br />
Israel-Bashing daherkommt. Doch Amsterdam<br />
kann auch anders. Das Jüdische<br />
Museum, dessen Dauerausstellung zwar<br />
etwas bieder daherkommt, präsentierte<br />
diesen Sommer eine spannende Sonderausstellung,<br />
die ein ganz anderes Bild Israels<br />
zeichnete. A Place of our own zeigte Fotografien<br />
der israelischen Fotografin Iris<br />
Hassid, die palästinensische Studentinnen<br />
in Tel Aviv proträtierte. Hier ist nichts<br />
schwarz und weiß, hier wird die funktionierende<br />
Koexistenz von Israelis und Palästinensern<br />
gezeigt. Solche Einordungen<br />
sucht man im Tropenmuseum leider<br />
vergeblich. Und so bleibt am Ende dieser<br />
Reise ein etwas schaler Nachgeschmack.<br />
56 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 56 16.09.22 05:59
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57<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 57 16.09.22 05:59
Rückwidmung des Friedhofs<br />
Jüdisches Leben in Lendava<br />
Die kleine slowenische Stadt<br />
Lendava liegt in der sonnenverwöhnten,<br />
hügeligen<br />
Landschaft der Prekmurje<br />
(deutsch: Übermurgebiet). Dieses Gebiet<br />
rund um den slowenischen Murabschnitt<br />
im Dreiländereck Österreich-<br />
Ungarn-Slowenien war bis 1944 Sitz der<br />
jüdischen Gemeinde Sloweniens. Lendava<br />
gehörte seit Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
zu den Besitztümern der Esterházy,<br />
die es Juden durch besondere Schutzbestimmungen<br />
ermöglichten, ein gutes Leben<br />
in der östlichsten Gemeinde Sloweniens<br />
zu führen.<br />
Der 1837 angelegte jüdische Friedhof<br />
war einer der wenigen, die den Zweiten<br />
Weltkrieg unangetastet überstanden. In<br />
Folge der Nationalisierung im ehemaligen<br />
Jugoslawien ging er dann 1945 in den Besitz<br />
der Kommune über und verlor seine<br />
religiöse Nutzung. Das bedeutete, dass es<br />
auch keine Begräbnisse mehr gab und der<br />
Friedhof nur mehr als Kulturstätte der<br />
Stadtgemeinde gepflegt wurde.<br />
Die jüdische Gemeinde Graz und Präsident<br />
Elie Rosen haben dazu beigetragen,<br />
dass die Jüdische Gemeinde Sloweniens<br />
im Mai <strong>2022</strong> unter dem Triester Oberrabbiner<br />
Ariel Haddad als Religionsgemeinschaft<br />
traditioneller Juden in Slowenien<br />
anerkannt wurde. Die Judovsko združenje<br />
Slovenije ist die einzige jüdische Gemeinschaft<br />
in Slowenien, die sich in ihrer Satzung<br />
dem traditionellen Judentum nach<br />
der Halacha verpflichtet hat. Gemeinsam<br />
mit der Gemeinde Graz wird das jüdische<br />
Leben in Slowenien ausgebaut und<br />
gefördert. Darüber hinaus versteht sich<br />
die Judovsko združenje Slovenije als Botschafterin<br />
der eigenen jüdischen Kultur<br />
in einem nicht-jüdischen Umfeld und im<br />
Auftreten gegen Antisemitismus.<br />
Ein außergewöhnliches Ereignis. Der fast<br />
200 Jahre alte Friedhof in Lendava ist mit<br />
seinen über 600 Gräbern der größte jüdische<br />
Friedhof in Slowenien. Am 4. Juli<br />
Seit Juli <strong>2022</strong> gibt es wieder aktives jüdisches<br />
Leben in Lendava, zu dem auch die Rückwidmung<br />
des jüdischen Friedhofs zählt. Ein wichtiger<br />
Schritt, der weit über die Grenzen für<br />
große Aufmerksamkeit sorgt.<br />
Von Viola Heilman<br />
<strong>2022</strong> wurde der Friedhof im Rahmen eines<br />
historischen Abkommens mit der<br />
Stadtgemeinde Lendava der slowenischjüdischen<br />
Gemeinde zur religiösen Nutzung<br />
zurückgegeben. Elie Rosen konnte<br />
das durch zahlreiche Gespräche mit dem<br />
Bürgermeister von Lendava erreichen.<br />
Dass der Friedhof nun wieder „zu einer<br />
Beerdigungsstätte für die lokalen Mitglieder<br />
wird, wo nicht nur Blumen oder<br />
Steine bei Gedenkfeiern abgelegt werden“,<br />
darüber freut sich der Präsident.<br />
„National hatte diese Rückwidmung eine<br />
breite Resonanz gehabt. Denn so ein Ereignis<br />
ist für Slowenien außergewöhnlich.<br />
Für mich ist es wichtig, eine Kultur<br />
nicht als tot zu betrachten, sondern eine<br />
Lebendigkeit anzustreben, auch wenn<br />
das bei einem Friedhof widersprüchlich<br />
erscheint. Doch dort, wo Friedhöfe aktiv<br />
genutzt werden, existiert auch jüdisches<br />
Leben.“ Derzeit gibt es noch keine Chevra<br />
Kadisha in Slowenien. Rabbiner Ariel<br />
Haddad und Elie Rosen müssen daher gemeinsam<br />
mit einem Freiwilligen die Tahara<br />
selbst machen. „Rabbiner Haddad<br />
und ich sind die Chevra Kadisha und machen<br />
die Leichenwaschungen“, resümiert<br />
Elie Rosen.<br />
Die Feier der Rückwidmung fand in<br />
der 1866 erbauten, vorbildlich renovierten<br />
Synagoge von Lendava statt. Shmuel<br />
Barzilai und der israelische Jazzpianist<br />
Elias Meiri führten die hochrangigen<br />
Gäste aus Politik und Religionsgemein-<br />
schaften durch eine Reise jüdischer Kantoralgesänge<br />
und jiddischer Musik. Für<br />
die slowenisch-jüdischen Mitglieder war<br />
diese Feier eine völlig neue Erfahrung,<br />
denn bisher beschränkten sich jüdische<br />
Veranstaltungen auf das Gedenken an die<br />
Toten. „Ich möchte, dass man unsere jüdischen<br />
Gemeinden dahingehend sieht,<br />
dass wir Kultur machen, und nicht darauf<br />
reduziert, dass vor über 70 Jahren Millionen<br />
umgebracht wurden“, beschreibt Elie<br />
Rosen seine ehrgeizigen Ziele für die Gemeinden<br />
Graz und Slowenien.<br />
Obwohl die jüdische Bevölkerung in<br />
Slowenien während des Zweiten Weltkriegs<br />
fast ausgelöscht wurde und daher<br />
ein strukturiertes jüdisches Leben nicht<br />
stattfand, sieht Elie Rosen viele Möglichkeiten<br />
für die Zukunft. „Ich glaube nicht,<br />
dass das jüdische Erbe in Slowenien die<br />
© Ziga Pale; kraji.eu<br />
58 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 58 16.09.22 05:59
Ehrgeizige Ziele<br />
Der jüdische Friedhof<br />
von Lendava ist fast<br />
200 Jahre alt und fasst<br />
um die 600 Gräber. Nun<br />
wurde er im Rahmen<br />
eines feierlichen Aktes<br />
der Jüdischen Gemeinde<br />
zurückgegeben.<br />
Ausstellung<br />
in der wunderschön<br />
renovierten<br />
ehemaligen<br />
Synagoge in<br />
Lendava.<br />
„Ich möchte,<br />
dass man unsere<br />
jüdischen<br />
Gemeinden dahingehend<br />
sieht,<br />
dass wir Kultur<br />
machen […].“<br />
Elie Rosen<br />
© Ziga Pale; kraji.eu<br />
letzten 70 Jahre gänzlich zerstört wurde.<br />
Die Situation in Slowenien ist vielschichtig,<br />
denn jüdische Kultur wurde in den<br />
Ländern des ehemaligen Jugoslawiens<br />
anders gelebt und war stark vom Staatsgefüge<br />
beeinflusst. Der Zugang war ein<br />
kultureller, das heißt losgelöst von der Religion.<br />
Auch heute haben die Menschen<br />
einen areligiösen Zugang zu ihrem Judentum.<br />
Man merkt das beispielsweise auch<br />
bei den Beisetzungen, denn es ist den jüdischen<br />
Menschen hier nicht wichtig,<br />
nach welcher Tradition beerdigt wird.“<br />
Auch für die geplanten zukünftigen<br />
Veranstaltungen wird, wie für die Feier<br />
am 4. Juli dieses Jahres, die Synagoge in<br />
Lendava genutzt werden. Elie Rosen: „Die<br />
Zukunft wird zeigen, wie gut wir uns als<br />
jüdische Gemeinde etablieren können.“<br />
JOOP<br />
Seilergasse 6 | 1010 Wien<br />
Kohlmarkt 11 | 1010 Wien<br />
wına-magazin.at<br />
59<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 59 16.09.22 05:59
WINA WERK-STÄDTE<br />
Das Fest des Posaunenschalls.<br />
Das<br />
Gemälde aus dem Jahr<br />
1884 gehört zur Sammlung<br />
des Polnischen<br />
Nationalmuseums in<br />
Warschau.<br />
Rom<br />
Rosch-ha-Schana-Darstellungen<br />
sind in der jüdischen Kunst<br />
selten. Die meisten zeigen das<br />
Blasen des Schofars, und nur<br />
ganz wenige thematisieren den<br />
Brauch des Taschlich.<br />
Von Esther Graf<br />
osch ha-Schana gehört zu<br />
den seltenen Feiertagsmotiven<br />
innerhalb der jüdischen<br />
Kunst. Wenn es malerisch<br />
aufgegriffen wurde, dann<br />
kam zumeist das Blasen des<br />
Schofars zur Darstellung. Nur wenige<br />
Werke sind überliefert, die den Brauch<br />
des Taschlich abbilden. Tatsächlich bedeutet<br />
wörtlich übersetzt „du wirst werfen“.<br />
Gemeint ist damit das symbolische<br />
Abschütteln der Sünden, indem man am<br />
ersten Tag von Rosch ha-Schana nach<br />
dem Mincha-Gebet an ein fließendes Gewässer<br />
geht und sich aller Krümel entledigt,<br />
die sich in den Kleidungstaschen<br />
befinden. Ein herausragendes Taschlich-<br />
Gemälde stammt von dem polnischen<br />
Maler Ignacy Aleksander Gierymski.<br />
1850 in Warschau geboren, absolvierte er<br />
die Kunstakademie in München, gefolgt<br />
von einem ersten Aufenthalt in Italien.<br />
Rom hat ihn dermaßen fasziniert, dass<br />
er, nach einer kurzen Rückkehr nach Polen,<br />
von 1874 bis 1879 in der Ewigen Stadt<br />
blieb. Nach seiner Rückkehr nach Warschau<br />
stellte er vor allem Menschen dar,<br />
die in Armut lebten. Aus dieser Schaffensperiode<br />
stammt auch die Taschlich-<br />
Szene. Sie geht auf das Jahr 1884 zurück<br />
und trägt den Titel Das Fest des Posaunenschalls.<br />
Zu sehen sind chassidisch gekleidete<br />
Männer, die verstreut im Bild mit<br />
einem Gebetbuch in Händen an einem<br />
Hafenbecken stehen. Die Darstellungsweise<br />
offenbart, mit welchem Respekt<br />
und welcher Zurückhaltung Gierymski<br />
den Menschen begegnete, die er malerisch<br />
festhielt.<br />
ROM<br />
In der italienischen Hauptstadt lebten Juden seit der Antike vor Christi Geburt. Die Christianisierung<br />
brachte eine Verschlechterung der Lage mit sich und schließlich 1555 die Errichtung<br />
des Ghettos. Dieses fiel erst 1870 mit der Gründung des italienischen Nationalstaats.<br />
1938 lebten 13.000 Juden in Rom. Nach der deutschen Besatzung wurden 1943<br />
über 1.000 Juden deportiert und ermordet. Viele entkamen durch rechtzeitige Flucht<br />
und mehr als 4.000 überlebten, indem sie sich in Einrichtungen der katholischen Kirche<br />
verstecken konnten. Heute leben etwa 16.000 Juden hier.<br />
© wikipedia.org/wiki/File:Aleksander_Gierymski<br />
60 wına | Sept.–Okt. <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 60 16.09.22 05:59
achdem neulich eine Stellenausschreibung<br />
des MAK – Museum für Angewandte<br />
Kunst („Du stehst gerne vor der Kamera<br />
und weißt, welche Social Media Challenge<br />
gerade auf TikTok im Trend ist …“) einmal<br />
mehr mein Interesse auf die rasant wachsende chinesische<br />
Plattform gelenkt hatte, beschloss ich, die<br />
ominöse Zeitschlucker-App einmal genauer unter<br />
die Lupe zu nehmen. Schon ein erster Blick hinsichtlich Präsenz der<br />
Museumslandschaft auf TikTok zeigt den aktuellen Aufholbedarf im Kulturellen:<br />
Das Kunsthistorische Museum Wien hat gerade einmal 3.494<br />
Follower, das MAK 1.304, das Jüdische Museum Wien 1.156 Follower, das<br />
MQ Wien 702 Follower.* Das Leopold Museum etwa<br />
ist gar nicht vertreten.<br />
Von Paul Divjak<br />
A-, B- und Z-Promis: Hier tummeln sie sich alle.<br />
Wer auch auf anderen Kanälen schon immer die<br />
Öffentlichkeit gesucht hat, tut dies auch auf TikTok.<br />
Freilich klappt es nicht immer ganz so wie geplant.<br />
Klassische Medien, Unternehmen unterschiedlichster<br />
Größe und Institutionen wie Museen scheinen<br />
oftmals vor dem Rätsel der Funktionsweise des Video-<br />
und Social-Media-Portals zu stehen, das, so<br />
heißt es, vorrangig junge Menschen bis 25 anspricht.<br />
In persönlichen Mini-Clips wird Selbstoffenbarung<br />
mit Unterhaltungswert auf der Plattform großgeschrieben;<br />
Drama inklusive. Drew Barrymore etwa<br />
bricht beim Renovieren ihres Hauses in Tränen aus.<br />
Der Grund: Sie hat in der Wand ein bisher verborgenes Fenster entdeckt.<br />
Hier schaukeln künstliche Brüste im Takt, dort werden genüsslich<br />
Riesenpusteln ausgedrückt, anderswo seltene Krankheiten und physische<br />
Anomalien gezeigt, von Anorexie, OPs oder Adipositas geprägte<br />
Körper in Szene gesetzt; gepierct, tätowiert, auftrainiert, gender-fluid<br />
oder -transformiert. Ein sympathischer Junge teilt „die lustigsten Momente<br />
mit Tourette“, das Mädchen von nebenan seine wiederholte<br />
wundersame Verwandlung; ihr Haarausfall ist offensichtlich Thema.<br />
Sie ist wunderschön; es glitzert und blinkt. Schon ist die nächste faszinierende<br />
Nummer der virtuellen Endlosrevue am Start. Und du erhältst<br />
Antworten auf Fragen, die du nie gestellt hast.<br />
Die kurzen Videobeiträge erzählen allesamt von Selbstinszenierung<br />
und -ermächtigung, Body Positivity, (behauptetem) Celebrity-<br />
Status sowie dem Wunsch, gesehen und „entdeckt zu werden“, zu<br />
gefallen oder zu polarisieren. Alle sind hier dauerhaft auf Sendung.<br />
Zwischen der Vermittlung eines „authentischen“ Selbstbildes und<br />
der Etablierung einer Markenidentität sorgen die exhibitionistischen<br />
Selbstentblößungen nicht selten für Irritation, bisweilen für Befremden,<br />
und doch befriedigen sie eine unbestimmte Neugier. Der massive<br />
Content-Overload triggert mit Nonstop-Attraktionspotenzial und<br />
knalligen Dopamin-Kicks en suite.<br />
URBAN LEGENDS<br />
That’s Entertainment<br />
TikTok ist nicht zuletzt pandemiebedingt zum globalen kulturellen Phänomen geworden.<br />
Was aber erzählt die boomende Plattform über uns selbst, die anderen und die<br />
Welt? Eine Bestandsaufnahme nach 24-stündigem Selbstversuch.<br />
„We’ve moved away<br />
from having a toolsbased<br />
technology<br />
environment to an<br />
addiction and manipulation-based<br />
technology<br />
environment.“<br />
(Tristan Harris)<br />
„Ihr hattet Recht […]. Ich bereue, meine Mastektomie nicht schon<br />
früher gemacht zu haben“, verkündet ein Insert, bevor die nächsten<br />
Posen die vernarbte Brust eines jungen Menschen zeigen.<br />
Bisweilen scheint es, als handle es sich um ein überbordendes<br />
Mash-up von Shows der Privatsender der 1980er-Jahre – wer erinnert<br />
sich nicht an Colpo Grosso, zu Deutsch: Tutti Frutti? (Berlusconis<br />
„Beitrag zur Weltkultur“, wie sein Biograf einmal festgestellt hat) – und<br />
Big Brother- und Reality-Formate sowie YouTube- und Instagram-Aspekte,<br />
unterlegt mit Mainstream-Musik-Memen, verdichtet zu einem grellen<br />
Do-it-yourself- und Promote-yourself-Kanal. Challenges und Hashtags<br />
heizen die potenzielle Meme-Produktion weiter an.<br />
Filter, Effekte, Deep Fakes. Schon singen Selenskyi und Putin gemeinsam<br />
Cold Cold Heart von Elton John.<br />
Unterhaltung ist alles. Konsum rules und Sex<br />
sells. Viele der Public-Performances evozieren Instant-Fremdscham<br />
und funktionieren genau deshalb.<br />
Alte Witze werden einmal mehr aufgewärmt,<br />
der Bunte-Abend-Sketch feiert seine virtuelle Wiederkehr<br />
als wenige Sekunden langes, selbstgedrehtes<br />
Home-Video. Soundsamples werden lippensynchron<br />
performt, Dialekte nachgeahmt; Marotten, Klamauk<br />
und Kalauer. Es wimmelt von Stereotypen und Klischees.<br />
Kulturelle Aneignungen allerorts. Und immer<br />
diese Hoffnung, mittels dieser „fundamental parasitären“<br />
App (Steve Huffman, CEO Reddit) „chinesischer<br />
Malware“ (Anonymous) endlich auch einmal<br />
viral zu gehen.<br />
Schillernde Fragmente, Kommentare, Real-Life-Impressionen:<br />
Advokat:innen des Konsums aka Influencer verändern die Celebrity-<br />
Kultur. Alle melden sich gleichzeitig zu Wort. Das Geschäft mit der<br />
(Selbst-)Vermarktung brummt. Und die A.I. weiß genau, was dich<br />
wirklich interessiert. Die Inhalte werden individuell an die Vorlieben,<br />
sensiblen persönlichen Daten und das Rezeptionsverhalten angepasst.<br />
Miriam gibt Einblick in ihren orthodoxen Alltag in Brooklyn. Sie<br />
interviewt ihre Großmutter, eine Holocaust-Überlebende, zu Menstruation<br />
im KZ und dem Kinderkriegen nach dem Holocaust. Und in<br />
einem nächsten Post tanzen IDF-Soldatinnen in Uniform mit geschultertem<br />
Maschinengewehr zu pumpenden Beats.<br />
TikTok, das ist unbestritten, hat Einfluss auf Gesellschaft, Politik und<br />
Kultur. Ein Politiker, der das in Österreich als einer der Ersten verstanden<br />
hatte, war Sebastian Kurz. (121.000 Follower – letzter Beitrag:<br />
10.5.2021. Zum Vergleich: Karl Nehammer: 142 Follower – keine Beiträge.<br />
Pamela Rendi-Wagner: 49 Follower – keine eigenen Beiträge.)*<br />
„Genießt diesen Sommer, denn der Winter wird wirklich beschissen“,<br />
verkündet ein nicht unumstrittener deutscher Oppositionspolitiker.<br />
Und aus dem Archiv meldet sich schließlich auch noch Pamela<br />
Rendi-Wagner unvermittelt zu Wort: „Wie viele Tote müssen noch sterben,<br />
bis wir Corona besiegt haben?“<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
* Stand: August <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
61<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 61 16.09.22 05:59
HERBST KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
AUSSTELLUNG<br />
Barockschlössl,<br />
Museumsgasse 4,<br />
2130 Mistelbach<br />
kunstverein-mistelbach.at<br />
BIS 2. OKTOBER <strong>2022</strong><br />
ÜBER DAS FLIESSENDE<br />
IN DER KUNST<br />
Die seit 2005 in Wien lebenden<br />
Künstlerin Dora Kuthy wurde 1981<br />
in Budapest geboren und wuchs<br />
in der Nähe von Mailand auf, ehe<br />
sie ihre Studien in Design, Architektur<br />
und Kunstpädagogik an Universität<br />
für angewandte Kunst in<br />
Wien abschloss. Dieser auch in ihren<br />
künstlerischen Arbeiten stets<br />
vielsprachige und transmediale Zugang<br />
zu den Themen, Orten, Materialen,<br />
aber auch Menschen,<br />
mit denen und über die Kuthy arbeitet,<br />
ist auch in ihrem aktuellen<br />
Projekt flow, das sie auf Einladung<br />
des Kunstvereins Mistelbach<br />
in den letzten Monaten entwickelt<br />
hat, deutlich zu erkennen. flow,<br />
das heißt stetige Bewegung, ungebrochene<br />
Offenheit und hohes Bewusstsein,<br />
das die unter anderem<br />
an der Kunstschule Herbststraße<br />
unterrichtende vielseitige Künstlerin<br />
anhand einer Bandbreite an<br />
durchwegs für die Schau neu konzipierten<br />
Werken unter Beweis stellt.<br />
dorakuthy.com<br />
SPRECHTHEATER<br />
Burgtheater,<br />
Universitätsring 2,<br />
1010 Wien<br />
burgtheater.at<br />
NEU IM REPERTOIRE<br />
„INS DUNKEL HINEIN“<br />
„Zur Unruhe war doch wahrhaftig nie ein Anlass“,<br />
heißt es zu Beginn von Arthur Schnitzlers<br />
1910 in Petersburg uraufgeführtem und<br />
bald danach in ganz Europa nachgespieltem Erfolgsstück<br />
Das weite Land. Dass diese Feststellung<br />
so gar nicht zu den Geschehnissen rund<br />
um das weit vorn in die Theatergeschichte des<br />
20. Jahrhunderts eingegangene Ehepaar Genia<br />
und Friedrich Hofreiter passt, wird relativ rasch<br />
klar: wohlsituiert und scheinbar sorgenlos, verstricken<br />
sich beide in Lügen und Betrug: aneinander<br />
wie an allen, denen sie begegnen und<br />
mit denen sie auf die eine oder andere Weise<br />
in tragische Verstrickungen geraten, die zu Verrat,<br />
Mord und, so Schnitzler selbst in einer seiner<br />
Aufzeichnungen, Irrsinn führen. Expansionsund<br />
Vergnügungsdrang, Langeweile und Lust,<br />
Privilegien und Spekulationen, die zu nichts weniger<br />
als den Untergang vieler führen, stehen in<br />
diesem bis heute vielgespielten, zeitlos unsentimentalen<br />
Stück zur Verhandlung. Das weite<br />
Land nichts an Weite und Relevanz verloren. Da<br />
Wiener Burgtheater eröffnet die neue Spielzeit<br />
mit einer Interpretation des Stoffes der künstlerischen<br />
Intendantin der Ruhrtriennale, Barbara<br />
Frey, und mit so starken Ensemblestimmen wie<br />
Michael Maertens, Sabine Haupt, Dorothee Hartinger<br />
und Branko Samarovski.<br />
FOTOGRAFIE<br />
Bezirksmuseum Leopoldstadt,<br />
Karmelitergasse 9,<br />
1020 Wien<br />
bezirksmuseum.at<br />
7. SEPT. BIS 21. DEZ.<br />
WIENER FOTOGRAFIE-<br />
GESCHICHTE, WEIBLICH<br />
Die Wiener Bezirksmuseen sind eine<br />
wahre Fundgrube, wenn es um gelebte<br />
Stadt- und Grätzelgeschichte<br />
geht. Jedes von ihnen widmet sich<br />
großteils ehrenamtlich und mit viel<br />
phantasiereicher Energie und persönlichem<br />
Einsatz den jeweiligen Bezirksgeschichten<br />
und ihren so vielfältigen<br />
wie oft auch ambivalenten Entwicklungen.<br />
So zeigt das Bezirksmuseum<br />
Leopoldstadt ganz aktuell eine Sonderausstellung,<br />
die den Titel Reflecting<br />
HERstory trägt und sich im Rahmen<br />
dessen auf die Spuren von vier<br />
jüdischen Wiener Fotografinnen und<br />
Künstlerinnen begibt, die heute nahezu<br />
vergessen sind – unter anderem,<br />
weil sie jüdischer Herkunft und, eben,<br />
Frauen waren. Vorgestellt werden<br />
Madame d’Ora, Trude Fleischmann,<br />
Adele Perlmutter und Pepa Feldscharek.<br />
Sie werden von den zeitgenössischen<br />
Künstler:innen Antonia Coffey,<br />
Helmut Haider, Helga Knirsch und Gabriele<br />
Johanna Schatzl auf sehr<br />
persönliche Weise präsentiert und<br />
dabei Biografien und Werk, aber<br />
auch deren politisches und<br />
soziales Engagement beleuchtet.<br />
© Dora Kuthy; Werk X Petersplatz; ullstein bild - d' Ora / Ullstein Bild/picturedesk.com; Burgtheater/Presse; KlezMore Festival/Presse; 123RF<br />
62 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 62 16.09.22 05:59
BENEFIZKONZERT<br />
19 Uhr<br />
Concordia-Haus, Bankgasse 8,<br />
1010 Wien<br />
concordia.at<br />
FESTIVAL<br />
THEATER div. Orte in Wien<br />
19.30 Uhr<br />
klezmore-vienna.at<br />
WERK X-Petersplatz,<br />
Petersplatz 1, 1010 Wien<br />
werk-x.at<br />
22. SEPT. BIS 1. OKT.<br />
REGENBOGENKINDER<br />
Mit der Uraufführung von The power<br />
of the fucking rainbow des zwischen<br />
Wien und London pendelnden vielseitigen<br />
Bühnen- und Film-Schauspielers<br />
und Autors Lukas Johne eröffnet<br />
das Werk X Petersplatz seine<br />
letzte Spielzeit in der künstlerischen<br />
Leitung von Cornelia Anhaus. Und<br />
keine Geringere als Tania Golden<br />
führt bei diesem Vierpersonenstück<br />
Regie, in dem die beiden Geschwister<br />
Elsa und Burt, Enkelkinder einst<br />
vom NS-Regime vertriebener jüdischer<br />
Bewohner:innen Wiens, in einen<br />
wilden ideologischen Schlagabtausch<br />
mit ihren Freunden Gery und<br />
Sasha geraten – über Identitäten und<br />
Masken, Liebe und Erotik, Trauer,<br />
Hass und Zukunftsmusik. Mitten in<br />
Europa. Mitten in Wien. Mitten im<br />
Sommer. Und mittendrin in all den<br />
Wirren des Verstehens und Nicht-<br />
(mehr-)Verstehens, in denen wir alle<br />
uns im Moment befinden.<br />
19. OKTOBER<br />
KONZERT FÜR DIE FREIHEIT<br />
DES JOURNALISMUS<br />
Unter dem wunderbaren Titel Uns flog ein<br />
Bösendorfer zu lädt der Presseclub Concordia<br />
am 19. <strong>Oktober</strong> zu einem Benefizkonzert<br />
zugunsten von Journalist:innen im Exil<br />
ein. Der Flügel, um den es hier geht, gehörte<br />
einst dem langjährigen Concordia-Präsidenten<br />
Leopold Lipschütz (1870–1939), u. a. Mitarbeiter<br />
der Presse ab 1892 und wenige Jahre<br />
später Gründer der Illustrierten Kronenzeitung,<br />
daneben Erzähler und Dramatiker.<br />
1938 wurde der vielbeachtete Wiener Journalist<br />
von den Nationalsozialisten enteignet,<br />
seine Villa „arisiert“ und Lipschütz aller Ämter<br />
enthoben. Er floh mit seiner Frau nach<br />
Frankreich, wo er am 25. Jänner 1939 Selbstmord<br />
beging. Der nun von seinem Enkel dem<br />
Presseclub Concordia vermachte historische<br />
Flügel ist nicht zuletzt Symbol für die Folgen<br />
von Verfolgung, Vertreibung – und vielfach<br />
auch Ermordung von Journalist:innen, weltweit.<br />
Rudolf Buchbinder erklärte sich bereit,<br />
für diesen Abend Beethovens Klaviersonate<br />
Nr. 8 c-Moll, op. 13, „Pathétique“, zu spielen<br />
und so den Flügel in seiner neuen Wiener<br />
Heimat, dem Concordia-Haus, feierlich im<br />
Rahmen eines Benefizkonzerts einzuweihen.<br />
VORSCHAU!<br />
5. BIS 20. NOVEMBER <strong>2022</strong><br />
KLEZMORE: EINS VOR 20!<br />
Wir wollen an dieser Stelle nur kurz schon auf<br />
das kommende KlezMORE Festival Vienna<br />
hinweisen. 19 Jahre jährliches weltoffenes<br />
Feiern der Geschichte, Gegenwart und Zukunft<br />
des Klezmer in all seinen Varianten, Variationen<br />
und Vielstimmigkeiten. Zahlreiche<br />
Stimmen sind so auch dieses Jahr zu Gast<br />
– aus Wien kommende und internationale<br />
Künstler:innen spielen von 5. bis 20. November<br />
an so unterschiedlichen Orten der Stadt<br />
wie dem Theater Akzent (4.) und dem Metropol<br />
(17.), dem Porgy & Bess (1.) und der Sargfabrik<br />
(14.), am Spittelberg und gegenüber der<br />
Oper. Und es ist nur eines von vielen mutigen<br />
künstlerischen Statements in dieser<br />
Zeit, dass dieses Jahr die junge Wiener Musikerin<br />
und politische Aktivistin Isabel Frey –<br />
„Revolutionary Yiddish Music!“ – zu den<br />
zentralen Künstler:innen des Festivals zählt:<br />
eine starke weibliche Stimme, neben vielen<br />
anderen, auf die wir uns bei gleich mehreren<br />
Terminen freuen können. Vielfältig<br />
kuratiert von Festivalgründer Friedl Preisl gemeinsam<br />
mit Musiker und Ensemblegründer<br />
Roman Britschgi bietet KlezMORE auch dieses<br />
Jahr wieder zwei Wochen mit vielfältiger<br />
(musikalischer) Kultur, begleitet von Film, Literatur,<br />
Gespräch und mehr. Ein gemeinsames<br />
Fest, ohne dabei den Ernst unserer Zeit aus<br />
den Augen zu verlieren.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
wına-magazin.at<br />
63<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 63 16.09.22 05:59
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich ein Battle gegen meine Tochter<br />
verloren habe, war … gestern.<br />
Es ging darum, ein zum Wetter passendes<br />
Kleidungsstück zu tragen … Meine<br />
Tochter ist knapp sechs Jahre – und ich<br />
muss gestehen, dass ich gegen sie eigentlich<br />
fast alle Battles verliere.<br />
Das letzte Mal, dass ich auf einen<br />
Reim von mir richtig stolz war, war …<br />
Es gibt bei jedem Song einen Rhyme<br />
oder eine Line, die man so richtig abfeiert.<br />
Das letzte Mal, dass mir ein Song etwas<br />
über das Leben beigebracht hat,<br />
war … Es gibt ein Lied von Hanan Ben-<br />
Ari, bei dem es darum geht, dass er<br />
seinen Kindern wünscht, immer fröhlich<br />
zu sein und dass sie keine seiner<br />
Narben erben mögen. Das hat mich<br />
sehr berührt.<br />
Das letzte Mal als „Sohn des Friedens“<br />
gefühlt habe ich mich …, wenn<br />
ich bei Schulveranstaltungen oder<br />
Vorträgen auf Menschen mit verschiedenen<br />
Hintergründen treffe und es<br />
dort schaffe, Verständigung, Dialog<br />
und Empathie aufzubauen und man<br />
plötzlich merkt, dass bei aller Unterschiedlichkeit<br />
doch so viel Gemeinsamkeit<br />
existiert.<br />
Das letzte Mal, dass ich dachte, Rap<br />
und Judentum passen klasse zusammen,<br />
war … Das passiert immer, wenn<br />
ich in die Synagoge gehe! So schnell,<br />
wie die Vorbeter es schaffen, die Verse<br />
aus den Gebetsbüchern vorzutragen –<br />
das erinnert mich schon stark an Doubletime-Rap!<br />
Das letzte Mal, dass ich etwas von den<br />
Kids aus meinen Workshops gelernt<br />
habe, war … Ich lerne eigentlich immer<br />
etwas, vor allem beeindruckt mich, wie<br />
manche Jugendliche mit ihrer Fluchtgeschichte<br />
umgehen. Aber grundsätzlich<br />
würde ich sagen: Ich lerne jeden Tag<br />
und von jedem Menschen etwas.<br />
LEBENSLANGES<br />
LERNEN<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal, aber auch ein letztes! In<br />
diesem Monat erzählt uns der Rapper, Autor und Aktivist<br />
Ben Salomo über Battles mit einer Fünfjährigen und<br />
Doubletime in der Synagoge.<br />
Ben Salomo, 1977 in Rechovot als Jonathan Kalmanovich geboren,<br />
lebt seit über vierzig Jahren in Berlin und bezeichnet<br />
sich selbst als „Israeli mit Integrationshintergrund“. Als Rapper<br />
und Veranstalter wurde er bekannt, 2018 kehrte er, nach<br />
einem antisemitischen Zwischenfall bei der Echo-Verleihung,<br />
der Hip-Hop-Szene den Rücken. 2019 veröffentlichte der<br />
45-Jährige seine Autobiografie Ben Salomo bedeutet Sohn des<br />
Friedens*, in der er sich unter anderem mit dem Antisemitismus<br />
im Deutsch-Rap auseinandersetzt. Eine überarbeitete<br />
Neuauflage erscheint heuer im November. Dem gesamtgesellschaftlichen<br />
Problem Rassismus stellt er sich auch aktiv<br />
entgegen, hält Vorträge und Workshops an Schulen.<br />
bensalomo.de<br />
64 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
© Thomas Koehler/photothek.net;<br />
* Ben Salomo bedeutet Sohn des Friedens erscheint im November<br />
in einer überarbeiteten Neuauflage in der Reihe Europa Pocket im Europa Verlag.<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 64 16.09.22 05:59
Thema<br />
wına-magazin.at<br />
19<br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 19 16.09.22 05:58
Die IKG.Kultur präsentiert dieses Jahr ein ganz besonderes<br />
Kantorenkonzert<br />
Shai Abramson<br />
Shmuel Barzilai<br />
Oberkantor des Staates<br />
Israel und der Israel<br />
Defense Forces<br />
Oberkantor der<br />
Israelitischen<br />
Kultusgemeinde Wien<br />
20.10.<strong>2022</strong>, 19:00 Uhr<br />
Stadttempel<br />
Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Genießen Sie einen schwungvollen Abend<br />
mit einer besonderen Mischung aus kantoraler<br />
Musik, bekannten israelischen Songs, sowie<br />
berühmten Pop und Rock Highlights.<br />
Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie,<br />
einen Lichtbildausweis mitzuführen.<br />
Tickets und Informationen unter:<br />
www.ikg-wien.at/event/kantorenkonzert-<strong>2022</strong><br />
38 wına | <strong>September</strong> <strong>2022</strong><br />
sept_<strong>2022</strong>.indb 38 16.09.22 05:59