wina Juli/August 2022
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<strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
Tammus/Aw 5782<br />
#7/8. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
„Glücklich sein heißt ohne<br />
Schrecken seiner selbst<br />
innewerden können.“<br />
Eine Hommage an<br />
Walter Benjamin<br />
zum 130. Geburtstag<br />
DIE LEICHTIGKEIT<br />
DES SOMMERLICHEN SEINS<br />
Tipps, Rezepte & viel Literatur<br />
für die schönste Zeit des Jahres<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
07<br />
9 120001 135738<br />
DAS ELEMENT<br />
DER ZUFÄLLIGKEIT<br />
Historiker Dan Diner über<br />
den Zweiten Weltkrieg aus<br />
einer neuen Perspektive<br />
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Bauen Sie auf uns,<br />
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Editorial<br />
<strong>Juli</strong>a Kaldori<br />
Den heißen<br />
Sommer<br />
genießen,<br />
denn der<br />
Winter folgt<br />
bestimmt.<br />
Endlich wieder Sommer! Endlich wieder<br />
ein Sommer zum Genießen. Und genau<br />
deshalb würde ich gerne auch hier nur<br />
über die sommerliche Leichtigkeit des Seins<br />
schreiben.<br />
Nein, ich möchte jetzt nicht über die ungewöhnliche<br />
Hitze sinnieren, die uns in Zukunft<br />
vermutlich zu großen Zugeständnissen zwingen<br />
wird. Nicht über die dadurch entstehende Wasserknappheit,<br />
Walbrände und nicht über ihre<br />
langfristigen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt.<br />
Ein Sommer, der endlich wieder ein bisschen<br />
weniger von Covid-19 gekennzeichnet<br />
wird, in dem wir endlich ein wenig reisen, das<br />
Meer wieder genießen und fremde Länder besuchen<br />
können. Fast so ein Sommer, wie er einst<br />
war. Nein, ich möchte mich kurz nicht mit den<br />
rasant steigenden Infektionszahlen, den tragischen<br />
und langfristigen Folgen der Infektionen<br />
befassen. Und auch nicht damit, was uns<br />
im Herbst covidtechnisch erwartet.<br />
Ich möchte gerne auf den nächtlichen Sommerhimmel<br />
blicken und die Sterne betrachten<br />
und mir dabei nicht überlegen müssen, ob<br />
die Flieger, die über unserem Urlaubsort in der<br />
Nähe eines NATO-Flughafens fliegen, glückliche<br />
Urlauber oder nervöse Soldaten transportieren.<br />
Und während ich versuche, die aufgeheizten<br />
Räume ein wenig abzukühlen, möchte ich nicht<br />
darüber nachdenken, ob wir im Winter das<br />
Thermostat weiterhin unbedacht auf eine für<br />
uns angenehme Temperatur einstellen werden<br />
können, oder aus vielerlei Gründen versuchen<br />
werden, es ein paar Grade herunterzudrehen.<br />
Und ich möchte mir im herrlichen Sommerwetter<br />
kurz nicht vorstellen müssen, wie viele Menschen<br />
in Europa sich das Heizen bald kaum oder<br />
gar nicht mehr leisten werden können.<br />
Und während ich mich endlich wieder durch<br />
herrliche Kunstausstellungen schlinge und die<br />
zahlreichen Sommerkulturfestivals genieße,<br />
möchte ich auch nicht darüber reflektieren,<br />
wie ein documenta-Skandal diesen Ausmaßes<br />
entstehen konnte. Wie im Jahr <strong>2022</strong> einer<br />
so renommierten Kunstinstitution in Deutschland<br />
eine derart offensichtliche Fehlentscheidung<br />
passieren kann. Und ob „zu viel“ Zeit seit<br />
der Shoah vergangen sei und ob jene hauchdünne<br />
Schicht der Scham, die in Europa solch<br />
antisemitische Artikulationen zumindest aus<br />
dem öffentlichen Leben für Jahrzehnte verbannt<br />
hatte, wieder brüchig geworden ist.<br />
Oder wird die Gesellschaft durch die Folgen der<br />
Pandemie, die kriegerischen Vorgänge an Europas<br />
Grenze, die Hungersnöte in Nordafrika<br />
und die Klimaerwärmung zunehmend unaufmerksam<br />
für die „Geschmackslosigkeiten“ des<br />
Alltags? Nein, auch über diese Entwicklungen<br />
und deren Folgen möchte ich bei herrlichem<br />
Sonnenschein und Vogelgezwitscher draußen<br />
nicht nachdenken.<br />
Doch da drängt sich leider, kurz bevor ich<br />
mit diesen Zeilen fertig bin, noch die martialische<br />
Stimme eines europäischen Politikers<br />
dazwischen, der in der Hitze seines immerwährenden<br />
Gefechts diesmal vor Tausenden<br />
Anhängern bei einem sommerlichen Politfestival<br />
von „reinen und gemischten Rassen“<br />
spricht, vom baldigen Untergang des Westens<br />
und von der Kriegsverzögerungstaktik Europas<br />
in der Ukraine. Und seine Stimme – wie auch<br />
die seiner Fangemeinde – ist so laut, dass ich<br />
nicht weghören kann. Und ich hoffe auch sonst<br />
niemand, denn diese Hassrede ist eine zu lebendige<br />
Reminiszenz an eine Zeit, die Leid, Tod<br />
und Grauen bedeutet hat. Nein, ich möchte<br />
darüber in diesem Sommer nicht nachdenken<br />
– doch ich fürchte, das werde ich müssen,<br />
denn wie es bereits vor Jahren in der immer<br />
noch großartigen Fantasy-Serie Game of Thrones<br />
geheißen hat: Winter is coming*. Der Winter<br />
naht. Und seine kühlen Winde sind bereits<br />
im Sommer zu spüren.<br />
„Und während wir<br />
jetzt einen der<br />
heißesten Sommer<br />
unseres Lebens<br />
erleben, sollten wir<br />
bedenken, dass dieser<br />
vielleicht einer der<br />
kühlsten Sommer<br />
für den Rest unseres<br />
Lebens sein<br />
könnte....“<br />
Diana Ürge-Vorsatz,<br />
Klimawissenschaftlerin und<br />
Professorin an der CEU<br />
*© wellington/pixabay *Winter is Coming: Why Vladimir Putin and the Enemies of the Free World Must Be Stopped, so<br />
lautet auch der Buchtitel des russischen Schachweltmeisters und Oppositionspolitikers<br />
Garry Kasparov, das 2016 erschienen ist.<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
Unbenannt-1 1 26.07.22 10:12
S.64<br />
Boaz Sides, auch bekannt als UNTAY, ist ein<br />
multidisziplinärer bildender Künstler aus Tel Aviv.<br />
Unter anderem gestaltete er das Plakatsujet für<br />
das diesjährige Streetart-Festival Calle Libre auf<br />
dem Nordwestbahnhof.<br />
„Gib jedes Mal, wenn du<br />
deine Kunst veröffentlichst,<br />
dein absolut Bestes<br />
– als wäre es<br />
dein letzter Tag<br />
auf Erden.“<br />
Boaz Sides<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: <strong>Juli</strong>a Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
Herstellungsort: Bad Vöslau<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 „Harte Jahre vor uns“<br />
Wie der Antisemitismusbeauftragte<br />
der Landesregierung Baden-Württemberg<br />
Michael Blume das Problem<br />
in Griff bekommen will.<br />
12 „Studieren Sie Geschichte“<br />
Henry Kissinger legt mit 99 Jah ren ein<br />
anregendes Werk über Staatskunst<br />
und sechs politische Persönlichkeiten<br />
des 20. Jahrhunderts vor.<br />
16 Vielschichtiges Leben<br />
Nikolaus Lutterotti, Österreichs Botschafter<br />
in Israel, spricht im WINA-Interview<br />
über seine ersten Eindrücke<br />
und beruflichen Schwerpunkte.<br />
21 Leichtigkeit des Seins<br />
Inspirationen aus der WINA-Redaktion,<br />
um den Sommer ak tiv zum Aufladen<br />
unserer Bat terien zu nutzen.<br />
30 Wiener Fädenzieher<br />
20.000 jüdische Flüchtlinge fanden<br />
während des Zweiten Welt kriegs<br />
in Shanghai Zuflucht. Spuren davon<br />
sind kaum zu finden. Manchmal<br />
kommen sie durch Zufall ans Licht.<br />
34 Blütezeit im Burgenland<br />
Die Adelsfamilien Esterházy und<br />
Batthyány gaben in den Jahren 1612<br />
bis 1848 der jüdischen Bevölkerung<br />
im heutigen Burgenland Privilegien<br />
für ein prosperierendes Leben.<br />
INHALT<br />
38 Fürstliche Schutzjuden<br />
Im Schloss Esterházy in Eisenstadt<br />
gibt eine Ausstellung spannende<br />
Ein blicke in das Leben der „Hochfürstlich<br />
Esterházy Schutzjuden“.<br />
42 Ein historisches Juwel<br />
Der faszinierende „ewige Garten“<br />
des jüdischen Friedhofs von Mikulov<br />
bringt für eine geflüchtete Ukrai nerin<br />
und ihren Sohn neue Hoffnung.<br />
„Mit dem Mauerfall<br />
und der Auflösung der<br />
Sowjetunion haben wir<br />
die Implosion gesehen,<br />
aber der Knall<br />
erreicht uns<br />
erst jetzt, 30<br />
Jahre später.“<br />
Dan Diner<br />
S.46<br />
S.28<br />
Endlich Sommer.<br />
Wir vermuten zwar nicht, dass Ihnen unter der Sommersonne langweilig werden<br />
könnte. Haben aber trotzdem ein paar unserer Sommer-Highlights – wie<br />
das Streetart-Festival Calle Libre – zusammengestellt.<br />
KULTUR<br />
46 „… anders kommen können“<br />
In Ein anderer Krieg betrachtet Dan<br />
Diner den Zweiten Weltkrieg aus der<br />
Perspektive des jüdischen Palästinas<br />
und zeigt Zufälligkeiten der Ereignisse.<br />
49 Orientalischer Formulierer<br />
Mit Abraham Gabriel Yehoshua ist<br />
der letzte große Erzähler der Gründergeneration<br />
Israels verstorben.<br />
50 Sammler in der Großstadt<br />
Walter Benjamin war einer der führenden<br />
Intellektuel len der Zeit zwischen<br />
den Kriegen. Auf der Flucht vor den<br />
Nazis nahm er sich das Leben.<br />
52 Literatursommer <strong>2022</strong><br />
Sommerurlaub ohne Lektüre ist wie<br />
Strand ohne Sand, Wald ohne Bäume<br />
oder Urlaub ohne Früh stück im Bett.<br />
Hier unsere wärmsten Empfehlungen.<br />
56 In Baden und Graz<br />
Über das Leben und Sterben im<br />
jüdischen Baden und Graz hat Elie<br />
Ro sen viel zu erzählen und liefert dazu<br />
auch gleich zwei Neuerscheinungen.<br />
58 Kleine Frau, große Haltung<br />
Auch nach ihrem Abschied vom Volkstheater<br />
bleibt Schauspielerin Doris<br />
Weiner präsent – ganz aktuell mit der<br />
Lesereihe Vier Frauen im Vierten.<br />
60 Ausbruch mit Folgen<br />
Von der hermetischen Welt der Satmarer<br />
Chassiden und seiner schmerzlichen<br />
Befreiung erzählt Rabbi Akiva<br />
Weingarten in Ultraorthodox.<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
WINA ONLINE:<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />
05 WINA_Kommentar<br />
Oliver Das Gupta über den Antisemitismusskandal<br />
auf der diesjährigen<br />
documenta<br />
11 Kommentar aus Genf<br />
Rassismus und Intoleranz muss<br />
man ein für alle Mal beenden.<br />
Von Leon Saltiel<br />
14 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Nächste Wahl, gleiche Kandidaten,<br />
neue Rollen. Von Gisela Dachs<br />
20 Urban Legends<br />
Alexia Weiss über die persönliche<br />
Brille, durch die man die Welt sieht.<br />
28 WINA_Lebensart<br />
Ein paar Sommer-Highlights –<br />
nur für den Fall …<br />
40 Matok & Maror<br />
& Flora: ein neues Neubauer Hotelrestaurant<br />
mit kreativer Küche<br />
41 WINA_kocht<br />
Kalter Kaffee und knusprige Schnitzel<br />
zwischen Wien und Israel<br />
61 WINA_Werkstädte<br />
Das Jüdische Museum in San Francisco<br />
steht nicht zufällig schräg<br />
62 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den Sommer<br />
64 Das letzte Mal<br />
UNTAY heißt der israelische Künstler,<br />
dessen Bilder ganze Werbeflächen<br />
einnehmen können<br />
Coverfoto: xxxxxxx<br />
„Ich gehe wie eine Bildhauerin<br />
vor, indem ich<br />
von einer abstrakten<br />
Farbfläche ausgehend<br />
konkrete Elemente<br />
herausarbeite.“<br />
Alina Nosow<br />
S.27<br />
Alina Nosow wurde in Kiew<br />
geboren und studierte in<br />
Deutschland und Österreich<br />
Kunst. Heute sind ihre großformatigen<br />
Bilder und Skulpturen<br />
international vielbeachtet.<br />
2 wına | Junli/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
3
HIGHLIGHTS | 01<br />
WINA KOMMENTAR<br />
100 spannende Jahre<br />
Der im Sudan geborene Schweizer jüdische<br />
Unternehmer, Philanthrop und Funktionär<br />
Nessim Gaon ist tot.<br />
Geboren wurde Nessim David Gaon 1922 in<br />
Khartoum im Sudan, seine sephardisch-jüdische<br />
Familie stammte ursprünglich aus der Türkei<br />
und war über Ägypten dort hin gezogen.<br />
Abgerüstet bei der britischen Armee hat er<br />
1946 als Hauptmann. Gekämpft hatte er davor<br />
in Italien, im Irak und im Iran. Vor dem Militärdienst<br />
hatte er bereits eine solide Ausbildung<br />
an der London School of Economics genossen.<br />
Nach dem Krieg übersiedelte Gaon in die Schweiz,<br />
wurde Schweizer Staatsbürger und baute in Genf<br />
ein Unternehmen für den Handel mit Erdnüssen,<br />
Getreide und Pestiziden auf. Später gründete er<br />
die internationale Immobilienfirma Noga SA. Diese<br />
kooperierte dann jahrelang mit der Hilton Hotelgruppe.<br />
Gemeinsam eröffnete man etwa Häuser<br />
in der Schweiz, in Frankreich oder in Nigeria. 1996<br />
ging Noga in Konkurs, nach einem teuren Rechtsstreit<br />
über Barter-Handelsgeschäfte mit Russland.<br />
Doch das Geschäftliche umfasste nur einen<br />
Teil der vielfältigen Aktivitäten Gaons. Er setzte<br />
sich auf unterschiedliche Weise für jüdische und<br />
israelische Anliegen ein, war auch befreundet mit<br />
Staatspräsident Shimon Peres und mit Ministerpräsident<br />
Menachem Begin. Von 1971 bis zu seinem<br />
Tod leitete er die World Sephardi Federation,<br />
zwischenzeitig war er auch Vizepräsident<br />
des World Jewish Congress. Überdies stand er<br />
dem Board of Governors der Ben-Gurion-Universität<br />
im Negev vor. 1980, unmittelbar nach dem<br />
Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten,<br />
organisierte Gaon eine großzügige Spende für<br />
die Restaurierung der Sha’ar-Hashamayim-Synagoge<br />
in Kairo. In Genf ließ er die sephardische<br />
Hekhal-Haness-Synagoge errichten.<br />
Doch er konnte auch weniger offiziell aktiv werden,<br />
arbeitete etwa eng mit dem israelischen Geheimdienst<br />
Mossad zusammen. Das betraf die<br />
Evakuierung von äthiopischen Juden im Rahmen<br />
der „Operation Moses“ Anfang der 1980er-Jahre.<br />
Nicht alle wurden damals via Luftbrücke ausgeflogen.<br />
Gaon baute für den Mossad im<br />
Sudan eine Scheinfirma am Meer auf, eine<br />
Tauchschule, inklusive fiktiver Tauchlehrer<br />
und falscher Touristen. Dort wurden äthiopische<br />
Flüchtlinge gesammelt und in der<br />
Nacht mit Schlauchbooten auf israelische<br />
Schiffe vor der Küste gebracht. Gaon starb<br />
im Mai 100-jährig in Genf. <br />
RE<br />
17<br />
Tausend<br />
Juden haben nach israelischen Angaben<br />
Russland seit der russischen<br />
Invasion der Ukraine Richtung Israel<br />
verlassen. Unter ihnen auch Pinchas<br />
Goldschmidt: „Als sich der schreckliche<br />
Krieg gegen die Ukraine in den<br />
letzten Monaten entfaltete, konnte<br />
ich nicht schweigen, da ich so viel<br />
menschliches Leid sah.“<br />
„Glücklicherweise<br />
hat man mir nie die<br />
Chance gegeben,<br />
Sehnsucht nach Österreich<br />
zu haben.“<br />
Georg Kreisler (1922–2011)<br />
Israelische Drohne<br />
für die Schweizer<br />
Luftwaffe.<br />
Nessim Gaon<br />
baute eine fiktive<br />
Tauchschule im<br />
Sudan auf, um von<br />
dort aus äthiopischen<br />
Juden die Flucht zu<br />
ermöglichen.<br />
Drohnen über<br />
den Alpen<br />
Die Schweiz kauft in Israel unbemannte<br />
Aufklärungsflugzeuge.<br />
Im Frühjahr sind die ersten beiden israelischen<br />
Drohnen in der Schweiz angekommen,<br />
bis zum Ende des kommendes<br />
Jahres sollen vier weitere folgen.<br />
Es handelt sich um unbemannte, unbewaffnete<br />
Aufklärungsflugzeuge des<br />
Typs Hermes 900 HFE mit rund einer<br />
Tonne Gewicht und einem Heckpropeller.<br />
Angetrieben wird dieser – auf<br />
Schweizer Wunsch – von einem Dieselmotor.<br />
Gebaut wird das Fluggerät<br />
vom Rüstungskonzern Elbit Systems in<br />
Haifa, einem der weltweit führenden<br />
Entwickler und Hersteller von Drohnen.<br />
Die Lieferung stand allerdings unter keinem<br />
ganz guten Stern: Vor zwei Jahren<br />
stürzte eine schon für die Schweiz vorgesehene<br />
Drohne in Israel ab. Üblicherweise<br />
gehen die Testpiloten, in diesem<br />
Fall vom Boden aus, mit Neuentwicklungen<br />
an die erwarteten Belastungsgrenzen.<br />
Doch hier überschritten sie diese,<br />
die Drohne entwickelte massive Schwingungen,<br />
schließlich brach das Leitwerk<br />
ab: Totalausfall. Verletzt wurde niemand.<br />
Der Hersteller baute nach technischen<br />
Adaptionen eine neue Hermes für die<br />
Schweizer Luftwaffe, das führte zu einer<br />
Verzögerung bei der Auslieferung. Mittlerweile<br />
werden die ersten beiden Geräte<br />
über den Alpen getestet, allerdings<br />
fehlt bisher in der Schweiz die notwendige<br />
Radarzulassung für das autonome<br />
Fliegen. Daher dürfen die Drohnen nur<br />
bei Tag im unbewachten Luftraum üben,<br />
weit weg von den kommerziellen Flugrouten.<br />
Außerdem muss sie jedesmal<br />
ein herkömmliches Pilatus-Schulflugzeug<br />
mit Pilot am Steuer begleiten. RE<br />
© Martial Trezzini / EPA / picturedesk.com; Georgios Kefalas / Keystone / picturedesk.com; flash90<br />
Kassel<br />
Ein Warnzeichen<br />
Der Antisemitismusskandal auf der Kasseler Kunstausstellung documenta<br />
geht weit über ein Plakat mit Fratzen hinaus.<br />
Ein Soldat mit Schweinenase, der ein Halstuch mit<br />
Davidstern trägt und einen Helm mit der Aufschrift<br />
„Mossad“. Ein Mann mit blutroten Augen, spitzen<br />
Reißzähnen und krummer<br />
Von Oliver das gupta Nase, auf dessen Hut die SS-Runen<br />
prangen. Ein applaudierender<br />
Teufel mit Fliege und Anzug – ist das nicht ein kleiner<br />
weißer Magen David auf seiner Brust?<br />
Experte für antisemitische Stereotype muss man wahrlich<br />
nicht sein, um solche Motive zu entschlüsseln. Diese<br />
beschriebenen Gestalten sind Teil eines großflächigen Plakats,<br />
das zwischenzeitlich auf dem zentralen Friedrichsplatz<br />
in Kassel zu sehen war. Und zwar als Teil der documenta,<br />
einer der weltweit wichtigsten Ausstellungen für<br />
zeitgenössische Kunst. Politik und Feuilletons reagierten<br />
erschrocken, die Veranstalter ruderten zurück, das „Werk“<br />
der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi namens<br />
People’s Justice wurde entfernt. In dem muslimisch geprägten<br />
Land fühlte man sich den Palästinensern nahe, hieß es<br />
schon vorher. Die documenta widmete sich diesmal dem<br />
„globalen Süden“. Künstler aus Israel einzuladen, kam den<br />
Machern nicht in den Sinn.<br />
Die Dimension des Skandals geht weit über ein Plakat<br />
voller Fratzen hinaus. Hier wurde unter dem Deckmantel<br />
der Kunst versucht, eine wahnsinnige Opfer-Täter-Umkehr<br />
in aller Öffentlichkeit darzustellen: Juden als blutrünstige<br />
Dämonen mit Nazi-Bezug – und das mitten in Deutschland.<br />
Darüber muss offen gesprochen werden, die Debatte<br />
sollte allerdings den Fokus weiten. Was ist das für ein<br />
Klima, in dem solche „Kunst“ als präsentierwürdig bewertet<br />
wird? Antisemitismusvorwürfe gegen das von der<br />
documenta beauftragte Kuratorenkollektiv Ruangrupa<br />
gab es schon lange vor der Eröffnung – nahm man also<br />
den Skandal wissend in Kauf? Wenn die Aufarbeitung<br />
stockt und namhafte Experten wie der Frankfurter Pädagoge<br />
Meron Mendel frustriert ihr Angebot zur Mitarbeit<br />
zurückziehen, was sagt das über die Kompetenz der documenta-Spitze<br />
aus?<br />
Bei den in Kassel involvierten Personen und Institutionen<br />
handelt es nicht um tumbe Kellernazis. Hier haben<br />
intellektuelle Köpfe entschieden, von denen sich wohl<br />
nicht wenige selbst als Linke oder Liberale sehen, auf jeden<br />
Fall als gute Demokraten. Sie wollen, dass Kunst in<br />
Bei den in Kassel involvierten Personen<br />
und Institutionen handelt es nicht um<br />
tumbe Kellernazis. Hier haben intellektuelle<br />
Köpfe entschieden.<br />
die Gesellschaft wirkt, Denkanstöße liefert – in diesem<br />
Fall war es eine Darstellung, die aber unzweifelhaft darauf<br />
abzielt, Israel als Nazi-Regime zu verunglimpfen. Ein bisschen<br />
Judenhass ist okay – das ist die fatale Botschaft, die<br />
unterschwellig von der documenta ausgeht. Daran ändert<br />
auch das Abhängen des Plakats nur wenig, auch nicht der<br />
Rücktritt der documenta-Direktorin.<br />
Das Signal aus Kassel steht im krassen Gegensatz zu einer<br />
anderen Entwicklung. Gerade in Deutschland und in<br />
Österreich, den beiden Täterländern, wächst die Sensibilisierung<br />
für Misogynie, Rassismus, Homophobie seit Jahren:<br />
Diskriminierungen aller Art werden mehr und mehr<br />
gesellschaftlich geächtet und gesetzlich bekämpft – und<br />
das ist immens wichtig und überfällig.<br />
Umso grotesker ist es, dass in der Mitte der Allgemeinheit<br />
immer wieder Antisemitismus in unterschiedlichen<br />
Schattierungen sichtbar wird. Denn gegen Juden gerichteter<br />
Hass ist die älteste und folgenschwerste Variante gruppenbezogener<br />
Menschenfeindlichkeit.<br />
Kassel reiht sich ein in ähnlich grundierte Vorfälle in<br />
der jüngeren Vergangenheit, die den Kulturbereich im<br />
weiteren Sinne betrafen. Man denke nur an die antisemitischen<br />
Pointen einer österreichischen Kabarettistin oder<br />
entsprechende Karikaturen in einer deutschen Qualitätszeitung.<br />
Mag sein, dass sich bei solchen Fällen die Motive<br />
unterscheiden, mal gibt Skandalgeilheit den Ausschlag,<br />
mal Ignoranz, mal Boshaftigkeit.<br />
Kassel ist ein besonders grelles Warnzeichen dafür, dass<br />
sich unter dem Deckmantel der Kunst etwas Gefährliches<br />
entfaltet. Kunst entstehe nicht im luftleeren Raum, sagt<br />
Meron Mendel, der die Frankfurter Bildungsstätte Anne<br />
Frank leitet. Deshalb muss dagegengehalten werden – zu<br />
jeder Zeit, auf allen Ebenen, von Menschen mit jüdischem<br />
und mit nichtjüdischem Hintergrund.<br />
4 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
5
Gegen Antisemitismus<br />
Für jüdisches Leben<br />
INTERVIEW MIT MICHAEL BLUME<br />
„Wir haben noch<br />
einige harte<br />
Jahre vor uns“<br />
Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter<br />
der Landesregierung Baden-Württemberg, nahm<br />
Mitte Juni am Ersten Nationalen Forum gegen<br />
Antisemitismus in Wien teil und besuchte dabei<br />
auch die IKG. WINA sprach mit ihm über<br />
seinen Zugang, das Problem Antisemitismus in<br />
den Griff zu bekommen, aber auch darüber, wie<br />
es ist, auch von jüdischer Seite attackiert zu<br />
werden. Interview: Alexia Weiss<br />
MICHAEL BLUME,<br />
geb. 1976 in Filderstadt, Deutschland, ist Religions-<br />
und Politikwissenschaftler und seit 2018 An-<br />
tisemitismusbeauftragter der Landesregierung<br />
von Baden-Württemberg. Er ist zudem Autor<br />
zahlreicher Bücher, darunter Warum der Antisemi-<br />
tismus uns alle bedroht (2019). In seinem Podcast<br />
Verschwörungsfragen klärt er über Antisemitismus<br />
und Verschwörungsmythen auf.<br />
WINA: 2021 wurden in Deutschland 3.028 antisemitische<br />
Straftaten erfasst. Das American Jewish Committee (AJC) ließ<br />
daraufhin in einer Studie das Institut für Demographie Allensbach<br />
die Haltungen der Bevölkerung zu Antisemitismus<br />
erheben. Das Ergebnis: Antisemitismus ist auch in der Mitte<br />
der Gesellschaft verankert, deutliche Problemgruppen sind<br />
demnach AfD-Anhänger sowie religiöse Muslime. Warum<br />
überraschten sie die Ergebnisse der AJC-Studie nicht?<br />
Michael Blume: Ja, tatsächlich kann ich das so bestätigen.<br />
Ich habe mich auch immer wieder dagegen gewehrt, dass<br />
es geheißen hat, der Antisemitismus sei in der Mitte der<br />
Gesellschaft angekommen. Tatsächlich war er nie wirklich<br />
weg. Und ich spreche sogar von einem libertären Antisemitismus,<br />
zum Beispiel bei Leuten wie Tilman Knechtel,<br />
die sich selber als weder rechts noch links empfinden,<br />
aber sagen, der ganze Staat, die ganze Demokratie, die Republik<br />
ist eine vermeintlich zionistisch dominierte Verschwörung.<br />
Der muslimisch geprägte Antisemitismus<br />
wird bisher tatsächlich noch unterschätzt. Ich will aber<br />
auch darauf hinweisen, dass das nicht nur ein religiöser<br />
Antisemitismus ist. Der Antisemitismus mit muslimischem<br />
Hintergrund ist genauso vielschichtig wie der<br />
in der christlichen Welt.<br />
Wie sieht die Situation in Baden-Württemberg aus?<br />
I Wir haben einen Rückgang der allgemeinen Kriminalität,<br />
aber einen Anstieg der sogenannten Hassverbrechen.<br />
Das heißt, wir haben einen starken Anstieg im Bereich<br />
Antisemitismus. Ich muss aber sagen: Es steigt nicht<br />
die Zahl der Antisemiten in Baden-Württemberg an. Das<br />
ist die gute Nachricht. Die ganze Bildungsarbeit hat eine<br />
Wirkung. Aber die Leute, die zu Antisemitismus, Rassismus,<br />
Sexismus tendieren, radikalisieren sich digital. Und<br />
deswegen muss ich leider auch für die nächsten Jahre sagen,<br />
wir müssen mit Gewalt rechnen. Also leider kann ich<br />
keine Entwarnung geben. Wir haben noch einige harte<br />
Jahre vor uns.<br />
In Zahlen gegossen, wie schaut da die Zunahme in Baden-<br />
Württemberg aus?<br />
I Wir hatten in den letzten Jahren immer so eine Zunahme<br />
der antisemitischen Straftaten zwischen zehn und 25 Pro-<br />
© @ die arge lola / Kai Loges + Andreas Langen<br />
zent. Etwa ein Zehntel der antisemitischen Meldefälle<br />
in ganz Deutschland entfällt auf Baden-Württemberg<br />
(11,1 Millionen Einwohner, Anm.). Das ist<br />
etwas über dem Schnitt, kann aber natürlich auch<br />
damit zusammenhängen, dass wir sehr lebendige jüdische<br />
Gemeinden haben und es auch gelungen ist,<br />
zum Beispiel durch die Einsetzung von Polizeirabbinern,<br />
die Meldungen zu erhöhen. Bei uns haben die<br />
jüdischen Gemeinden jetzt direkte Drähte zur Polizei,<br />
es werden Fälle zur Anzeige gebracht, wie jetzt gerade<br />
wieder ein antisemitischer Aufmarsch mit der sogenannten<br />
Schwarzen Sonne vor der Synagoge (ein NS-<br />
Symbol, Anm.) in Ulm. Das bedeutet natürlich auch,<br />
dass mehr gemeldet wird. Und jetzt kommt es darauf<br />
an, dass dann auch mehr aufgeklärt wird.<br />
Sie haben im <strong>Juli</strong> 2019 Ihren ersten Bericht als Beauftragter<br />
der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus<br />
vorgelegt. Darin geben sie auf 30 Seiten auch konkrete<br />
Handlungsanleitungen, die Ähnlichkeit mit dem haben,<br />
was die österreichische Bundesregierung in ihrer Nationalen<br />
Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt hat. Sie empfehlen<br />
beispielsweise ein noch besseres Monitoring. Welche<br />
Ihrer Empfehlungen wurden bis heute umgesetzt?<br />
I Wir haben eine Vielzahl von Empfehlungen, wie die<br />
Polizeirabbiner, umsetzen können und auch eine Meldestelle<br />
aufgebaut. Was noch nicht so gut klappt, ist<br />
die Vernetzung. Meines Erachtens sollten die ganzen<br />
deutschsprachigen Länder gemeinsame Kriterien erarbeiten.<br />
Wien liegt von Stuttgart aus zehn Kilometer<br />
näher als Berlin, und ich hätte gerne, dass Baden-<br />
Württemberg ein bisschen ein verbindendes Element<br />
darstellt. Wenn das nicht klappt, dann wird Deutschland<br />
mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus<br />
(RIAS) einen eigenen Weg gehen.<br />
In Wien wurde eine solche Meldestelle bereits aufgebaut.<br />
Sollte Ihr Wien-Besuch hier auch zu einer Vernetzung beitragen?<br />
I Ganz genau, das hat auch bereits begonnen. Es ist ja<br />
so, dass es im süddeutschen Raum eine sehr föderale<br />
Tradition gibt. Wir sind stark beeinflusst durch die<br />
Schweiz und Österreich, das sehen Sie zum Beispiel in<br />
den süddeutschen Ratsverfassungen. Aber gleichzeitig<br />
wissen wir natürlich auch, dass man sich abstimmen<br />
und gemeinsame Kriterien finden muss. Es wäre<br />
mein Traum, wenn wir in allen deutschsprachigen<br />
Ländern eine gemeinsame Datenbasis haben könnten.<br />
Welche Ihrer Empfehlungen sind noch nicht umgesetzt?<br />
I Am meisten Arbeit sehe ich noch im Bereich von Bildung.<br />
Wir hatten in Deutschland die sogenannte Holocaust-Pädagogik.<br />
Viele junge Leute lernen nur tote<br />
Juden kennen, aber sie haben noch kaum Kenntnisse<br />
beispielsweise von jüdischen Festen. Mitleid ist doch<br />
kein Respekt. Ich wünsche mir sehr, dass die nächste<br />
Generation das Judentum auch als lebendiges Judentum<br />
kennenlernt.<br />
Wie viele Juden und Jüdinnen leben in Baden-Württemberg?<br />
„Ganz konkret<br />
wünsche ich<br />
mir, dass es<br />
ein Medienzentrum<br />
gibt<br />
für jüdisches<br />
Leben und<br />
gegen Antisemitismus.“<br />
Michael Blume<br />
I Wir haben in den jüdischen Gemeinden knapp<br />
10.000 Mitglieder, und man schätzt noch mal einige<br />
Tausend, die nicht Mitglieder sind. Es werden aber<br />
mehr. Zum einen haben wir auch wieder kinderreiche,<br />
häufig religiöse Familien. Und wir haben jetzt gerade<br />
auch einen starken Zustrom von Jüdinnen und<br />
Juden aus der Ukraine.<br />
Wie schwierig ist es, im Kampf gegen Antisemitismus etwas<br />
konkret zu bewegen?<br />
I Jeder sieht gerne den Antisemitismus der anderen.<br />
Die Rechten verweisen nach links, die Linken verweisen<br />
nach rechts, die Religiösen auf die Säkularen und<br />
die Säkularen auf die Religiösen. Meine häufigste Begrüßung<br />
lautet eigentlich „Herr Dr. Blume, Ihre Arbeit<br />
ist super wichtig, aber bitte machen Sie sie woanders.“<br />
Was gut ist, es gibt ein breites öffentliches<br />
Interesse. Auch viele Politikerinnen und Politiker nutzen<br />
die Chance der Hintergrundgespräche. Ein großer<br />
Nachteil ist der Hass, auch gegen meine Familie.<br />
Ich halte die Funktion des Antisemitismusbeauftragten<br />
für gut, weil es dem Thema ein Gesicht gibt. Aber<br />
man muss sich klar machen, wenn man dann auch<br />
digital sichtbar wird, bedeutet das Einschnitte bis ins<br />
private Leben hinein. Man wird erkannt, man wird<br />
beschimpft, bedroht.<br />
Was würden Sie sich wünschen, um schlagkräftiger wirken<br />
zu können?<br />
I Wenn wir Antisemitismus bekämpfen wollen, brauchen<br />
wir Netzwerke. Ganz konkret wünsche ich mir,<br />
dass es ein Medienzentrum gibt für jüdisches Leben<br />
und gegen Antisemitismus. Wir haben ein sehr gutes<br />
jüdisches Forum in Berlin, und ich würde mir ein solches<br />
Medienzentrum in Wien wünschen, möglicherweise<br />
gemeinsam finanziert, beispielsweise von den<br />
südlichen Bundesländern Deutschlands, der Schweiz<br />
und Österreich. Ich halte beispielsweise die ORF-Dokumentation<br />
Verschwörungswelten für im deutschsprachigen<br />
Raum führend, aber sie ist leider nicht mehr in<br />
der Mediathek erhältlich und wurde in Deutschland<br />
zu wenig wahrgenommen. Es ist schade, wenn jedes<br />
Land immer wieder für sich das Rad neu erfindet, obwohl<br />
wir schon sehr gute Inhalte haben.<br />
Warum schwebt Ihnen gerade in Wien ein Medienzentrum<br />
vor, das dann in den deutschsprachigen Raum ausstrahlt,<br />
und nicht eines in Bayern oder bei Ihnen in Baden-Württemberg?<br />
I Zum einen hat Wien eine ganz reiche deutsch-jüdische<br />
Geschichte. Und dann habe ich den Eindruck,<br />
dass durch eine gewisse Multikulturalität in Wien<br />
auch eine Sensibilität für Medien und Medienarbeit<br />
da ist. Das Jüdische Museum in Wien hat mich mit<br />
dem Fahrrad von Theodor Herzl beeindruckt. Das ist<br />
genau die Art, die wir brauchen, frisch erzählen, mutig<br />
erzählen, sich klar machen, dass man nicht nur<br />
ein Milieu ansprechen darf. Und ganz ehrlich gesagt<br />
glaube ich, da können auch wir Baden-Württemberger<br />
von Wien lernen.<br />
6 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
7
Bedrohliche Verschwörungsmythen<br />
Sie gerieten Ende 2021 selbst in die Kritik, als das Simon<br />
Wiesenthal Center Ihnen vorwarf, antisemitisch bzw. antiisraelisch<br />
agierende Akteure und Positionen zu unterstützen,<br />
dabei ging es um Social Media. Kritisiert wurden aber auch<br />
Partnerschaften baden-württembergischer Städte mit iranischen<br />
Städten. Die jüdischen Gemeinden im Land, aber<br />
auch der Zentralrat der Juden in Deutschland stellten sich<br />
hinter Sie. Können Sie die Vorwürfe des Wiesenthal Centers<br />
nachvollziehen?<br />
I Nein. Ich war ja der erste Antisemitismusbeauftragte<br />
in Deutschland. Kurz nach Amtsantritt habe<br />
ich einen ersten Troll auch von israelischer Seite bekommen,<br />
der meine Familie und mich sehr rechtsextrem<br />
beschimpft hat und von vornherein Forderungen<br />
stellte, die auch dem deutschen Recht<br />
widersprechen. Ich sollte beispielsweise für die Kündigung<br />
von Konten sorgen bei einer Bank im Sparkassenverband.<br />
Das ist bei uns rechtlich gar nicht<br />
möglich. Oder in die kommunale Selbstverwaltung<br />
eingreifen und einem Gemeinderat vorschreiben,<br />
mit wem er eine Städtepartnerschaft hat. Ich habe in<br />
aller Ruhe erklärt, dass ich mein Amt im Rahmen des<br />
Rechtsstaates ausübe und Städtepartnerschaften bei<br />
uns von Städten entschieden werden. Es gibt leider<br />
durchaus auch auf amerikanischer und israelischer<br />
Seite rechte Positionen, die unser Prinzip der Gewaltenteilung<br />
nicht respektieren. Und da gehört dann<br />
auch Zivilcourage dazu, sich nicht unter Druck setzen<br />
zu lassen. Ich werde immer für die Demokratie eintreten,<br />
und das bedeutet auch, dass ich eine Grenze<br />
bei Leuten ziehe, die Donald Trump verherrlichen.<br />
Wie schwierig ist es, das Bemühen um Dialog mit verschiedensten<br />
Gruppierungen und den Kampf gegen Antisemitismus<br />
zu vereinen?<br />
I Genau das war tatsächlich auch ein Wunsch der jüdischen<br />
Gemeinden in Baden und Württemberg, als<br />
sie mich vorgeschlagen haben, weil ich eben auch<br />
Bücher über den Islam geschrieben habe, mit einer<br />
Muslimin verheiratet bin, dass ich also auch an die<br />
Stellen gehe, wo es weh tut, zum Beispiel in Moscheegemeinden.<br />
Dass ich nicht nur mit den Leuten rede,<br />
die ohnehin über alle Zweifel erhaben sind. Wenn<br />
man dieses Amt wirklich ernst nimmt, bedeutet das,<br />
dass man auch Risiken eingehen muss. Man muss<br />
auch bereit sein, eine Meile extra zu gehen und sich<br />
auch beschimpfen zu lassen.<br />
„Wenn man<br />
dieses Amt<br />
wirklich ernst<br />
nimmt, bedeutet<br />
das, dass<br />
man auch<br />
Risiken eingehen<br />
muss. Man<br />
muss auch bereit<br />
sein, eine<br />
Meile extra<br />
zu gehen und<br />
sich auch beschimpfen<br />
zu<br />
lassen.“<br />
Michael Blume<br />
I In Ihrem Buch Warum der Antisemitismus uns alle bedroht<br />
legten Sie 2019 unter anderem dar, dass jede neue<br />
Kommunikationsform – vom Buchdruck bis zum Fernsehen<br />
– Antisemitismus beförderte. Nun sind wir weltweit mit<br />
antisemitischen Inhalten im Internet und auf Social Media<br />
konfrontiert. Sie selbst betreiben den Podcast Verschwörungsfragen.<br />
Darin behandeln Sie unterschiedlichste Facetten<br />
des Themas Antisemitismus. Warum haben Sie für<br />
den Podcast diesen Titel gewählt?<br />
I Mir geht es praktisch nicht nur darum zu erklären,<br />
was Antisemitismus ist, sondern warum generell<br />
Verschwörungsmythen immer wieder in Antisemitismus<br />
münden. Ich möchte, dass die Menschen<br />
verstehen, dass Verschwörungsmythen generell eine<br />
Bedrohung sind, da sie Menschen zu falschen Entscheidungen<br />
führen, beispielsweise sich nicht impfen<br />
zu lassen. Und dass sie den Antisemitismus auch,<br />
aber nicht nur, den jüdischen Gemeinden zuliebe bekämpfen<br />
sollen. Wer Verschwörungsmythen durchschaut<br />
und nicht mehr darauf hereinfällt, schützt<br />
sich auch selbst. Ich mag es nicht, wenn so getan<br />
wird, als ob man den Antisemitismus nur den Juden<br />
zuliebe bekämpfen soll.<br />
Wer hört Ihren Podcast realistischerweise an?<br />
I Leute, die zu Antisemitismus tendieren, kommen<br />
kaum je zu einer Veranstaltung des Antisemitismusbeauftragten.<br />
Aber mit Videos und mit Podcasts erreichen<br />
wir sie. Ich bin Beauftragter einer Landesregierung<br />
in einem Staatsministerium, ich kann<br />
nicht lustige Unterhaltungsformate präsentieren,<br />
aber ich kann trockene Aufklärung bieten, wo man<br />
zum Beispiel verlässliche Informationen zu den Adrenochrom-Verschwörungsmythen<br />
von QAnon und<br />
Xavier Naidoo findet. Wir bekommen zum Beispiel E-<br />
Mails von Leuten, die sagen, „seitdem meine Tante<br />
Sie hört, können wir wieder miteinander reden.“<br />
Das heißt, Leute suchen im Netz nach Stichworten, die sie<br />
woanders finden, stoßen auf Sie und hören sich das dann<br />
auch unvoreingenommen an? Ich wäre jetzt eher davon<br />
ausgegangen, dass man sagt, ein Antisemitismusbeauftragter<br />
ist Teil der Verschwörung.<br />
I Also für eingefleischte Verschwörungsgläubige bin<br />
ich, wie es ein Twitterer geschrieben hat, ein falscher<br />
Jude, der seine Daseinsberechtigung verloren hat. Da<br />
brauche ich mir wenig Hoffnung zu machen. Aber wir<br />
wissen, auch Verschwörungsgläubige, vor allem am<br />
Anfang oder auch zwischendrin, haben manchmal<br />
Zweifel. Und in diesen Phasen brauchen sie Informationen,<br />
mit denen sie ihre Zweifel bearbeiten können.<br />
Der Musiker Xavier Naidoo wurde immer wieder antisemitisch<br />
auffällig und hat nun eine Entschuldigungsaktion<br />
gestartet. Wie ernst zu nehmen ist das?<br />
I Xavier Naidoo lebt ja in Baden-Württemberg, und<br />
wir haben im Podcast Verschwörungsfragen auch seine<br />
antisemitischen Verschwörungsmythen thematisiert.<br />
Ich habe jetzt gesagt, sein Statement ist ein erster<br />
Schritt. Zu einem nichtöffentlichen Gespräch mit<br />
ihm wäre ich auch bereit. Denn es reicht nicht, in einem<br />
Drei-Minuten-Video zu sagen, war alles nicht so<br />
gemeint. Man muss das aufarbeiten: Was ist da alles<br />
schiefgelaufen? Was habe ich auch für Schaden angerichtet?<br />
Dieser Weg wird kein leichter sein. Das ist<br />
schon etwas, das man auch verlangen muss. Ja, Antisemiten<br />
sollten die Möglichkeit haben, sich zu deradikalisieren<br />
und zurückzukommen in die Gesellschaft.<br />
Aber das ist ein Prozess und nichts, was man in<br />
einem Drei-Minuten-Video nachts um halb eins ins<br />
Internet stellt und danach wieder in die Talkshows<br />
eingeladen wird.<br />
8 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
Die Massenzustrom-Richtlinie: Fremdenrechtlicher<br />
Status und Arbeitsmarktzugang<br />
für Vertriebene aus der Ukraine<br />
Bezahlte Anzeige<br />
Die EU-Ebene<br />
Die Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20.7.2001 (RL)<br />
existiert schon seit 2001. Durch die Umsetzung der RL ist ein vorübergehender<br />
Schutz von Drittstaatsangehörigen unabhängig von einem Flüchtlingsstatus<br />
möglich. Allerdings scheiterte eine „Aktivierung“ der RL sogar noch im<br />
Zuge des Syrien-Konfliktes 2015 am politischen Willen einiger Mitgliedstaaten.<br />
In Folge der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine ab dem<br />
24.2.<strong>2022</strong> wurde nun erstmals ein entsprechender Durchführungsbeschluss<br />
auf EU-Ebene gefasst. Dieser gilt im Wesentlichen für ukrainische Staatsangehörige,<br />
die vor dem 24.2.<strong>2022</strong> ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten, für<br />
Staatenlose und Drittstaatsangehörige, die vor diesem Datum in der Ukraine<br />
internationalen oder gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben,<br />
samt Familie.<br />
Status in Österreich<br />
Im Zuge der Durchführung der RL ist Österreich nun verpflichtet, für die gesamte<br />
Dauer des zu gewährenden Schutzes (derzeit bis März 2023, verlängerbar)<br />
Mindestanforderungen zu erfüllen bzw. den Vertriebenen Rechte zu<br />
gewähren, wie zum Beispiel einen Aufenthaltstitel (Vertriebenen-Ausweis),<br />
die Erlaubnis einer abhängigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit, Bildungsangebote,<br />
soziale Sicherheit im Rahmen der Arbeit, angemessene Unterkunft,<br />
Zugang zum öffentlichen Bildungssystem usw.<br />
Österreich hat auf Basis dieser Vorgaben die so genannte VertriebenenVO<br />
erlassen. Der genannte Personenkreis erhält ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht;<br />
jene, die vor dem 24.2.<strong>2022</strong> die Ukraine verlassen haben, sind jedoch<br />
auf die Stellung eines Asylantrags angewiesen.<br />
Der Ausweis für Vertriebene in Form einer „Blauen Karte“ bildet zugleich<br />
einen Aufenthaltstitel und ein Mittel zum Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine Registrierung<br />
reicht für den Erhalt, ein Asylantrag ist nicht erforderlich. Im Mai<br />
<strong>2022</strong> waren über 50.000 Vertriebene in der Grundversorgung aufgenommen,<br />
es hatten sich aber schon 71.800 von ihnen in Österreich als Vertriebene<br />
registriert.<br />
Das Aufenthaltsrecht der Vertriebenen gilt derzeit ab der Einreise bis<br />
3.3.2023 und verlängert sich, falls es nicht zuvor für beendet erklärt wird, automatisch<br />
um jeweils sechs Monate, höchstens jedoch um ein Jahr. Durch<br />
eine weitere Verordnung vom 11.3.<strong>2022</strong> ist auch die Öffnung der Krankenversorgung<br />
für ukrainische Vertriebene erfolgt.<br />
Arbeitsmarkzugang<br />
Für die Dauer des vorübergehenden Schutzes ist auch für Vertriebene der<br />
volle Arbeitsmarktzugang gegeben, egal ob sie einer angestellten oder<br />
selbständigen Tätigkeit nachgehen wollen. Bildungsangebote für Erwachsene<br />
und berufliche Fortbildung sind ebenso verfügbar, wobei die allgemeinen<br />
Rechtsvorschriften betreffend das Arbeitsentgelt, soziale Sicherheit<br />
sowie sonstige Beschäftigungsbedingungen zu beachten sind. Im Wege eines<br />
an den Vorstand des AMS gerichteten Erlasses des Bundesministeriums<br />
für Arbeit (BMA) vom 11.3.<strong>2022</strong> wurden dafür relevante Kriterien festgelegt<br />
bzw. konkretisiert.<br />
Der Vertriebenenausweis stellt gem. § 62 Abs 1 AsylG als Aufenthaltstitel<br />
die Basis für die Beschäftigung dar. Für Personen im Besitz eines solchen<br />
Ausweises sind auf Antrag (und natürlich bei Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen)<br />
in allen Branchen Beschäftigungsbewilligungen zu erteilen,<br />
und zwar auch über die Bundeshöchstzahl gemäß § 12a Abs 1 AuslBG hinaus.<br />
Von der Arbeitsmarktprüfung/Ersatzkrafteinstellung wird abgesehen.<br />
Aus Sicht des BMA liegt es im öffentlichen Interesse, Vertriebenen weitestgehend<br />
Möglichkeiten zu eröffnen, durch eigene Erwerbstätigkeit für ihren<br />
Unterhalt aufzukommen, zumal in vielen Bereichen (Fach-)Arbeitskräfte<br />
nach wie vor dringend gesucht werden. In diesem Sinne stehen also der Bewilligungserteilung<br />
für Vertriebene auch keine „wichtigen öffentlichen und<br />
gesamtwirtschaftlichen Interessen“ entgegen.<br />
Freilich gelten die übrigen allgemeinen gesetzlichen Bedingungen für die<br />
Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung sehr wohl weiter, wie zB die Einhaltung<br />
der Lohn- und Arbeitsbedingungen, das „Wohlverhalten“ des Arbeitgebers<br />
hinsichtlich unbewilligter Beschäftigungen oder die Verständigung des<br />
Betriebsrates vor Antragstellung. Der Antrag auf Beschäftigungsbewilligung<br />
ist vom Arbeitgeber persönlich, postalisch oder auch per E-Mail und jedenfalls<br />
unter Vorlage einer beidseitigen Kopie des Vertriebenenausweises an<br />
der regionalen Geschäftsstelle des AMS zu stellen.<br />
Die Beschäftigung darf bekanntlich vor Erteilung der Beschäftigungsbewilligung<br />
nicht begonnen worden sein, sondern muss nach ihrer Erteilung<br />
- bei sonstigem Erlöschen - binnen sechs Wochen aufgenommen werden<br />
Für österreichische Betriebe könnte der Ausfall bisheriger ukrainischer<br />
Saisonkräfte, insbesondere im Bereich der Erntehelfer, durch die Beschäftigung<br />
Vertriebener substituiert werden. In den Branchen Tourismus sowie<br />
Land- und Forstwirtschaft können sogar außerhalb der Saisonkontingente<br />
Beschäftigungsbewilligungen erteilt werden können.<br />
Praktische Fragen<br />
Auf Basis des vorübergehenden Schutzes gemäß der RL (inklusive Verlängerungsmöglichkeiten)<br />
erscheint eine maximale Schutzdauer und<br />
damit Dienstvertragsdauer bis längstens 3.3.2025 denkbar. Die Befristungen<br />
der Beschäftigungsbewilligungen werden sich vorerst aber wohl am bislang<br />
feststehenden Datum 3.3.2023 orientieren.<br />
Zu bedenken ist bei der Vertragsgestaltung, dass die Befristung eines<br />
Dienstvertrags eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich<br />
ausschließt und eine Kündigung nur bei Existenz einer vorab geschlossenen,<br />
wirksamen Kündigungsvereinbarung möglich ist. Die Befristung<br />
hat aus Sicht des Dienstgebers andererseits den Vorteil, dass ein auf<br />
Dauer der Beschäftigungsbewilligung befristeter Arbeitsvertrag automatisch<br />
mit dem Ablauf derselben endet. Wir stehen Ihnen gerne beratend zur Seite.<br />
Von RA Mag.<br />
Valentin Neuser<br />
und RA Mag.<br />
Piroska Vargha
KOMMENTAR AUS GENF<br />
Antisemitismus<br />
sollte uns alle angehen<br />
Da es keine Anzeichen für ein Abklingen gibt,<br />
müssen wir Rassismus und Intoleranz ein für<br />
alle Mal beenden.<br />
Kurz bevor das Treffen der International<br />
Holocaust Remembrance Alliance<br />
(IHRA) diesen Sommer in Stockholm<br />
stattfand, wurde mir die Ehre erteilt,<br />
im europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss<br />
in Brüssel zum Thema Antisemitismus zu sprechen.<br />
Ein Thema, mit dem ich mich täglich im<br />
Rahmen meiner Arbeit, aber als Enkel von Holocaust-Überlebenden<br />
auch in einem persönlicheren<br />
Kontext auseinandersetze.<br />
Bedauerlicherweise ist der Antisemitismus fast<br />
80 Jahre nach dem Holocaust wieder auf dem Vormarsch,<br />
angeheizt durch Verschwörungsmythen<br />
und angetrieben durch die sozialen Medien. Während<br />
der Covid-19-Pandemie haben wir beispielsweise<br />
einen starken Anstieg des Hasses auf der<br />
ganzen Welt erlebt. Menschen wurden beschuldigt,<br />
das Virus verursacht, und/oder davon profitiert<br />
zu haben. Gleichzeitig fand auch eine massive<br />
Verharmlosung des Holocaust statt, indem Antiimpfdemonstranten<br />
gelbe Sterne trugen oder die<br />
Quarantänemaßnahmen mit den Erfahrungen<br />
von Anne Frank verglichen wurden.<br />
Was vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich<br />
ist, ist die Tatsache, dass der heutige Antisemitismus<br />
nicht nur für Juden, die er am unmittelbarsten<br />
und direktesten trifft, sondern auch für<br />
Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinschaft<br />
ein ernstes Problem darstellt.<br />
Antisemitismus bezeichnet zwar den Hass auf<br />
das jüdische Volk, bedroht aber alle Gesellschaf-<br />
Von Leon Saltiel<br />
Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt,<br />
dass sich hasserfüllte Äußerungen, die sich<br />
zunächst gegen Juden richten, bald auf andere<br />
Mitglieder der Gesellschaft ausweiten.<br />
ten, und sein Ausmaß ist stets ein Indikator für<br />
umfassendere Probleme. Als „ältester Hass“ der<br />
Welt deckt er die Schwächen jeder Gesellschaft<br />
auf, und obwohl Jüdinnen und Juden oft die Ersten<br />
sind, die zu Sündenböcken gemacht werden,<br />
sind sie leider nicht die Letzten. Die Geschichte hat<br />
uns immer wieder gelehrt, dass sich hasserfüllte<br />
Äußerungen, die sich zunächst gegen Juden richten,<br />
bald auf andere Mitglieder der Gesellschaft<br />
ausweiten.<br />
Darüber hinaus gibt es Antisemitismus unabhängig<br />
von der Größe oder Präsenz einer jüdischen<br />
Gemeinde. Wie die Generaldirektorin der<br />
UNESCO, Audrey Azoulay, erläutert, braucht es für<br />
den Antisemitismus nicht einmal die Anwesenheit<br />
einer jüdischen Gemeinde, um sich auszubreiten,<br />
denn es „gibt ihn in religiösen, sozialen und politischen<br />
Formen und Gestalten und auf allen Seiten<br />
des politischen Spektrums“.<br />
Jüdinnen und Juden werden gleichzeitig als „kapitalistisch“<br />
und „kommunistisch“ angegriffen, als<br />
reich und arm, als inselhaft und kosmopolitisch.<br />
Sie werden beschuldigt, die Welt zu kontrollieren,<br />
mal als Puppenspieler, mal als Marionetten, und<br />
egal wie: Heimlich steuern sie in jedem Fall Medien,<br />
Regierungen und die Weltwirtschaft.<br />
Die Ironie dabei ist, dass so sehr der Antisemitismus<br />
„die Juden“ in den Mittelpunkt all dessen<br />
stellt, was in der Welt schief läuft, so wenig hat der<br />
antisemitische Diskurs selbst mit Juden zu tun.<br />
Kurz nach der Befreiung von Paris von den Nazis<br />
schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre,<br />
der Antisemit sei „ein Mann, der Angst hat“.<br />
Er habe Angst „nicht vor den Juden, um sicher zu<br />
sein, sondern vor sich selbst, vor seinem eigenen<br />
Bewusstsein, seiner Freiheit, seinen Instinkten,<br />
seiner Verantwortung, der Einsamkeit, der Veränderung,<br />
der Gesellschaft und der Welt – vor allem<br />
außer den Juden“. Und Sartre fügte hinzu: „Wenn<br />
es den Juden nicht gäbe, würde der Antisemit ihn<br />
erfinden.“<br />
© Shahar Azran ; Swen Pfˆrtner / dpa / picturedesk.com<br />
Antisemitismus geht auch mit antidemokratischer<br />
Politik einher, seine Verschwörungsmythen<br />
schaffen bzw. stärken eine Wählerschaft, der es an<br />
kritischem Urteilsvermögen mangelt, die sich mit<br />
populistischen Antworten zufrieden gibt, die zu einer<br />
illiberalen Politik und zu Extremen neigt und<br />
damit leicht manipulierbar wird. Es ist kein Zufall,<br />
dass die Schnittmenge jener Menschen, die antisemitisches<br />
Gedankengut äußern und jenen, die<br />
der Anti-Vax-Bewegung angehören, recht groß ist.<br />
Und es ist wohl kein Zufall, dass es während der<br />
Covid-19-Pandemie einen alarmierenden Anstieg<br />
antisemitischer Vorfälle weltweit gab.<br />
Der aktuell aufkeimende Antisemitismus richtet<br />
sich in erster Linie nicht gegen Juden, die zahlenmäßig<br />
eine kleine Minderheit in Europa darstellen.<br />
Vielmehr wirkt er sich, wenn er nicht<br />
eingedämmt wird, auf die gesamte Bevölkerung<br />
aus, da er Vorurteile und aktive Diskriminierung<br />
in der europäischen Gesellschaft ermöglicht und<br />
damit moderne Demokratien, die Rechtsstaatlichkeit<br />
und die Durchsetzung der Menschenrechte<br />
bedroht. Abgesehen von dem unsäglichen Leid<br />
und Schmerz hat diese Pandemie gezeigt, dass wir<br />
nicht nur gegen einen Virus ankommen müssen –<br />
die in unseren Gesellschaften tief verwurzelte Intoleranz<br />
sowie ein beachtliches Bildungsdefizit gilt<br />
es ebenso zu besiegen.<br />
Im Oktober 2021 haben sich auf dem Internationalen<br />
Forum zum Holocaust-Gedenken und zur<br />
Bekämpfung des Antisemitismus zahlreiche europäische<br />
Regierungen und NGOs in Malmö verpflichtet,<br />
dafür etwas zu tun. Und tatsächlich sind<br />
seitdem beachtliche Fortschritte erzielt worden.<br />
Die erste EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus<br />
und zur Förderung des jüdischen<br />
Lebens, die 2021 vorgelegt wurde und von Ka-<br />
Antisemitismus<br />
bedroht nicht nur<br />
Juden, sondern die<br />
gesamte<br />
Gesellschaft.<br />
Wir müssen Rassismus und Intoleranz ein für<br />
alle Mal beenden und den künftigen Bürgern<br />
und Bürgerinnen die grundlegenden Werte<br />
von Demokratie und Toleranz vermitteln.<br />
tharina von Schnurbein und ihrem engagierten<br />
Team koordiniert wird, oder der Aktionsplan des<br />
UN-Sonderberichterstatters für Religions- und<br />
Glaubensfreiheit stellen beispielsweise wichtige<br />
Maßnahmen dar. Der Jüdische Weltkongress als<br />
Vertreter des jüdischen Volkes unterstützt nachdrücklich<br />
diese wichtigen Schritte in ihrer Umsetzung.<br />
Wir müssen gemeinsam unsere Anstrengungen<br />
verdoppeln, um Rassismus und Intoleranz ein<br />
für alle Mal aus der Welt zu schaffen und eine Bildungspolitik<br />
zu ermöglichen, die künftige Bürgerinnen<br />
und Bürger mit den Werten der Demokratie,<br />
der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der<br />
anderen vertraut macht. Wir brauchen jede und<br />
jeden in diesem Kampf um die Zukunft Europas,<br />
so auch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss,<br />
der als Plattform der europäischen<br />
Zivilgesellschaft in der Lage ist, ein wichtiger Verbündeter<br />
zu sein.<br />
Wir haben keine Zeit zu verlieren!**<br />
Leon Saltiel ist Vertreter des<br />
Jüdischen Weltkongresses bei den<br />
Vereinten Nationen in Genf und bei<br />
der UNESCO sowie deren Koordinator<br />
für die Bekämpfung des<br />
Antisemitismus.<br />
* Das IHRA-Treffen fand Ende Juni in Stockholm statt: www.holocaustremembrance.com.<br />
** Aus der Rede vor der Fachgruppe für Außenbeziehungen des europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel am 9. Juni <strong>2022</strong>.<br />
10 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
11
Diplomat & Realpolitiker<br />
Historiker & Berater<br />
„STUDIEREN SIE GESCHICHTE!“<br />
Henry Kissinger legt mit 99 Jahren<br />
ein ausgreifendes und anregendes<br />
Werk über Staatskunst und sechs<br />
eminente politische Persönlichkeiten<br />
des 20. Jahrhunderts vor.<br />
Von Alexander Kluy<br />
© Ting Shen Xinhua / Eyevine / picturedesk.com<br />
Henry Kissinger ist in<br />
den vergangenen 45 Jahren<br />
politischer Denker, gefragter<br />
Berater und zugleich Buchautor<br />
gewesen.<br />
Geschichte von der Warte<br />
großer Menschen aus erzählen?<br />
Wie altmodisch.<br />
Und dann noch deskriptive<br />
Geschichtsschreibung!<br />
Wie altbacken, würden akademische<br />
Historiker schaudernd antworten,<br />
die in den letzten zwei Generationen der<br />
Historiografie diverse, in sich komplex<br />
fragmentierte Konzepte entwickelten,<br />
Geschichte zu schreiben.<br />
Henry Kissinger, am 27. Mai 1923 in<br />
Fürth bei Nürnberg geboren – Fürth war<br />
seit alters in Franken Heimat für Juden<br />
gewesen, die sich in der viel größeren alten<br />
Handelsstadt Nürnberg nicht niederlassen<br />
durften –, somit 99 Jahre jung und<br />
1938 mit Familie nach New York entkommen,<br />
erzählt die Geschichte großer Menschen.<br />
Geschichte, die er erlebt, mitgeprägt,<br />
sehr lang begleitet hat. Er ist in den<br />
vergangenen 45 Jahren politischer Denker,<br />
gefragter Berater und Buchautor gewesen.<br />
Welcher lebende Politiker kann<br />
schon von sich behaupten, den Friedensnobelpreis<br />
bekommen zu haben und sieben<br />
Jahre später, 1980, den National Book<br />
Award in History, einen der wichtigsten<br />
Buchpreise der USA, und zwar für Teil I<br />
seiner Memoiren – und 32 Jahre später<br />
die Israelische Präsidenten-Medaille für<br />
das Lebenswerk?<br />
Zugleich ist Kissinger im progressiven<br />
politischen Spektrum noch heute hochumstritten,<br />
ja, wird angefeindet. Der<br />
Brite Christopher Hitchens, der zuvor<br />
Mutter Teresa und Lady Diana „entzauberte“,<br />
verfasste 2001 mit Die Akte Kissinger<br />
ein buchlanges Traktat voller Anwürfe,<br />
das auch ins Deutsche übersetzt wurde.<br />
Sechs „Führungspersönlichkeiten“<br />
porträtiert Kissinger in Staatskunst: den<br />
deutschen Nachkriegskanzler Konrad<br />
Adenauer, den Franzosen und General<br />
Charles de Gaulle, den US-Präsidenten<br />
Richard Nixon – Kissinger war dessen<br />
nationaler Sicherheitsberater, ehe er als<br />
Außenminister amtierte –, den ägyptischen<br />
Staatspräsidenten Anwar el-Sadat,<br />
Lee Kuan Yew aus Singapur und die britische<br />
Premierministerin Margaret Thatcher.<br />
Allen begegnete Kissinger „auf dem<br />
Höhepunkt ihres Wirkens“.<br />
„Große Staatskunst<br />
ist mehr als<br />
die Beschwörung<br />
eines vorübergehenden<br />
Hochgefühls;<br />
sie erfordert<br />
die Fähigkeit,<br />
langfristig zu inspirieren<br />
und eine<br />
Vision am Leben<br />
zu erhalten.“<br />
Henry Kissinger in<br />
Staatskunst<br />
Henry Kissinger:<br />
Staatskunst. Sechs<br />
Lektionen für das<br />
21. Jahrhundert.<br />
Übersetzt von Henning<br />
Dedekind u. a.<br />
Bertelsmann <strong>2022</strong>,<br />
608 S., € 39,10<br />
gen, Bildung und Charakter aufbauende<br />
Strategien entwickelt und von deren<br />
Endzielen durchdrungen ist.<br />
Das Essenzielle, ja, geradezu Unverzichtbare,<br />
das bei jeder und jedem der<br />
Porträtierten in aller Deutlichkeit aufscheint,<br />
ist: Moral, moralische Verpflichtungen,<br />
ein moralisches Fundament.<br />
Krasser hätte Kissinger, der „Realpolitiker“,<br />
seine in mehreren Jahren geschriebene<br />
Darstellung von Ethos und<br />
Kraft nicht wider aktuelle Tendenzen<br />
in Europa, Asien und den USA ausrichten<br />
können. Zu schweigen, welchem aktiven<br />
Politiker im höchsten Staatsamt er<br />
wie de Gaulle die Attribute Leidenschaft,<br />
Eleganz und Eloquenz zuweisen würde.<br />
Auf diesen, den so geschichtsbewussten<br />
Kenner französischer Geschichte<br />
und, nebenbei erwähnt, großartigen Stilisten<br />
– seine „Mémoires“ wurden sehr<br />
geschichtsbewusst im Jahr 2000 in die<br />
Bibliothèque de Pléïade, den Pantheon<br />
klassischer französischer Literatur, auf-<br />
Moralische Verpflichtungen. Leadership,<br />
auf Deutsch das bei vielen Gänsehaut<br />
auslösende Wort „Führung“, hat vor drei<br />
Jahren der englische Historiker Andrew<br />
Roberts in seinem Buch Leadership in War<br />
formuliert, wird zwar im Allgemeinen<br />
mit einer ihr innewohnenden Tugend –<br />
froh, wer dieses Substantiv in der politischen<br />
Manege noch kennt! – in direkte<br />
Verbindung gebracht. Tatsächlich aber,<br />
so der Napoleon- wie Churchill-Biograf,<br />
ist es „moralisch völlig neutral“ und<br />
„ebenso fähig, die Menschheit an den Abgrund<br />
wie auch auf das sonnenbeschienene<br />
Hochland zu führen. Es ist eine<br />
Urgewalt mit entsetzlicher Kraft.“ Kissinger<br />
ergänzt sehr bewusst: eine Kraft,<br />
die durch unsere Bemühungen auf moralische<br />
Ziele hin auszurichten sei.<br />
Sein Buch ist ein Loblied auf die Diplomatie:<br />
mit der Gegenwart im Blick, aber<br />
darüber hinausschauend auf politischen<br />
Wagemut – eine besonders im Finale gepriesene<br />
Eigenschaft, die sich nicht an<br />
Meinungsumfragen orientiert und deren<br />
quecksilbrig oszillierende Momentaufnahmen<br />
als zittrige Handlungsgrundlage<br />
nimmt, sondern auf tiefen Überzeugungenommen<br />
–, münzt Kissinger eine brillante<br />
Beobachtung: Für den Franzosen<br />
sei Politik nicht die Kunst des Möglichen<br />
gewesen, vielmehr die Kunst des<br />
Gewollten.<br />
Henry Kissinger ist ein eminenter Historiker.<br />
Er machte an der Harvard University<br />
als Metternich-Kenner Karriere,<br />
seine 1957 als Buch veröffentlichte historische<br />
Dissertation ist bis heute ein Standardwerk<br />
über europäische Geschichte<br />
in den ersten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts,<br />
und einer seiner Lieblingssätze ist<br />
Churchills Empfehlung „Studieren Sie<br />
Geschichte!“<br />
Er blickt aber auch auf 60 Jahre Erfahrung<br />
in der Politik zurück und begann<br />
seine Laufbahn bereits während der<br />
Kennedy-Administration 1961.<br />
In seinem neuen Buch nimmt er einen<br />
großen Pinsel, um Entwicklungen nachzuzeichnen.<br />
Dabei gehen, nicht zuletzt<br />
ob seiner transatlantischen Perspektive,<br />
hie und da aufschlussreiche, psychologisch<br />
signifikante Details verloren, es<br />
finden sich einige historische Schnitzer<br />
und gelegentlich Weichgezeichnetes. Dafür<br />
entschädigt reichlich anderes, in erster<br />
Linie die Wiedergabe erinnerter und<br />
lebendig nachgezeichneter Gespräche.<br />
Der Band, der mit Reflexionen über<br />
Ukraine-Krieg, China, die USA ausklingt,<br />
ist eine anregende Lektüre. Man will sich<br />
gar nicht die Frage stellen, über welche<br />
Staatsmänner und -frauen der ersten 20<br />
Jahre des 21. Jahrhunderts jemand eine<br />
solche Porträtgalerie verfassen könnte.<br />
So mancher Spötter wettet da gerade einmal<br />
auf eine Broschüre, ein Faltblatt. Wie<br />
schreibt Kissinger: „Große Staatskunst ist<br />
mehr als die Beschwörung eines vorübergehenden<br />
Hochgefühls; sie erfordert die<br />
Fähigkeit, langfristig zu inspirieren und<br />
eine Vision am Leben zu erhalten.“<br />
12 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
13
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Yair, Benny oder Bibi?<br />
Heißer Sommer in Israel<br />
Die Kandidaten sind die gleichen, nur treten<br />
sie diesmal in anderen Funktionen gegeneinander<br />
an. Offen ist, ob die fünfte Wahl<br />
innerhalb von weniger als vier Jahren in Israel<br />
stabile Verhältnisse schaffen kann.<br />
Ein Jahr und eine Woche hat das gesellschaftlich<br />
und politisch womöglich interessanteste<br />
Experiment in der westlichen<br />
Welt angehalten, dann haben die<br />
beiden Verantwortlichen das Handtuch geworfen.<br />
Premierminister Naftali Bennett und Außenminister<br />
Yair Lapid sahen zuletzt keinen vernünftigen<br />
Weg mehr, mit ihrer Acht-Parteien-Koalition<br />
effektiv weiter zu regieren. Diese wird aber trotzdem<br />
in die Geschichte eingehen. Allein schon ihre<br />
Existenz bedeutet ein neues Kapitel, denn sie hat<br />
ideologisch völlig unterschiedliche Gruppen zur<br />
pragmatischen Zusammenarbeit veranlasst. Bis<br />
dahin hätte das wahrscheinlich niemand überhaupt<br />
für möglich gehalten.<br />
Über die Bilanz lässt sich streiten. Von Anfang an<br />
war klar gewesen, dass der Spielraum beschränkt<br />
sein würde. Denn der gemeinsame Nenner hieß:<br />
Hauptsache nicht mehr Bibi. Aber immerhin war<br />
so erstmals nach drei Jahren ein Haushalt verabschiedet<br />
worden, konnten überfällige Entscheidungen<br />
getroffen werden. Die Minister und<br />
Ministerinnen haben die Hemdsärmel hinaufgekrempelt<br />
und sich im Rahmen des Möglichen<br />
ans Werk gemacht, in einem erfrischend<br />
umgänglichen Ton. Inhalte waren<br />
wichtiger als die Diskreditierung des Geg-<br />
Von Gisela Dachs<br />
Von Anfang an war klar gewesen, dass<br />
der Spielraum beschränkt sein würde.<br />
Denn der gemeinsame Nenner hieß:<br />
Hauptsache nicht mehr Bibi.<br />
ners. Das gab es so lange nicht. Bennett und Lapid,<br />
der jetzt als Übergangspremier die Geschäfte<br />
übernommen hat, standen für ein neues Politikverständnis.<br />
Wenigstens eine Weile.<br />
Jetzt aber ist erneut Wahlkampf. Gewählt wird<br />
am 1. November – zum fünften Mal in weniger als<br />
vier Jahren. Um das Amt des Premiers streiten sich<br />
Lapid, Verteidigungsminister Benny Gantz und<br />
Oppositionschef Benjamin Netanjahu. Nichts aber<br />
garantiert, dass sich die Machtverhältnisse verändern<br />
werden. Denn was die bisherige Regierung<br />
zusammengebracht hat, war die Abneigung gegen<br />
Netanjahu, der wegen Korruptionsvorwürfen vor<br />
Gericht steht. Bibi ist in einem Paradox gefangen.<br />
Solange er da ist, werden viele sich einer Koalition<br />
mit seiner Partei verweigern. Das könnte bedeuten,<br />
dass er – wie zuletzt schon drei Mal hintereinander<br />
– auch beim nächsten Versuch wieder<br />
scheitern könnte, eine Regierung zu bilden.<br />
Würde er hingegen abtreten, stünde einer großen,<br />
stabilen Koalition nichts im Weg.<br />
Sein Comeback ist möglich, es bräuchte nur wenige<br />
Abtrünnige, seine Kandidatur könnte aber<br />
auch das Land weiter in die Unregierbarkeit treiben.<br />
Zwar ist eine knappe Mehrheit der Israelis (51<br />
Prozent) durchaus dafür, Neuwahlen abzuhalten,<br />
aber 57,7 Prozent gehen nicht davon aus, dass danach<br />
eine stabile Regierung entstehen wird.<br />
Jetzt aber verspricht der Ex-Premier auf den sozialen<br />
Medien erst einmal billigere Preise. Auf Tik-<br />
Tok steht er mit einer Milchflasche in der Hand vor<br />
der Kamera in einem Supermarkt und sagt, dass<br />
unter ihm alles sowieso viel besser werden würde.<br />
Die vielen positiven Reaktionen werden einzeln<br />
prompt beantwortet. Jede Stimme zählt. Es gibt<br />
© ATEF SAFADI / AFP / picturedesk.com<br />
aber auch solche, die an die hohen Benzinpreise<br />
von 2012 erinnern, als Bibi als Regierungschef fest<br />
im Sattel saß. Seine Fans lässt das kalt.<br />
Netanjahus Likud-Partei bringt es in den Umfragen<br />
auf 34 von 120 Mandate, so viel wie derzeit<br />
keine andere. Fraglich ist, ob sich seine Anhänger<br />
von den jüngsten Zeugenaussagen abschrecken<br />
lassen, die beschreiben, wie das regierende<br />
Ehepaar Netanjahu von dem Hollywood-Produzenten<br />
Arnon Milchan über die Jahre einen steten<br />
Zufluss an Champagner, Zigarren und Schmuck als<br />
selbstverständliche Geschenke eingefordert hat.<br />
Im Gegenzug arrangierte Bibi für seinen reichen<br />
„Freund“ eine Verlängerung dessen US-Visums.<br />
Demgegenüber versucht sich Lapid, der eigentliche<br />
Architekt der bisherigen Koalition, in<br />
seiner neuen Rolle zu profilieren. Er präsentiert<br />
sich als würdiger Staatsmann, trifft sich mit Joe<br />
Biden und Emmanuel Macron. Noch bastelt er an<br />
der Liste seiner Zukunftspartei. Dabei soll erstmal<br />
auch ein arabischer Kandidat auf einen aussichtreichen<br />
Platz gesetzt werden. Damit will Lapid signalisieren,<br />
dass die Zeit der jüdisch-arabischen<br />
Kooperation – wie sie in der bisherigen Regierung<br />
mit der Vereinten Arabischen Liste von Mansour<br />
Abbas möglich war – keine Eintagsfliege war.<br />
Offen ist auch die Frage nach Neuzugängen,<br />
mit denen sich punkten lässt. Zu Letzteren gehört<br />
der ehemalige Generalstabschef Gadi Eisenkot,<br />
der wie viele seiner Vorgänger nach dem Ausscheiden<br />
aus der Armee in der Politik als ein großes<br />
Auch Staatsmänner<br />
haben<br />
Spaß Joe Biden<br />
trifft Yair Lapid<br />
in Israel. Lapid<br />
gilt als Architekt<br />
der aktuellen<br />
Koalition.<br />
Plus gehandelt wird. Der Israeli mit orientalischen<br />
Wurzeln ist zudem populär und ein Kind der Arbeiterklasse.<br />
Gleich mehrere Parteien werben<br />
um ihn. Die größten Chancen rechnet sich Lapids<br />
Zukunftspartei aus. Um Eisenkot aber wirbt auch<br />
Benny Gantz, der mittlerweile auch erneut Interesse<br />
am Posten des Premiers signalisiert hat. Dazu<br />
Demgegenüber versucht sich Lapid,<br />
der eigentliche Architekt der<br />
bisherigen Koalition, in seiner<br />
neuen Rolle zu profilieren.<br />
hat sich sein Blau-Bündnis mit Gideon Sa’ars Partei<br />
der neuen Hoffnung zusammengetan.<br />
Darüber hinaus werden bis zur Wahl auch noch<br />
andere neue Allianzen erwartet. Denn einige Parteien<br />
könnten es im Alleingang nicht über die<br />
3,25-Prozent-Hürde schaffen, dazu gehören auch<br />
Yamina, die künftig statt von Naftali Bennett (der<br />
sich aus der Politik erst einmal zurückgezogen hat)<br />
von Ayelet Shaked angeführt wird, Meretz und die<br />
Vereinte Arabische Liste von Mansour Abbas. Die<br />
Rede ist davon, dass sich die Arbeitspartei mit Meretz<br />
zusammentun könnte. Alles andere wird sich<br />
in den nächsten Monaten finden.<br />
So oder so wird es ein heißer Sommer werden.<br />
14 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
15
INTERVIEW MIT NIKOLAUS LUTTEROTTI<br />
Das Leben hier ist<br />
vielschichtiger, als man<br />
es von Weitem mitbekommt<br />
Seit letztem März ist die Residenz der Österreichischen Botschaft in<br />
Herzlia wieder bewohnt. Nikolaus Lutterotti kam am Höhepunkt<br />
einer neuen Terrorwelle in Israel an. Daniela Segenreich sprach mit dem<br />
Botschafter über seine ersten Eindrücke, berufliche Schwerpunkte und<br />
persönliche Pläne in „seinem neuen Land“.<br />
© Daniela Segenreich<br />
16 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
Nikolaus Lutterotti_Botschafter_GRj_korrAH_END.indd 16 25.07.22 13:41
Verbindungen weiter ausbauen<br />
Botschafter Lutterotti<br />
sieht viel Potenzial in<br />
der Intensivierung der<br />
bilateralen wirtschaftlichen<br />
Beziehungen.<br />
„Das ist für uns<br />
keine Selbstverständlichkeit,<br />
dass diese<br />
Menschen<br />
wieder Österreicher<br />
sein<br />
wollen, und wir<br />
sind dankbar<br />
und froh, wenn<br />
sie mit dieser<br />
Heimat, die<br />
ihnen entrissen<br />
wurde, wieder<br />
eine Verbindung<br />
aufbauen<br />
wollen.“<br />
Nikolaus Lutterotti<br />
Chancen eines verstärkten Besuchsaustausches. Und<br />
jeder dieser Besuche bringt natürlich auch konkrete<br />
Projekte mit sich. Wir haben erst kürzlich ein Memorandum<br />
of Understanding zum Jugendaustausch unterschrieben.<br />
Und Nationalratspräsident Sobotka hat<br />
bei seinem Aufenthalt hier ein Memorandum unterschrieben,<br />
um die Kooperation der Parlamente<br />
in einigen Bereichen zu verstärken.<br />
Sehr viel Potenzial besteht auch in einer Intensivierung<br />
unserer bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen.<br />
Da würde ich mich gerne stark engagieren<br />
und ein Netzwerk mit weiteren potenziellen Partnern<br />
in Österreich aufbauen. Beispielsweise hat Österreich<br />
Israel im Bereich der Verkehrsinfrastruktur<br />
einiges zu bieten, aber auch in Bereichen wie Energieeffizienz<br />
oder nachhaltige Städteplanung. Und<br />
andererseits hat Österreich großes Interesse an Israels<br />
Hightech-Sektor.<br />
Wichtig ist auch der Austausch zwischen den<br />
Menschen, besonders der Jugendaustausch, da haben<br />
wir jetzt schon konkrete Maßnahmen gesetzt.<br />
Auch der Gedenkdienst und der Zivildienst und<br />
das Programm Understanding Israel sind wichtige Aspekte,<br />
die wir weiterführen müssen, und der Studentenaustausch<br />
im Rahmen des europäischen Austauschprogramms<br />
Erasmus plus. Das sind prägende<br />
Erfahrungen für junge Menschen und auch für das<br />
Verständnis Israels und der Region sehr wichtig.<br />
In diesem Zusammenhang schaffen auch die Verleihungen<br />
der vielen Staatsbürgerschaften an die<br />
Nachfolger der Opfer des Nationalsozialismus eine<br />
ganz starke Verbindung mit vielen neuen Österreicherinnen<br />
und Österreichern hier im Land. Wir haben<br />
bereits über 6.000 Staatsbürgerschaften vergeben.<br />
Das wird weitergehen, und das ist nicht nur ein<br />
Signal der Bereitschaft Österreichs zur historischen<br />
Verantwortung, es ist auch ein Angebot an jene Nachfahren,<br />
wieder ein Stück ihrer Familiengeschichte<br />
zurückzubekommen.<br />
Und es ist natürlich eine ganz starke menschliche<br />
Verbindung, die da zwischen Menschen in Israel<br />
und Österreich entsteht. Ich glaube, darin liegt<br />
eine große Kraft, damit unsere Beziehungen auch<br />
nachhaltig positiv besetzt bleiben. Ich werde auch<br />
das fortsetzen, was meine Vorgängerin Hannah Liko<br />
begonnen hat, und denjenigen, die das wünschen,<br />
diese Staatsbürgerschaft in einer formellen Zeremonie<br />
bei uns an der Botschaft überreichen. Das ist für<br />
uns keine Selbstverständlichkeit, dass diese Menschen<br />
wieder Österreicher sein wollen, und wir sind<br />
dankbar und froh, wenn sie mit dieser Heimat, die<br />
ihnen entrissen wurde, wieder eine Verbindung aufbauen<br />
wollen.<br />
Und für Sie persönlich? Sie sind ja noch nicht „richtig angekommen“,<br />
Ihre Familie ist noch nicht hier, Ihre Möbel<br />
und persönlichen Sachen. Wie sind Ihre ersten Eindrücke<br />
und Ihre persönlichen Pläne?<br />
I Es ist schön zu sehen, wie positiv und freundlich<br />
man hier als Repräsentant Österreichs empfangen<br />
wird. Welche Sympathien die Leute, zumindest jene,<br />
mit denen ich zusammengetroffen bin, gegenüber<br />
Österreich haben. Es ist auch schön zu sehen, wie<br />
viele Kontraste und Diversität das Land bietet – Tel<br />
Aviv mit seinem dynamischen Leben, Jerusalem mit<br />
seiner Geschichte, ich bin an der Küste entlanggefahren,<br />
ich war in Haifa und Akko, habe ein bisschen<br />
etwas sehen können und freue mich, das Land<br />
bald noch weiter entdecken zu können. Es soll ja hier<br />
auch sehr schöne Wanderungen geben. Ich bin ja<br />
noch ganz am Anfang meiner Zeit hier, ich möchte<br />
so viel wie möglich lernen und aufsaugen. Insgesamt<br />
freue mich sehr auf diese vier Jahre hier in Israel, ich<br />
glaube, das wird eine wunderbare Zeit.<br />
18 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
Wunschposten Israel<br />
© Daniela Segenreich<br />
WINA: Sie sind mitten in der letzten Welle von Terroranschlägen<br />
hier gelandet und erwarten demnächst auch<br />
Ihre Frau und Ihre Tochter, die noch bis Ende des Schuljahres<br />
in Belgrad waren. Gibt es da keine Befürchtungen?<br />
Nikolaus Lutterotti: Natürlich beschäftigt man sich<br />
auch beruflich mit der Sicherheitslage der Region,<br />
und die Serie von Anschlägen gibt einem da auch zu<br />
denken. Aber es ist ja so, dass man durch die Medien<br />
immer nur einen Teil des gesamten Puzzles sieht. Das<br />
Leben hier ist um einiges vielschichtiger, als man es<br />
von Weitem mitbekommt. Und ich habe in der kurzen<br />
Zeit auch schon erfahren, wie sehr die Menschen<br />
hier in Krisenzeiten zusammenhalten und sich gegenseitig<br />
helfen, man spürt da eine große Solidarität.<br />
Und persönlich fühle ich mich insgesamt eigentlich<br />
trotz allem recht sicher hier in Israel.<br />
Der Posten hier wurde ja sehr überraschend frei, nachdem<br />
Ihre Vorgängerin Hannah Liko nach Wien berufen<br />
wurde. War Israel ein seit Langem angepeiltes Wunschziel<br />
oder ein schnelles Einspringen?<br />
I Es war wohl beides. Es war überraschend, und ich<br />
habe auch gar nicht damit gerechnet, dass ich mich<br />
bewerben können würde. Aber ich habe mich sehr<br />
schnell entschieden, und es war in gewisser Weise<br />
auch ein Wunschposten. Israel hat mich immer interessiert<br />
und fasziniert – ich kenne das Land ein wenig<br />
von einigen Dienstreisen mit Sebastian Kurz –,<br />
und die Entscheidung, mich zu bewerben, ist mir<br />
dann sehr leichtgefallen.<br />
Sie haben die Dienstreisen angesprochen – österreichische<br />
Politiker haben sich vor der Corona-Zeit hier beinahe<br />
die Türklinke in die Hand gegeben, und auch jetzt sind<br />
bereits wieder zahlreiche Besuche<br />
angesagt, darunter auch im <strong>Juli</strong><br />
Überraschend und der von Kanzler Nehammer. Wie<br />
mit Überzeugung:<br />
Nikolaus Lutterotti hat<br />
kommt es, dass Israel bei österreichischen<br />
Politikern so ein beliebtes<br />
sich rasch und gerne<br />
um den neuen Posten Reiseziel ist?<br />
in Israel bemüht. I Ich glaube, im letzten Jahrzehnt<br />
ist da eine neue Beziehung<br />
entstanden, die auf noch mehr Vertrauen fußt,<br />
wir haben eine ganz neue Gesprächsbasis mit Israel<br />
gefunden, und wir haben natürlich auch viele gemeinsame<br />
Interessen. Damit hat der Besuchsaustausch<br />
sehr stark zugenommen. Ich bin erst seit<br />
wenigen Wochen hier und hatte bereits vier Delegationen<br />
zu betreuen. Das ist sehr gut und sehr positiv.<br />
Wo liegen für Sie die Schwerpunkte Ihrer Arbeit hier, und<br />
was sind Ihre persönlichen Pläne für Ihre Zeit in Israel?<br />
I Wichtig ist, dass man diesen Schwung und die Dynamik,<br />
die diese positiven Beziehungen mit sich<br />
bringen, beibehält. Die sind keine Selbstverständlichkeit<br />
und bedürfen der ständigen Pflege. Nach<br />
den Corona-Lockdowns bieten sich jetzt wieder die<br />
„Ich glaube,<br />
im letzten<br />
Jahrzehnt<br />
ist eine neue<br />
Beziehung<br />
entstanden,<br />
die auf noch<br />
mehr Vertrauen<br />
fußt.<br />
Wir haben<br />
eine ganz<br />
neue Gesprächsbasis<br />
mit Israel<br />
gefunden,<br />
und wir haben<br />
natürlich<br />
auch viele<br />
gemeinsame<br />
Interessen.“<br />
Nikolaus<br />
Lutterotti<br />
Die Verantwortung<br />
Österreichs<br />
Botschafter Nikolaus Lutterotti zum österreichischen<br />
Regierungsprogramm, in dem<br />
Israel seit 2020 speziell erwähnt wird.<br />
Er erklärt diese Erwähnung damit, dass die<br />
Beziehungen zu Israel für den damaligen<br />
Bundeskanzler Sebastian Kurz eine große Priorität<br />
gehabt hätten, was dementsprechend im<br />
Regierungsprogramm reflektiert wird. Da sei<br />
sehr viel gemacht worden, um diese Beziehung<br />
auf eine noch breitere Basis zu stellen: im Bereich<br />
der Aufarbeitung der österreichischen Geschichte,<br />
was den Holocaust betrifft, bei der<br />
Wahrnehmung der historischen Verantwortung<br />
Österreichs und auch im Kampf gegen Antisemitismus,<br />
der stark in den Vordergrund gestellt<br />
wurde. Natürlich konnte Kurz dabei auf der Vorarbeit<br />
von vorigen Regierungen aufbauen. Er<br />
habe aber einen Schwerpunkt gesetzt, die bilateralen<br />
Beziehungen mit Israel weiter stark zu<br />
verbessern und sein Augenmerk auf die Pflege<br />
dieser Beziehungen zu legen.<br />
Eine große Rolle spiele dabei auch die jüdische<br />
Gemeinde in Österreich. Da wäre in den letzten<br />
Jahren sehr viel gemacht worden, unter anderem<br />
durch das Kulturgütergesetz zur Förderung des jüdischen<br />
Lebens in Österreich und zum Schutz der<br />
jüdischen Gemeinde. Die jüdische Gemeinde sei<br />
damit ein ganz wichtiges Bindeglied in den Beziehungen<br />
zwischen Israel und Österreich.<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
Nikolaus Lutterotti_Botschafter_GRj_korrAH_END.indd 17 25.07.22 13:41
HIGHLIGHTS | 02<br />
Spazieren durch<br />
das jüdische Wien<br />
Die Covid-Pandemie brachte auch den Städtetourismus zum Erliegen. Nun<br />
ist die Innenstadt wieder voller Touristen. An sie, aber auch Wiener und Wienerinnen<br />
wendet sich das Angebot der IKG Wien, mit Walking Tours durch<br />
die Stadt das jüdische Wien zu erkunden.<br />
Ein sonniger Sommervormittag am<br />
Desider-Friedmann-Platz: Ein Soldat<br />
geht auf und ab und hat jeden<br />
im Blick, der die Straßenzüge rund<br />
um den Stadttempel betritt. Auf einem<br />
Fenster wurde ein Plakat mit der Aufschrift<br />
„Explore Fascinating Jewish Vienna“<br />
affichiert. Darauf Fotos von Führungen<br />
durch das jüdische Wien und<br />
mittendrin Walter Juraschek, der nun gegenüber,<br />
vor dem Hoteleingang, auch<br />
ganz real auf die heutigen Tourteilnehmer<br />
wartet. Angesagt haben sich Gäste<br />
aus den USA. Juraschek ist ein geprüfter<br />
Austria Guide, seit rund 15 Jahren<br />
mache er auch Touren durch das jüdische<br />
Wien, erzählt er. Inzwischen führt<br />
er diese im Rahmen des 2019 geschaffenen<br />
Infopoint Jewish Vienna der IKG<br />
durch, der seit Sommer 2021 von Viktor<br />
Zirelman geleitet wird.<br />
Der Tourismusfachmann ist derzeit<br />
dabei, das Angebot an Führungen zu<br />
erneuern und zu erweitern. Die tägliche<br />
Führung durch den Stadttempel haben<br />
Die Walking Tours führen<br />
durch die bewegte jüdische<br />
Geschichte der Innenstadt<br />
und des zweiten Bezirks.<br />
inzwischen junge Guides aus der Community<br />
übernommen – sie erzählen aus<br />
der bewegten Geschichte dieser Synagoge<br />
und der vergangenen jüdischen<br />
Gemeinden Wiens und beantworten<br />
bei Interesse auch Fragen zum jüdischen<br />
Leben in Wien heute. Mit Juni starteten<br />
zudem die Walking Tours – sie führen<br />
durch die Innenstadt, in den zweiten<br />
Bezirk oder um die Ringstraße. 45 Prozent<br />
der Palais wurde von Juden beziehungsweise<br />
jüdischen Familien erbaut,<br />
erzählt Juraschek.<br />
Er zeigt an diesem Vormittag den<br />
amerikanischen Gästen jüdische Orte<br />
von heute und damals in der Wiener Innenstadt.<br />
Vom Desider-Friedmann-Platz<br />
geht es durch die Seitenstettengasse,<br />
vorbei am Stadttempel und zum Morzinplatz.<br />
Auf einem Tablet lässt er mit<br />
historischen Aufnahmen das Hotel Metropol<br />
wiedererstehen, erzählt vor dem<br />
Denkmal für NS-Opfer zu Gedenkpolitik,<br />
reißt mit Blick über den Donaukanal kurz<br />
die Geschichte der zweiten jüdischen<br />
Gemeinde in der heutigen Leopoldstadt<br />
an. Dann geht es zurück über die<br />
Herzlstiege mit – richtig – einigen Worten<br />
zu Theodor Herzl und Zionismus, weiter<br />
durch die Judengasse zum Hohen<br />
Markt. Die Anekdote über den Weihnachtsbaum<br />
in Fanny Arnsteins Salon<br />
amüsiert die Zuhörenden – leider steht<br />
das Palais von damals, in das sich die Familie<br />
eingemietet hatte (Grunderwerb<br />
war ihr zu Beginn des<br />
19. Jahrhunderts nicht<br />
möglich), nicht mehr.<br />
Weitere Stationen<br />
an diesem Vormittag<br />
sind der Judenplatz,<br />
zentraler Ort<br />
der mittelalterlichen<br />
Gemeinde, der Kohlmarkt<br />
mit Anekdoten zu jüdischen Hoflieferanten<br />
von einst und die Dorotheergasse,<br />
wo sich das Haupthaus des<br />
Jüdischen Museums befindet. Juraschek<br />
ist es wichtig darzustellen, dass Juden in<br />
Wien zentral für die Entwicklung der Gesellschaft<br />
waren, betont er. Was er dagegen<br />
ablehnt ist so genannter Schwarzer<br />
Tourismus, also Führungen, die sich nur<br />
auf Gräueltaten konzentrieren.<br />
WINA-Special für<br />
unsere Leserinnen und Leser:<br />
Kombinieren Sie einen Besuch im Wiener<br />
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Dennoch müsse<br />
Infos und Buchungen unter<br />
die NS-Geschichte, ikg-wien.at/infopoint.<br />
aber etwa auch das<br />
blutige Ende der mittelalterlichen<br />
Gemeinde vermittelt<br />
werden, so der Guide – aber eben<br />
nicht nur. Die richtige Mischung zu finden,<br />
sei „ein Drahtseilakt“. Um die richtige<br />
Mischung geht es auch bei den weiteren<br />
Plänen Zirelmans. Gemeinsam mit<br />
Awi Blumenfeld recherchiert er weitere<br />
Details, Gebäude, Objekte, über die bei<br />
den Walking Tours erzählt werden kann.<br />
Bereits jetzt kooperiert er mit Uniworld,<br />
einem Boutique-Flusskreuzfahrtunternehmen,<br />
das seinen Reisenden die Touren<br />
durchs jüdische Wien anbietet. Dass<br />
Zirelmans Bemühungen bereits Früchte<br />
tragen, davon zeugt auch ein jüngst zuerkannter<br />
Preis: Der Infopoint Jewish Vienna<br />
erhielt den Travel and Hospitality<br />
Award <strong>2022</strong> in der Kategorie „Extraordinary<br />
Cultural Experience of Austria“. wea<br />
© IKG / Infopoint/Schmidl<br />
wına-magazin.at<br />
19
URBAN LEGENDS<br />
Auf Schritt<br />
und Tritt<br />
Wie man sich in einem Leben sein ganz persönliches Mosaik im Kopf<br />
zusammensetzt. Die Teile dafür finden sich nahezu überall, man<br />
muss nur durch die richtige Brille schauen.<br />
Jüdische Identität hat viele Facetten – aus<br />
diesen sich in seinem Leben nach und<br />
nach ein Mosaik zu bauen, ist eine davon.<br />
s gibt da so die urban legend: Wenn<br />
eine schwangere Frau durch die<br />
Stadt spaziert, sieht sie überall<br />
andere schwangere Frauen. Ähnlich<br />
geht es mir mit Hunden. Seitdem<br />
ein Chihuahua-Mädchen<br />
zu unserer Familie gehört, sehe ich sie überall: Viele<br />
Langhaar-Chihuahuas, weniger kurzhaarige wie unser<br />
Hündchen, viele mit braunem oder sandfarbigem Fell,<br />
manche mit schwarzem, einige<br />
Von Alexia Weiss<br />
mit weißem. Wer gerne elegante<br />
Handtaschen trägt, der werden<br />
besonders schöne Modelle bei anderen Spaziergängerinnen<br />
eher auffallen als sportliche Rucksäcke. Jeder<br />
hat sein ganz persönliches Set an Brillen, durch das er<br />
seine Umwelt sieht.<br />
„In jedem Urlaub findest du etwas Jüdisches, das wir<br />
uns ansehen“, sagte meine Tochter, als wir vor ein paar<br />
Wochen ein paar Tage zum Relaxen in Baden verbrachten.<br />
Aktuell ist dort im Kaiserhaus die Schau Sehnsucht<br />
nach Baden. Jüdische Häuser erzählen Geschichte(n) zu sehen.<br />
Sie bedient verschiedene interessante Erzählstränge:<br />
Da ist zum einen die Architektur und vor allem Innenarchitektur<br />
der zehn vorgestellten Villen. Da sind zum<br />
anderen die Geschichten ihrer Bewohner. Und wenn<br />
man sich diese durchliest, bilden sie wieder ein paar<br />
Puzzlesteine in diesem Vergangenheitsmosaik.<br />
Ich gebe zu: Ich liebe dieses Mosaik. Es lässt sich ständig<br />
erweitern: ob beim Lesen, beim Anschauen einer<br />
Dokumentation (wie kürzlich im ORF über den jüdischen<br />
Witz als Waffe), beim Besuch einer Ausstellung<br />
oder einem Bummel durch Wien. Und ja, da hat meine<br />
Tochter schon Recht: Wenn wir eine Stadt im Ausland<br />
besuchen, sehen wir uns das dortige jüdische Museum<br />
an oder machen eine Tour durch das (ehemalige) jüdische<br />
Viertel.<br />
Eine Gemeinsamkeit haben wir jüngst auch festgestellt:<br />
Besonders spirituell sind wir beide nicht, eigentlich<br />
gar nicht, geradeheraus gesagt. Dafür sind wir sehr<br />
politisch, und bei mir kommt irgendwie auch noch dieser<br />
Hang zur Nostalgie dazu, mit dem ich mein Kind<br />
langsam anstecke. Jüdische Identität hat viele Facetten<br />
– sich in seinem Leben nach und nach ein Mosaik<br />
zu bauen, dessen Versatzstücke jüdische Kunst, jüdische<br />
Alltagskultur durch die Jahrhunderte, Lebensgeschichten<br />
von Jüdinnen und Juden, aber auch fiktive<br />
jüdische Charakter in Literatur, Film und TV-Serien<br />
sind, ist eine davon.<br />
In Baden hatte ich beispielsweise Nathan Englanders<br />
neues Buch kaddish.com im Gepäck. Da versucht<br />
ein atheistischer Jude, den Ansprüchen seiner orthodoxen<br />
Schwester zu genügen, und lässt die Pflicht des<br />
Kaddisch-Sagens nach dem Tod des Vaters auf jemand<br />
anderen übertragen. Was grundsätzlich gut funktionieren<br />
würde, würde er nicht wieder in ein observantes<br />
Leben zurückkehren, woraus schließlich massive Gewissensbisse<br />
resultieren. Englander spielt mit einer<br />
witzigen Idee, streckenweise zieht sich die Geschichte<br />
dennoch ein wenig wie ein Strudelteig.<br />
Stichwort Sweets: Habe ich schon einmal erzählt,<br />
dass ich zwar gerne backen können würde, es mir dann<br />
allerdings doch wieder zu mühsam erscheint? Diese<br />
Anwandlungen bekomme ich nur dann, wenn ich sehe,<br />
wie jemand anderer selbst und offenbar so easy süße<br />
Köstlichkeiten fabriziert. In diesem Sommer war das<br />
Hadar Schwarzbaum (siehe Seite 25). Ihre essbaren<br />
Blumensträuße erfreuen Auge und Magen, ihre Meerestorte<br />
versetzt einen in Strandlaune. Schönen Sommer<br />
allseits!<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
20 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
Wieder Sommer genießen<br />
Die Leichtigkeit des<br />
sommerlichen Seins<br />
Text: Alexia Weiss<br />
Zwei Winter im Pandemiemodus liegen<br />
hinter uns, mit Lockdowns, Beschränkungen<br />
des Soziallebens, einem<br />
unglaublichen Organisationsaufwand<br />
vor allem für Familien, weil eines der<br />
Kinder wieder einmal quarantänebedingt<br />
zu Hause ist und betreut werden<br />
muss. Noch schwerer wiegen die<br />
Abschiede von nahe stehenden Menschen,<br />
die eine Covid-Infektion nicht<br />
überlebt haben.<br />
Und als ob diese seit nunmehr zweieinhalb<br />
Jahren angespannte Situation<br />
nicht schon genug aufs Gemüt<br />
gedrückt hätte, sitzt der Schock über<br />
den Angriffskrieg Wladimir Putins auf<br />
die Ukraine immer noch tief. Die Fotos<br />
und Filmaufnahmen, die uns seit<br />
Monaten aus der Ukraine erreich(t)<br />
en, zeigen Zerstörung und unfassbares<br />
menschliches Leid – menschengemachtes<br />
menschliches Leid. Ein Krieg<br />
ist keine Naturkatastrophe, und dennoch<br />
fühlen sich die Ohnmacht und<br />
Hilflosigkeit angesichts dessen, was<br />
derzeit in diesem europäischen Land<br />
passiert, ähnlich an.<br />
Doch wir alle müssen trotz dieser<br />
Widrigkeiten auch wieder Kraft schöpfen,<br />
Energie tanken für den nächsten<br />
Pandemiewinter und für die Fortsetzung<br />
der Flüchtlingshilfe. Denn nur<br />
wer selbst fit ist, kann auch helfen.<br />
Und so möchte Sie die WINA-Redaktion<br />
einladen zu überlegen, wie der<br />
Somme aktiv zum Aufladen unser aller<br />
Batterien genutzt werden kann.<br />
Sechs Frauen mit ganz unterschiedlichen<br />
Berufen inspirieren dabei vielleicht<br />
mit ihren Blicken auf die warmen<br />
und lichtspendenden Monate des<br />
Jahres.<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
wına-magazin.at<br />
21
Fit im Sommer<br />
Weite statt Grenze<br />
<strong>Juli</strong>a Esther Pitkovsky, 35<br />
Fitnesstrainerin und Ernährungscoach<br />
Bella Baruch, 44<br />
Faszien-Yoga-Trainerin, Shiatsu-Praktikerin und Atemtrainerin<br />
Was hat dich in die Fitnessbranche<br />
gebracht?<br />
Ich habe schon als Kind getanzt und bin ein<br />
Mensch, der immer in Bewegung ist. Mit 19 Jahren<br />
habe ich am Wingate College in Netanja die<br />
Ausbildung zur Sporttrainerin begonnen und arbeite<br />
inzwischen seit 14 Jahren als Trainerin, obwohl<br />
ich danach in Israel parallel auch Psychologie<br />
und später in Wien an der Lauder Business School<br />
Wirtschaft studiert habe. Seit der Geburt meiner<br />
beiden Kinder arbeite ich vor allem mit Frauen,<br />
auch mit orthodox lebenden Frauen, entweder in<br />
der Gruppe oder als Personal Trainer, und das in<br />
vier Sprachen – Deutsch, Hebräisch, Russisch und<br />
Englisch. Mein Ziel ist es, dass Frauen sich in ihrem<br />
eigenen Körper mögen.<br />
Wie spürst du in deinem Beruf<br />
den Sommer?<br />
Der Sommer kündigt sich bei mir immer um<br />
Pessach herum an. Dann melden sich viele, um<br />
für den Sommer fit zu werden, um besser auszusehen.<br />
Und ich freue mich immer, wenn ich dann<br />
die schönen Erfolge meiner Kundinnen mitverfolgen<br />
kann.<br />
Was kann man sich unter Faszien-Yoga<br />
vorstellen?<br />
Faszien ist ein neues Modewort für das Bindegewebe,<br />
welches den Körper auf wunderbare Weise<br />
zusammenhält, so ähnlich wie die weiße Haut in<br />
einer Zitrusfrucht. Beim Faszien-Yoga geht es darum,<br />
dieses Netzwerk möglichst flexibel und weich<br />
werden zu lassen mittels Dehnung, fließenden Bewegungen<br />
und Muskelstärkung. Schmerzen vermindern<br />
sich wie von selbst.<br />
In der warmen Jahreszeit bieten<br />
Sie Ihre Yoga-Gruppen im Freien<br />
auf der Jesuitenwiese im Prater<br />
an. Warum?<br />
Gerade im Sommer sind wir im Feuer-Element,<br />
welches mit sehr viel Kraft verbunden ist. Allein<br />
das Fühlen des Grases unter den Füßen verbindet<br />
uns mit der Erde, lädt den ganzen Körper auf<br />
und stärkt das Immunsystem. Feuer steht auch für<br />
Ausbreitung in alle Richtungen – so wie die Wiese<br />
mit ihrer Weite anstatt der Grenzen eines Raumes.<br />
22<br />
wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
23
Abnehmen mit Freude<br />
Backen aus Leidenschaft<br />
Ursula Vyberal, 55<br />
Ernährungsberaterin, Abnehmcoach und Bestsellerautorin<br />
Hadar Schwarzbaum, 42<br />
Patissière, betreibt die Bäckerei Dari’s<br />
Sie haben die Easy-Eating-Methode<br />
kreiert. Wie kam es dazu?<br />
Ich habe Easy Eating vor 16 Jahren entwickelt,<br />
ursprünglich aus einem persönlichen Leidensdruck<br />
heraus. Ich nahm mit den Vorläufern meiner<br />
heutigen Methode 30 Kilo ab. Nach der Geburt<br />
meiner Tochter wollte ich mich beruflich<br />
verändern (ich war zuvor im Marketing tätig)<br />
und anderen Menschen helfen, ebenfalls ihr<br />
Wohlfühlgewicht zu erreichen. Meine Methode<br />
basiert auf „Zwölf goldenen Geboten“ und dem<br />
daraus resultierenden „perfekten Abnehmtag“.<br />
Mein Credo lautet seit jeher: Easy Eating – Abnehmen<br />
funktioniert nur mit Essen. Das ist auch<br />
der Titel meines neuesten Buches.<br />
Was wäre ein gutes, leichtes Sommeressen?<br />
Leichte Salate mit einer guten Kohlenhydratund<br />
Eiweißquelle, zum Beispiel Nicoise (Thunfisch<br />
und Kartoffeln) oder Tabouleh mit Feta.<br />
Abends wieder leichtes Eiweiß wie mageres<br />
Fleisch, Fisch, Tofu oder Käse – mit viel Gemüse<br />
und/oder Rohkost garniert. Wer abnehmen<br />
möchte, der verzichte abends auf Kohlenhydrate<br />
wie Brot, Kartoffeln, Reis und Nudeln.<br />
Warum bist du Patissière geworden?<br />
Meinen ersten Kuchen habe ich im Alter von<br />
neun Jahren gebacken, das war ein Schokoladenkuchen.<br />
Und seitdem backe ich. Im Alter<br />
von 29 Jahren habe ich beschlossen, das auch<br />
professionell zu machen, und habe die Tadmor<br />
School in Herzlia absolviert. Was mir dabei so<br />
Spaß macht? Das klingt vielleicht ein bisschen<br />
wie ein Klischee, aber es ist die Freude in den<br />
Gesichtern der Menschen, die die Torte oder<br />
das Gebäck dann essen.<br />
Deine Torten sehen zum Beispiel<br />
aus wie ein Blumenstrauß, man<br />
könnte auch sagen: Kunst zum Essen.<br />
Was reizt dich daran?<br />
Ich liebe Blumen, die Natur, ich liebe schöne<br />
Sachen. Und ich hole mir da auch die Inspirationen<br />
für meine Torten.<br />
Wie würdest du die Leichtigkeit des<br />
Sommers in etwas Süßes übersetzen?<br />
Etwas mit mehr Teig und weniger Crème. Für<br />
ein Picknick am Strand würde ich zum Beispiel<br />
Muffins backen – oder Babka.<br />
24<br />
wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
25
Räume träumen<br />
Farben fließen<br />
Lilia Maier, 50<br />
Innenarchitektin, Co-Geschäftsführerin von Vienna Interiors<br />
Alina Nosow, 34<br />
Bildende Künstlerin<br />
Warum haben Sie diesen Beruf gewählt?<br />
Weil ich in diesem Beruf meine Kreativität<br />
ausleben kann und jeder Tag anders ist. Weil<br />
ich für verschiedenste Lebensbereiche planen<br />
kann, von privaten Wohnungen, wo man<br />
auch auf den Stil der unterschiedlichen Menschen<br />
eingeht, bis zu Hotels und Büros. Aber<br />
auch die Materialien, mit denen man arbeitet,<br />
sind vielfältig – es geht um Formen, Farben,<br />
Stoffe, aber auch um bauliche Detaillösungen.<br />
Ich persönlich nehme mich mit Farben immer<br />
sehr zurück. Aber für die Kunden freue<br />
ich mich, wenn es gewünscht ist, in den Farbtopf<br />
zu greifen.<br />
Wenn nun ein Kunde zu Ihnen käme<br />
und sagt: „Ich wohne zwar in einem<br />
Haus in Wien, in meinem Wohnzimmer<br />
möchte ich mich aber so fühlen<br />
wie im Sommerurlaub am Meer.“<br />
Wie könnten Sie diesen Wunsch umsetzen?<br />
Mit mediterranen Möbeln, zum Beispiel aus<br />
Korbgeflecht, kühlenden, leichten Stoffen in<br />
hellen Tönen. Polstermöbel sind da durchaus<br />
auch möglich und werden zur Zeit auch sehr<br />
häufig im Außenbereich verwendet.<br />
Sie schaffen großformatige Bilder<br />
und Skulpturen. Wie ist die Herangehensweise<br />
an Ihre Arbeiten?<br />
In meiner Malerei gehe ich wie eine Bildhauerin<br />
vor, in dem ich von einer abstrakten Farbfläche<br />
ausgehend konkrete Elemente herausarbeite.<br />
Dabei findet man selten vollständige<br />
oder unbeschädigte Objekte. Meistens sind es<br />
Teile eines menschlichen Körpers, angedeutete<br />
Posen oder Szenen – eine eindeutige Lesbarkeit<br />
biete ich nicht an. Auch meine Skulpturen<br />
weisen – vor allem hinsichtlich ihres<br />
Geschlechts – Ambivalenzen auf.<br />
Wie bringen Sie den Sommer auf die<br />
Leinwand?<br />
Kaum eines meiner Bilder ist eindeutig einer<br />
Jahreszeit zuzuordnen. Derzeit arbeite ich aber<br />
sehr viel mit kräftigen, satten Farben und pastosen<br />
Übergängen. Außerdem tauchen in manchen<br />
Bildern Strandszenen (Tel Aviv Beach) und<br />
Unterwasserszenarien auf.<br />
26<br />
wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
27
LEBENS ART<br />
Endlich Sommer!<br />
Wir vermuten zwar nicht, dass Ihnen zur<br />
schönsten Zeit des Jahres langweilig werden<br />
könnte. Haben aber trotzdem ein paar unserer<br />
Sommer-Highlights zusammengestellt, damit<br />
Sie in der Hängematte oder am Sandstrand eine<br />
angemessene Lektüre haben.<br />
1020 – KVETCH<br />
Die Taborstraße<br />
21A ist bekannt für<br />
super Burger – und<br />
Tahina-Softeis!<br />
So schmeckt<br />
der Sommer<br />
1070 – MASCHU<br />
MASCHU<br />
Lust auf Pitot? In<br />
der Neubaugasse<br />
20 wird sie mit<br />
israelischem Salat<br />
gefüllt.<br />
So duftet<br />
der Sommer<br />
BUNT Beim<br />
Calle Libre<br />
Festival werden<br />
Mauern zu<br />
Leinwänden.<br />
Buntes für<br />
die Brache<br />
Bereits seit 2014<br />
verwandeln internationale<br />
Künstler*innen im<br />
Rahmen von Calle<br />
Libre jährlich Wiener<br />
Hauswände in<br />
bunte Kunstwerke.<br />
In der neunten<br />
Ausgabe des Festivals<br />
wird nun der brachliegende Nordwestbahnhof<br />
von ihnen bespielt. Von<br />
1. bis 7. <strong>August</strong> entsteht hier zum ersten<br />
Mal auch ein eigenes Festivalgelände,<br />
das neben Kunst und Musik auch Erfrischung<br />
und Erholung bietet.<br />
Tickets: cooltix.at, Infos: callelibre.at<br />
Siehe auch Interview Seite 64<br />
So färbt sich<br />
der Sommer<br />
Fotos: Hersteller<br />
Komplexität im Glas<br />
Auch in diesem Sommer lädt das Impuls-<br />
TanzFestival Wien wieder zum Tanzen. Unsere<br />
Empfehlung ist All the good von Jan<br />
Lauwers und der Needcompany. Worum<br />
es geht? Elik, ein ehemaliger israelischer Elitesoldat,<br />
der nach einem Unfall Tänzer geworden<br />
ist, und die junge Romy erkunden<br />
eine Welt, in der Europa seine Werte opfert,<br />
die Gesellschaften sich spalten und vielfach<br />
Hass die Kommunikation vergiftet. Ebenso<br />
im Raum: 800 Glasballons eines Handwerkers<br />
aus dem Westjordanland und die<br />
Frage, was Freiheit in der Kunst heute sein<br />
kann. Die Vorstellung ist multilingual, u. a.<br />
in Englisch, Französisch, Deutsch und Hebräisch.<br />
17. & 19. 7., Volkstheater,<br />
impulstanz.com<br />
Weil die meisten Menschen über viel Sommer, aber zu<br />
wenige Urlaubstage verfügen, haben wir eine kleine<br />
kulinarische Afterwork-Reiseroute zusammengestellt. Erster<br />
Stopp: Bei Maschu Maschu in Neubau warten gefüllte Babypitot<br />
mit Vogerlsalat, israelischem Salat, Hummus und Tahina<br />
auf die Gäste (maschu-maschu.at). Die beliebten Massabaha<br />
Lima Beans bietet das Miznon an. Dazu wird eiskalter Eistee<br />
aus eigener Produktion serviert (miznonvienna.com). Den<br />
süßen Abschluss bietet das neueste Molcho-Gastroprojekt:<br />
Im Kvetch gibt es Tahina-Softeiscreme mit Crumble und Dulce<br />
de Leche (kvetch.at)!<br />
So liebt<br />
es sich im<br />
Sommer<br />
Turbulente Familienzusammenführung.<br />
Was passiert, wenn eine Israelin (Shira, gespielt von<br />
Moran Rosenblatt) und eine Deutsche (Maria, gespielt<br />
von Luise Wolfram) sich dafür entscheiden,<br />
mit ihren jeweiligen Familien in Jerusalem zu heiraten,<br />
zeigt die LGBTQ-Screwball-Komödie Kiss me kosher.<br />
Kleiner Spoiler: Die Großmutter von Shira (Berta,<br />
dargestellt vom großartigen Allround-Show-Talent<br />
Rivka Michaeli) versucht, die Hochzeit auf<br />
Biegen und Brechen zu verhindern.<br />
Im Rahmen des Volxkinos, 21. 7., 21 Uhr,<br />
Der Wildgarten, Emil-Behring-Weg 3, 1230 Wien<br />
1010 – MIZNON<br />
In der Schulerstraße 4<br />
gibt es die beliebten<br />
Massabaha Lima<br />
Beans.<br />
Die Note der Saison … ist vielleicht salzige Haut mit einem<br />
Spritz Sonnenmilch? Oder ein Hauch heißer Teer und<br />
Wassermelone? Seit 1989 duftet der Sommer jedenfalls nach<br />
„Sun“, dem pudrigen Vanille-Orange-Parfüm der deutschen<br />
Modeikone Jil Sander. Schon heute ein Klassiker: Tom Fords edles<br />
„Soleil Blanc“, das als sonniger Blütenduft mit Ambernote<br />
betörend duftet (und für tollen Glow als Shimmering Body Oil<br />
erhältlich ist!). Der Aromaduft „Eau de Jardins“ von Clarins<br />
vereint wiederum ätherische Öle und Pflanzenextrakte.<br />
Was da so köstlich duftet? Belebende Pampelmuse und<br />
Orange! Oder einfach: Sommer pur.<br />
WELLE DER<br />
LIEBE Shira und<br />
Maria wollen<br />
heiraten. Nicht alle<br />
Familienmitglieder<br />
sind happy<br />
darüber.<br />
WUFF Auch<br />
ein Chow Chow<br />
spielt beim<br />
Spielen eine<br />
Rolle.<br />
Lachen auf Gold-Niveau<br />
Lustig wird es im <strong>August</strong> mit Elon Gold. Der in New York geborene<br />
Humorist hat bereits im Jugendalter angefangen, als Stand-up-Comedian<br />
sein Geld zu verdienen. Mittlerweile spielt er in der Königsklasse,<br />
etwa in der Show von Radio-Talker Howard Stern, in Larry<br />
Davids Curb Your Enthusiasm oder an der Seite von Pamela Anderson<br />
in der Comedy-Central-Serie Stacked. 31. 8., 19.30 Uhr, Globe<br />
Wien/Marx Halle, Tickets: oeticket.com<br />
28 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
29
Die Geschichte ist nicht zu Ende<br />
Das chinesische Erbe<br />
des Wiener Fädenziehers<br />
Rund 20.000 jüdische Flüchtlinge fanden während des Zweiten Weltkriegs<br />
in Shanghai eine vorübergehende Bleibe. Spuren dieser Menschen<br />
sind in der chinesischen Metropole kaum zu finden. Und doch<br />
gibt es sie. Manchmal kommen sie durch Zufall ans Licht.<br />
Von Uli Jürgens<br />
Der Schwan, nach einem Märchen<br />
von Hans Christian Andersen, inszeniert<br />
von Yu Zheguang.<br />
© Jiao Da<br />
Mai 1942, Shanghai<br />
Bubbling Well<br />
Road 722. Im Theatersaal<br />
des Jewish<br />
Club hebt<br />
sich der<br />
Vorhang der Shanghaier Puppenspiele.<br />
Gezeigt wird eine Bearbeitung<br />
des Zaubermärchens<br />
Der Bauer als Millionär von Ferdinand<br />
Raimund. Die Journalistin<br />
Gertrude Herzberg, die der Vorstellung<br />
in Begleitung des elfjährigen<br />
Peter beiwohnt, schreibt<br />
später im Jewish Chronicle: „Er war<br />
mit den Darbietungen, mit den<br />
großen und kleinen Aufregungen<br />
des Stücks, restlos zufrieden,<br />
und seine blauen Augen strahlten<br />
vor Freude über das Spiel<br />
der Puppen, über die glückliche<br />
Wendung zum Guten.“ Auch<br />
ein paar Chinesen sitzen im Publikum,<br />
unter ihnen der Kunstlehrer Yu<br />
Zheguang. Direktor dieses kleinen Theaters<br />
ist der jüdische Wiener Filmschaffende<br />
Arthur Gottlein. Er ist im Juni 1941<br />
mit seiner Frau aus Manila (wohin das<br />
Paar mit Hilfe eines Filmvertrages vor<br />
den Nationalsozialisten fliehen konnte)<br />
nach Shanghai gekommen. Als am 7. Dezember<br />
mit dem japanischen Überfall<br />
auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor der<br />
Pazifikkrieg beginnt, kann das Ehepaar<br />
Gottlein nicht mehr auf die Philippinen<br />
zurück. Doch Arthur Gottlein – bereits<br />
Die Zeugnisse<br />
Wiener Exilkultur<br />
in – die<br />
Kaffeehäuser,<br />
Geschäfte und<br />
auch Gottleins<br />
Puppenbühne –<br />
sind aus Shanghai<br />
verschwunden.<br />
während der Stumm- und Tonfilmzeit in<br />
Österreich und Deutschland als kreativer<br />
Kopf dafür bekannt, für jedes Problem<br />
eine Lösung zu finden – gründet kurzerhand<br />
ein Marionettentheater<br />
und sichert damit seiner<br />
Frau, sich selbst und seinen<br />
Mitarbeiter:innen das Überleben.<br />
Als ich im Herbst des Vorjahres<br />
mein Buch Der Fädenzieher<br />
über Arthur Gottlein vorstellte,<br />
schien es so, als sei die<br />
Geschichte mit der Rückkehr<br />
des Paares nach Österreich<br />
beendet. Denn die Flüchtlinge,<br />
denen die chinesische<br />
Stadt Shanghai vorübergehend<br />
eine – zumindest weitgehend<br />
– sichere Zuflucht bot,<br />
reisten nach Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges rasch weiter.<br />
Ein paar alte Straßenzüge<br />
sind zwar heute noch so, wie sie damals<br />
waren, und es gibt ein Exilmuseum. Die<br />
Zeugnisse Wiener Exilkultur – die Kaffeehäuser,<br />
Geschäfte und auch Gottleins<br />
Puppenbühne – sind aber verschwunden.<br />
Da mich Marionettentheater interessiert<br />
(ich habe selbst im Marionettentheater<br />
Schloss Schönbrunn gespielt), postete<br />
ich in einer einschlägigen Facebook-<br />
Gruppe Fotos von Gottleins Shanghaier<br />
Puppentheater und erhielt eine spannende<br />
Rückmeldung. Dmitri Carter, ein<br />
Puppenspieler aus Seattle mit Kontakten<br />
30 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
31
Yu Zheguang und Arthur Gottlein<br />
Figurentheater-Tradition<br />
nach China, schrieb mir, sein Freund<br />
Jiao Da sei der Enkel des oben erwähnten<br />
Yu Zheguang, der Gottleins Marionettenspiel<br />
in den 1940er-Jahren live miterlebte<br />
und schließlich ein eigenes Theater<br />
nach Gottleins Vorbild etablierte. Meine<br />
Neugier war geweckt.<br />
Kunststudent, Kunstlehrer, Puppenspieler.<br />
Geboren wurde Yu Zheguang 1906 in<br />
der Stadt Wuxi, rund 150 Kilometer nordwestlich<br />
der Metropole Shanghai. Bereits<br />
als Kind war er von fahrenden Schaustellern<br />
fasziniert, die sogenannte „Holzkopfshow“<br />
– eine Art Handpuppentheater<br />
– hinterließ einen tiefen Eindruck,<br />
erzählte er viele Jahre später in einem Zeitungsartikel.<br />
Es sind einfache Geschichten,<br />
die auf den Märkten gezeigt wurden:<br />
ein menschenfressender Tiger, ein altes<br />
keifendes Paar. Mit knapp 20 Jahren begann<br />
Yu Zheguang ein Studium an der<br />
Kunstakademie Shanghai, beschäftigte<br />
sich mit traditioneller chinesischer Malerei,<br />
unterrichtete bald als Kunstlehrer<br />
an verschiedenen Schulen. Und er interessierte<br />
sich für den Bau von Puppenbühnen<br />
ebenso wie für die Spieltechnik verschiedener<br />
Figuren. China hat eine lange<br />
Puppentheatertradition, Marionettenspiel<br />
gilt sogar als älteste Variante dieser<br />
Kunstform. Hinweise darauf gibt es bereits<br />
aus der Tang-Dynastie um das Jahr<br />
Enkelsohn Jiao Do sah seinem<br />
Großvater Yu Zheguang<br />
gerne beim Entwerfen und<br />
Bauen der Handpuppen zu.<br />
China hat eine lange<br />
Puppentheatertradition,<br />
Marionettenspiel<br />
gilt sogar als<br />
älteste Variante dieser<br />
Kunstform.<br />
760. Die Figuren wurden zunächst vor allem<br />
bei Trauerfeierlichkeiten eingesetzt,<br />
erst später dann bei festlichen Anlässen<br />
und zur Belustigung auf Jahrmärkten. Sie<br />
waren überaus ausgereift und kunstvoll<br />
geschnitzt, manche hatten bis zu 50 Führungsfäden,<br />
das ist weit mehr als bei vergleichbaren<br />
europäischen Marionetten.<br />
Und im Gegensatz zum in unseren Breiten<br />
verwendeten Spielkreuz wurde die chinesische<br />
Marionette mit einem Holzrechteck<br />
bewegt.<br />
Yu Zheguang erkannte jedenfalls rasch<br />
den pä-dagogischen Wert dieser Art von<br />
Theater. Nach seinem Besuch von Gottleins<br />
Zaubermärchen im Frühjahr 1942,<br />
dessen Lieder – auf Deutsch gesungen und<br />
auf Englisch übersetzt – jedoch vom chinesischen<br />
Publikum kaum verstanden wurden,<br />
gründete Yu Zheguang kurzerhand<br />
einen Marionetten-Amateur-Club. Noch<br />
im gleichen Jahr wurde sein erstes Stück<br />
Der Urmensch im Jewish Club aufgeführt,<br />
in mehreren Szenen war die Entstehung<br />
der Menschheit zu sehen, vom Vulkanausbruch<br />
über den Dinosaurierkampf bis zu<br />
einer romantischen Szene im Mondlicht.<br />
Kurz danach wurde Der Schwan nach einem<br />
Märchen von Hans Christian Andersen inszeniert.<br />
Ob und inwieweit sich Yu Zheguang<br />
bei der Machart der Figuren, der Befestigung<br />
der Fäden und der Dramaturgie<br />
etwas von Arthur Gottleins Truppe abgeschaut<br />
hat? Schwer zu sagen. Die Figuren<br />
© Filmarchiv Austria; Jiao Da<br />
Yu Zheguang<br />
bei der Herstellung eines Animationsfilms<br />
mit Origamifiguren, um 1960.<br />
waren jedenfalls knapp einen halben Meter<br />
hoch, sechs Fäden sorgten für die Beweglichkeit.<br />
Auch die Guckkastenbühne<br />
war jener Gottleins ähnlich, rund zwei<br />
Meter breit und eineinhalb Meter tief – die<br />
Puppenspieler waren hinter einem dunklen<br />
Vorhang versteckt und für das Publikum<br />
nicht zu sehen. Bis etwa 1950 entstanden<br />
noch zahlreiche Marionettenstücke.<br />
Dann wandte sich Yu Zheguang dem Marionettenfilm<br />
für Kinder zu, als Direktor des<br />
Shanghai Art Film Studios war er für Drehbuch<br />
und Regie von mehr als 20 Puppenfilmen<br />
verantwortlich. Später verquickte<br />
er das Marionettenspiel mit dem klassischen<br />
chinesischen Schattentheater und<br />
entwickelte eine neue Form des animierten<br />
Puppenfilmes, indem er aus Papier gefaltete<br />
Tiere zum Leben erweckte. Seine<br />
Origami-Kinderfilme aus den 1960er-Jahren,<br />
in denen Enten die Hauptrollen spielten,<br />
sind heute Klassiker und werden bei<br />
Retrospektiven gezeigt.<br />
Von der Leidenschaft erfasst. Die Kommunikation<br />
mit China ist heutzutage nicht<br />
ganz einfach, Facebook – so wie wir es<br />
kennen – ist dort nicht erlaubt. Und so<br />
vergingen mehrere Wochen, bis ich all<br />
diese Informationen beisammen hatte.<br />
Die persönlichen Mails zwischen Jioa Da<br />
(Jahrgang 1953) und mir werden stets<br />
mit Google-Translate übersetzt, und auch<br />
wenn manche Passagen mit viel Einfallsreichtum<br />
interpretiert werden müssen,<br />
ist der Ton überaus herzlich. Für den Enkelsohn<br />
des Puppentheater- und Puppenfilmdirektors<br />
Yu Zheguang ist es eine<br />
große Freude, dass in Österreich über seinen<br />
Großvater berichtet wird. Bei einem<br />
Vortrag im Shanghai Minsheng Art Museum<br />
im <strong>August</strong> 2019 erzählte er, er habe<br />
seinem Großvater als Kind gerne beim<br />
Entwerfen und Bauen der fantasievollen<br />
Figuren und Bühnendekorationen zugesehen.<br />
Sein Großvater habe ihn immer<br />
an Geppetto erinnert, den alten Tischler,<br />
der die Holzpuppe Pinocchio schnitzte.<br />
Die Leidenschaft seines Großvaters habe<br />
ihn schließlich selbst erfasst. Jiao Da ist<br />
Mitglied verschiedener Puppentheater-<br />
Vereinigungen einschließlich der chinesischen<br />
Teilorganisation der UNIMA<br />
(Union Internationale de la Marionette).<br />
Mehrfach schickte mir Jiao Da chinesische<br />
Zeitungsausschnitte, diverse biografische<br />
Texte und Fotografien. Auch hier leisten<br />
moderne Übersetzungstools gute Arbeit<br />
und sorgen ab und zu für ein überraschtes<br />
Schmunzeln. In einem Artikel aus dem<br />
Jahr 1942 zum Beispiel wird von einem Juden<br />
erzählt, der ein Puppentheater leitete.<br />
Dabei konnte es sich nur um Arthur<br />
Gottlein handeln. Auf Chinesisch wird<br />
er „Gao Tianlun“ genannt, vielleicht eine<br />
lautmalerische Übertragung des Namens.<br />
Das Ehepaar Gottlein verließ Shanghai<br />
im Frühjahr 1949 und kehrte nach Österreich<br />
zurück. Auch hier blieb Arthur<br />
Gottlein seiner Liebe zum Figurentheater<br />
treu: Im Dezember 1949 war er Produktionsleiter<br />
bei der Aufzeichnung einer Vorstellung<br />
des Teschner-Figurentheaters,<br />
1957 führte er Regie beim Film Marionetten<br />
sprechen zu euch, einem Stück aus dem<br />
Marionettentheater Ruprecht in Wien-<br />
Hernals. Dann beendete Arthur Gottlein<br />
seine aktive Filmkarriere, wurde in der<br />
Gewerkschaft tätig und organisierte Ausstellungen<br />
zum österreichischen Film.<br />
Ob er wusste, dass sein kleines Shanghaier<br />
Marionettentheater chinesische<br />
Produktionen inspiriert hatte? Eher unwahrscheinlich.<br />
Und doch hat er – im Gegensatz<br />
zu Tausenden anderen jüdischen<br />
Flüchtlingen – in Form von geschnitzten,<br />
von Menschenhand bewegten, an Fäden<br />
tanzenden Figuren im fernen Shanghai<br />
seine Spuren hinterlassen.<br />
32 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
33
Sieben Gemeinden<br />
Prosperierendes Leben<br />
„Hochfürstlich<br />
Esterházy<br />
Schutzjuden“<br />
Die private Synagoge von<br />
Samson Wertheimer, heute<br />
Heimat des Österreichischen<br />
Jüdischen Museums.<br />
Die Adelsfamilien Esterházy und<br />
Batthyány gewährten in den Jahren<br />
1612 bis 1848 der jüdischen Bevölkerung<br />
im heuten Burgenland Privilegien für<br />
ein prosperierendes Leben.<br />
Von Viola Heilman<br />
Das Denkmal<br />
für die Juden von<br />
Zelem, das 2012<br />
auf Initiative von<br />
Michael Feyer<br />
errichtet wurde.<br />
Die zurückgestellten<br />
Grabsteine auf dem<br />
jüdischen Friedhof in<br />
Deutschkreutz.<br />
Historisch betrachtet gab es für<br />
Juden keinen geografischen<br />
Ort in Europa, von dem sie<br />
nicht vertrieben, verfolgt oder<br />
ihrer Rechte beraubt wurden. In Wiederholungen<br />
ging es an den Wohnorten einige<br />
Jahrzehnte oder Jahrhunderte irgendwie<br />
gut, bis sich alles zum sehr viel Schlechteren<br />
änderte. So ist auch die Geschichte der<br />
Juden im Burgenland nicht anders.<br />
Die ersten Nachweise jüdischen Lebens<br />
im Burgenland finden sich bereits im 13.<br />
Jahrhundert, nachdem Juden aus der Steiermark,<br />
Kärnten und ungarischen Städten<br />
vertrieben worden waren. Aber erst ab<br />
der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde das<br />
Burgenland kontinuierlich von Juden besiedelt.<br />
Auch dieser Zuzug jüdischer Menschen<br />
war durch Ausweisung aus Wien,<br />
Niederösterreich und Oberösterreich begründet.<br />
Zu dieser Zeit gewährte die ungarische<br />
Adelsfamilie Esterházy den jüdischen Bewohnern<br />
Schutz, und es begann ein prosperierendes<br />
Gemeindeleben in den „Sieben<br />
Gemeinden“ (hebr.: Schewa Kehilot)<br />
Eisenstadt, Mattersburg, Kittsee, Frauenkirchen,<br />
Kobersdorf, Lackenbach und<br />
Deutschkreutz. Zu den „Sieben Gemeinden“<br />
gehörte ursprünglich auch Neufeld<br />
als achte Gemeinde, allerdings wurde sie<br />
1739 aufgelöst und scheint nicht als „achte“<br />
Gemeinde auf. Die Bewohnerinnen und<br />
Bewohner der südburgenländischen Gemeinden<br />
Rechnitz, Stadtschlaining und<br />
Güssing sowie die heute ungarischen Gemeinden<br />
Körmend und Nagykanizsa hatten<br />
ebenfalls Schutzstatus, allerdings hier<br />
durch den Grafen Batthyány. Diese fünf<br />
Ortschaften werden aber nicht zu den „Sieben<br />
Gemeinden“ gezählt.<br />
Die 1690 verfassten Schutzbriefe der Esterházys<br />
regelten in Form eines Vertrags<br />
auf sehr detaillierte Weise die Rechte und<br />
Pflichten der jüdischen Bevölkerung. Um<br />
die Vorteile der im Vertrag festgelegten<br />
Schutzbestimmungen zu erhalten, wurde<br />
eine Schutzgebühr eingehoben, die die<br />
religiöse Freiheit garantierte. Der Schutzbrief<br />
enthielt unter anderem Regelungen<br />
zu Steuerpflicht, Gemeindeverwaltung<br />
und Handelsfreiheit. Außerdem gab es<br />
Vorschriften für Alltägliches. So wurden<br />
Juden zur Sauberkeit in Haus und Viertel<br />
verpflichtet.<br />
Noch bis 2. Oktober <strong>2022</strong> ist im Schloss<br />
Esterházy in Eisenstadt die Jahresausstellung<br />
Schewa Kehilot – Die Jüdischen Sieben-<br />
Gemeinden unter den Fürsten Esterházy (1618–<br />
1848) zu sehen (siehe Seite 38 ff.), die bislang<br />
kaum bekannte und wenig erforschte Aspekte<br />
der jüdischen Geschichte auf dem<br />
einstigen westungarischen Gebiet thematisiert.<br />
Es sind unbekannte historische<br />
Die 1690 verfassten<br />
Schutzbriefe<br />
der Esterházys<br />
regelten<br />
in Form eines<br />
Vertrags auf<br />
sehr detaillierte<br />
Weise die Rechte<br />
und Pflichten<br />
der jüdischen<br />
Bevölkerung.<br />
© Christian Michelides CC BY-SA 4.0; Dguendel, CC-BY-3.0; IKG Wien<br />
Die bedeutenden jüdischen<br />
Friedhöfe sind<br />
oft das einzige, das blieb.<br />
son Wertheimer. Heute<br />
ist das Österreichische<br />
Jüdische Museum darin<br />
untergebracht. Die beiden<br />
jüdischen Friedhöfe<br />
konnten nach 1945 trotz<br />
starker Verwüstung wieder<br />
instandgesetzt werden.<br />
Das auf eine mittelalterliche<br />
Burg zurückgehende,<br />
in mehreren<br />
Bauetappen entstandene<br />
Schloss wurde im 17. Jahrhundert<br />
unter dem ersten<br />
in Eisenstadt geborenen Esterházy’schen<br />
Fürsten Paul I. (1635–1713) erbaut. Paul I.<br />
ist auch für die Geschichte der jüdischen<br />
Gemeinde Eisenstadt bedeutsam, denn in<br />
seine Regierungszeit fällt die Ausstellung<br />
des „Schutzbriefes“ (1690), der die Grundlagen<br />
des jüdischen Gemeinwesens in Eisenstadt<br />
vertraglich regelte.<br />
Knapp 40 Kilometer südlich von Eisenstadt<br />
liegt die Gemeinde Deutschkreutz,<br />
die im 15. Jahrhundert von seinen jüdischen<br />
Bewohnern Zelem genannt wurde.<br />
Zelem – Hebräisch für Kreuz – hat Juden<br />
Dokumente und Publikationen, Pläne,<br />
Karten und Objekte zu sehen, die die Lebensumstände<br />
und Lebensbedingen der<br />
jüdischen Menschen zeigen und das rege<br />
wirtschaftliche und geistig kulturelle Leben<br />
näherbringen.<br />
Die erhaltenen historischen Reste des<br />
ehemaligen jüdischen Viertels in Eisenstadt<br />
befinden sich ganz in der Nähe des<br />
Schlosses. Vor allem interessant ist die original<br />
erhaltene private Synagoge von Samaus<br />
religiösen Gründen erspart, das Wort<br />
„Kreuz“ des Ortsnamens auszusprechen.<br />
Die Geschichte der Juden von Deutschkreutz<br />
ist Bespiel für alle anderen „Sieben<br />
Gemeinden“ im Burgenland. Alle ereilte<br />
nach 1938 dasselbe Schicksal.<br />
Im 15. Jahrhundert lebten nur wenige<br />
Juden in Deutschkreutz, was sich aber ab<br />
dem 17. Jahrhundert änderte. Paul Esterházy<br />
erlaubte per Vertrag 1701, dass Juden<br />
Häuser von Christen erwerben durften.<br />
Durch einen Schutzbrief wurde zusätzlich<br />
ihr Leben und ihr Besitz vor jeglichen<br />
Übergriffen geschützt. Auch wurden ihnen<br />
Privilegien auf dem wirtschaftlichen<br />
Sektor zugestanden, wie z. B. Fleischereien<br />
oder eine Brauerei zu eröffnen.<br />
Der Zuzug nach Deutschkreutz unterlag<br />
nun keiner Behinderung mehr, und auch<br />
Eheschließungen waren ohne Einschränkung<br />
möglich. In religiösen Belangen besaß<br />
die Gemeinde vollkommene Autonomie.<br />
Rabbiner und Vorbeter konnten frei<br />
gewählt werden, eine Synagoge gebaut<br />
(1747) und ein Friedhof angelegt werden<br />
(1759), der von einer Chevra Kadischa verwaltet<br />
wurde. Auch politische Autonomie<br />
wurde Juden zugestanden, und so konn-<br />
34 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
35
Thema<br />
Kulturelles Erbe<br />
Elon Gold “Live”<br />
31. <strong>August</strong> <strong>2022</strong>, 19:30 Uhr<br />
GLOBE WIEN, Karl Farkas Gasse 19, 1030 Wien<br />
Der US-amerikanische Comedian und Schauspieler spielte in<br />
Bones – die Knochenjägerin sowie mit Larry David in Curb Your<br />
Enthusiasm. Aktuell ist sein Stand-up-Special Elon<br />
Gold: Chosen & Taken auf Netflix zu sehen.<br />
Le’Chaim<br />
Auf das Leben<br />
Das Konzert zum<br />
jüdischen<br />
Neujahrsfest<br />
Es erwartet Sie reichlich jüdischer Humor,<br />
und vieles mehr.<br />
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sie Chansons, Foxtrotts, Filmmusik und Tangos.<br />
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zählt er zu den bekanntesten Deutsch-Rappern.<br />
Roman Grinberg & Yiddish Swing Orchestra sind ein Garant für beste<br />
Unterhaltung. Special Guest: Oberkantor Shmuel Barzilai<br />
11. September <strong>2022</strong>, 19:30 Uhr, Mozart-Saal,<br />
Wiener Konzerthaus, Lothringerstraße 20, 1030 Wien<br />
ten sie einen Gemeindevorsteher wählen<br />
und sogar eine jüdische Polizei aufstellen.<br />
Durch diese weitreichenden Freiheiten gewann<br />
Deutschkreutz als Handelszentrum<br />
große Bedeutung, das mit Wien, Wr. Neustadt,<br />
Pressburg und Ödenburg (heutiges<br />
Sopron) in regelmäßigen Geschäftsbeziehungen<br />
stand. Ein Großbrand 1777 vernichtete<br />
fast sämtliche Dokumente und<br />
Gebäude, sodass heute sehr wenig historisches<br />
Material aus dieser Zeit vorhanden<br />
ist. 1857 hatte die Gemeinde 1.240 Mitglieder<br />
und war die größte unter den „Sieben<br />
Gemeinden“.<br />
Nach dem Ende der Schutzherrschaft<br />
der Familie Esterházy 1848 änderte sich die<br />
Situation für Juden im Burgenland. Es war<br />
auch die Abschaffung<br />
Gerade die<br />
burgenländischen<br />
Juden<br />
waren 1938<br />
die ersten in<br />
Österreich,<br />
die von den<br />
Ausweisungsbefehlen<br />
der<br />
Nazis betroffen<br />
waren.<br />
des Feudalsystems<br />
nach der Revolution<br />
von 1848, die schließlich<br />
die Sonderstellung<br />
der „Sieben Gemeinden“<br />
überflüssig<br />
machte. Ab diesem<br />
Zeitpunkt wurden<br />
die jüdischen Aktivitäten<br />
im Burgenland<br />
als Bestandteil<br />
aller Juden des Landes<br />
betrachtet. Die<br />
„Hochfürstlich Esterházy<br />
Schutzjuden“<br />
wurden ungarische<br />
Staatsbürger:innen<br />
in der Österreichischungarische<br />
Monarchie und durften sich ab<br />
1860 in den Städten niederlassen. Zur Zeit<br />
der Doppelmonarchie erklärte die Verfassung<br />
von 1867 das jüdische Individuum<br />
zum gleichberechtigten Bürger, verlangte<br />
aber auch von ihm die völlige Eingliederung<br />
in Gesellschaft und Staat. In diesem<br />
Jahr wurde auch allen Juden der Erwerb<br />
von Immobilien erlaubt. Der jüdische<br />
Glaube wurde den christlichen Konfessionen<br />
gleichgestellt, so dass es für Juden<br />
möglich war, staatliche Subventionen für<br />
ihre Religions- und Erziehungseinrichtungen<br />
zu bekommen.<br />
Zerstörungswut der Nationalsozialisten. Der<br />
Erste Weltkrieg brachte auch den burgenländischen<br />
jüdischen Gemeinden viel Leid<br />
und wirtschaftliche Rückschläge. Zahlreiche<br />
jüdische Männer waren unter den Gefallenen.<br />
Als Folge wanderten viele jüdische<br />
Burgenländer nach Wien ab.<br />
1921 wurde das heutige Burgenland in<br />
die Republik Österreich eingegliedert und<br />
© Österreichisches Jüdisches Museum<br />
der Autonomiestatus der burgenländischjüdischen<br />
Gemeinden anerkannt.<br />
Im Mai 1922 wurde der Verband der autonomen<br />
orthodoxen israelitischen Kultusgemeinden<br />
des Burgenlandes gegründet.<br />
Diese Vereinigung konnte erreichen,<br />
dass sich die österreichische Regierung am<br />
Erziehungs- und Rabbinatsbudget beteiligte.<br />
In der schwierigen Zwischenkriegszeit<br />
veränderte sich die Zahl der Juden im Burgenland<br />
nur wenig; Laut Volkszählung des<br />
Jahres 1923 bildete Zelem die größte burgenländische<br />
jüdische Gemeinde mit 435<br />
Mitgliedern. Die Synagoge und die über<br />
die Landesgrenzen bekannte Talmudschule<br />
galten als Zentrum des jüdischen<br />
Lebens von Zelem/Deutschkreutz.<br />
Die jüdische und nicht-jüdische<br />
Deutschkreutzer Gesellschaft kam fast<br />
drei Jahrhunderte gut miteinander aus –<br />
bis 1938, als für Juden die dunkelste Zeit<br />
begann. Gerade die burgenländischen Juden<br />
waren 1938 die ersten in Österreich,<br />
die von den Ausweisungsbefehlen der Nazis<br />
betroffen waren. Fast alle Zeichen ihres<br />
Lebens wurden vernichtet, womit die<br />
mehrere Jahrhunderte dauernde jüdische<br />
Geschichte der „Sieben Gemeinden“<br />
ihr abruptes Ende fand. 1941 wurde die Synagoge<br />
von Deutschkreutz von den Nationalsozialisten<br />
gesprengt und der Friedhof<br />
verwüstet. Nur ein besonders wertvolles<br />
Erinnerungsstück, der Thoravorhang,<br />
wurde aus der Synagoge gerettet und von<br />
den damaligen Stiftern viele Jahre später<br />
nach Jerusalem gebracht.<br />
Nach 1945 kehrten nur mehr sehr wenige<br />
jüdische Familien ins Burgenland zurück,<br />
und heute gibt es kaum ein Dutzend<br />
Jüdinnen und Juden, die im Burgenland<br />
wohnen. Von den etwa 3.900 im Jahr 1938<br />
im Burgenland ansässigen jüdischen Personen<br />
wurde rund ein Drittel in der Shoah<br />
ermordet.<br />
Heute erinnert ein Denkmal an die jüdische<br />
Gemeinde von Zelem, das durch<br />
die Initiative von Michael Feyer aus Wien<br />
im Jahr 2012 errichtet wurde. Eine Gedenktafel<br />
am Friedhof von Deutschkreutz<br />
und ein virtuelles Friedhofsprojekt<br />
mit Namen von fast 300 verstorbenen<br />
oder durch die Nationalsozialisten getöteten<br />
Zwangsarbeitern wurde auf Betreiben<br />
von Nechemja Gang, dem Präsidenten<br />
der Misrachi Wien, 2014 errichtet.<br />
Von der Zerstörungswut der Nationalsozialisten<br />
blieben im Burgenland nur<br />
zwei Synagogen verschont: die Synagoge<br />
Grabsteinfragmente in Zelem:<br />
Sie wurden bei einem Stadlabriss<br />
geborgen und später in die Friedhofsmauer<br />
eingemauert.<br />
Kobersdorf und die ehemalige Privatsynagoge<br />
in Eisenstadt.<br />
Seit über zehn Jahren haben sich die<br />
Bemühungen der burgenländischen Forschungsgesellschaft<br />
und des Landes Burgenland<br />
um eine historische Aufarbeitung<br />
und Dokumentation der jüdischen<br />
Gemeinden verstärkt. Die Synagoge Kobersdorf<br />
wurde vor Kurzem vollständig<br />
renoviert und wird zukünftig unter anderem<br />
für Veranstaltungen, die der wissenschaftlichen<br />
Aufarbeitung der Geschichte<br />
der Burgenland-Juden und ihres<br />
Umfeldes in Zusammenhang mit der Geschichte<br />
des europäischen Judentums gewidmet.<br />
Zuletzt fand Anfang Juni <strong>2022</strong> ein<br />
Symposium unter dem Titel Wissenschaft<br />
in der Synagoge der burgenländischen Forschungsgesellschaft<br />
statt. Aber die ehemalige<br />
Synagoge soll nicht nur Ort der Lehre<br />
und des Wissens sein, sondern auch ein<br />
Raum der Begegnung unterschiedlicher<br />
Meinungen – mit dem Ziel, eine solidarische<br />
Gesellschaft zu stärken und Ressentiments<br />
abzubauen. Geboten wird ein<br />
ambitioniertes Programm, um eine Vernetzung<br />
mit anderen Forschungseinrichtungen<br />
herbeizuführen. Es ist aber auch<br />
ein Anliegen, über den engeren Fachbereich<br />
hinauszugehen und Jugendliche<br />
wie Erwachsene zum Diskurs mit Wissenschaft<br />
und Forschung anzuregen.<br />
In der Eisenstädter Synagoge ist heute<br />
das Österreichische Jüdische Museum untergebracht,<br />
das bereits 1972 als erstes jüdisches<br />
Museum in Österreich nach 1945<br />
gegründet wurde.<br />
Mit einer neuen, für das Smartphone<br />
kompatiblen Website werden von der burgenländischen<br />
Forschungsgesellschaft 12<br />
Rundgänge angeboten, die die reiche jüdische<br />
Geschichte des Burgenlandes wieder<br />
sichtbar und begehbar macht. Der burgenländische<br />
Kulturwanderweg ist eingegliedert<br />
in die European Routes of Jewish<br />
Heritage, die seit 2004 von der European<br />
Association for the Preservation and Promotion<br />
of Jewish Culture and Heritage<br />
(AEPJ) verwaltet und unterstützt werden.<br />
Mit den Rundgängen durch die „Sieben<br />
Gemeinden“, die Schewa Kehilot im Norden<br />
und die fünf Gemeinden im Südburgenland,<br />
ist Österreich nun auch Teil der<br />
European Routes of Jewish Heritage. Der<br />
burgenländische jüdische Kulturweg ist<br />
der erste dieser Art, den es in Österreich<br />
gibt.<br />
Als weiterreichende Information ist<br />
der lesenswerte Reiseführer Jüdische Kulturwege<br />
im Burgenland veröffentlicht worden,<br />
der in den Tourismusbüros aufliegt.<br />
Die Broschüre ist eine Gemeinschaftsproduktion<br />
der burgenländischen Volkshochschulen,<br />
der burgenländischen Forschungsgesellschaft,<br />
des Landesmuseums<br />
und des jüdischen Museums in Eisenstadt.<br />
Große Unterstützung bei der Forschungsarbeit<br />
liefern die 459 Kartons,<br />
die den „Judenkataster des Burgenlandes“<br />
darstellen und derzeit noch von<br />
Mitarbeiter:innen des Archivs der IKG<br />
Wien aufgearbeitet werden. Dieser Katas-ter<br />
wurde bereits in den 1930er-Jahren<br />
im Landesarchiv des Burgenlandes<br />
in Eisenstadt den jüdischen Gemeinden<br />
abgenommen. Nach einem langen und<br />
schwierigen Prozess, der vom Grazer IKG-<br />
Präsidenten Elie Rosen und der Exekutivdirektorin<br />
des Präsidiums der IKG, Erika<br />
Jakubovits, geführt wurde, ist der Kataster<br />
2021 dem Archiv der IKG Wien übergeben<br />
worden. Die Dokumente stellen<br />
ein einzigartiges kulturelles Erbe dar und<br />
spielen eine wesentliche Rolle für das individuelle<br />
und kollektive Gedächtnis des<br />
Burgenlands, dessen jüdisches Leben ab<br />
1938 ausgelöscht wurde.<br />
Mehr Informationen und Tickets<br />
36 wınaunter: | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> www.konzerthaus.at<br />
<strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
37
Die sieben heiligen Gemeinden<br />
Gedenktafeln und Friedhöfe<br />
Die Fürsten und ihre Juden<br />
Das Fürstentum Esterházy ließ sich den Schutz der Juden zwar teuer<br />
bezahlen. Dennoch erlebten die sieben jüdischen Gemeinden des Burgenlands<br />
eine wertvolle Blütezeit. Im Schloss in Eisenstadt gibt eine Ausstellung<br />
Einblick in das Leben der „Hochfürstlichen Esterházy Schutzjuden“.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Manche schauen düster drein,<br />
andere etwas freundlicher,<br />
aber alle zeigen in ihrer Körperhaltung,<br />
dass sie das Sagen<br />
und die Macht haben.<br />
Die Gemälde der Fürsten von Esterházy<br />
sind riesig und alle in Farbe gehalten – die<br />
historischen Dokumente und spärlichen<br />
Fotos ihrer jüdischen Untertanen sind dagegen<br />
alle schwarz-weiß. So entsteht eindeutig<br />
der Eindruck, dass die Herrschenden<br />
auf die unter ihrem Schutz stehenden<br />
Juden herabblicken. Dennoch ging es den<br />
westungarischen (später burgenländischen)<br />
jüdischen Gemeinden unter diesem<br />
Primat wesentlich besser als in den Ländern,<br />
aus denen sie vertrieben wurden.<br />
Die Juden zahlten laufend hohe Summen<br />
– unter den verschiedensten Titeln – für die<br />
Möglichkeit, sich hier ansiedeln, arbeiten,<br />
einfach leben zu dürfen.<br />
Die Jahresausstellung Schewa Kehilot – Die<br />
Jüdischen Sieben-Gemeinden unter den Fürsten<br />
Esterházy (1618 – 1848) im Schloss Esterházy,<br />
in unmittelbarer Nähe zur einstigen jüdischen<br />
Gemeinde in Eisenstadt, gewährt einen<br />
umfassenden Einblicke in das jüdische<br />
Leben vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.<br />
Bis zum 2. Oktober <strong>2022</strong> ist der Besuch<br />
dieser sehenswerten Schau möglich, die<br />
der burgenländische Historiker Felix Tobler<br />
aus den umfangreichen Sammlungen<br />
der Privatstiftung Esterházy zusammengestellt<br />
hat.<br />
Obwohl sich die Ausstellung ausschließlich<br />
auf die Herrschaftsperiode der Esterházys<br />
von 1612 bis 1848 bezieht, erfährt<br />
man durch die historischen Bezüge davor<br />
und danach Wesentliches über das Schicksal<br />
der Juden und insbesondere über die<br />
große Bedeutung dieser „Sieben-Gemeinden“<br />
– hebräisch „Schewa Kehilot“ – Eisenstadt,<br />
Mattersdorf*, Kittsee, Frauenkirchen,<br />
Deutschkreutz, Kobersdorf und<br />
Lackenbach.<br />
Die ersten sicheren Spuren von Juden auf<br />
dem Gebiet des heutigen Burgenlands<br />
führen in das 13. Jahrhundert. Nach ihrer<br />
Vertreibung aus der Steiermark und<br />
aus Kärnten 1496 unter Kaiser Maximilian<br />
I. und aus Ödenburg sowie weiteren<br />
ungarischen Städten nach der Schlacht<br />
von Mohács 1526 fanden viele Vertriebene<br />
Zuflucht auf westungarischem, heute burgenländischem<br />
Gebiet. Im zweiten Drittel<br />
des 17. Jahrhunderts erfolgte nach der Ausweisung<br />
der jüdischen Bevölkerung aus<br />
Wien, Niederösterreich und Oberösterreich<br />
unter Kaiser Leopold I. erneut eine<br />
jüdische Zuwanderung und damit auch die<br />
kontinuierliche Besiedlung.<br />
Obwohl Paul I. Fürst Esterházy unter<br />
dem Einfluss der von Kaiser Leopold I.<br />
1670/71 verfügten Vertreibung der Juden<br />
aus Wien und Niederösterreich zuerst auch<br />
„seine“ Juden aus den Gemeinden Eisenstadt,<br />
Mattersdorf und Lackenbach ausgewiesen<br />
hatte, siedelte er ab 1676 mit dem<br />
Beginn einer judenfreundlicheren Politik<br />
erneut Juden in seinem Einflussbereich an.<br />
Daher bestanden bis zum Ende der Ester-<br />
Jüdische Geschichte<br />
Burgenlands im<br />
Schloss Esterházy in<br />
Eisenstadt.<br />
házy-Schutzherrschaft im Jahre 1848 die<br />
weithin bekannten fürstlichen Judengemeinden.<br />
(Unter dem Schutz der Familie<br />
Batthyány haben sich im heutigen Südburgenland<br />
ebenfalls drei jüdische Gemeinden<br />
etabliert, und zwar Rechnitz, Schlaining<br />
und Güssing.)<br />
Paul Esterházy machte dies nicht aus humanitären<br />
Gründen, für ihn standen wirtschaftliche<br />
Interessen im Vordergrund, die<br />
aber nicht nur zum Nachteil der Juden gerieten:<br />
Er stellte für die Judengemeinden<br />
Schutzbriefe aus, in denen der Status<br />
der jüdischen Gemeinden sowie die<br />
Rechte und Pflichten der Untertanen bis<br />
ins kleinste Detail festgeschrieben waren.<br />
Die Juden bezahlten der Familie Esterházy<br />
Schutzgebühren für die ihnen eingeräumten<br />
Rechte und nannten sich stolz „Hochfürstliche<br />
Esterházy Schutzjuden“.<br />
Zum Glück für die Juden erloschen die<br />
Schutzbriefe auch nicht mit dem Tode des<br />
Grundherrn, sondern wurden bei jedem<br />
Herrscherwechsel erneuert. Da Fürst Paul<br />
II. Anton Esterházy de Galantha (1711–1762)<br />
kinderlos starb, beerbte ihn sein Bruder,<br />
© Reinhard Engel<br />
Nikolaus I., der als Freund der Juden galt.<br />
Da er den Eisenstädter Schutzjuden Moyses<br />
Helin noch aus seiner Jugend kannte<br />
und sein kluges Auftreten als Händler<br />
schätzte, da er ihm persönlich vieles beschaffen<br />
konnte, erhob er Helin aufgrund<br />
seiner treuen Dienste zum Hoffaktor. Von<br />
da an trug dieser den Ehrentitel eines Hofjuden.<br />
Nach seinem Regierungsantritt bestätigte<br />
Fürst Nikolaus I. die Schutzbriefe<br />
aller seiner jüdischen Gemeinden.<br />
„Die Juden sprechen<br />
ein reines, fehlerloses,<br />
etwas hartes Deutsch<br />
und vertragen sich<br />
ausgezeichnet mit<br />
der Bevölkerung. Die<br />
deutschen Bauern<br />
machen einen strengen<br />
Unterschied zwischen<br />
‚Budapester‘<br />
und ‚unseren‘ Juden.“<br />
Joseph Roth**<br />
Jüdische Lehre, kulturelle Errungenschaften<br />
und Friedhöfe. Unter diesen günstigen<br />
Rahmenbedingungen entwickelte sich ein<br />
ungestörtes Kommunal-, Wirtschafts- und<br />
Geistesleben. Es gab eine jüdische Verwaltung<br />
und Gemeindeorganisation mit Ärzten,<br />
Lehrern, Schächtern und anderen<br />
Berufen. Aus Mattersdorf sind z. B. Berufe<br />
wie Schneider, Branntweinbrenner,<br />
Fleischhacker und Bierbrauer belegt. Die<br />
meisten orthodoxen Juden lebten in Mattersdorf<br />
und Deutschkreutz, wo sich bedeutende<br />
Jeschiwot befanden. In Mattersdorf<br />
wirkte unter anderem auch der<br />
große Rabbiner Mosche Schreiber, bekannt<br />
als Chatam Sofer (1762 Frankfurt<br />
– 1839 Pressburg/Bratislava), der zunächst<br />
in Mattersdorf lebte und wirkte<br />
und ab 1806 in Pressburg tätig war. Weltweit<br />
bekannt war die jüdische Gemeinde<br />
von Deutschkreutz wegen ihrer Talmudschule,<br />
an der orthodoxe Studenten aus<br />
ganz Mitteleuropa eine traditionell-jüdische<br />
Ausbildung genossen.<br />
So wie Eisenstadt und Mattersdorf<br />
dürfte auch Kobersdorf im 16. Jahrhundert<br />
eine voll ausgebildete Gemeinde mit<br />
Synagoge, Friedhof, Rabbiner, Kantor,<br />
Schächter und Gemeindegericht gewesen<br />
sein. Schon 1569 zählte die Gemeinde<br />
18 jüdische Familien in sieben Häusern.<br />
Kobersdorf galt vor allem wegen des<br />
Mineralwassers als beliebter Kurort, und<br />
die Gemeinde bemühte sich besonders<br />
um orthodoxe jüdische Sommergäste.<br />
Berühmte Musiker stammen auch aus<br />
dieser Gegend: Im jüdischen Viertel von<br />
Kittsee wurde 1831 der bekannte Geiger<br />
und Komponist Joseph Joachim geboren.<br />
In Keszthely am Balaton<br />
1830 als Sohn eines jüdischen<br />
Kantors geboren, übersiedelte<br />
Carl Goldmark im Alter<br />
von vier Jahren nach Deutschkreutz,<br />
wo er in ärmlichen Verhältnissen<br />
in seiner deutschjüdischen<br />
Familie aufwuchs. Mit<br />
elf Jahren bekam er den ersten<br />
Geigenunterricht, mit 14 Jahren<br />
zog er nach Wien, und im<br />
Alter von 18 Jahren trat er bereits<br />
als Sologeiger auf. Später<br />
entwickelte er sich zum populären<br />
Komponisten.<br />
Den Juden von Deutschkreutz<br />
setzte niemand Geringerer<br />
als Joseph Roth im <strong>August</strong><br />
1919 ein Denkmal: Nach<br />
seiner Reise durch das Heanzenland (als<br />
Heanzen werden die deutschsprachigen<br />
Bewohner des südlichen und mittleren<br />
Burgenlands bezeichnet) beschrieb er berührend,<br />
was ihm der Rabbiner der Stadt<br />
über den Alltag in den Siebengemeinden<br />
erzählt hatte. Ruwen Hirschler, ein<br />
Förderer des jungen Franz Liszt, wurde<br />
ebenso in Lackenbach geboren wie der sozialistische<br />
Politiker <strong>Juli</strong>us Deutsch, Mitbegründer<br />
des Republikanischen Schutzbundes.<br />
Gleich nach dem „Anschluss“<br />
1938 wurden die meisten Lackenbacher<br />
Juden auf Lastwagen gepfercht und nach<br />
Wien zwangsumgesiedelt. 1942 wurde<br />
die prächtige Synagoge gesprengt – eine<br />
ganz kleine, kaum auffindbare Gedenktafel<br />
erinnert heute daran. Der Gottesacker<br />
ist erhalten geblieben und mit 1.770<br />
Grabsteinen der größte jüdische Friedhof<br />
im Burgenland. Hier findet sich auch<br />
das Grab von Arthur Schnitzlers Urgroßvater<br />
Markus Mordechai Schey, den der<br />
Schriftsteller als gelähmten Greis deutlich<br />
in Erinnerung hatte. Ihm und seinem<br />
jüngeren Bruder, Baron Philipp Freiherr<br />
Schey, dessen Grab sich auch auf<br />
dem Lackenbacher Friedhof findet, setzte<br />
Schnitzler in Der Weg ins Freie ein literarisches<br />
Denkmal.<br />
Dieser effektive „Weg ins Freie“ erfolgte<br />
im Jahr 1848 nach dem Ende des Abhängigkeitsverhältnisses<br />
vom Hause Esterházy:<br />
Die Juden wurden freie, gleichberechtigte<br />
– ungarische – Staatsbürger. Die<br />
endgültige Gleichstellung der Juden erfolgte<br />
schließlich am 20. Dezember 1867<br />
in Folge des Österreich-Ungarischen Ausgleiches:<br />
Sie waren nun Staatsbürger mit<br />
allen Rechten und Pflichten. Nach dem<br />
Ende des Ersten Weltkrieges bekam Österreich<br />
die deutschsprachigen Teile der<br />
westungarischen Komitate zugesprochen,<br />
die ab 1921 zum Burgenland zusammengefasst<br />
wurden.<br />
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten<br />
auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes<br />
noch etwa 8.000 Juden. Die burgenländischen<br />
Juden waren 1938 die<br />
ersten in Österreich, die von den Ausweisungen<br />
der Nazis betroffen waren. Schon<br />
wenige Tage nach dem „Anschluss“ im<br />
März begann die systematische Ausweisung<br />
der Juden aus ihren Gemeinden. Am<br />
1. November 1938 meldete die Presse, dass<br />
„sämtliche Kultusgemeinden des Burgenlandes<br />
[...] nicht mehr existieren“. Als der<br />
NS-Landeshauptmann Dr. Tobias Portschy<br />
am 2. April 1938 forderte, im Burgenland<br />
neben der Agrarreform und der „Zigeunerfrage“<br />
auch die „Judenfrage mit nationalsozialistischer<br />
Konsequenz zu lösen“,<br />
bedeutete dies das endgültige Ende einer<br />
dreihundertjährigen kontinuierlichen jüdischen<br />
Geschichte im jüngsten Bundesland<br />
Österreichs.<br />
Nach 1945 kehrten nur mehr sehr wenige<br />
jüdische Familien ins Burgenland<br />
zurück. Heute gibt es, verstreut über das<br />
ganze Bundesland, kaum ein Dutzend Juden.<br />
Von den ehemaligen Synagogen blieben<br />
nur jene von Kobersdorf erhalten – die<br />
jüngst aufwendig renoviert wurde – sowie<br />
die vom Eisenstädter Weinhändler Sándor<br />
Wolf erbaute Privatsynagoge im heutigen<br />
Österreichischen Jüdischen Museum in<br />
Eisenstadt. Sehr treffend beschreibt dieses<br />
Museum den heutigen Zustand: „Eine<br />
Reise auf den Spuren der ehemaligen jüdischen<br />
Gemeinden des Burgenlandes ist<br />
heute eine Reise zu einigen Gedenktafeln<br />
und jüdischen Friedhöfen.“<br />
* Die Gemeinde trug bis zum 14. Juni 1924 offiziell den Namen „Mattersdorf“.<br />
Am 2. <strong>Juli</strong> 1926 erfolgte die Stadterhebung als „Mattersburg“.<br />
** Joseph Roth: Reise durchs Heanzenland. In: Der Neue Tag, 9.8.1919, S. 4f.,<br />
zitiert nach www.ojm.at.<br />
38 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
39
MATOK & MAROR<br />
Orientalisch im Siebenten<br />
& Flora heißt ein neues Hotelrestaurant mit kreativer – fast vegetarischer – Küche.<br />
Bei Hotelrestaurants gab es früher<br />
vor allem zwei Typen: teuren Luxus<br />
mit Familienöffnung für die<br />
Sonntagsbruncher. Oder – wie<br />
Florian Holzer im Kurier richtig bemerkte<br />
– die international bekannten, lähmenden<br />
Standards: Burger, Club Sandwich, dazu<br />
eventuell noch die Wiener Variante mit<br />
Schnitzel.<br />
Das hat sich in den letzten Jahren in ganz<br />
Europa geändert. Ein neuer Typus von Innenstadthotels<br />
ist entstanden, bunt, schräg,<br />
voller Kunst und Pflanzen, gegenüber den<br />
traditionellen Häusern<br />
modernisiert und abgespeckt.<br />
Manchmal<br />
checkt man selbst mit<br />
dem Handy ein. Die<br />
Lobby dient gleichzeitig<br />
als Working Space<br />
für Laptop-Besitzer.<br />
Und statt sich etwas<br />
aus der nicht existierenden<br />
Minibar zu holen, muss man auch<br />
in der Nacht hinunter an die Rezeption marschieren.<br />
Doch manche dieser Häuser haben nicht<br />
alles eingespart, sondern im Gegenteil in<br />
interessante Gastronomie investiert. Das<br />
Wiener Gilbert, an der Schnittstelle von MuseumsQuartier<br />
und Spittelberg gelegen, ist<br />
ein Beispiel dafür. Von den Tischen im begrünten<br />
Innenhof schaut man auf der einen<br />
Seite auf den Hoteleingang, auf der anderen<br />
Seite kann man durch große Glasscheiben<br />
die Küchenbrigade bei der Arbeit beobachten.<br />
Und was diese produziert, kann sich sehen<br />
– und schmecken lassen.<br />
Zwei Bücher hat die Küchenchefin Marvin<br />
Razavi schon geschrieben, eines behandelt<br />
die Gerichte der Hauptstadt ihrer<br />
ehemaligen Heimat, Teheran, das<br />
andere vegetarische Speisen des Orients.<br />
Und so sieht auch die Karte aus: kreativ,<br />
bunt und gemüselastig, freilich nicht ganz<br />
ohne Fleisch. Gelegentlich mischt sich et-<br />
Und so sieht auch<br />
die Karte aus:<br />
kreativ, bunt und<br />
gemüselastig,<br />
freilich nicht ganz<br />
ohne Fleisch.<br />
WINA- TIPP<br />
& FLORA<br />
Breite Gasse 9, 1070 Wien<br />
Tel.: +43/(0)1/523 13 45 100<br />
Mi.– Fr., 7:30–24 Uhr (Frühstück & Lunch<br />
bis 14 Uhr; Dinner 17:30–22 Uhr; Drinks<br />
& Snacks 14–17:30 Uhr); Sa., 8:30–24 Uhr<br />
(Frühstück & Lunch bis 14 Uhr; Dinner<br />
17:30–22 Uhr; Drinks & Snacks 14–17:30<br />
Uhr); So. & Feiertag, 8:30–17 Uhr (Brunch à<br />
la carte bis 16 Uhr); Mo. u. Di., 7:30–17 Uhr<br />
(Achtung: nur Drinks & Snacks)<br />
undflora.at<br />
was Rind, Kalb oder Fisch am Rand in das<br />
– nicht koschere – Speiseangebot.<br />
Die – kleinere – Lunchkarte beginnt etwa<br />
mit einer Madame Crousto Bruschetta mit<br />
Humus und dreierlei Karotte (eine davon<br />
tief violett) um € 12,50. Das Brot dafür<br />
kommt übrigens von Öfferl. Beim Tatar<br />
kann man zwischen der klassischen Rindervariante<br />
(€ 19) und der vegetarischen<br />
mit Fenchel entscheiden (€ 17). Und wem<br />
dabei der Schweizer Blauschimmelkäse<br />
Mürgu noch immer zu tierisch schmeckt,<br />
der kann es auch beim Chili-Orangenöl als<br />
vegetarischem Geschmacksträger belassen.<br />
Unter den warmen Gerichten finden sich<br />
etwa ein Zitronen-Emmer Risotto (€ 19), gegrillte<br />
Melanzani mit Minze und Tahina<br />
(€ 16) oder die gegrillten Salatherzen mit<br />
Labneh, einer Berberitzen-Kapern-Salsa,<br />
darüber Haselnüsse und Granatapfelkerne<br />
(€ 14). Für diese Komposition müsste sich<br />
ein Yotam Ottolenghi nicht genieren, sie<br />
würde auch gut in sein Programm passen.<br />
Am Abend wird die Karte erweitert,<br />
dann gibt es etwa noch ein Tatar von der<br />
Lachsforelle (€ 19), eine Suppe aus Miso,<br />
Fischflocken und Algen namens Dashi mit<br />
Ei (€ 14) oder Dan Dan Noodles mit Spinatgemüse<br />
und Erdnussöl, die weichgekocht<br />
werden und Italophile, die al dente gewohnt<br />
sind, eventuell verstören könnten (€ 18).<br />
Bei den Tacos werden wieder zwei Varianten<br />
angeboten, eine fleischige, diesmal mit<br />
Pulled Lamb, sowie eine vegetarische mit<br />
Melanzani und Miso-Sellerie (€ 19).<br />
Eine kleine – nicht ganz günstige – Weinkarte<br />
mit österreichischen bekannten Namen<br />
und Bioproduzenten rundet das Angebot<br />
ab. Wer will, kann überdies auf der<br />
Speisekarte die regionalen Lieferanten<br />
nachlesen. Und wer sich beim Kellner über<br />
unbekannte Speisen informieren möchte,<br />
wird freundlich und kompetent aufgeklärt,<br />
mit studentischem „Du“, auch wenn<br />
der Uni-Besuch der Gäste schon Jahrzehnte<br />
zurückliegt. <br />
Paprikasch<br />
© Reinhard Engel<br />
40 wına | Juni <strong>2022</strong>
WINAKOCHT<br />
Warum ist kalter Kaffee<br />
kein kalter Kaffee, …<br />
… und wieso knuspert das Schnitzel in Israel so anders als in Wien? Die Wiener Küche<br />
steckt voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />
Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Werte Kulinarik-ExpertInnen,<br />
neulich servierte ich Gästen aus Israel einen Eiskaffee.<br />
Er hat ihnen geschmeckt. Doch waren sie<br />
im ersten Moment sichtlich irritiert – und ich meinerseits<br />
über ihre Reaktion. Habe ich bezüglich<br />
der internationalen Kulinarikverständigung vielleicht<br />
etwas falsch gemacht?<br />
Simona S.<br />
Keine Sorge. Ihr Ruf als Gastgeberin hat<br />
sicher nicht gelitten. Ein Wiener Eiskaffee<br />
ist schließlich köstlich. Wir nehmen<br />
an, Sie haben den Klassiker kredenzt, wie<br />
ihn der Kaffeesieder Milani im Jahr 1790<br />
in seinem „Limonadezelt“ – nach heutigem<br />
Verständnis ein Schanigarten – am Kohlmarkt<br />
erstmals servierte: erkalteter schwarzer<br />
Kaffee, Vanilleeis und viel Schlagobers.<br />
Oder schätzen Sie die gerührte Variante, bei<br />
der das Eis mit heißem Kaffee verrührt wird?<br />
Das ist ja reine Geschmackssache, ebenso wie<br />
die Frage, ob man lieber Mokka nimmt oder<br />
Filterkaffee. In jedem Fall aber empfehlen<br />
sich Bohnen aus Zentral- oder Südamerika.<br />
Ihr nussig-schokoladiges Aroma passt nämlich<br />
besonders gut zum Vanilleeis. Und noch<br />
ein Tipp: Eine mittlere Röstung sorgt dafür,<br />
dass die kulinarische Sommerfreude nicht<br />
zu süß wird.<br />
Warum nun Ihre Gäste verwundert waren?<br />
Weil kalter Kaffee nicht (gleich) kalter<br />
Kaffee ist. In vielen Ländern versteht man<br />
unter Eiskaffee „Iced Coffee“, und den gibt es<br />
in vielen regionalen Varianten: vom griechischen<br />
Café Frappé bis zum vietnamesischen<br />
Ca Phe Sua Da. In Israel etwa entspricht er<br />
ungefähr dem, was wir kaffeeneudeutsch<br />
als „Frappuccino“ bezeichnen würden. Probieren<br />
Sie ihn doch einfach mal aus. Zwei<br />
Grundrezepte haben wir Ihnen beigestellt.<br />
Wem das zu puristisch ist, der kann das Getränk<br />
auch noch mit Haselnuss oder anderen<br />
Sirupgeschmacksrichtungen wie „Cookie<br />
and Cream“ mixen.<br />
ISRAELISCHER<br />
EISKAFFEE<br />
VARIANTE 1<br />
ZUTATEN:<br />
Milcheiswürfel,<br />
erkalteter Kaffee,<br />
Dattelhonig oder Ahornsirup<br />
zum Süßen<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Zwei Eiswürfelformen mit Milch füllen<br />
(Sie können auch vegane Milchalternativen<br />
verwenden) und im Gefrierschrank<br />
gefrieren lassen. Für den<br />
Kaffee zwei Esslöffel Kaffee mit zwei<br />
Esslöffeln kochendem Wasser aufbrühen<br />
und auskühlen lassen. Milcheiswürfel,<br />
erkalteten Kaffee und Dattelhonig<br />
(Menge nach persönlicher<br />
Süßvorliebe) im Mixer zu einer cremigen<br />
Masse mixen. Sofort servieren.<br />
VARIANTE 2<br />
ZUTATEN:<br />
1 ½ Tasse Wasser,<br />
2 Esslöffel Instant-Kaffeecups,<br />
⅓ Tasse Milch,<br />
1 bis 2 EL Zucker<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Instant-Kaffee in einem Glas unter<br />
Rühren vollständig im Wasser auflösen.<br />
Kaffee in eine Eiswürfelform füllen<br />
und im Gefrierschrank gefrieren<br />
lassen. 4 bis 5 Kaffeeeiswürfel mit der<br />
Milch und dem Zucker im Mixer mixen.<br />
Sofort servieren.<br />
Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion,<br />
in Israel gibt es an jeder Straßenecke Schnitzel –<br />
am Teller, in der Semmel oder in einer Pita. Mir<br />
schmeckt es dort ja fast besser als in seiner/meiner<br />
Heimat Wien. Irgendwas ist an der Panade<br />
anders. Kennen Sie das Geheimnis?<br />
Daniel W.<br />
Gelernte Österreicher:innen erstaunt<br />
das immer ein bisschen: Aber tatsächlich<br />
ist das Schnitzel so etwas wie ein Nationalgericht<br />
in Israel. Und als solches wurde<br />
es nach seinem Import aus der alten Heimat<br />
natürlich auch etwas adaptiert. Da Kalbfleisch<br />
in Israel eher schwer zu bekommen<br />
und auch recht teuer ist, werden meist das<br />
günstigere Huhn oder Truthahn in Öl gebraten.<br />
Den Geschmacksunterschied bei<br />
der Panade erklärt dies freilich nicht. Wir<br />
vermuten, dass es Sesamkörner waren, die<br />
Sie da begeistert haben. Viele Israelis mischen<br />
sie gern in den Paniermehlüberzug.<br />
So wird’s extra knusprig. Eventuell wurde<br />
auch Matzenmehl verwendet oder japanisches<br />
Paniermehl (Panko), gemischt mit<br />
Chilli-, Paprika- und oder Knoblauchpulver?<br />
Hier können wir auch nur spekulieren.<br />
Jede Familie hat da ihr eigene (Würz-)<br />
Mischung.<br />
Übrigens: Den Rest Paniermehl und<br />
Ei, der nach dem Baden des Schnitzels oft<br />
übrigbleibt, muss man nicht wegschmeißen.<br />
Einfach zusammenrühren,<br />
ein wenig ruhen lassen<br />
und dann dünne „Laberln“ davon<br />
braten. Und wenn Sie’s schon mögen:<br />
Mischen Sie hier einfach auch ein paar Sesamkörner<br />
unter.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle<br />
Fragen haben, schicken Sie sie bitte an:<br />
office@jmv-wien.at,<br />
Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at<br />
41
Jüdische Geschichte in Mähren<br />
Jüdischer Friedhof in der Innenstadt<br />
Mikulov – ein historisches<br />
Juwel vor der Haustür Wiens<br />
Der jüdische Friedhof von Mikulov/Nikolsburg wurde<br />
Mitte des 15. Jahrhunderts angelegt. Der faszinierende<br />
„ewige Garten“ bietet nun für eine geflüchtete Ukrainerin<br />
und ihren Sohn neue Hoffnung.<br />
Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert,<br />
Fotos: Reinhard Engel<br />
Ob sich das Bürgermeister Moriz<br />
Abeles, Johanna Auerschitz<br />
oder Leon Eisler je hätten vorstellen<br />
können? Dass nämlich<br />
der jüdische Friedhof im tschechischen<br />
Mikulov/Nikolsburg, wo sie seit mehr als<br />
110 Jahren begraben sind, im Sommer<br />
<strong>2022</strong> von Daria, die aus dem immer noch<br />
andauernden Ukraine-Krieg geflüchtet<br />
ist, beaufsichtigt wird. Es ist einer der<br />
größten und bedeutendsten jüdischen<br />
Friedhöfe Tschechiens, der Mitte des 15.<br />
Jahrhunderts angelegt und bis zur Zerstörung<br />
der jüdischen Gemeinden in der<br />
Shoah genutzt wurde. Auf der zwei Hektar<br />
großen hügeligen Grünfläche befinden<br />
sich etwa 4.400 Grabsteine.<br />
Die 42-jährige Daria, Mutter eines<br />
13-jährigen Buben, ist vor zwei Monaten<br />
aus Krementschuk – etwa 300 Kilometer<br />
südöstlich von Kiew – geflohen<br />
und musste ihre Eltern und schwangere<br />
Schwester dort zurücklassen. „Ich habe in<br />
der Logistikabteilung der Raffinerie gearbeitet,<br />
auf die sind neun Raketen eingeschlagen“,<br />
erzählt sie in einfachem Englisch.<br />
Daria sitzt im Eingangsbereich des<br />
Friedhofs in einem Gebäude, das der bekannte<br />
mährisch-jüdische Architekt Max<br />
Fleischer (Prossnitz 1841 – Wien 1905) bei<br />
einer der letzten Erweiterungen des Friedhofs<br />
im späten 19. Jahrhundert im eklektischen<br />
Stil als Teil der Zeremonienhalle erbaut<br />
hat. Hier kassiert sie 50 tschechische<br />
Kronen (rund zwei Euro) für den Eintritt<br />
in einen paradiesischen<br />
verzauberten Garten, der<br />
die vielschichtige und bedeutende<br />
jüdische Vergangenheit<br />
Mährens nur erahnen<br />
lässt.<br />
Über drei Jahrhunderte<br />
hinweg galt die Stadt<br />
als kulturelles und geistiges<br />
Zentrum des mährischen<br />
Judentums. Die älteste<br />
Nachricht über Juden<br />
in Nikolsburg stammt aus<br />
dem Jahre 1369 und bezieht<br />
sich auf eine Schuldnerliste, in der<br />
der Jude Efrom – nur auf der Durchreise<br />
– genannt ist. Erstmalig siedelten sich jüdische<br />
Familien aus Niederösterreich<br />
und Wien ab 1421 in Nikolsburg an: Herzog<br />
Albrecht V. betrieb ihre Vertreibung.<br />
Den ersten Zufluchtsort fanden sie nahe<br />
der Grenze, nur 99 Kilometer von Wien<br />
entfernt, auf dem Handelsweg von Wien<br />
nach Brünn. In Nikolsburg standen sie<br />
unter dem Schutz der Fürsten von Liechtenstein.<br />
Weitere jüdische Ansiedler kamen<br />
1454 infolge der Ausweisungen aus<br />
den königlichen Städten Mährens. Die Gemeinde<br />
erlangte ab 1575 mehr Bedeutung,<br />
als Kardinal Franz Xaver von Dietrichstein<br />
die Juden schützte, weil er ihre Steuern für<br />
seinen Einsatz im Dreißigjährigen Krieg<br />
benötigte.<br />
Hier erkannte man den wirtschaftlichen<br />
Vorteil der Juden für die Stadt – ne-<br />
Die Volkszählung<br />
von 1754<br />
ergab, dass<br />
die jüdische<br />
Bevölkerung<br />
mit etwa<br />
3.000 Seelen<br />
die Hälfte der<br />
Einwohner von<br />
Mikulov ausmachte.<br />
ben dem Handel war es schließlich das<br />
Handwerk, das wesentlich zur Blütezeit<br />
beigetragen hat. So wurde Mikulov allmählich<br />
zum Zentrum der mährischen<br />
Juden und ab 1653 zum Sitz der Landesrabbiner.<br />
Der berühmteste unter ihnen<br />
amtierte hier von 1553 bis 1573: Rabbi Judah<br />
Löw, auch als Maharal bekannt (Abkürzung<br />
für Moreinu ha-Rav Loew – Unser<br />
Lehrer Rabbi Loew), ist am Prager Friedhof<br />
begraben. Ihm wird der Legende nach<br />
die Erschaffung des Golem* zugeschrieben.<br />
In seinem ehemaligen Wohnhaus<br />
ist heute das Restaurant Marcel untergebracht.<br />
Weitere gelehrte<br />
Rabbiner waren Menachem<br />
Mendel Krochmal<br />
(1648–1661), David Oppenheim<br />
(1689–1708) sowie Samuel<br />
Schmelke Horowitz<br />
(1774–1778). Die lokale Je-<br />
shiwa (Religionsschule)<br />
genoss großes Ansehen in<br />
ganz Europa.<br />
Die jüdischen Familien<br />
wohnten an der Westseite<br />
des Schlosshügels, so entstand<br />
später hier das jüdische<br />
Viertel. Eine Reihe<br />
von Katastrophen mussten<br />
die Juden erleiden: 1719 vernichtete<br />
ein Großfeuer fast das gesamte Viertel,<br />
zudem wurde der Besitz der obdachlos<br />
gewordenen Bewohner noch geplündert.<br />
Erst viele Jahre später wurde den Juden<br />
der Wiederaufbau ihrer Häuser gestattet.<br />
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />
zählte die Gemeinde von Mikulov mehr<br />
als 600 Familien und bildete die größte<br />
jüdische Niederlassung in Mähren. Die<br />
von Kaiserin Maria Theresia angeordnete<br />
Volkszählung von 1754 ergab, dass die jüdische<br />
Bevölkerung mit etwa 3.000 Seelen<br />
die Hälfte der Einwohner von Mikulov<br />
ausmachte. Aus dem Mikulov-Ghetto<br />
entstammen einige bekannte Persönlichkeiten,<br />
wie Joseph von Sonnenfels (1733–<br />
1817), Professor für Staats- und Rechtswissenschaften<br />
an der Universität Wien<br />
und einflussreicher Berater Kaiserin Maria<br />
Theresias.<br />
Der Schloss Mikulov befindet<br />
sich in direkter Nähe des<br />
Stadtzentrums.<br />
Historische Zdaka<br />
(Spendenbox) aus der<br />
Synagoge.<br />
Der jüdische Friedhof<br />
in Mikulov wurde im 15.<br />
Jahrhundert angelegt.<br />
Auf einer Fläche<br />
von fast 20.000 m²<br />
stehen weit über 4.000<br />
Grabsteine aus drei<br />
Jahrhunderten.<br />
* Der Golem ist ab dem frühen Mittelalter in Mitteleuropa die Bezeichnung für eine<br />
Figur der jüdischen Literatur und Mystik. Dabei handelt es sich um ein von Weisen<br />
mittels Buchstabenmystik aus Lehm gebildetes stummes, menschenähnliches<br />
Wesen, das oft gewaltige Größe und Kraft besitzt und Aufträge ausführen kann.<br />
** Die Bima (hebräisch für Bühne) ist der Platz in einer Synagoge, von dem aus die<br />
Tora während des Gottesdienstes verlesen wird.<br />
42 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
43
Bis 1938 wurde hier gebetet<br />
Die Überreste einer Mikwe<br />
(rituelles Tauchbad), um 1800<br />
errichtet, wurden im Jahr 2004<br />
während einer archäologischen<br />
Untersuchung auf dem ehemaligen<br />
Gelände des jüdischen<br />
Viertels in Mikulov entdeckt.<br />
Das älteste noch bestehende jüdische<br />
Heiligtum ist die Obere<br />
Synagoge (auch Alte Synagoge<br />
genannt) in der Hus-Straße<br />
(Husova), sie stammt aus dem<br />
Jahre 1550 und war ursprünglich<br />
ein Renaissancebauwerk.<br />
Ihr heutiges Aussehen erhielt<br />
sie nach mehreren Umbauten, vor allem<br />
nach den Zerstörungen durch Brände im<br />
jüdischen Viertel von Mikulov in den Jahren<br />
1561 und 1719. Nach dem zweiten Feuer<br />
wurde sie im Stil des Barock umgebaut.<br />
Bedingt durch die Straßenführung und<br />
religiöse Erfordernisse (Toraschrein an<br />
der Ostwand) hat das Gebäude einen rautenförmigen<br />
Grundriss. Die Bima** befindet<br />
sich in der Mitte des Raumes zwischen<br />
vier Säulen, deren Baldachin wiederum<br />
die Decke abstützt. Dieses Konzept hatte<br />
sich in der polnisch-litauischen Adelsrepublik<br />
ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />
als ein baugeschichtlich völlig<br />
neuartiger Aufbau einer Synagoge entwickelt.<br />
Bis 1938 wurde hier noch gebetet.<br />
Ein ewiger Garten in der Innenstadt. Im<br />
Jahre 1938 zählte Mikulov etwa 8.000<br />
Einwohner, davon 472 Juden. Von diesen<br />
Der Rundgang<br />
auf dem jüdischen<br />
Friedhof<br />
von Mikulov<br />
kann eine<br />
Stunde dauern<br />
oder einen<br />
ganzen Tag.<br />
Die Bima<br />
in der Synagoge<br />
von<br />
Mikulov: Bis<br />
1938 wurde<br />
hier noch<br />
gebetet.<br />
konnten 110 ins Ausland<br />
fliehen, 327 überlebten<br />
die Shoah nicht. Damit war<br />
das Ende der jüdischen Gemeinde<br />
in Nikolsburg besiegelt.<br />
Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg als Lagerraum<br />
genutzt, sollte das Gotteshaus<br />
abgerissen werden.<br />
Ende der 1970er-Jahre begann<br />
man dennoch mit<br />
einer umfassenden Sanierung,<br />
die 1989 abgeschlossen<br />
wurde. Heute wird das<br />
Gebäude vom Regionalmuseum<br />
Mikulov genutzt.<br />
Wer heute durch Mikulov mit seinen knapp<br />
7.500 Einwohnern spaziert, findet ein gepflegtes,<br />
sauberes Städtchen vor: Die Häuser<br />
am Hauptplatz, aber auch in den Nebengassen<br />
sind frisch gestrichen und bunt herausgeputzt.<br />
Die Attraktion, um die sich hier alles<br />
dreht, ist das Schloss Mikulov. Es befindet sich<br />
an der Stelle einer slawischen Siedlung, an der<br />
seit Ende des 13. Jahrhunderts eine steinerne<br />
Burg stand. Die Burg erweiterten später die<br />
Herren von Liechtenstein, das heutige Aussehen<br />
erhielt sie durch einen großzügigen Umbau<br />
in den Jahren 1719 bis 1730 unter den Fürsten<br />
von Dietrichstein, die das Schloss im 16.<br />
Jahrhundert erworben hatten. Während des<br />
Preußisch-Österreichischen Krieges von 1866<br />
war das Schloss das Hauptquartier des preußischen<br />
Königs Wilhelm I. und des preußischen<br />
Kanzlers Otto von Bismarck sowie des Generalstabs.<br />
Hier wurde am 26. <strong>Juli</strong> 1866 der Vor-<br />
frieden von Nikolsburg zwischen Preußen<br />
und Österreich geschlossen. Im April 1945<br />
brannte das Schloss infolge von Kampfhandlungen<br />
aus. Heute dient es als Regionalmuseum.<br />
Die Krönung eines Ausflugs nach Mikulov<br />
– nicht nur für jüdische Besucher<br />
– bildet der weltweit bekannte, einzigartige<br />
Friedhof, der sich am nordwestlichen<br />
Rande des ehemaligen jüdischen Viertels<br />
befindet. Allein die Tatsache, dass er in der<br />
Innenstadt liegt, zeugt von seinem Alter. Er<br />
wurde zweifellos kurz nach der Gründung<br />
der jüdischen Gemeinde angelegt, irgendwann<br />
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts,<br />
und behielt seine ursprüngliche<br />
Lage. Der älteste lesbare Grabstein ist<br />
für Samuel ben Leb Aschkenazi aus dem<br />
Jahr 1605, noch ältere Gräber sind verwittert<br />
und nicht mehr zu entziffern. Das<br />
Faszinierende an diesem „ewigen Garten“<br />
ist vor allem die Vielfalt der Grabsteine,<br />
sowohl vom Material (von Sandstein bis<br />
Marmor) wie auch von der Gestaltung des<br />
Ortes her: Es gibt keine Wege zu den einzelnen<br />
Gräbern, und sie sind auch nicht<br />
zeitlich geordnet. Steine aus dem 16. Jahrhundert<br />
stehen schief und halb versunken<br />
neben Grabmälern aus dem frühen<br />
20. Jahrhundert, die protzig in den Himmel<br />
ragen. Der historisch interessanteste<br />
Teil ist der sogenannte „Rabbinerhügel“,<br />
wo fast alle mährischen Rabbiner über<br />
fünf Jahrhunderte begraben wurden.<br />
Auch der jüngeren historischen Ereignisse<br />
wird hier gedacht: Ein großes, halbrundes<br />
Denkmal erinnert an die 25 jüdischen<br />
Opfer des Ersten Weltkrieges, ein viel<br />
bescheideneres Monument soll die Ermordung<br />
von 21 jüdischen Häftlinge aus Ungarn<br />
unvergessen machen, die in Mikulov<br />
am Ende des Zweiten Weltkrieges von<br />
deutschen Nazis erschossen wurden. Der<br />
Rundgang auf dem jüdischen Friedhof von<br />
Mikulov/Nikolsburg kann eine Stunde dauern<br />
oder einen ganzen Tag, und man kann<br />
immer wieder kommen und Neues entdecken.<br />
Etwas erschöpft, aber beseelt vom Erlebten<br />
beendet man den Zittergang durch<br />
Wildwuchs, Büsche, Erdbeersträucher<br />
und grasbedeckte Fallen. Daria sitzt noch<br />
immer im Friedhofsbüro. Tschechische<br />
Sprach- und jüdische Geschichtsbücher<br />
liegen offen übereinander auf dem Tisch:<br />
Sie konzentriert sich auf ihr so unerwartet<br />
neues Leben. In ihrer Heimat tobt der<br />
Krieg, hier aber liegen hinter ihr Jahrhunderte,<br />
die von der Geschichte eines Volkes<br />
erzählen, dass immer wieder unter Kriegen<br />
und Verfolgung gelitten hat.<br />
44 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
Alles so bunt hier<br />
Eine Milton-Avery-Retrospektive in London<br />
präsentiert den US-Maler erstmals in Europa<br />
Sie suchen noch eine knifflige Frage für die Millionenshow?<br />
Wie wäre es mit: Wer war Milton<br />
Avery? Das dürften selbst Scharen promovierter<br />
Kunsthistoriker:innen nicht beantworten können. Vor<br />
allem, wenn sie aus Europa stammen. Denn der USamerikanische<br />
Maler, geboren 1885 und gestorben<br />
1965, erhält erst jetzt, fast 50 Jahre nach seinem Tod,<br />
seine erste große transatlantische Retrospektive. In der<br />
Royal Academy zu London sind bis 16. Oktober 70 Arbeiten<br />
von ihm zu sehen.<br />
Es ist eine ganz erstaunliche Kunstschau. Denn wie<br />
sonst recht eigentlich nur beim Niederländer<br />
Piet Mondrian ist bei und<br />
mit Avery, der erst mit 30 Jahren ein<br />
Gemälde öffentlich ausstellen konnte<br />
und sich zehn Jahre später endgültig<br />
in New York niederließ, die Entwicklung<br />
von einem an Landschaftsmotiven<br />
sich orientierenden, talentiert exekutierten<br />
Postimpressionismus zu<br />
einem farbstarken abstrakten Expressionismus<br />
zu verfolgen. Mit seinem berückenden<br />
Kolorismus war der umgängliche<br />
Maler zugleich Ziehvater und<br />
Inspirator für die eine Generation Jüngeren<br />
wie Mark Rothko; ein weiteres<br />
Echo ließe sich, betrachtet man Averys<br />
Badende, deutlich bei Alex Katz finden.<br />
A.K.<br />
MILTON AVERY, AMERICAN COLOURIST<br />
Royal Academy of Art, London<br />
bis 16. Oktober <strong>2022</strong><br />
royalacademy.org.uk<br />
Postimpressionist bis<br />
abstrakter Expressionist:<br />
Milton Avery, Seated Girl<br />
with Dog, 1944.<br />
Die Taylor, fotografiert<br />
von Helmut Newton in<br />
Los Angeles für Vanity<br />
Fair, 1985.<br />
Alles so<br />
filmisch hier<br />
Hollywood: Das Berliner Museum<br />
für Fotografie zeigt Fotos von Newton,<br />
Morath, Leibovitz und anderen<br />
Natürlich darf Newtons Foto von Elizabeth<br />
Taylor im Pool mit grünem Papagei<br />
aus dem Jahr 1985 nicht fehlen. Schließlich<br />
ist der Kern der Ausstellungsaktivitäten<br />
des Museums für Fotografie in Berlin das<br />
große Werk von Helmut Newton. In Hollywood<br />
wird bis 20. November Hollywood<br />
präsentiert, durch die Augen und Kameralinsen<br />
von Newton, Inge Morath und <strong>Juli</strong>us<br />
Shulman, Annie Leibovitz und George Hoyningen-Huene,<br />
von Steve Schapiro, Alice<br />
Springs, Eve Arnold oder Anton Corbijn.<br />
So unterschiedlich die Stile und Manierismen, so eindringlich<br />
sind die Aufnahmen aus fast einhundert Jahren.<br />
Man sieht Schauspielerinnen und Schauspieler. Entweder<br />
am Set – noch immer großartig, wie Eve Arnold die hochkonzentrierte<br />
Marilyn Monroe bei The Misfit einfing. Oder<br />
ausgefuchst inszeniert bei Helmut Newton. Anders Anton<br />
Corbijn, der in Schwarz-Weiß eine sinnierende Marianne<br />
Faithfull zeigt oder jede Falte von Clint Eastwood.<br />
Schön auch, dass der fotografische Blick über Filmstars<br />
hinausgeht – auf die Stadt, auf Häuser, bei Shulman und,<br />
ganz anders, bei Michael Dressel – oder hin zu Street<br />
Photography, die zwischen Raffinesse und Elend oszilliert.<br />
A.K.<br />
HOLLYWOOD<br />
Museum für Fotografie, Berlin<br />
bis 20. November <strong>2022</strong><br />
smb.museum<br />
MUSIKTIPPS<br />
ORLOWSKY<br />
Viele bedauerten, dass David Orlowsky<br />
(Paris-Odessa) 2019 sein<br />
langjähriges Trio auflöste. Nun hat der Klarinettist<br />
aus Tübingen einen feinen Mit- und Gegenspieler<br />
gefunden, den Lautisten David Bergmüller.<br />
Klarinette und Laute, bitte wie, bitte was? Und<br />
dann noch Eigenkompositionen, die sich zu Henry<br />
Purcells Dido’s Lament gesellen, zu John Dowland,<br />
Kapsberger und Thomas Prestons La Mi Re? Aber<br />
ja! Alter Ego (Warner) ist mitreißend und meditativ.<br />
Klug und ergreifend musikempathisch.<br />
GÖTZ<br />
Das klingt nach Desaster. Da montierte<br />
2021 Christian von Götz für<br />
die Oper Köln viele Songs aus New Yorker jiddischen<br />
Operetten, komponiert zwischen 1900 und<br />
1920, legte sie der uralten Lea Singer in den Mund,<br />
der in der Nacht zu Pessach Erinnerungsgeister erscheinen,<br />
Ahnen wie einstige Verehrer. Aber: Dalia<br />
Schaechter als Lea, die Diva an der Schwelle des Todes,<br />
war ein Ereignis! Nachzuhören ist die hinreißende<br />
„musikalische Farce“ (warum: Farce?) Mazeltov,<br />
Rachel’e (Ars) nun auf Silberling.<br />
HAMPSON<br />
2006 gab Thomas Hampson während<br />
der Salzburger Festspiele einen<br />
Liederabend. Und vielleicht war Verfolgt – verbannt<br />
(Orfeo) einer der besten Auftritte des amerikanischen<br />
Baritons. Einer der zu Recht höchstgelobten.<br />
Und einer der intelligentesten. Die in Diktaturen verfemten,<br />
vertriebenen Lieder von Schönberg, Mahler<br />
und Giacomo Meyerbeer, von Mendelssohn und<br />
Zemlinsky, Berg und Zeisl wirken anno <strong>2022</strong> noch<br />
ergreifender. Jetzt ist die CD zum Sonderpreis zu haben<br />
und ein diskografisches must hear. A.K.<br />
© 2021 Milton Avery Trust / Artists Rights Society (ARS), New York and DACS, London 2021. Foto: Jim Frank; © Helmut Newton Foundation<br />
wına-magazin.at<br />
45
Eine andere Perspektive einnehmen<br />
INTERVIEW MIT DAN DINER <br />
„Es hätte auch<br />
ganz anders<br />
kommen können“<br />
WINA: Wenn man Ihr Buch in Zusammenhang mit<br />
Ihren biografischen Daten bringt, kommt man zu<br />
dem Schluss, dass wohl nur Sie diese beiden Perspektiven<br />
auf den Zweiten Weltkrieg zwischen Europa<br />
und dem Raum der Levante in eine Gesamtschau<br />
bringen konnten. Inwieweit hat Ihr Lebenslauf zwischen<br />
Deutschland und Israel Ihr Werk bestimmt?<br />
Dan Diner: Nicht mein Lebenslauf hat die<br />
Struktur meines Werkes bestimmt, sondern vielmehr<br />
der Lebenslauf meiner Eltern, der ja wiederum<br />
als Erinnerungskontext für mich und meine Interessen<br />
relevant ist. Gleichzeitig mit der Geschichte<br />
meiner Eltern ist es aber eine jüdische Kollektivgeschichte.<br />
Meine Eltern sind aus Osteuropa, waren<br />
während des Krieges in der Sowjetunion, sind<br />
dann nach Westen und danach nach Israel. Die Wegstrecken<br />
vieler überlebender Juden, die nicht<br />
unmittelbar deutscher Herrschaft unterworfen<br />
waren, sind die Wegstrecken meiner Eltern<br />
gewesen, und mir haben sich schon seit früher<br />
Kindheit diese Muster eingeprägt. Und so<br />
ist dieses Buch auch als eine jüdische Kollektivbiografie<br />
entstanden.<br />
In seiner spannenden Geschichtsanalyse<br />
Ein anderer Krieg betrachtet der<br />
deutsch-israelische Historiker Dan<br />
Diner den Zweiten Weltkrieg aus der<br />
Perspektive des jüdischen Palästina<br />
und erzählt von den vielen Zufälligkeiten<br />
der Ereignisse. Auf Einladung des<br />
Centers for Israel Studies Vienna war<br />
er in Wien zu Gast. Ein Gespräch über<br />
Vergangenheiten, das mit einem düsteren<br />
Blick auf die Gegenwart endet.<br />
Interview: Anita Pollak.<br />
Dan Diner:<br />
Ein anderer Krieg. Das<br />
jüdische Palästina und<br />
der Zweite Weltkrieg.<br />
DVA Verlag 2021,<br />
352 S., € 35<br />
Auch wenn man als Historiker um Objektivität bemüht<br />
sein muss, gibt es wohl immer noch einen<br />
subjektiven Zugang zu Kriegen und Konflikten vor<br />
allem der jüngeren Vergangenheit. Wie sehen Sie<br />
das?<br />
I Mit Sicherheit identifiziert man sich mit den<br />
Alliierten gegen Hitlerdeutschland. Meine Geschichte<br />
ist eine der jüdischen Flüchtlinge, die<br />
nach Palästina gekommen sind, es ist keine zionistisch<br />
erzählte Geschichte. Es beleuchtet viele Zufälligkeiten,<br />
die mit den Ereignissen des Zweiten<br />
Weltkriegs in Verbindung stehen, und insofern ist<br />
das Element der Zufälligkeit das eigentliche Thema.<br />
Das heißt, es musste nicht so kommen, die Wahrscheinlichkeit<br />
war größer, dass es anders hätte kommen<br />
können.<br />
In welchem Sinn anders?<br />
I Vielleicht in dem Sinn, dass der Yishuv (Anm.:<br />
das jüdische Gemeinwesen vor der Staatsgründung<br />
1948) den Krieg nicht überstanden hätte.<br />
Es war ja nah dran. Und dieses „nah dran“ ist<br />
das eigentliche Thema.<br />
© Wikipedia/ Dontworry; Amazon<br />
DAN DINER<br />
wurde 1946 als Kind polnisch-litauischer Eltern<br />
in einem Displaced-Person-Lager in München<br />
geboren. 1949 wanderte die Familie nach Israel<br />
aus und emigrierte 1954 nach Deutschland,<br />
wo Diner studierte und sich habilitierte. Nach<br />
diversen Lehrstühlen in Europa und in Israel<br />
leitete er an der Universität von Tel Aviv das<br />
Institut für deutsche Geschichte, war von 1999<br />
bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts<br />
für jüdische Geschichte an der Universität<br />
Leipzig und lehrt seit 2014 an der Hebräischen<br />
Universität Jerusalem moderne Geschichte. Er<br />
lebt in Israel und Berlin.<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Ihnen<br />
geschilderte Panik, die die Zionisten ergriff, als sie den<br />
Krieg bzw. die Front näher kommen sahen, bis hin zu Ideen<br />
eines kollektiven Selbstmords à la Masada. Wo muss man<br />
stehen, um einen Perspektivenwechsel weg vom eurozentristischen<br />
Weltbild vornehmen zu können?<br />
I Die Gedächtnisgeografie und die politische Geografie<br />
sind hier entscheidend. Mein Blick unterscheidet<br />
sich von den üblich eingenommenen Blickwinkeln<br />
insofern, als ich davon ausgehe, dass Palästina über<br />
das Mittelmeer von Europa nicht erreichbar war. Das<br />
Mittelmeer war ein geschlossenes Kriegsgebiet. Um<br />
Entwicklungen in diesem Gebiet zu erkennen, muss<br />
man den Blick von Asien her bzw. vom<br />
Zentralbereich des britischen Empires,<br />
dem Indischen Ozean, einnehmen, ein<br />
Blick von Süden nach Norden und weniger<br />
von Westen nach Osten. Palästina hat<br />
sich am nordwestlichen Zipfel einer britischen<br />
Verteidigungszone befunden, die<br />
sich um das asiatische Empire gelegt hat.<br />
Diese Perspektive macht es möglich, die<br />
Realität, die sich damals abgespielt hat,<br />
angemessen zu verstehen.<br />
Für Nichthistoriker ist sicherlich sehr vieles neu<br />
und überraschend. Unter anderem, wie sich<br />
die damaligen Zionisten und späteren Staatsgründer<br />
im Holocaust den Juden der Diaspora<br />
gegenüber verhalten haben. Wie sieht man das heute in<br />
der israelischen Geschichtsschreibung?<br />
I Vor 20, 30 Jahren war das ein sehr wichtiges Thema,<br />
wie sich der Yishuv dem Holocaust gegenüber verhalten<br />
hat, inzwischen ist die Diskussion darüber<br />
eher abgeklungen. Ich verstehe mein Buch im Abklang<br />
dieser eher erregten Diskussion der 1980erund<br />
1990er-Jahre, indem ich keine Schuldzuweisung<br />
vornehme, sondern einfach über die Topografie des<br />
Krieges zu erklären versuche, wie man in die Lage<br />
geraten ist, etwas nicht wahrzunehmen. Zwei verschiedene<br />
Dinge, die auch im Buch eine Rolle spielen,<br />
sind dabei wichtig. Das eine, dass auch für die<br />
säkularsten Juden das Land, Eretz Israel, von etwas<br />
Sakralem durchdrungen ist, als ein Ort, der Rettung,<br />
der Errettung, verheißt. Dieser Begriff wandelt sich<br />
im Hebräischen in den späten 1930er-, 1940er-Jahren.<br />
Errettung war etwas Spirituelles und wird später<br />
zu etwas Physischem, weil man tatsächlich im Land<br />
vor dem Schlimmsten bewahrt wurde, aber nicht<br />
vom Land selbst, sondern von der britischen Armee,<br />
die Rommel den Weg nach Palästina verstellt hat.<br />
Zweitens muss man den Zweiten Weltkrieg als globalen<br />
Krieg sehen, um zu verstehen, warum es den<br />
Achsenmächten nicht gelungen ist, Palästina zu erreichen.<br />
Etwa bis tief in den Indischen Ozean, nach<br />
Asien schauen, um zu begreifen, dass diese Lage des<br />
Ortes im nordwestlichen Zipfel der britischen Verteidigung<br />
das eigentlich Entscheidende gewesen ist.<br />
Es ist natürlich psychisch schwer zu ertragen, dass<br />
das die Gründe sind, weil man dem Land mehr an<br />
Bedeutung zuweist, als es tatsächlich hatte. Das ist<br />
aber auch die kritische Absicht, die ich mit diesem<br />
Buch verfolgt habe.<br />
„Mit dem<br />
Mauerfall<br />
und der<br />
Auflösung der<br />
Sowjetunion<br />
haben wir die<br />
Implosion<br />
gesehen, aber<br />
der Knall<br />
erreicht uns<br />
erst jetzt, 30<br />
Jahre später.“<br />
46 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
47
Die Gegenwart verstehen lernen<br />
Viele beschriebene Details sind weitgehend unbekannt,<br />
z. B. die faszinierende Geschichte der s.g. „Anders-Armee“,<br />
eine polnische Exilarmee, der auch Menachem Begin angehörte.<br />
Sie zeigt deutlich, dass der Antisemitismus auch<br />
dort wirksam war, wo man die Juden als Soldaten gebraucht<br />
hat. Der Antisemitismus als globales Phänomen<br />
zieht sich durch die von Ihnen beleuchteten Schauplätze<br />
abseits von Hitler-Deutschland, von Bagdad bis in die Sowjetunion.<br />
Ist er, von heute her gesehen, eine Konstante?<br />
I Ja und nein. Es gibt unterschiedliche Ausdrucksformen<br />
des Antisemitismus. In der Anders-Armee war<br />
es ein kulturell-religiöser Antisemitismus, aber auch<br />
ein polnisch-jüdischer Gegensatz, der mit der Politik<br />
in Polen zu tun hatte. Dann muss man unterscheiden<br />
zwischen dem Pogromantisemitismus im Irak,<br />
den ich beschreibe, einer Form des muslimischen<br />
Antijudaismus, und natürlich dem Nationalsozialismus,<br />
der auf Vernichtung aller Juden aus war. Dabei<br />
kommt es aber eher darauf an, die Unterschiede festzuhalten,<br />
als die Gemeinsamkeiten herauszustellen.<br />
Von Ihnen stammt ja der Terminus „Zivilisationsbruch“.<br />
Die Singularität der Shoah wird aber heute oft relativiert,<br />
sogar in Frage gestellt. Wie kann man da als Historiker im<br />
Diskurs wirksam werden?<br />
I Ich selbst habe das Wort von der Singularität nie<br />
verwendet, sondern immer auf die Besonderheit des<br />
Holocaust verwiesen, und unterscheide auch zwischen<br />
dem Allgemeinbegriff des Genozids und dem,<br />
was ich als den absoluten Genozid bezeichne, nämlich<br />
den Holocaust, das Vorhaben, das gesamte Judentum<br />
zu vernichten. Ich neige nicht dazu, in einen<br />
Diskurs der Meinungen und Behauptungen einzutreten,<br />
sondern würde als Historiker gern über die<br />
Einzelphänomene diskutieren, aber der Diskurs ist<br />
mittlerweile derartig kontaminiert, dass man sich<br />
da besser heraushält.<br />
Die Simultanität zeitgeschichtlicher Ereignisse zu erkennen,<br />
gelingt wahrscheinlich nur aus historischer Distanz.<br />
Das Jahrhundert verstehen hieß eines Ihrer Bücher aus<br />
dem Ende des 20. Jahrhunderts. Hilft dieses Verständnis<br />
auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts?<br />
Man kann Tendenzen vielleicht besser erkennen,<br />
man kann Bezüge aus der Vergangenheit in die Gegenwart<br />
ziehen und sie auch in die Zukunft projizieren.<br />
Es gibt Kontinuitäten und Diskontinuitäten, zum<br />
Beispiel wurde das Verhältnis zwischen Juden und Ukrainern<br />
in der Vergangenheit als äußerst schlecht angesehen,<br />
seit Jahrhunderten gab es dort immer wieder<br />
Pogrome an Juden, und jetzt vertritt Selenskyj als<br />
Jude die Ukraine, und zwar völlig unhinterfragt seitens<br />
der ukrainischen Bevölkerung. Auch das ukrainisch-polnische<br />
Verhältnis war schlecht, und heute<br />
gibt es so eine Art Völkerfreundschaft, also insofern<br />
ist es schwierig, sich auf die Vergangenheit zu berufen,<br />
um Gegenwärtiges zu verstehen. Aber Russland<br />
war früher ein Hort des Antisemitismus, und man hat<br />
„Auch für die<br />
säkularsten<br />
Juden ist Eretz<br />
Israel ein Ort,<br />
der Errettung<br />
verheißt.“<br />
heute den Eindruck, dass sich da wenig verändert hat.<br />
Ich würde die Geschichte nicht als Kompass benützen,<br />
sie ist hilfreich, um Wiederholungen zu erkennen,<br />
aber auch Veränderungen.<br />
Wir sind nun wieder mit strategischen und militär-technischen<br />
Termini konfrontiert, die wir längst vergessen<br />
durften. Sie beweisen in<br />
Ihrem Buch eine große<br />
Kenntnis der Militärgeschichte.<br />
Wie betrachten<br />
Sie mit diesem Wissen<br />
den Ukraine-Krieg?<br />
Es hat viel mit dem<br />
Kalten Krieg zu tun,<br />
in dem der Raum eine<br />
geringere Rolle spielte<br />
als die Zeit. Wie lange<br />
braucht eine Rakete,<br />
um von einem Ort zum<br />
anderen zu gelangen.<br />
Und deshalb waren<br />
die großen Konflikte<br />
damals Zeitkonflikte,<br />
die an einem bestimmten<br />
Tag begannen und<br />
an einem bestimmten<br />
Tag endeten, z. B.<br />
die Berlinkrise 1958, 1961, die Kuba-Krise 1962. Das<br />
war dem nuklearen Gegensatz geschuldet, entweder<br />
kommt es zu einem nuklearen Krieg oder es hört auf.<br />
Heute haben es wir mit sehr langfristigen, am Boden<br />
haftenden Konflikten zu tun, wo plötzlich Fragen<br />
der Geografie, der Topografie, der Bewegungen<br />
im Raum, Flüsse und Brücken eine Rolle spielen. Die<br />
Zeit des Krieges verlangsamt sich und dehnt sich aus.<br />
Das sind meiner Ansicht nach Zerfallskriege. 1989<br />
mit dem Mauerfall und 1991 mit der Auflösung der<br />
Sowjetunion, da haben wir die Implosion gesehen,<br />
aber der Knall erreicht uns erst jetzt, 30 Jahre später.<br />
Diese Verzögerung von 30 Jahren ist historisch<br />
nicht sehr viel, aber für ein Menschenleben schon. Es<br />
könnte sein, dass wir jetzt in eine Zeit hineingeraten,<br />
die man vielleicht mit dem Dreißigjährigen Krieg<br />
vergleichen kann, wo ganze Gemeinwesen auseinanderbrechen,<br />
Hungersnöte, Inflation usw., wovon<br />
wir in der Zeit des Kalten Krieges bewahrt geblieben<br />
waren. Insofern ist alles sehr schwer voraussehbar,<br />
aber der Historiker behilft sich dann immer mit Vergleichen<br />
aus der Vergangenheit.<br />
Ist Ihr neues Opus magnum auch auf Hebräisch erschienen,<br />
und welche Reaktionen erwarten Sie dort?<br />
Es wird auf Hebräisch erscheinen. Heute denke ich,<br />
es wird mit Interesse zur Kenntnis genommen werden,<br />
früher hätte ich erwartet, dass es eher als Skandalwerk<br />
angesehen worden wäre, denn ich begreife<br />
Israel nicht als ein Land der Erlösung, sondern als<br />
eine Heimat von Flüchtlingen. A Refugee Nation. Ich<br />
48 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
WINAERINNERT<br />
ZUM TOD DES SCHRIFTSTELLERS A. B. JEHOSHUA (1936–<strong>2022</strong>)<br />
Ein orientalischer Fabulierer<br />
und literarischer Meister<br />
Sein etwas jüngerer Freund Amos Oz ist ihm bereits vor wenigen Jahren<br />
vorausgegangen. Nun ist mit Abraham Gabriel Yehoshua auch der letzte große<br />
Erzähler der Gründergeneration Israels verstorben.<br />
Von Anita Pollak<br />
Ein alter Mann blickt zurück. Auf sein Leben, auf<br />
sein Schaffen, auf seine Beziehungen, auf<br />
sein Land. Bereits 2013 hat Abraham B.<br />
Yehoshua mit dem Roman Spanische Barmherzigkeit<br />
ein Alterswerk im wahrsten Wortsinn<br />
vorgelegt. 2019 folgte Der Tunnel, ein Hohelied<br />
auf die eheliche Liebe, gewidmet seiner<br />
2016 verstorbenen Frau Ika. Und gleichzeitig<br />
ein berührendes Zeugnis der Angst vor<br />
dem Verlust der Geisteskräfte, vor einer beginnenden<br />
Demenz. Erzählt mit leiser Selbstironie,<br />
deren Meister Jehoshua seit jeher war.<br />
Israelische Autoren sind, wenn eine solche Generalisierung<br />
zulässig ist, zumeist Geschichtenerzähler.<br />
Verknappung, Lakonie, Erzählökonomie findet man sogar<br />
bei Autor:innen der jüngeren Generation höchst selten.<br />
Als Sepharde, dessen Vater Orientalist und Übersetzer aus dem<br />
Arabischen war – die Familie ist seit mehreren Generationen in Jerusalem<br />
ansässig –, war A. B. Jehoshua überdies in der Tradition<br />
des orientalischen Erzählens verwurzelt. Ausufernd, abschweifend,<br />
in reichen Arabesken fabulierend, mäandert er in scheinbar<br />
unendlichen Nebenflüssen, die, kunstvoll die Spannung wahrend,<br />
letztlich in einem breiten Strom münden. Ein Könner eben.<br />
Mit seinem Generationenroman Die Manis, in der er auch seine<br />
eigene Familiengeschichte bis ins Griechenland des Jahres 1848<br />
vielstimmig in historischen Rückblenden fiktionalisiert, hat er<br />
früh seine Meisterschaft bewiesen. Romane wie Der Liebhaber, Späte<br />
Scheidung oder Die fünf Jahreszeichen des Molcho beleuchten individuelle<br />
Schicksale, die, stets ins Geschehen des Landes eingebettet,<br />
von Israel und seiner Geschichte nicht weggedacht werden können.<br />
Genauso wenig wie die Traditionen des biblischen, talmudischen<br />
Judentums, aus welcher der säkulare Autor ebenso schöpft<br />
wie sein bester Schriftstellerfreund Amos Oz.<br />
Im Familienroman Freundesfeuer erfährt ein Mann während der<br />
Chanukka-Woche unter anderem, dass sein greiser Vater einst für<br />
seine heimliche Geliebte in Jerusalem einen eigenen kleinen Lift<br />
auf ihr Dachgeschoß hat einbauen lassen und sein Neffe<br />
nicht durch Feindeshand gefallen war.<br />
Die Nachricht vom Tod seines einzigen Sohnes<br />
in einem Gefecht im Jordantal erhält ein einsamer<br />
alter Mann in der erschütternden Erzählung<br />
Frühsommer 1970.<br />
Liebe und Tod, die großen Themen der<br />
Literatur schlechthin, hat Jehoshua in seinen<br />
insgesamt elf Romanen, mehreren<br />
Erzählungen und Stücken vor dem zeitgeschichtlichen<br />
Hintergrund seiner Heimat in<br />
unterschiedlichsten Handlungsentwürfen empathisch<br />
variiert.<br />
Dafür ist er mit allen literarischen Preisen, die Israel<br />
zu vergeben hat, ausgezeichnet worden.<br />
Politisch war der Autor als Angehöriger linker Parteien lange in<br />
der Friedensbewegung und der Idee einer Zwei-Staaten-Lösung<br />
Zusammen mit Amos Oz, der ihm über<br />
Jahrzehnte ein enger Freund war, und<br />
David Grossmann bildete Yehoshua ein<br />
literarisches Trio, das weit über Israel<br />
hinausstrahlte. Peter Münch, SZ*<br />
engagiert, bevor er Letztere 2016 für tot erklärte und eine pragmatischere<br />
Form des Zusammenlebens beider Völker propagierte.<br />
Seine öffentliche Äußerung, dass ein volles jüdisches Leben nur<br />
in Israel möglich sein könne, sorgte, als Abwertung der Diaspora<br />
verstanden, vor allem in Amerika für Befremden.<br />
Am 14. Juni ist A. B. Yehoshua 85-jährig in Tel Aviv seinem<br />
Krebsleiden erlegen.<br />
„Sein Werk reflektierte uns in einem genauen, scharfen, liebevollen<br />
und manchmal schmerzlichen Spiegelbild“, würdigte ihn<br />
Israels Präsident Jitzchak Herzog.<br />
© Serge Attal / Visum / picturedesk.com * www.sueddeutsche.de/kultur/abraham-b-yehoshua-nachrufisrael-hebraeische-literatur-1.5603017<br />
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49<br />
<strong>wina</strong> errinert_A.B.Yehushua_GRj_korrAH_END.indd 49 26.07.22 07:40
Vom Großbürgertum zur Kapitalismuskritik<br />
Das Jüdische an Benjamin<br />
Klingel schlug<br />
freundlicher an. Hinter<br />
der Schwelle dieser Wohnung<br />
war ich geborgener „Keine<br />
als selbst in der elterlichen. […] In ihrem<br />
Inneren saß die Großmutter […]. Wenn<br />
man die alte Dame auf ihrem teppichbelegten<br />
und mit einer kleinen Balustrade<br />
verzierten Erker, welcher auf den<br />
Blumeshof hinausging, besuchte, konnte<br />
man sich schwerlich denken, wie sie große<br />
Seefahrten oder gar Ausflüge in die Wüste<br />
unternommen hatte. Madonna di Campiglio<br />
und Brindisi, Westerland und Athen<br />
und von wo sonst sie auf ihren Reisen Ansichtskarten<br />
schickte.“<br />
Dieser kurze Abschnitt aus den Erinnerungen<br />
Berliner Kindheit um neunzehnhundert<br />
verweist bereits auf das gehobene soziale<br />
Umfeld des Buben. Walter Benedix<br />
Schoenflies Benjamin wurde am 15. <strong>Juli</strong><br />
1892 in Berlin in eine großbürgerliche,<br />
jüdische assimilierte Familie hineingeboren.<br />
Sein Vater Emil Benjamin hatte als<br />
Kunst- und Antiquitätenhändler ein beträchtliches<br />
Vermögen erwirtschaftet und<br />
bezeichnete sich zwar selbst noch als Kaufmann,<br />
heute würde man wohl ihn eher<br />
Investor nennen. Er widmete sich zunehmend<br />
wechselnden Beteiligungen an Firmen,<br />
die er dann wieder gewinnbringend<br />
verkaufte. Die geliebte Großmutter mütterlicherseits,<br />
der Benjamin seine spätere<br />
Reiselust verdankte, lebte ebenfalls in gut<br />
gepolsterten Verhältnissen, ihre Wohnung<br />
zählte – je nach Berichterstatter – zwölf bis<br />
14 Zimmer. Und auch ins Theater nahm<br />
sie den Enkel regelmäßig mit – literarische<br />
Grundausbildung inklusive. Ihre Seite der<br />
Familie hatte überdies schon eine Reihe<br />
von – getauften – jüdischen Professoren<br />
aufzuweisen, ob für klassische Archäologie<br />
oder für Mathematik.<br />
„Als wohl behütetes Großbürgerkind genoss<br />
der älteste Sohn der Familie zunächst<br />
Privatunterricht“, schreibt sein Biograf<br />
Momme Brodersen. „Erst mit fast neun<br />
Jahren kam er in eine öffentliche Anstalt:<br />
auf die Charlottenburger Kaiser-Friedrich-Schule<br />
am Savignyplatz.“ Doch das<br />
war nur von kurzer Dauer, der kränkelnde<br />
Walter wurde in ein Landerziehungsheim<br />
nach Thüringen – weit außerhalb der<br />
Großstadt – versetzt und lernte dort eine<br />
liberalere, tolerantere Umgebung kennen.<br />
Dazu trug wesentlich der Schulreformer<br />
Gustaf Wyneken bei, den Benjamin später<br />
im Studium wieder treffen sollte.<br />
Nach dem Abitur studierte er in Freiburg,<br />
in Berlin und dann in München<br />
eine Mischung aus Philosophie, Kunstgeschichte<br />
und Germanistik. Zwar hatte<br />
er sich zunächst der Stellung als Einjährig-Freiwilliger<br />
unterzogen, simulierte<br />
dann aber bei Kriegsausbruch 1914 einen<br />
„Zitterer“ und übersiedelte später in die<br />
Der Sammler<br />
in der Großstadt<br />
Vor 130 Jahren wurde in Berlin Walter Benjamin<br />
geboren. Er sollte zu einem führenden Intellektuellen<br />
der Zeit zwischen den Kriegen werden – und nahm<br />
sich auf der Flucht vor den Nazis an der französischspanischen<br />
Grenze das Leben.<br />
Von Reinhard Engel<br />
„Der Kapitalismus dient essentiell<br />
der Befriedigung derselben<br />
Sorgen, Qualen, Unruhen, auf<br />
die ehemals die so genannten<br />
Religionen Antwort gaben.“<br />
Walter Benjamin<br />
Schweiz, nach Bern, wo er vor dem Eingezogen-Werden<br />
sicher war. Dort promovierte<br />
er dann 1917 mit einer Arbeit über<br />
die Kunstkritik in der deutschen Romantik.<br />
Und er heiratete eine Wienerin, Dora<br />
Kellner, die Tochter eines Anglisten und<br />
Freunds von Theodor Herzl. Dora war<br />
Journalistin und Autorin von Krimis, sie<br />
wurde in bekannten Zeitschriften gedruckt<br />
und redigierte das Modeblatt Die<br />
praktische Berlinerin. Das war für das Paar –<br />
mit einem kleinen Sohn – ökonomisch<br />
wichtig, viele Jahre lang bestritten die Einkünfte<br />
Doras den überwiegenden Teil der<br />
Lebenskosten.<br />
Denn Benjamin wollte zunächst eine<br />
wissenschaftliche Karriere einschlagen.<br />
Er versuchte sich an mehreren Universitäten<br />
zu habilitieren, schrieb auch über<br />
einen längeren Zeitraum an einer großen<br />
Arbeit. Doch 1925 wurde diese an der<br />
Universität Frankfurt abgelehnt. Sein Vater,<br />
der ihn immer wieder gedrängt hatte,<br />
sich einem lukrativen Beruf zuzuwenden,<br />
brach mit ihm, er musste anfangen, sich<br />
als freier Autor durchzuschlagen.<br />
Das sollte auch sein weiteres Leben<br />
bestimmen. Es gelang ihm, für durchaus<br />
angesehene Publikationen Beiträge zu<br />
liefern, etwa die Frankfurter Zeitung, das<br />
Berliner Tagblatt, die Literarische Welt, Der<br />
Querschnitt oder die Vossische Zeitung. Und<br />
er knüpfte Kontakte zu führenden Intellektuellen<br />
der Zeit, von Siegfried Kracauer<br />
bis Hugo von Hofmannsthal, von Filippo<br />
Marinetti bis André Gide und Bertolt<br />
Brecht. Zu diesem entwickelte sich eine<br />
Freundschaft, man plante sogar eine gemeinsame<br />
Zeitschrift, aus der aber dann<br />
nichts wurde.<br />
„Proletarische Mimikry des zerfallenden<br />
Bürgertums“. Benjamin begann – ganz<br />
nach dem Vorbild seiner Großmutter –<br />
zu reisen: nach Frankreich, nach Italien,<br />
nach Österreich, nach Norwegen oder Dä-<br />
© Austrian Archives / brandstaetter images / picturedesk.com<br />
nemark, wo Brecht ein Haus hatte. Und er<br />
begann, zusätzlich zu seinen Feuilleton-<br />
Artikeln längere Texte zu schreiben und<br />
auch zu übersetzen, etwa Werke von Marcel<br />
Proust oder Charles Baudelaire. In seinen<br />
Kritiken widmete er sich Karl Kraus,<br />
Ernst Jünger und Franz Kafka, er schrieb<br />
über den beispielhaften Großstadtroman<br />
von Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz,<br />
und er legte sich mit den damals populären<br />
Kollegen Erich Kästner und Kurt Tucholsky<br />
an.<br />
Benjamin war inzwischen politisiert<br />
worden – links, allerdings ohne je der<br />
Kommunistischen Partei beizutreten. In<br />
manchen der linken Schriftsteller sah er<br />
freilich bloß modische Salonsozialisten,<br />
die auf radikal machten, aber sich ihres<br />
ebenfalls bürgerlichen Publikums sicher<br />
waren: „Die linksradikalen Publizisten<br />
vom Schlage der Kästner, Mehring und<br />
Tucholsky sind die proletarische Mimikry<br />
des zerfallenden Bürgertums. Ihre Funktion<br />
ist, politisch betrachtet, nicht Parteien,<br />
sondern Cliquen, literarisch betrachtet,<br />
nicht Schulen, sondern Moden, ökonomisch<br />
betrachtet nicht Produzenten, son-<br />
dern Agenten hervorzubringen.“ Letzten<br />
Endes dienten sie der Zerstreuung, dem<br />
Amüsement, dem Konsum.<br />
Ein Besuch in der Sowjetunion, angeregt<br />
von seiner Geliebten, einer litauischen<br />
Kommunistin, bereitet ihm mehrere<br />
Enttäuschungen, sowohl, was eigene<br />
Publikationsmöglichkeiten betraf, wie<br />
auch die intellektuellen Einschränkungen<br />
des politischen Systems. Und doch<br />
werden für ihn politökonomische Themen<br />
immer wichtiger. So befasst er sich<br />
intensiv mit Theorien der Warenwelt, wie<br />
sie Karl Marx nur angerissen hatte, etwa<br />
wie aus Gebrauchsgegenständen durch<br />
Werbung und Präsentation „Rauschmittel“<br />
werden. Er wendet sich gegen Mainstream-Historiker,<br />
die immer nur die<br />
Sieger beschreiben, die Massen der unterdrückten<br />
Arbeiter oder Leibeigenen stets<br />
vernachlässigen. Er durchstreift – geistig<br />
und real – die Großstädte, vor allem Berlin<br />
und Paris, und philosophiert über das<br />
völlig neue, andere Lebensgefühl der anonymisierten<br />
Massen. Schließlich analysiert<br />
er neue Medien, hier vor allem den<br />
Film, von dem er sich auch politisch viel<br />
Benjamin und das<br />
Jüdische<br />
A<br />
ngeblich koexistierten in der Familie<br />
Benjamin jüdische Feiertage und der<br />
christliche Weihnachtsbaum. Von einer<br />
dezidiert jüdischen Ausbildung schreiben<br />
seine Biografen nichts, aber er dürfte unter<br />
all seiner umfassenden Lektüre auch<br />
die wichtigsten religiösen Schriften gelesen<br />
haben. Am Beginn seiner schriftstellerischen<br />
Tätigkeit, ehe er zum linken Materialisten<br />
wurde, finden sich von ihm sogar<br />
Texte mit mythischen Bezügen.<br />
Einer seiner wichtigsten Lebensmenschen<br />
war der jüdische Gelehrte Gerhard<br />
Gershom Scholem, den er 1915 kennen<br />
lernte und mit dem er bis zu seinem<br />
Tod 1940 befreundet blieb und einen regen<br />
– äußerst vielfältigen und intellektuell<br />
hoch stehenden – Briefwechsel unterhielt.<br />
Scholem war schon in den 1920er-Jahren<br />
überzeugt, dass die Assimilation der Juden<br />
in Deutschland gescheitert sei, und<br />
emigrierte folgerichtig nach Palästina.<br />
Dort arbeitete er erst als Bibliothekar, später<br />
als Professor für jüdische Mystik an der<br />
Hebräischen Universität in Jerusalem.<br />
Er wirkte auf Benjamin ein, ebenfalls<br />
nach Palästina zu kommen, und verschaffte<br />
ihm ein Stipendium einer jüdischen<br />
Organisation zum Hebräisch-Lernen.<br />
Benjamin nahm das Geld zwar an,<br />
brach aber die Sprachstunden bald darauf<br />
endgültig ab. Das trübte eine Zeit lang<br />
das Verhältnis zu Scholem.<br />
Jüdisches Denken findet sich bei Benjamin<br />
in seinen zahlreichen Schriften immer<br />
wieder, manchmal sogar in seltsamen,<br />
schwer verständlichen Kombinationen,<br />
etwa von historischer Entwicklung, revolutionärer<br />
Politik und messianischer Erlösung:<br />
„Der echte Begriff der Universalgeschichte<br />
ist ein messianischer. Die<br />
Universalgeschichte im heutigen Verstande<br />
ist eine Sache der Dunkelmänner.“<br />
Und manchmal poppen alte Worte<br />
an unerwarteten Stellen auf, etwa bei einem<br />
Artikel über Karl Kraus: „Dass dieser<br />
Mann, einer der verschwindend wenigen,<br />
die eine Anschauung von Freiheit<br />
haben, ihr nicht anders dienen kann denn<br />
als oberster Ankläger, das stellt seine gewaltige<br />
Dialektik am reinsten dar. Ein Dasein,<br />
das, eben hierin, das heißeste Gebet<br />
um Erlösung ist, das heute über jüdische<br />
Lippen kommt.“<br />
50 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
51
Thema<br />
Walter Benjamin Memorial<br />
des israelischen Künstlers Dani<br />
Karavan in Portbou, Spanien.<br />
© Nostrix; CC BY-SA 3.0<br />
erwartet, nicht weniger als eine Emanzipation<br />
der Zuseher.<br />
„Die technische Reproduzierbarkeit des<br />
Kunstwerks verändert das Verhältnis der<br />
Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten,<br />
z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt<br />
es in das fortschrittlichste, z. B. angesichts<br />
eines Chaplin, um.“ Wie so oft in seinen<br />
Schriften reiht er brillante Gedanken, Assoziationen,<br />
Schlüsse seiner umfangreichen<br />
Bildung aneinander, und dann wird<br />
doch keine logisch konsistente Theorie<br />
daraus. Ähnliches gilt für die Ökonomie,<br />
ebenso für die Politik. Seine Warentheorie<br />
hängt auf der Produktionsseite in der Luft,<br />
die politische Analyse ist im kleinen Detail<br />
scharf und präzise, bleibt dann aber doch<br />
nur eine große Klage über die herrschenden<br />
Verhältnisse. „Mussolini“, schreibt er<br />
schon 1924, „sieht anders aus als der Herzensbrecher,<br />
den die Ansichtskarten zeigen:<br />
unlauter, träge und von einem Hochmut,<br />
als sei er mit ranzigem Öl reichlich<br />
gesalbt.“ An Hitler erkennt er, nachdem<br />
er bei Brecht in Dänemark eine Radiorede<br />
des Führers gehört hatte, „herabgeminderte<br />
Männlichkeit […] so viel Glanz um<br />
so viel Schäbigkeit. Der arme Teufel will<br />
ernst genommen werden, und sogleich<br />
muss er die ganze Hölle aufbieten.“<br />
Diese Schäbigkeit und ihre Hölle reichten<br />
freilich aus, um einem jüdisch stämmigen<br />
Autor das Leben zunehmend<br />
schwer zu machen. „Es gelang ihm kaum<br />
mehr, lohnenswerte Aufträge hereinzuholen“,<br />
schreibt Biograf Brodersen. „Vom<br />
Rundfunk, seiner damaligen Haupteinnahmequelle,<br />
hatten die Nazis so umgehend<br />
und gründlich Besitz ergriffen, dass<br />
er sich keinerlei Hoffnungen auf eine weitere<br />
gedeihliche Zusammenarbeit machen<br />
konnte. Und auch die Frankfurter<br />
Zeitung, seine zweite Stütze, verhielt sich<br />
angesichts der politischen Entwicklung<br />
zunächst abwartend.“<br />
Die politische Verfolgung nahm schnell<br />
Fahrt auf, zahlreiche intellektuelle<br />
Freunde Benjamins verließen fluchtartig<br />
Deutsche Dichter, Pariser Passagen<br />
Benjamins Werk ist auf zahlreiche essayistische<br />
Einzelpublikationen und Feuilleton-Artikel<br />
verteilt. Nur weniges wurde<br />
zu seinen Lebzeiten zwischen Buchdeckeln<br />
publiziert. Unter Intellektuellen bekannt<br />
wurde er durch den Band kurzer,<br />
manchmal aphoristischer Texte Einbahnstraße,<br />
der 1928 bei Rowohlt heraus kam.<br />
Ein Beispiel: „Glücklich sein heißt ohne<br />
Schrecken seiner selbst innewerden können.“<br />
Oder: „Es gibt in Mietskasernen eine<br />
Musik von so todtrauriger Ausgelassenheit,<br />
dass man nicht glauben will, es sei für<br />
den, der spielt: Es ist Musik für die möblierten<br />
Zimmer, wo einer sonntags in Gedanken<br />
sitzt, die bald mit diesen Noten sich<br />
garnieren wie eine Schüssel Obst mit welken<br />
Blättern.“<br />
In der Schweiz erschien 1936 der Band<br />
Deutsche Menschen, eine von Benjamin<br />
kommentierte Briefsammlung aus den<br />
Jahren 1767 bis 1883. Darunter sind etwa<br />
Schreiben von Friedrich Hölderlin, Georg<br />
Christoph Lichtenberg, Clemens Brentano,<br />
Annette von Droste-Hülshoff, Georg<br />
Büchner oder Clemens von Metternich.<br />
Das Werk, an dem Benjamin viele Jahre arbeitete,<br />
besser: für das er recherchierte<br />
und sammelte, erschien erst postum,<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg: Passagen.<br />
Es ist eine unstrukturierte, teilweise widersprüchliche<br />
und manchmal rätselhafte<br />
Sammlung von Ideen, Texten und<br />
– zunehmend – Zitaten anderer Autoren.<br />
Ausgangspunkt seiner geplanten umfassenden<br />
Studie waren die Pariser Einkaufspassagen<br />
des frühen 19. Jahrhunderts mit<br />
ihren verlockenden Auslagen voller Waren,<br />
quasi die verlängerten Wohnzimmer<br />
der wohlhabenden, gelangweilten Flaneure:<br />
„Die Stadt zehnfach und hundertfach<br />
topographisch zu bauen aus ihren<br />
Passagen und ihren Toren, ihren Friedhöfen<br />
und Bordellen, ihren Bahnhöfen […]<br />
genau wie sie sich früher durch ihre Kirchen<br />
und ihre Märkte bestimmte. Und<br />
die geheimeren, tiefer gelagerten Stadtfiguren:<br />
Morde und Rebellionen, die blutigen<br />
Knoten im Straßennetze, Lagerstätten<br />
der Liebe und Feuersbrünste.“<br />
Inmitten dieser Materialfülle beginnt sich<br />
der Autor quasi aufzulösen: „Methode<br />
dieser Arbeit: literarische Montage. Ich<br />
habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich<br />
werde nichts Wertvolles entwenden und<br />
mir keine geistvollen Formulierungen aneignen.<br />
Aber die Lumpen, den Abfall: die<br />
will ich nicht inventarisieren sondern sie<br />
auf die einzig mögliche Weise zu ihrem<br />
Rechte kommen lassen: sie verwenden.“<br />
Deutschland, darunter Brecht und Kracauer.<br />
Er selbst wechselte mehrmals sein<br />
Exilland, einmal nach Spanien, dann wieder<br />
nach Südfrankreich, wohnte dort kurz<br />
bei seiner Frau, von der er inzwischen geschieden<br />
war, dann zog er nach Paris. Er<br />
publizierte vereinzelt noch unter anderen<br />
Namen in wenigen deutschen Medien<br />
sowie in einigen deutschsprachigen Exilblättern.<br />
Die größte Hilfe bot ihm die Zeitschrift<br />
für Sozialforschung des gleichnamigen<br />
Instituts, das erst nach Frankreich, später<br />
in die USA übersiedelte. Seine Ansprechpartner<br />
waren der ehemalige Schüler<br />
Theodor Adorno sowie Max Horkheimer<br />
und Leo Löwenthal. Auch wenn er dort<br />
nicht alles unterbrachte, was er schrieb,<br />
wenn man ihn auch immer wieder redigierte<br />
oder zum Umarbeiten anhielt, so<br />
bekam er doch mehrere Jahre lang ein –<br />
kleines, überlebenswichtiges – monatliches<br />
Fixum.<br />
1940 eroberten die Deutschen in einem<br />
Blitzkrieg große Teile Frankreichs<br />
inklusive Paris. Benjamin entschloss sich<br />
nun doch, ins ungeliebte Amerika zu fliehen.<br />
Ein Affidavit hatten ihm die Kollegen<br />
beim Institut für Sozialforschung in<br />
New York besorgt. Doch nun änderten<br />
sich die Bedingungen für die Ausreise aus<br />
Frankreich in immer kürzeren Abständen.<br />
Benjamin versuchte erst, in Marseille<br />
mit falschen Papieren auf einen Frachter<br />
zu kommen, wurde aber entdeckt. Der<br />
nächste Plan sah vor, über einen Pfad auf<br />
der östlichen Seite der Pyrenäen nach<br />
Spanien zu gelangen und dann von Lissabon<br />
aus in die USA zu fahren. Doch auch<br />
die spanischen Grenzbeamten hatten<br />
eine neue Direktive erhalten, sie durften<br />
niemanden ins Land lassen, der keine gültigen<br />
französischen Ausreisepapiere hatte.<br />
Benjamin, mit einer Herzschwäche ohnehin<br />
schon am Ende seiner Kräfte, nahm<br />
sich daraufhin in einem Hotel mit mitgebrachten<br />
Morphium-Tabletten das Leben.<br />
Am Ort des gescheiterten Grenzübertritts,<br />
in Portbou nahe Girona hat der begnadete<br />
israelische Bildhauer Dani Karavan<br />
ein Denkmal für Walter Benjamin<br />
gebaut. Ein beklemmender stählerner<br />
Korridor führt steil hinunter ans blaue<br />
Mittelmeer, an jenes Meer, über das heute<br />
Flüchtlinge aus Afrika nach Europa streben.<br />
Als wäre es eine düstere Vorahnung<br />
gewesen, hatte Benjamin einst in einem<br />
Essay über Kafka diesen zitiert: „Oh, Hoffnung<br />
genug, unendlich viel Hoffnung –<br />
nur nicht für uns.“<br />
52 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
53
Sommerlektüren <strong>2022</strong><br />
LITERATUR SOMMER<br />
Sommerurlaub ohne Lektüre ist wie Strand ohne<br />
Sand, Wald ohne Bäume oder Urlaub ohne Frühstück<br />
im Bett. Hier die wärmsten Empfehlungen<br />
für die heißesten Tage des Jahres aus der Kulturredaktion.<br />
Von Alexander Kluy<br />
Isaak Babel:<br />
Wandernde Sterne. Dramen,<br />
Drehbücher, Selbstzeugnisse.<br />
Herausgegeben von Urs Heftrich und<br />
Bettina Kaibach. Übersetzt von Bettina<br />
Kaibach & Peter Urban. Hanser Verlag,<br />
München <strong>2022</strong>, 848 S., € 39,10<br />
Babel<br />
Dieser Band präsentiert<br />
aufregend den, wie häufig<br />
kolportiert, endlos neugierigen<br />
Isaak Babel (1894–1940) aus<br />
Odessa. Wandernde Sterne ergänzt den<br />
Band Mein Taubenschlag (2014), der alle<br />
Erzählungen Babels enthielt. Hier finden<br />
sich Dramen wie Marija von 1934:<br />
Die Leseprobe am Moskauer Wachtangow-Theater<br />
kam gut an und wurde<br />
kurze Zeit später von kommunistischen<br />
Ideologen verdammtm, denn das Bild,<br />
das Babel vom revolutionären Petrograd<br />
1920 zeichnete, stand in zu krassem<br />
Kontrast zum Moskau des stalinistischen<br />
Terrors. Und Sonnenuntergang,<br />
das Stück, das in Odessas Moldavanka<br />
spielt. Interessante, mentalitätshistorisch<br />
aufschlussreiche Drehbücher.<br />
Dazu Reportagen und Reiseberichte<br />
aus Georgien und Frankreich, flankiert<br />
von Babels Reden und Stellungnahmen,<br />
instruktiv und kundig kommentiert.<br />
Christina Maria Landerl<br />
und Ronny Aviram:<br />
Telavivienna. Vom Heimkommen.<br />
Deutsch-Hebräisch. Müry Salzmann<br />
Verlag, Salzburg <strong>2022</strong>,<br />
112 S., € 24<br />
Vertraute<br />
Ferne<br />
Ganze Bibliotheken ließen<br />
sich nur mit Wien- und Tel-<br />
Aviv-Büchern füllen. Dieses<br />
schmale, gut gedruckte Wien-Tel-Aviv-<br />
Buch ist etwas anders. Die Schriftstellerin<br />
Christina Maria Landerl, Sozialpädagogin<br />
und Germanistin aus Steyr,<br />
studierte in Wien und lebt heute in<br />
Berlin. Die Philosophin und Künstlerin<br />
Ronny Aviram aus Haifa ist in Tel<br />
Aviv aufgewachsen und lebt heute in<br />
Leipzig. Landerl schreibt Textblitzlichter<br />
über Wien, über Bahnhof, Friedhof,<br />
Wohnen, Leben, Sterben und Gedenken<br />
oder die „Tel Aviv Beach“-Bar<br />
am Donaukanal (inzwischen „Neni am<br />
Wasser“). Aviram antwortet mit Fotografien<br />
aus Tel Aviv, antipittoresken<br />
Aufnahmen von Autos, Rissen in Betonwänden,<br />
vom übersehenen Nebenbei.<br />
Eine sensible Um- und Einkreisung<br />
ferner Heimat, vertrauter Distanz. Vom<br />
„Heimat-Komplex“. Und wie komplex<br />
dieser ist.<br />
Grete Weil:<br />
Der Weg zur Grenze.<br />
Roman. Herausgegeben und<br />
mit einem Nachwort von<br />
Ingvild Richardsen.<br />
C. H. Beck Verlag, München <strong>2022</strong>,<br />
384 S., € 25,70<br />
Weil<br />
Geht das schon als Renaissance<br />
und Wiederentdeckung<br />
durch? Da ist 2021 Grete Weils<br />
Roman Tramhalte Beethovenstraat neu<br />
aufgelegt worden, heuer im Februar<br />
ihre Erzählung Ans Ende der Welt. Und<br />
jetzt erscheint aus dem Nachlass der<br />
1999 verstorbenen Autorin der Erstling<br />
Der Weg zur Grenze, nie zuvor gedruckt,<br />
nun sorgsam erläutert. 1932<br />
hatte die Münchner Anwaltstochter<br />
den Theaterdramaturgen Edgar Weil<br />
geheiratet. Ein Jahr später Flucht nach<br />
Amsterdam, ab 1940 Versuche zu überleben.<br />
Edgar Weil, im Juni 1941 verhaftet,<br />
wurde im September 1941 im KZ<br />
Mauthausen ermordet. Nur leicht verschleiert<br />
begann sie nach seinem Tod<br />
ihre Liebesgeschichte aufzuschreiben,<br />
von ihrer beider Leben und Schicksale<br />
zu erzählen. In Romanform. Eine wichtige<br />
Ergänzung des Werks der hochbetagt<br />
verstorbenen Autorin.<br />
© 123RF<br />
Tod Goldberg:<br />
The Low Desert.<br />
Gangster Stories. Counterpoint Press,<br />
Berkeley <strong>2022</strong>, 304 S., € 17,50<br />
Suburbia-<br />
Noir<br />
Sechs Jahre ist es mittlerweile<br />
her, dass Tod Goldbergs Gangsterland<br />
auf Deutsch erschienen<br />
ist; die Fortsetzung Gangster Nation ist<br />
bisher nicht übersetzt worden. Diese<br />
bösen, intelligenten, witzigen Thriller<br />
waren Paradebeispiel für Neo-Noir.<br />
Taucht doch ein Mafiakiller ab und<br />
dann wieder auf. Als Rabbi. In einem<br />
Vorort von Las Vegas im Tempel Beth<br />
Israel von Rabbi Kales mit Tikva-Vorschule,<br />
Kinderzentrum und im Bau<br />
befindlicher Halle für darstellende<br />
Künste. Dazu Begräbnisinstitut und<br />
großer Friedhof, beide wichtig.<br />
Auch The Low Desert spielt in Suburbia,<br />
diesmal von Los Angeles, in<br />
Bakersfield, Carson City, Van Nuys.<br />
Wieder tiefschwarz sind diese Storys,<br />
in denen gute Absichten böse Pläne<br />
entblößen. Schnelle Dialoge. Treffend<br />
gezeichnete Figuren. Schlanke,<br />
sardonische Prosa.<br />
Elazar Benyoëtz:<br />
Buchstabil. Von Büchern und<br />
Menschen. Elazar Benyoëtz zum 85.<br />
Geburtstag. Herausgegeben von Anna<br />
Rosa Schlechter und Claudia Welz.<br />
Braumüller Verlag, Wien <strong>2022</strong>, 200 S., € 28<br />
Schriftzüge,<br />
Denksätze<br />
Das Schwierigste ist stets das<br />
Kurze. Dabei ist, Paradox Nr.<br />
1, im kurzatmigen Twitter- und<br />
SMS-Zeitalter im Aussterben begriffen<br />
ausgerechnet der Aphorismus. In der<br />
deutschsprachigen Gegenwart gibt es da<br />
aber eine Ausnahme – Elazar Benyoëtz,<br />
der, Paradox Nr. 2, in Haifa auf Deutsch<br />
schreibt: Aphorismen. Der heuer im<br />
März 85 wurde, fünf Dutzend Bücher<br />
veröffentlichte. Buchstabil führt biografische<br />
Arabesken und Erinnerungen,<br />
wissenschaftliche Betrachtungen und<br />
Analysen, Erinnerungen von Freunden<br />
und Lesern zusammen, dazu einen 1962<br />
geschriebenen, hier erstveröffentlichten<br />
Eigenechotext. Gemahnung ist dieses<br />
Buch, alles andere von Benyoëtz wieder<br />
oder neu zu lesen, das Anregende,<br />
Aufblitzende, Weise. Dabei meint ausgerechnet<br />
er: „Der Aphoristiker beginnt,<br />
wenn er mit seiner Weisheit am Ende<br />
ist.“ Reden und Stellungnahmen, instruktiv<br />
und kundig kommentiert.<br />
Helena Janeczek:<br />
Die Schwalben von Montecassino.<br />
Roman. Berlin Verlag, Berlin <strong>2022</strong>,<br />
432 S., € 24,70<br />
Erinnerung,<br />
sprich<br />
Helena Janeczek, 1964 in<br />
München als Tochter zweier<br />
Shoah-Überlebender geboren,<br />
1983 nach Italien übersiedelt,<br />
später in Mailand Verlagslektorin,<br />
heute bei Varese lebend, veröffentlichte<br />
1989 ihren ersten Gedichtband<br />
auf Deutsch, seither schreibt sie auf<br />
Italienisch. Nach dem preisgekrönten<br />
Gerta-Taro-Roman Das Mädchen<br />
mit der Leica folgt nun in Übersetzung<br />
Le rondini di Montecassino von 2010. Ein<br />
Roman um die blutige Schlacht um<br />
Monte Cassino von Jänner bis Mai<br />
1944. Ein Mosaik aus Geschichten,<br />
Minigeschichten, Miniaturbiografien,<br />
aus Damals und noch älter, aus<br />
ganz unterschiedlichen Komponenten,<br />
Konstellationen und kaleidoskopischen<br />
Teil- und Vollaufnahmen.<br />
Inklusive persönlicher Erinnerungsfragmente.<br />
In Schichtung und Verästelung<br />
sieht man zugleich, wie ein Roman<br />
beim Lesen „entsteht“.<br />
„Von seinen Eltern<br />
lernt man lieben,<br />
lachen, und laufen.<br />
Doch erst<br />
wenn man mit<br />
Büchern in Berührung<br />
kommt, entdeckt<br />
man, dass<br />
man Flügel hat.“<br />
Helen Hayes<br />
54 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
55
Stadtgeschichte(n)<br />
Lebenszyklus<br />
in Baden und Graz<br />
Zwei Städte, zwei Bücher, ein Präsident:<br />
Über Leben und Sterben im jüdischen<br />
Baden und Graz hat Autor und Gemeindepräsident<br />
in beiden Städten Elie Rosen<br />
viel zu erzählen. Und das tut er jetzt<br />
in gleich zwei Neuerscheinungen.<br />
Von Viola Heilman<br />
m <strong>Juli</strong> <strong>2022</strong> erscheinen zwei Bücher<br />
von Elie Rosen, dem Präsidenten der<br />
Grazer, Badener und slowenischen jüdischen<br />
Gemeinde. Die Themen dieser<br />
Bücher können nicht unterschiedlicher<br />
sein. Eines beschäftigt sich mit<br />
dem jüdischen Leben in Baden, das<br />
andere mit dem Sterben im Judentum<br />
und dem Friedhof in Graz.<br />
„Da ich teilweise in Baden aufgewachsen<br />
bin, habe ich mich mit der<br />
Stadt aus persönlichen Gründen<br />
viel auseinandersetzt“,<br />
erzählt Elie Rosen. „Mir lag es daran, im<br />
Buch zu zeigen, welchen Zusammenhang<br />
es zwischen jüdischen Künstlern und Wissenschaftlern<br />
mit der Stadt Baden gibt.“<br />
Schon früh setzte er sich für die jüdische<br />
Gemeinde in Baden ein und konnte 1988<br />
erfolgreich die Rettung der Synagoge vor<br />
dem Abriss erreichen, die dann 2005 wieder<br />
eingeweiht wurde. 17 Jahre mussten<br />
vergehen und viele Kämpfe ausgefochten<br />
werden, damit die Synagoge in der Grabengasse<br />
wieder renoviert wurde. Baden galt<br />
vor dem Zweiten Weltkrieg als beliebter Ort<br />
der „Sommerfrische“ und als Treffpunkt intellektueller,<br />
künstlerischer und gehobener<br />
sozialer Kreise. Nicht zuletzt auch, weil Kaiser<br />
Franz I. mit seinem Hofstaat die Sommer<br />
in Baden verbrachte.<br />
Der erste „Israelitische Kultusverein“<br />
wurde 1871 in Baden begründet. Aber auch<br />
nach 1945 war es die Stadt Baden, wo sich<br />
die einzige jüdische Gemeinde in Niederösterreich<br />
wieder etablierte. Das Buch Jüdisches<br />
Baden. Entdeckungsreisen, Spurensuche,<br />
Stadtwanderungen beschreibt in Spaziergängen<br />
die Geschichte und Gegenwart jüdischen<br />
Lebens in Baden. Für Elie Rosen war<br />
seine Arbeit zu diesem Buch ein „emotioneller<br />
Hochseilakt“, denn in der ehemals drittgrößten<br />
jüdischen Gemeinde Österreichs<br />
wurde nahezu jede Erinnerung an eine jüdische<br />
Existenz zerstört. „Für mich war das<br />
Vorhaben der Renovierung der Synagoge<br />
auch deshalb so wichtig, weil es die Erhaltung<br />
des einzigen Mahnmals der ehemaligen<br />
jüdischen Gemeinde in Baden bedeutete“.<br />
Die Rundgänge in Baden verlangen<br />
nach individuellem historischen Vorstellungsvermögen,<br />
das durch Gedichte, interessante<br />
Textstellen und tatsächliche<br />
Überreste jüdischer Kultur das Leben vor<br />
der Zerstörung durch die Nationalsozialisten<br />
wieder aufleben lässt. So wird das frühere<br />
alltägliche jüdische Leben, das Theater,<br />
die Literatur, Musik und Architektur,<br />
aber auch Wirtschaft und Wissenschaft der<br />
Kurstadt in diesem Buch wieder lebendig.<br />
Über Arthur Schnitzler, ein regelmäßiger<br />
Gast in Baden, ist in mehreren Kapiteln<br />
des Buches zu lesen. 2021 wurde Baden<br />
von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben,<br />
und so fügt sich auch darin das zeitgenössische<br />
jüdische Leben und die einhergehende<br />
Kultur ein. Dieses und nächstes Jahr<br />
wird des 150-jährigen Bestehens des jüdischen<br />
Friedhofs und der Synagoge gedacht.<br />
Das Buch ist auch ein Teil dieser Gedenkkultur,<br />
aber auch ein ungewöhnlicher Reiseführer,<br />
der Vergangenes und Zeitgenössisches<br />
durch Essays, Gedichte und nicht<br />
zuletzt durch die wunderbaren Fotografien<br />
von Ouriel Morgensztern zusammenführt<br />
und zum Flanieren einlädt.<br />
Garten G-ttes für die Ewigkeit. Vieles in<br />
der jüdischen Geschichte ist durch Zerstörung<br />
oder Vergessen nicht mehr sichtbar.<br />
Jüdische Friedhöfe aber sind für die<br />
Ewigkeit ausgerichtet. In Österreich gibt<br />
es etwas mehr als 60 jüdische Friedhöfe,<br />
Nur für Pressezwecke<br />
© Amalthea Verlag<br />
Elie Rosen:<br />
Beit Ha’Chajim.<br />
Haus des Lebens.<br />
Der jüdische Friedhof<br />
von Graz. Vom Tod und<br />
Sterben im Judentum.<br />
Amalthea <strong>2022</strong>,<br />
256 S., € 38<br />
Elie Rosen:<br />
Jüdisches Baden.<br />
Entdeckungreisen,<br />
Spurensuche,<br />
Stadtwanderungen.<br />
Amalthea <strong>2022</strong>,<br />
216 S., € 27<br />
davon stehen 49 im Eigentum der jüdischen<br />
Gemeinden, die einen großen Teil<br />
der Erhaltungskosten tragen müssen. Allein<br />
das „IV. Tor“ am Zentralfriedhof in<br />
Wien hat 260.000 m 2 , gefolgt vom Friedhof<br />
Wien-Währing, Baden und Graz. Die<br />
kleinsten Anlagen liegen in Bad Pirawarth,<br />
Bad Aussee und St. Pölten. Seit 2010 hat die<br />
Republik Österreich einen Fonds zur Instandsetzung<br />
der jüdischen Friedhöfe eingerichtet.<br />
Elie Rosen beschreibt im reichbebilderten<br />
Buch Beit Ha’Chajim. Haus des<br />
Lebens die fast 160-jährige Geschichte des<br />
jüdischen Friedhofs von Graz. Eine lyrische<br />
Unterbrechung der vielen Beschreibungen<br />
der Bestattungsriten und Trauervorschriften<br />
bilden Gedichte und literarische Szenen<br />
jüdischer Schriftsteller:innen. Die<br />
zahlreichen Fotos wurden vom slowenischen<br />
Fotografen Le.Luka gemacht, der<br />
durch seine Schwarz-weiß-Aufnahmen<br />
die Leser:innen in künstlerische Besinnlichkeit<br />
versetzt. Elie Rosen beschreibt in<br />
© Jüdische Gemeinde Graz<br />
56 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
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Praktische Vermittlung<br />
Jüdischer Friedhof<br />
in Graz erzählt<br />
von der lebendigen<br />
Stille der Stadt.<br />
© Jüdische Gemeinde Graz<br />
„Die Gedanken<br />
zum Leben nach<br />
dem Tod oder<br />
wie sieht die<br />
Welt im Jenseits<br />
aus, ist mir zu<br />
philosophisch,<br />
denn das kann<br />
niemand beantworten.“<br />
Elie Rosen<br />
chronologischer Reihenfolge den rituellen<br />
Ablauf des jüdischen Sterbens und hilft damit<br />
den interessierten Leser*innen, viele<br />
Fragen zu beantworten, die dieses schwierige<br />
Thema betreffen. Das Foto eines Toten,<br />
nach der Tahara (Waschung) in seine Leichentücher<br />
gehüllt, ist wohl eines der beeindruckendsten<br />
in diesem Bild- und Textband.<br />
„Mir ging es darum, wie der Tod und<br />
das Sterben nach der jüdischen Tradition<br />
ablaufen. Die praktische Vermittlung von<br />
Kultur und Religion auch zu diesem Thema<br />
ist ein wichtiger Beitrag. Das weiterzugeben<br />
und die Auseinandersetzung mit Tod und<br />
Sterben im Judentum sind mir ein Anliegen,<br />
weil das in einer tieferen Form nicht so<br />
oft vorkommt“, erläutert Elie Rosen.<br />
Nach den allgemeinen Beschreibungen<br />
der Vorschriften, wie mit einem Leichnam<br />
umzugehen ist, werden die zahlreichen<br />
Symbole auf jüdischen Grabsteinen erklärt.<br />
So überrascht die Symbolik der Schlange,<br />
die nicht für Verführung, sondern Symbol<br />
für den ewigen Kreislauf von Leben und Tod<br />
steht. „Die Gedanken zum Leben nach dem<br />
Tod oder wie sieht die Welt im Jenseits aus,<br />
ist mir zu philosophisch, denn das kann niemand<br />
beantworten.“<br />
Der Bild- und Textband beschreibt das<br />
Sterben im Allgemeinen, bezieht sich aber<br />
auch auf den jüdischen Friedhof in Graz.<br />
Nach der Shoah sind die jüdischen Friedhöfe<br />
Österreichs häufig die letzten Relikte<br />
und Zeugnisse einer weitgehend zerstörten<br />
Kultur. Der über 18.000 m 2 große<br />
Friedhof Graz ist einer der wenigen noch<br />
aktiven jüdischen Friedhöfe in Öster-<br />
reich. 1864 gegründet, wurden auf ihm<br />
von 1865 bis heute rund 1.460 Gräber<br />
errichtet. Er dient als Hauptbegräbnisstätte<br />
der jüdischen Gemeinde Graz. Es<br />
finden sich auf diesem Friedhof im Gegensatz<br />
zu Wien nur wenige über die Stadt<br />
Graz hinaus bekannte Persönlichkeiten,<br />
die hier begraben wurden. Hervorgehoben<br />
werden kann hier das Grab von Madame<br />
D’Ora, Dora Philippine Kallmus. Die<br />
international bekannte Fotografin (1881–<br />
1963) wurde vor allem mit Porträtaufnahmen<br />
aus der Wiener Künstler- und Intellektuellenszene<br />
bekannt, etwa von Alma<br />
Mahler-Werfel, Arthur Schnitzler, Anna<br />
Pawlowa, Gustav Klimt und Emilie Flöge,<br />
Marie Gutheil-Schoder, Pau Casals, Berta<br />
Zuckerkandl-Szeps und Anita Berber. 1916<br />
fotografierte sie offiziell auch die Krönung<br />
Kaiser Karls zum ungarischen König.<br />
Interessant ist auch der Gedenkstein<br />
für KR Simon Rendi. Geboren als Simon<br />
Rosenbaum, zählte er gemeinsam mit<br />
seinem Bruder Adolf Rendi zu den erfolgreichsten<br />
jüdischen Geschäftsleuten<br />
in Graz. Er war von 1912 bis 1922 Präsident<br />
der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
sowie Gründer und Präsident der Grazer<br />
B’nai-B’rith-Loge. Rendi blieb kinderlos<br />
und wurde 1942 im Konzentrationslager<br />
Jasenovac ermordet. Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg ließen nach Graz zurückgekehrte<br />
Mitglieder der Familie Rendi den<br />
Gedenkstein errichten. Simon Rendi war<br />
über die Linie seines Großvaters ein Verwandter<br />
des Ehemannes der SPÖ-Politikerin<br />
Pamela Rendi-Wagner.<br />
Die zahlreichen Fotos der Grabsteine<br />
am Ende des Bildbandes erzählen über<br />
Menschen, die die jüdische Geschichte<br />
der Stadt Graz mitgestaltet haben. Ein<br />
beeindruckender Rundgang zu einem<br />
Thema, das lebendig in seiner Stille ist.<br />
wına-magazin.at<br />
57<br />
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Jüdischer Urgroßvater<br />
Gewaltiges Rollenspektrum<br />
Kerzengerade, als hätte sie gerade<br />
einen Stock verschluckt,<br />
sitzt die kleine, zierliche Frau<br />
im Garten des Cafés in der Josefstädter<br />
Straße. Diese aufrechte Haltung<br />
und Dynamik gehören auch zum<br />
Charakter von Doris Weiner, sie sind nicht<br />
nur ihrer frühen Ballettausbildung geschuldet,<br />
sondern lassen sie auch ein wenig<br />
größer erscheinen. Denn die angeblich<br />
fehlende Körpergröße hat auch viel<br />
im Leben der Schauspielerin, Regisseurin<br />
und Lehrerin bewegt und bestimmt.<br />
1949 in Wien geboren, trägt die verheiratete<br />
Frau noch immer ihren Mädchennamen.<br />
„Der Name Weiner soll ungarisch-jüdische<br />
Wurzeln haben“, erzählt<br />
sie. „Ich liebe die Geschichte, die mein<br />
Vater über seinen Großvater erzählte.<br />
Dieser war Pferdehändler und so kräftig,<br />
dass er am Markt die Betrüger in der<br />
Leopoldstadt einfach über den Tisch geworfen<br />
hat. Das war mir deshalb so wichtig,<br />
weil es nach der Shoah immer wieder<br />
geheißen hat, die Juden hätten sich<br />
nicht gewehrt und seien schwach gewesen.<br />
Aber mein jüdischer Urgroßvater war<br />
sehr stark!“<br />
Obwohl unser Gespräch vor allem Doris<br />
Weiners Programm Vier Frauen im Vierten<br />
gewidmet ist, möchte sie dem WINA-<br />
Magazin doch mehr über ihre jüdischen<br />
Wurzeln anvertrauen, vor allem über ihren<br />
Vater. „Meine ungeliebte Großmutter<br />
hat sich von meinem Großvater 1938<br />
sofort scheiden lassen. Er wurde daraufhin<br />
ins KZ Flossenbürg deportiert, das lag<br />
etwa auf halber Strecke zwischen Nürnberg<br />
und Prag, wo er bei der Zwangsarbeit<br />
verstarb. Vielleicht hätte er überlebt,<br />
wenn sie ihn noch in die Wohnung gelassen<br />
hätte.“ Doris’ Vater, Hermann Weiner,<br />
Jahrgang 1924, musste keinen Judenstern<br />
Kleine Frau<br />
mit großer Haltung<br />
Auch nach ihrem Abschied vom Volkstheater bleibt die<br />
beliebte Schauspielerin Doris Weiner präsent: Jetzt<br />
mit den Leseabenden Vier Frauen im Vierten.<br />
Ein Porträt von Marta S. Halpert<br />
tragen, weil „seine Mutter mit irgendwelchen<br />
Nazis geschlafen hat“, so die strenge<br />
Enkelin. Kurz vor Kriegsende wurde Hermann<br />
Weiner gemeinsam mit dem späteren<br />
Wiener Bürgermeister Felix Slavik<br />
noch an die Ostfront geschickt, wo sie<br />
Gruben aushoben und schnell verstanden,<br />
dass diese für die Erschießung jüdischer<br />
Menschen gedacht waren. „Slavik<br />
sagte zu meinem Vater, ‚Renn!‘, und gemeinsam<br />
ist ihnen die Flucht gelungen –<br />
so begann eine Freundschaft fürs Leben.“<br />
Engagement für starke Frauen. Mit 71 Jahren<br />
ging Doris Weiner nach 43-jähriger<br />
Zugehörigkeit zum Wiener Volkstheater<br />
in Pension. Und da ihr Untätigkeit ein<br />
Fremdwort ist, macht sie gleich weiter:<br />
„Ab sofort bin ich freischaffende Künstlerin<br />
und hoffe auf Engagements, denn das<br />
Wichtigste sind mir das Spielen und auf<br />
der Bühne Stehen.“ Als es die Pandemie<br />
vorübergehend erlaubte, präsentierte<br />
Weiner bereits 2021 eine One-Woman-<br />
Show mit Klavierbegleitung. Das Thema<br />
passte hervorragend zu ihrer Neugier<br />
und Vielseitigkeit: Vier Frauen im Vierten<br />
hieß die Lesereihe, die aus einer Ausstellung<br />
mit dem Titel Berühmte Frauen aus dem<br />
Vierten hervorgegangen war, die von Lea<br />
Halbwidl, der SPÖ-Bezirksvorsteherin im<br />
vierten Bezirk, initiiert worden war. „Wir<br />
porträtierten vier Frauen, die alle einen<br />
persönlichen Bezug zur Wieden hatten.<br />
Entweder sind sie hier aufgewachsen, haben<br />
da gelebt oder sind irgendwann zugezogen“,<br />
erklärt die Künstlerin. Zu den<br />
ersten vier Frauen zählte Alma Rosé, die<br />
berühmte Geigerin, die am 2. April 1944<br />
zum letzten Mal das sogenannte Mädchenorchester<br />
im Vernichtungslager<br />
Auschwitz leitete. Es folgten die Porträts<br />
der großen Volksschauspielerin Dorothea<br />
Neff, der Sozialdemokratin Adelheid Popp<br />
sowie der Malerin und Schriftstellerin<br />
Rosa Mayreder.<br />
Die vier Abende des Jahres 2021 widmeten<br />
sich jeweils einer dieser vier Frauen,<br />
konnten jedoch danach nicht mehr wiederholt<br />
werden. Möchte Doris Weiner<br />
diese kulturell wertvolle Veranstaltung<br />
nicht in Post-Covid-Zeiten wiederholen?<br />
„Ja das wäre schön“, antwortet sie und ergänzt:<br />
„Derzeit arbeiten wir bereits an Teil<br />
zwei des Projektes.“<br />
Initiiert wurde Vier Frauen im Vierten<br />
von Doris Weiner und Susanne Abbrederis,<br />
der langjährigen Chefdramaturgin des<br />
Volkstheaters. Nach dem plötzlichen Tod<br />
der angesehenen Kollegin im November<br />
2021 stellt nun die Wiener Dramaturgin<br />
Angela Heide die vier neuen Lesungen zusammen,<br />
wieder in enger Zusammenarbeit<br />
mit Doris Weiner. Die vier Abende, die<br />
Ende <strong>August</strong> in der Bibliothek der Wiener<br />
Arbeiterkammer Premiere haben, sind<br />
so auch der gemeinsamen Freundin und<br />
künstlerischen Wegbegleiterin Susanne<br />
Abbrederis gewidmet.<br />
© Lalo Jodlbauer<br />
Faszinierende und mutige Frauen. Auch<br />
der zweite Teil der Reihe präsentiert eine<br />
spannende Mischung von bemerkenswerten<br />
Frauen aus dem vierten Bezirk. Den<br />
Auftakt macht am 23. <strong>August</strong> ein Porträt<br />
über die berühmte jüdische Malerin<br />
Broncia Koller-Pinell, die engen Kontakt<br />
zu den „Secessionisten“, vor allem zu Gustav<br />
Klimt, Josef Hoffmann und Koloman<br />
Moser pflegte und 1934 in ihrer Wohnung<br />
in der Prinz-Eugen-Straße 12 starb.<br />
Am 25. <strong>August</strong> folgt ein Einblick in das<br />
bewegte Leben von Wanda Lanzer, die<br />
als Tochter des bekannten Rechtsanwalts<br />
Max Landau in Wien geboren wurde. Das<br />
Ehepaar Landau unterhielt einen Treffpunkt<br />
für emigrierte polnische Sozialdemokraten,<br />
und das prägte auch den Werdegang<br />
von Wanda, die 1924 mit einer<br />
Arbeit über „Marxistische Krisentheorie“<br />
promovierte. Danach trat sie in die Arbeiterkammer<br />
ein, wo sie bis zu den Februarkämpfen<br />
1934 beschäftigt war, ehe sie<br />
während der NS-Zeit in Schweden lebte<br />
und erst in ihren letzten Lebensjahren<br />
wieder zurück nach Wien konnte.<br />
„Die Romanbiografie von Peter Stephan<br />
Jungk über seine Großtante Edith Tudor-<br />
Hart* hat uns bei der Gestaltung des ihr<br />
gewidmeten dritten Abends sehr geholfen.<br />
Sie war eine der wichtigsten österreichisch-britischen<br />
Fotografinnen des 20.<br />
Jahrhunderts“, erzählt Weiner über die<br />
Recherchen zur Lesung am 30. <strong>August</strong>.<br />
Am 1. September wird schließlich die politische<br />
Aktivistin und Autorin Irene Harand<br />
gewürdigt. Bereits im Jahr 1935<br />
erschien ihr Buch Sein Kampf – Antwort<br />
an Hitler. Darin widerlegt die leidenschaftliche<br />
Antifaschistin Adolf<br />
Hitlers Pamphlet Mein Kampf in allen<br />
Details, vor allem aber jegliche<br />
antisemitische Stereotype und geht<br />
in einem eigenen Kapitel auf die Fälschung<br />
der Protokolle der Weisen<br />
von Zion ein. Das Buch, das auch auf<br />
Französisch und Englisch erschien,<br />
sowie ihre ausgedehnten Vortragsreisen<br />
durch Europa und die USA<br />
(1937) sollten ihr bei der Mobilisierung<br />
der Öffentlichkeit gegen den<br />
Nationalsozialismus behilflich sein.<br />
Wie wir heute wissen, gelang dies<br />
nicht. Harand und ihr Mann konnten<br />
noch rechtzeitig in die USA fliehen,<br />
wo sie auch 1975 starb, viele ihrer<br />
Wegbegleiter, darunter ihr großes Vorbild,<br />
der jüdische Anwalt Moriz Zalman,<br />
wurden hingegen in der Shoah ermordet.<br />
Zielstrebige Bühnenkarriere. Zielstrebig und<br />
energiegeladen betreibt Weiner dieses<br />
Projekt heute als Freischaffende, und genauso<br />
verfolgte sie auch ihre Bühnenkarriere:<br />
Zuerst studierte sie Tanz bei Rosalia<br />
Chladek, danach Gesang und Schauspiel.<br />
Ihr erstes Engagement führte sie nach Basel,<br />
danach spielte sie Operetten in Baden<br />
und St. Pölten. „Das war eine schöne Zeit<br />
als Soubrette, da wird man als Allround-<br />
Talent gefordert“, lacht sie. Karl Schuster,<br />
der damals das „Volkstheater in den Außenbezirken“<br />
leitete, entdeckte sie, und<br />
Weiner wurde ans Wiener Volkstheater<br />
engagiert. „Gustav Manker, das schwierige<br />
Genie, engagierte mich 1976 an das Haus,<br />
Doris Weiner:<br />
Der Publikumsliebling<br />
ist auch in<br />
diesem Theatersommer<br />
vielbeschäftigt.<br />
„Ab sofort bin<br />
ich freischaffende<br />
Künstlerin<br />
und hoffe<br />
auf Engagements,<br />
denn<br />
das Wichtigste<br />
sind mir das<br />
Spielen und<br />
auf der Bühne<br />
Stehen.“<br />
Doris Weiner<br />
ab 1977 war ich<br />
fix im Ensemble.“<br />
Fünf Direktorinnen<br />
und Direktoren<br />
hat sie erlebt.<br />
Der sechste, Kay<br />
Voges, gewährte ihr noch zwei selbst verantwortete<br />
Abschiedsrunden: Sie stand in<br />
ihrer eigenen Inszenierung der Komödie<br />
Barfuß im Park in der Rolle einer agilen älteren<br />
New Yorker Mutter nahezu allabendlich<br />
auf einer anderen Bühne in den Außenbezirken.<br />
Gleichzeitig probte sie das<br />
Zwei-Personen-Stück Sechs Tanzstunden in<br />
sechs Wochen. Das und die Ehrenmitgliedschaft<br />
des Volkstheaters waren ihr Abschiedsgeschenk<br />
nach 43 Jahren.<br />
Mehrfach wurde Weiner in diesen Jahren<br />
zum Publikumsliebling gewählt, kein<br />
Wunder bei ihrem Rollenspektrum: Sie<br />
gab die Flora Baumscher in Nestroys Der<br />
Talisman und die Madame Knorr in dessen<br />
Einen Jux will er sich machen, spielte in<br />
Schnitzlers Anatol, in Eugène Labiches Das<br />
Glas Wasser oder in Tennessee Williams’ Die<br />
Glasmenagerie. Seit der Saison 2005/2006<br />
führte sie neben ihrer Schauspieltätigkeit<br />
das Volkstheater in den Bezirken und inszenierte<br />
auch zahlreiche Stücke. Doris<br />
Weiner leitete sowohl die Schauspielschule<br />
am Volkstheater wie auch – zusammen mit<br />
ihrem Kollegen Erwin Ebenbauer und anderen<br />
– das Volkstheater-Studio. „Ich bin<br />
auf alle meine Schülerinnen und Schüler<br />
stolz, dazu gehören Ursula Strauss, <strong>Juli</strong>a<br />
Cencig, Ali Jagsch, Aglaia Szyszkowitz<br />
oder auch Christian Dolezal.“ Und sie gesteht<br />
weiter: „Ich hätte immer am liebsten<br />
eine Bühne in einer Kleinstadt geleitet, wo<br />
jeder jeden kennt. Auf der anderen Seite<br />
bin ich aber durch und durch ein Großstadtkind<br />
– die Bezirkstournee war mein<br />
Ersatz“, schmunzelt sie.<br />
Der Sommer <strong>2022</strong> führt Doris Weiner<br />
so auch nicht nur mit Vier Frauen im Vierten<br />
an die Wiedner Arbeiterkammer, sondern<br />
auch zum Theaterfestival HIN&WEG ins<br />
niederösterreichische Litschau, wo sie bereits<br />
am 20. und 21. <strong>August</strong> den Text Liebste<br />
Mama lesen wird – „eine persönliche Geschichte,<br />
die mit Onkel Harry aus Tel Aviv,<br />
dem echten Sabre, begonnen hat“.<br />
* Peter Stephan Jungk: Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart.<br />
Geschichten eines Lebens. Frankfurt am Main: S. Fischer 2015.<br />
58 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
59
Ausbruch<br />
aus dem Gefängnis<br />
Von der hermetischen Welt der Satmarer Chassiden, seiner<br />
schmerzlichen Befreiung und dem Weg abseits des Weges erzählt<br />
Rabbi Akiva Weingarten in seinem Buch Ultraorthodox.<br />
Von Anita Pollak<br />
Heiratet seine jüngere Schwester<br />
vor ihm, dann ist er „geskipped“,<br />
ein „Übersprungener“,<br />
und das heißt am<br />
Heiratsmarkt zweite Wahl. Akiva ist noch<br />
nicht Zwanzig, als er diese Gefahr auf sich<br />
zukommen sieht. Also sagt er Ja zu Yalda,<br />
die 18 ist, aber geistig eigentlich noch ein<br />
Kind. „G’tt hat den Frauen ein kleineres<br />
Gehirn gegeben“, klärt ihn der zu Rate<br />
gezogene Rabbiner auf, „es reicht, wenn<br />
Frauen uns von der Sünde retten und unsere<br />
Kinder erziehen.“<br />
Nach drei gemeinsamen Kindern<br />
bricht Akiva nicht nur aus der unglücklichen<br />
Ehe aus. Er verlässt vor allem die<br />
ultraorthodoxe Gemeinschaft der Satmarer<br />
Chassiden, in die er hineingeboren<br />
wurde, und fliegt oder besser flieht<br />
eines Nachts aus Israel allein nach Berlin.<br />
Mit Unorthodox hat Deborah Feldman<br />
bereits vor zehn Jahren einen Einblick in<br />
die hermetische Welt der Satmarer Sekte<br />
in New York gegeben und damit einen<br />
„Es reicht, wenn Frauen uns<br />
von der Sünde retten und<br />
unsere Kinder erziehen.“<br />
Akiva Weingarten:<br />
Ultraorthodox.<br />
Mein Weg.<br />
Gütersloher<br />
Verlagshaus,<br />
256 S., € 20,60<br />
von Netflix 2020 auch verfilmten Weltbestseller<br />
gelandet. Unaufgeklärt und<br />
zutiefst verzweifelt in einer arrangierten<br />
Ehe, geht auch sie als junge Mutter gerade<br />
nach Berlin.<br />
Mit Ultraorthodox beleuchtet nun der<br />
jetzt als „liberal-chassidischer“ Rabbiner<br />
in Dresden tätige Akiva Weingarten quasi<br />
die männliche Seite derselben Medaille.<br />
Es ist eine von religiösen Geboten und<br />
Verboten beherrschte, von der Außenwelt<br />
streng abgeschottete Gesellschaft, in<br />
der sie aufwachsen. Ihrer beider Comingof-Age-Geschichten<br />
weisen dahingehend<br />
viele Parallelen auf.<br />
Selbstsuche. Akiva trägt aber darüber hinaus<br />
noch die Bürde als ältester, erstgeborener<br />
Sohn von insgesamt elf Geschwistern.<br />
Nach dem Willen des Vaters,<br />
der erst als junger Mann zu den Satmarern<br />
stieß, durchläuft Akiva in mehreren<br />
„Jeshivot“ zunächst in Amerika und<br />
dann in Israel die klassische Ausbildung<br />
zum ultraorthodoxen Rabbiner. Mit diversen<br />
Jobs, unter anderem<br />
mit dem Verkauf von<br />
Filterprogrammen für ein<br />
koscheres Internet, muss<br />
der junge Vater, der sich<br />
nur dem Studium der heiligen<br />
Schriften widmen<br />
sollte, aber auch zum Familienerhalt beitragen.<br />
Verstärkt durch das Fiasko seiner<br />
Ehe bekommt das Gefüge seiner scheinbar<br />
heilen Herkunftswelt Risse, Glaubenszweifel<br />
brechen immer drängender<br />
in den religiösen Alltag ein.<br />
Für ein Leben außerhalb dieser Welt ist<br />
er als „OTD, ein off the derech“, also als einer,<br />
der den „derech“, den Weg, verlassen<br />
hat, nach seinem Ausbruch aber in keiner<br />
Weise vorbereitet.<br />
Die Suizidrate unter dieser Art von<br />
Aussteigern ist alarmierend hoch, fallen<br />
sie doch aus einer rundum versorgenden<br />
Umgebung gleichsam ins bodenlose<br />
Nichts, begleitet vom Gefühl der absoluten<br />
Sinnlosigkeit. In einer Metamorphose<br />
seines Gottglaubens letztlich eine<br />
neue, freiere jüdische Identität findend,<br />
fängt sich Akiva vor dem drohenden Absturz<br />
auf.<br />
Nach diversen Erfahrungen unter anderem<br />
in Indien, in neuen erotischen<br />
Beziehungen, Begegnungen mit anderen<br />
religiösen Bewegungen und psychotherapeutischer<br />
Unterstützung gründet er<br />
schließlich in Dresden eine Selbsthilfegruppe<br />
Gleichgesinnter, beendet in Potsdam<br />
seine „Jüdischen Studien“ und ist<br />
heute als Rabbiner tätig, der sich schon<br />
auch mal mit Streimel und Kaftan fotografieren<br />
lässt.<br />
Keine Peep-Show. Seinen langen, schmerzlichen<br />
Weg dahin beschreibt er ohne Bitterkeit<br />
und ohne die Gemeinschaft, der<br />
seine Eltern, die trotz aller Befremdung<br />
zu ihm halten, seine Geschwister und<br />
Kinder immer noch angehören, zu diffamieren<br />
oder Peep-Show-artig bloßzustellen.<br />
Vom Aufwachsen in der beengenden<br />
Welt der Satmarer Chassiden, die er<br />
als „Gefängnis“ erlebt hatte, ihren absurd<br />
anmutenden Regeln, Zwängen und<br />
Tabus erzählt er im Rückblick fast abgeklärt<br />
und mit glaubhafter Authentizität<br />
und Ehrlichkeit.<br />
Fernsehserien wie Shtisel haben gezeigt,<br />
dass geschlossene Gemeinschaften wie die<br />
der Ultraorthodoxen, entsprechend präsentiert,<br />
auch für Außenstehende durchaus<br />
eine gewisse, vielleicht nicht nur der<br />
Neugier geschuldete Faszination ausüben<br />
können. Akiva Weingartens kaum fiktionalisierte,<br />
höchst persönliche Bekenntnisse<br />
reihen sich wie ein weiterer Puzzlestein<br />
in dieses komplexe Bild ein.<br />
60 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
WINA WERK-STÄDTE<br />
San Francisco<br />
Jüdische Museen gibt es weltweit in sämtlichen<br />
Formen. Aber nur wenige stehen so schräg wie<br />
das in San Francisco.<br />
Von Esther Graf<br />
Das Contemporary<br />
Jewish Museum befindet<br />
sich in der 736 Mission Street<br />
bei der Yerba Buena Lane<br />
im Stadtteil South of Market<br />
(SoMa).<br />
Kalifornien ist immer eine<br />
Reise wert. Der sonnige Bundesstaat<br />
an der amerikanischen<br />
Westküste ist nicht nur<br />
für Surfer ein Paradies, sondern hat auch<br />
kulturell einiges zu bieten. San Francisco<br />
zum Beispiel, die hügelige Metropole am<br />
Pazifischen Ozean, hält vor allem für Architekturliebhaber<br />
einige Schmankerl bereit.<br />
Zu den sehenswerten Bauwerken zählt<br />
das Contemporary Jewish Museum. 1984<br />
in einer kleinen Galerie eröffnet, führte<br />
eine umfangreiche Planungsphase zu einem<br />
Bau mit eigenwilligem Konzept. Untergebracht<br />
ist es seit 2008 in einem ehemaligen<br />
Umspannwerk. Das Museum ohne<br />
Sammlung sieht seinen Auftrag darin, im<br />
Rahmen wechselnder Ausstellungen zeitgenössisches<br />
Judentum in seiner Vielfalt<br />
zu zeigen. Der Stararchitekt Daniel Liebeskind<br />
verpasste den Innenräumen des<br />
Umspannwerks einen modernen Look und<br />
ergänzte das alte Gebäude um einen symbolträchtigen<br />
Anbau. Der dekonstruktivistische<br />
Kubus bezieht sich auf den Ausruf<br />
„Le Chajim“ (Auf das Leben!). Die hebräischen<br />
Buchstaben Chet und Jud, die das<br />
Wort „Chaj“ (Lebe!) bilden, standen Pate<br />
für die Form des schräg stehenden Kubus.<br />
Liebeskind erklärt den Einsatz der Buchstaben<br />
wie folgt: „The chet provides an overall<br />
continuity for the exhibition and educational<br />
spaces, and the yud with its 36<br />
windows serves as special exhibition, performance<br />
and event space.“ Die Architektur<br />
sieht Liebeskind somit als aktiven Teil<br />
der Vermittlungsarbeit.<br />
SAN FRANCISCO<br />
In der viertgrößten City Kaliforniens leben heute knapp 874.000 Menschen. Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts folgten Juden dem Goldrausch und kamen in die 1776 gegründete Stadt. Bereits<br />
1851 gab es zwei Synagogen, 1870 machte die jüdische Bevölkerung zehn Prozent der 150.000<br />
nicht indianischen Bewohner der Stadt aus – nach New York City die zweitgrößte jüdische<br />
Ansiedlung in Amerika. 1977 wurde hier die erste Synagoge für homosexuelle Juden und<br />
Jüdinnen gegründet. Zum Vorstand gehörte der Schwulenaktivist Harvey Milk, der ein Jahr<br />
später ermordet wurde. Heute leben über 350.000 Jüdinnen und Juden im Bay Area.<br />
© Carol M. Highsmith, 2016, Commons Wikimedia<br />
wına-magazin.at<br />
61
SOMMER KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
HOMMAGE<br />
19 Uhr<br />
Bibliothek der Arbeiterkammer,<br />
Prinz-Eugen-Straße 20–22, 1040 Wien<br />
wien.gv.at/bezirke/wieden/pdf/<br />
kultursommer<strong>2022</strong>.pdf<br />
HÖRTOUR<br />
ueber-die-grenze.at<br />
AB 2. JULI <strong>2022</strong><br />
FLUCHTGESCHICHTEN PER RAD<br />
Mit einem beeindruckenden Projekt widmet sich<br />
das Jüdische Museum Hohenems – Projektleitung<br />
und Texte: Hanno Loewy und Raphael Einetter<br />
– über 100 Kilometern und über 50 Geschichten<br />
zum Thema Flucht vor dem NS-Regime in den Jahren<br />
1938 bis 1945. Der am 3. <strong>Juli</strong> feierlich eingeweihte<br />
mobile Hörweg entlang der Fluchtstationen führt<br />
auf der internationalen Radroute No. 1 vom Bodensee<br />
bis zur Silvretta und durch Vorarlberg, die<br />
Schweiz und Liechtenstein.<br />
Zwischen 1938 und 1945 flohen Tausende von Menschen<br />
über Vorarlberg in die Schweiz, von der sie<br />
die rettende Aufnahme erhofften. Die meisten von<br />
ihnen waren bereits ab 1933 im „Deutschen Reich“<br />
und ab März 1938 infolge des „Anschlusses“ auch<br />
im vorerst noch rettenden Österreich ihrer Existenzgrundlagen<br />
beraubt worden und versuchten nun,<br />
nur noch das schiere Leben zu retten. Doch schon<br />
im Sommer 1938 schloss die Schweiz die rettenden<br />
Grenzen, sodass nur noch illegale, oft lebensgefährliche<br />
Routen in Frage kamen, um Österreich<br />
und damit den sicheren Tod zu verlassen. Über die<br />
Grenze erzählt an ausgewählten Orten entlang der<br />
Radroute No. 1 von den Ereignissen rund um die<br />
NS-Verfolgung und die Fluchtrouten in dieser Region,<br />
wobei ein großer Teil des präsentierten Materials<br />
auf den bereits gut dokumentierten Fluchtgeschichten<br />
aufbaut, die von persönlichen Briefen<br />
und behördlichem Schriftgut bis hin zu Fotografien<br />
von Originalschauplätzen reichen. Die Tour präsentiert<br />
so ein multimedial beeindruckendes Bild jener<br />
Zeit und der dramatischen Ereignisse, und dies<br />
in einer Landschaft, die für die meisten heute nur<br />
noch als beliebtes „Urlaubsparadies“ zwischen See<br />
und Bergen bekannt ist.<br />
MUSIKREVUE<br />
20:15 Uhr, Wachauarena,<br />
Rollfährestraße 1, 3390 Melk<br />
wachaukulturmelk.at<br />
6. JULI BIS 13. AUG. <strong>2022</strong><br />
GLORREICHE TAGE<br />
Mit Glory Days oder Junge Römer präsentieren<br />
die Sommerspiele Melk eine<br />
Musikrevue, die niemand Geringerer<br />
als Publikumsliebling Tania Golden<br />
gestaltet hat, die auch für die Regie<br />
verantwortlich zeichnet. Dabei bewegt<br />
sich die vielseitige Künstlerin auf<br />
ganz neuem Terrain und lässt nicht<br />
weniger als 40 Evergreens und Popsongs<br />
in einer Art Science-Fiction-Setting<br />
à la Zurück in die Zukunft wiedererstehen.<br />
Futuristische Designs treffen<br />
hier auf historische Kostüme und berühmte<br />
Herrscher:innen von einst<br />
auf historische Epochen, von denen<br />
sie zu Lebzeiten noch nichts wussten<br />
und in denen sie sich von einer ganz<br />
neuen Seite zeigen müssen. Klingt<br />
ziemlich verrückt? Ist es auch! Und<br />
gerade deshalb einen sommerlichen<br />
Zeit-Sound-Trip in die Wachau wert.<br />
Tania Golden: Buch & Regie; Gerald Huber-<br />
Weiderbauer, Michael Strauss, Magdalena<br />
Schweiger: Musikalische Leitung & Arrangements;<br />
Thomas Huber: Choreografie; mit:<br />
Eleftherios Chladt, Thomas Dapoz, Florian<br />
Sebastian Fitz, Valentina Inzko Fink, Matthias<br />
Liener, Cornelia Mooswalder<br />
THEATERWANDERUNG<br />
8:45 Uhr<br />
Treffpunkt Kirche Gargellen, Montafon, Vorarlberg<br />
teatro-caprile.at<br />
montafon.at/auf-der-flucht<br />
15. JULI BIS 4 SEPT. <strong>2022</strong><br />
WANDERN AUF DEN SPUREN<br />
DER FLUCHT<br />
Das freie Wiener Ensemble teatro caprile hat sich<br />
in den letzten Jahren auf die Erarbeitung historischer<br />
Themen und Texte zur Shoah spezialisiert,<br />
die es den Besucher:innen an Originalschauplätzen<br />
im Rahmen mehrstündiger szenischer<br />
Touren näher bringt. Diesen Sommer präsentiert<br />
die Gruppe mit Auf der Flucht die „Montafoner<br />
Theaterwanderung“, eine „Grenzerfahrung<br />
zwischen Österreich und der Schweiz“. Die<br />
Produktion fußt unter anderem auf Texten von<br />
Franz Werfel und Jura Soyfer, anhand derer teatro<br />
caprile in theatralischen und tänzerischen<br />
Streiflichtern Fluchtrouten während der NS-Zeit<br />
nachspürt. Gespielt wird im Hotel Madrisa, in<br />
Almhütten und im freien Gelände, das Publikum<br />
begleitet dabei die Protagonist:innen hautnah<br />
auf ihrer theatralen Geschichtstour, deren<br />
Ziel das Sarotla-Joch ist. Die Inszenierung arbeitet<br />
gekonnt mit dem natürlichen Licht der Originalschauplätze<br />
und erzeugt innerhalb der Weite<br />
der faszinierenden Naturlandschaft eine beeindruckende<br />
kammerspielartige Dichte, in der<br />
Darsteller:innen, Gelände, die Geräusche von<br />
Wind, Wasser und Steinen, Licht und Schatten,<br />
Nebel, Regen und Schnee, aber auch Tiere, die<br />
den Weg kreuzen, eine ungewöhnliche szenische<br />
Symbiose eingehen.<br />
Konzept: Katharina Grabher; Regie: Andreas Kosek;<br />
Choreografie: Maria King; Bergcoaching und Moderation:<br />
Friedrich Juen, Stefanie Juen<br />
15.–17.07., 26.–28.08., 02.–04.09.<strong>2022</strong>; Dauer: ca. 5–6<br />
Stunden; die Tour findet bei jedem Wetter statt<br />
© Jüdisches Museum Hohenems; Glory Days/Daniela Matejschek/Melk; teatro caprile; Verlag; privat; theater 7<br />
SZENISCHE LESUNG<br />
13:30 Uhr (20.08.), 15 Uhr (21.08.)<br />
3874 Litschau (genauer Ort ab Anfang <strong>August</strong>)<br />
hinundweg.jetzt<br />
20. &. 21. AUGUST <strong>2022</strong><br />
BRIEFE AN DIE MUTTER<br />
Liebste Mama, die Geschichte einer Familie<br />
in Briefen nach einem Text von Daisy<br />
Koeb präsentieren dieses Jahre die beiden<br />
Schauspielerinnen Naemi Latzer und<br />
Doris Weiner im Rahmen des Hin und<br />
Weg Festivals in Litschau, das sich binnen<br />
weniger Ausgaben zu einem veritablen<br />
Theaterhotspot in Österreich entwickelt<br />
hat, das so einiges kann: jung und<br />
etwas weniger jung vereinen, Innovatives<br />
im landschaftlichen Setting des Waldviertels<br />
präsentieren und zum anregenden<br />
künstlerischen Austauch abseits der<br />
klassischen Sommertheaterbühnen einladen.<br />
Daisy Koeb, Jahrgang 1927, die 2019<br />
in Israel starb, begann ihre Arbeit, als sie<br />
in Pension ging und bei der Durchsicht<br />
alter Papiere auf Dokumente stieß, die<br />
sie selbst fast ein ganzes Leben lang vergessen<br />
hatte: ihre eigenen Briefe, die sie<br />
aus dem schwedischen Exil ab 1939 an<br />
ihre Eltern geschrieben hatte. Daisys Eltern<br />
gehörten zu jenen, denen die Flucht<br />
noch gelang – 1946 sahen sich Mutter<br />
und Tochter im Hafen von Haifa wieder.<br />
2007 erschien Koebs Familiengeschichte<br />
in Briefen Liebste Mama, die nun in einer<br />
szenischen Lesung mit Publikumsliebling<br />
Doris Weiner und ihrer jungen Schauspielkollegin<br />
Naemi Latzer präsentiert<br />
wird – ein faszinierendes und berührendes<br />
Zeitdokument.<br />
23., 25., 30. AUG. & 1. SEPT. <strong>2022</strong><br />
STARKE FRAUEN IM VIERTEN<br />
2021 präsentierten die Wiener Schauspielerin<br />
und langjährige Leiterin des Theaters in den<br />
Bezirken, Doris Weiner, und Dramaturgin Susanne<br />
Abbrederis den ersten Teil ihrer Reihe Vier<br />
Frauen im Vierten. <strong>2022</strong> erinnert nun der zweiten<br />
Teil, der in memoriam Susanne Abbrederis, der<br />
Ende 2021 verstorbenen langjährigen Chefdramaturgin<br />
des Volkstheaters, und erneut in der<br />
künstlerischen Leitung von Doris Weiner realisiert<br />
wird, an weitere vier Frauen, die im vierten<br />
Bezirk aufwuchsen, wirkten oder nach ihrer Emigration<br />
hierher zurückkehrten: an Wanda Lanzer,<br />
die heute fast vergessene Gründerin der Wiener<br />
Abendschulen, deren Verdienste um den Aufbau<br />
der AK-Bibliothek bislang noch viel zu wenig<br />
gewürdigt wurden. An Edith Tudor-Hart, die<br />
eminente sozialkritische Fotografin, deren Bilder<br />
über das Elend in Wien und London von der Zwischen-<br />
bis zur Nachkriegszeit heute von ikonografischem<br />
Wert sind. An Broncia Koller-Pinell,<br />
eine der ersten österreichischen Malerinnen, die<br />
sich um 1900 in der männlich dominierten Wiener<br />
Kunstszene einen festen (wenn auch postum<br />
wieder vergessenen) wichtigen Platz erringen<br />
konnten. Und an Irene Harand, deren mutige<br />
Schrift Sein Kampf. Antwort auf Hitler und internationale<br />
antifaschistische Bewegung zu den<br />
wichtigsten frühen großen Widerstandsaktionen<br />
gezählt werden muss. Sie alle sind heute weitgehend<br />
vergessen: Mit Vier Frauen im Vierten soll ihnen<br />
daher in diesem Sommer zumindest ein kleines<br />
szenisches Denkmal gesetzt werden.<br />
Mehr zu Doris Weiner und ihren aktuellen Projekten im<br />
Interview mit Marta S. Halpert auf Seite 58.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />
STATIONENTHEATER<br />
Forum Am Seebogen,<br />
Eileen-Gray-Gasse 2, 1220 Wien<br />
(U2-Endstation „Seestadt“,<br />
Ausgang Lina-Bo-Bardi-Platz)<br />
theater7.at/lebensboegen<br />
AB 27. AUGUST <strong>2022</strong><br />
LEBENSBÖGEN, WEIBLICH<br />
Lebensbögen heißt das bereits zweite Stationentheater,<br />
das das freie Wiener Ensemble<br />
theater 7 auf die Beine gestellt hat.<br />
Wie schon im ersten Teil widmet sich auch<br />
Folge 2 Frauen, die den Straßennamen des<br />
großen Wiener Stadtentwicklungsgebietes<br />
Seestadt Aspern ihren Namen gegebenen<br />
haben. Darunter der brasilianischen Architektin<br />
Lina Bo Bardi, der österreichischen<br />
Autorin Käthe Recheis, der afrikanischen<br />
Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathaai<br />
und der vor zehn Jahren verstorbenen<br />
Wiener Widerstandskämpferin und Autorin<br />
Antonia Bruha. Für die Idee und künstlerische<br />
Leitung zeichnet auch diesen Sommer<br />
die Schauspielerin Vanessa Payer Kumar<br />
verantwortlich, die zudem gemeinsam mit<br />
Florian Stanek das Buch zu dieser spannenden<br />
Wiener Stadttour verfasst hat. Und:<br />
Keine Geringere als Multitalent Tania Golden<br />
zeichnet bei diesem Stück für die Regie<br />
verantwortlich und schlüpft an der Seite<br />
von Marion Rottenhofer, Viktoria Hillisch, Artur<br />
Ortens und anderen in so manche historische<br />
Rolle.<br />
27.8., 11 Uhr: Voraufführung; 28.8., 11 Uhr: Premiere;<br />
weitere Vorstellungen: 3. u. 10.9., 11 Uhr; 4. u.<br />
11.9.<strong>2022</strong>, 16 Uhr; Reservierungen: theater7.lebensbogen@gmail.com<br />
oder +43/(0)677/644 03 986<br />
62 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />
wına-magazin.at<br />
63
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
dass ich meine Kunst an einem<br />
ungewöhnlichen Ort gesehen habe,<br />
war … Vergangenen April nahm ich an<br />
einer öffentlichen Kunstausstellung<br />
teil, die Hunderte von Busbahnhöfen<br />
in Tel Aviv bespielte. Es war schön,<br />
meine und die Kunst anderer in großen<br />
Formaten und statt der Werbung,<br />
die an solchen Orten üblicherweise<br />
gezeigt wird, zu sehen.<br />
Das letzte Mal, dass ich Horror vacui<br />
verspürte, war ... Um ehrlich zu sein,<br />
bin ich das Gegenteil von Horror vacui:<br />
Ich kenne dieses Gefühl kaum und<br />
neige dazu, beim Zeichnen und Malen<br />
so viel Raum wie möglich zu lassen. Ich<br />
mag die Leere, sie gibt mir das Gefühl,<br />
dass Luft zwischen den Elementen,<br />
Formen und verschiedenen Kompositionen<br />
„fließt“.<br />
Das letzte Mal, dass ich ein<br />
Kunstwerk gekauft habe, war …<br />
Zählen Musikkonzerte als Kunstwerke?<br />
Wenn ja: Vergangenen Mai habe ich in<br />
London viele Konzerte gesehen, das<br />
ist sicher die Kunstform, für die ich<br />
das meiste Geld ausgegeben habe.<br />
Wenn wir eher von „physischer“ Kunst<br />
sprechen, habe ich mir im <strong>August</strong> 2020<br />
ein frisches Tattoo von einem meiner<br />
Lieblingstätowierer stechen lassen.<br />
Das letzte Mal, dass ich durch meine<br />
Arbeit tolle Menschen kennengelernt<br />
habe, war … Immer, wenn jemand in<br />
mein Studio kommt, um sich tätowieren<br />
zu lassen, treffe ich auf einen einzigartigen<br />
Menschen mit seiner persönlichen<br />
Geschichte. Im April 2021 habe<br />
ich außerdem während meiner letzten<br />
Einzelausstellung die Gründer des Design<br />
Terminals in Bat Yam unweit von<br />
Tel Aviv kennengelernt. Alle Leute, die<br />
diesen Ort verwalten, sind einzigartig<br />
und großartig.<br />
Das letzte Mal, dass Kunst mich etwas<br />
verstehen ließ, war ... Bei jeder<br />
Show der Band IDLES: Gib jedes Mal,<br />
wenn du deine Kunst veröffentlichst,<br />
dein absolut Bestes – als wäre es dein<br />
letzter Tag auf Erden.<br />
VON DER LUFT ZWISCHEN<br />
DEN FORMEN<br />
Es gibt für alles ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
In diesem Monat berichtet der israelische Künstler UNTAY<br />
über seine Bilder, die ganze Werbeflächen einnehmen<br />
oder gerne mal in die Haut gestochen werden.<br />
Boaz Sides, auch bekannt als UNTAY, ist ein multidisziplinärer<br />
bildender Künstler, der in Tel Aviv lebt und arbeitet. Mittlerweile<br />
umfasst sein Œuvre eine Vielzahl von Straßen- und<br />
Studioarbeiten, Tätowierungen sowie kuratorische Projekte<br />
und die Produktion alternativer Kunstveranstaltungen und<br />
Ausstellungen. Für das diesjährige Streetart-Festival Calle<br />
Libre, bei dem er auch vor Ort teilnehmen wird, gestaltetet<br />
UNTAY das Plakatsujet (siehe auch Seite 29).<br />
untayart.com<br />
64 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>
Erleben Sie modernen Luxus und<br />
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