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wina Juli/August 2022

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<strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

Tammus/Aw 5782<br />

#7/8. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

„Glücklich sein heißt ohne<br />

Schrecken seiner selbst<br />

innewerden können.“<br />

Eine Hommage an<br />

Walter Benjamin<br />

zum 130. Geburtstag<br />

DIE LEICHTIGKEIT<br />

DES SOMMERLICHEN SEINS<br />

Tipps, Rezepte & viel Literatur<br />

für die schönste Zeit des Jahres<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

07<br />

9 120001 135738<br />

DAS ELEMENT<br />

DER ZUFÄLLIGKEIT<br />

Historiker Dan Diner über<br />

den Zweiten Weltkrieg aus<br />

einer neuen Perspektive<br />

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Editorial<br />

<strong>Juli</strong>a Kaldori<br />

Den heißen<br />

Sommer<br />

genießen,<br />

denn der<br />

Winter folgt<br />

bestimmt.<br />

Endlich wieder Sommer! Endlich wieder<br />

ein Sommer zum Genießen. Und genau<br />

deshalb würde ich gerne auch hier nur<br />

über die sommerliche Leichtigkeit des Seins<br />

schreiben.<br />

Nein, ich möchte jetzt nicht über die ungewöhnliche<br />

Hitze sinnieren, die uns in Zukunft<br />

vermutlich zu großen Zugeständnissen zwingen<br />

wird. Nicht über die dadurch entstehende Wasserknappheit,<br />

Walbrände und nicht über ihre<br />

langfristigen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt.<br />

Ein Sommer, der endlich wieder ein bisschen<br />

weniger von Covid-19 gekennzeichnet<br />

wird, in dem wir endlich ein wenig reisen, das<br />

Meer wieder genießen und fremde Länder besuchen<br />

können. Fast so ein Sommer, wie er einst<br />

war. Nein, ich möchte mich kurz nicht mit den<br />

rasant steigenden Infektionszahlen, den tragischen<br />

und langfristigen Folgen der Infektionen<br />

befassen. Und auch nicht damit, was uns<br />

im Herbst covidtechnisch erwartet.<br />

Ich möchte gerne auf den nächtlichen Sommerhimmel<br />

blicken und die Sterne betrachten<br />

und mir dabei nicht überlegen müssen, ob<br />

die Flieger, die über unserem Urlaubsort in der<br />

Nähe eines NATO-Flughafens fliegen, glückliche<br />

Urlauber oder nervöse Soldaten transportieren.<br />

Und während ich versuche, die aufgeheizten<br />

Räume ein wenig abzukühlen, möchte ich nicht<br />

darüber nachdenken, ob wir im Winter das<br />

Thermostat weiterhin unbedacht auf eine für<br />

uns angenehme Temperatur einstellen werden<br />

können, oder aus vielerlei Gründen versuchen<br />

werden, es ein paar Grade herunterzudrehen.<br />

Und ich möchte mir im herrlichen Sommerwetter<br />

kurz nicht vorstellen müssen, wie viele Menschen<br />

in Europa sich das Heizen bald kaum oder<br />

gar nicht mehr leisten werden können.<br />

Und während ich mich endlich wieder durch<br />

herrliche Kunstausstellungen schlinge und die<br />

zahlreichen Sommerkulturfestivals genieße,<br />

möchte ich auch nicht darüber reflektieren,<br />

wie ein documenta-Skandal diesen Ausmaßes<br />

entstehen konnte. Wie im Jahr <strong>2022</strong> einer<br />

so renommierten Kunstinstitution in Deutschland<br />

eine derart offensichtliche Fehlentscheidung<br />

passieren kann. Und ob „zu viel“ Zeit seit<br />

der Shoah vergangen sei und ob jene hauchdünne<br />

Schicht der Scham, die in Europa solch<br />

antisemitische Artikulationen zumindest aus<br />

dem öffentlichen Leben für Jahrzehnte verbannt<br />

hatte, wieder brüchig geworden ist.<br />

Oder wird die Gesellschaft durch die Folgen der<br />

Pandemie, die kriegerischen Vorgänge an Europas<br />

Grenze, die Hungersnöte in Nordafrika<br />

und die Klimaerwärmung zunehmend unaufmerksam<br />

für die „Geschmackslosigkeiten“ des<br />

Alltags? Nein, auch über diese Entwicklungen<br />

und deren Folgen möchte ich bei herrlichem<br />

Sonnenschein und Vogelgezwitscher draußen<br />

nicht nachdenken.<br />

Doch da drängt sich leider, kurz bevor ich<br />

mit diesen Zeilen fertig bin, noch die martialische<br />

Stimme eines europäischen Politikers<br />

dazwischen, der in der Hitze seines immerwährenden<br />

Gefechts diesmal vor Tausenden<br />

Anhängern bei einem sommerlichen Politfestival<br />

von „reinen und gemischten Rassen“<br />

spricht, vom baldigen Untergang des Westens<br />

und von der Kriegsverzögerungstaktik Europas<br />

in der Ukraine. Und seine Stimme – wie auch<br />

die seiner Fangemeinde – ist so laut, dass ich<br />

nicht weghören kann. Und ich hoffe auch sonst<br />

niemand, denn diese Hassrede ist eine zu lebendige<br />

Reminiszenz an eine Zeit, die Leid, Tod<br />

und Grauen bedeutet hat. Nein, ich möchte<br />

darüber in diesem Sommer nicht nachdenken<br />

– doch ich fürchte, das werde ich müssen,<br />

denn wie es bereits vor Jahren in der immer<br />

noch großartigen Fantasy-Serie Game of Thrones<br />

geheißen hat: Winter is coming*. Der Winter<br />

naht. Und seine kühlen Winde sind bereits<br />

im Sommer zu spüren.<br />

„Und während wir<br />

jetzt einen der<br />

heißesten Sommer<br />

unseres Lebens<br />

erleben, sollten wir<br />

bedenken, dass dieser<br />

vielleicht einer der<br />

kühlsten Sommer<br />

für den Rest unseres<br />

Lebens sein<br />

könnte....“<br />

Diana Ürge-Vorsatz,<br />

Klimawissenschaftlerin und<br />

Professorin an der CEU<br />

*© wellington/pixabay *Winter is Coming: Why Vladimir Putin and the Enemies of the Free World Must Be Stopped, so<br />

lautet auch der Buchtitel des russischen Schachweltmeisters und Oppositionspolitikers<br />

Garry Kasparov, das 2016 erschienen ist.<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

Unbenannt-1 1 26.07.22 10:12


S.64<br />

Boaz Sides, auch bekannt als UNTAY, ist ein<br />

multidisziplinärer bildender Künstler aus Tel Aviv.<br />

Unter anderem gestaltete er das Plakatsujet für<br />

das diesjährige Streetart-Festival Calle Libre auf<br />

dem Nordwestbahnhof.<br />

„Gib jedes Mal, wenn du<br />

deine Kunst veröffentlichst,<br />

dein absolut Bestes<br />

– als wäre es<br />

dein letzter Tag<br />

auf Erden.“<br />

Boaz Sides<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: <strong>Juli</strong>a Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 „Harte Jahre vor uns“<br />

Wie der Antisemitismusbeauftragte<br />

der Landesregierung Baden-Württemberg<br />

Michael Blume das Problem<br />

in Griff bekommen will.<br />

12 „Studieren Sie Geschichte“<br />

Henry Kissinger legt mit 99 Jah ren ein<br />

anregendes Werk über Staatskunst<br />

und sechs politische Persönlichkeiten<br />

des 20. Jahrhunderts vor.<br />

16 Vielschichtiges Leben<br />

Nikolaus Lutterotti, Österreichs Botschafter<br />

in Israel, spricht im WINA-Interview<br />

über seine ersten Eindrücke<br />

und beruflichen Schwerpunkte.<br />

21 Leichtigkeit des Seins<br />

Inspirationen aus der WINA-Redaktion,<br />

um den Sommer ak tiv zum Aufladen<br />

unserer Bat terien zu nutzen.<br />

30 Wiener Fädenzieher<br />

20.000 jüdische Flüchtlinge fanden<br />

während des Zweiten Welt kriegs<br />

in Shanghai Zuflucht. Spuren davon<br />

sind kaum zu finden. Manchmal<br />

kommen sie durch Zufall ans Licht.<br />

34 Blütezeit im Burgenland<br />

Die Adelsfamilien Esterházy und<br />

Batthyány gaben in den Jahren 1612<br />

bis 1848 der jüdischen Bevölkerung<br />

im heutigen Burgenland Privilegien<br />

für ein prosperierendes Leben.<br />

INHALT<br />

38 Fürstliche Schutzjuden<br />

Im Schloss Esterházy in Eisenstadt<br />

gibt eine Ausstellung spannende<br />

Ein blicke in das Leben der „Hochfürstlich<br />

Esterházy Schutzjuden“.<br />

42 Ein historisches Juwel<br />

Der faszinierende „ewige Garten“<br />

des jüdischen Friedhofs von Mikulov<br />

bringt für eine geflüchtete Ukrai nerin<br />

und ihren Sohn neue Hoffnung.<br />

„Mit dem Mauerfall<br />

und der Auflösung der<br />

Sowjetunion haben wir<br />

die Implosion gesehen,<br />

aber der Knall<br />

erreicht uns<br />

erst jetzt, 30<br />

Jahre später.“<br />

Dan Diner<br />

S.46<br />

S.28<br />

Endlich Sommer.<br />

Wir vermuten zwar nicht, dass Ihnen unter der Sommersonne langweilig werden<br />

könnte. Haben aber trotzdem ein paar unserer Sommer-Highlights – wie<br />

das Streetart-Festival Calle Libre – zusammengestellt.<br />

KULTUR<br />

46 „… anders kommen können“<br />

In Ein anderer Krieg betrachtet Dan<br />

Diner den Zweiten Weltkrieg aus der<br />

Perspektive des jüdischen Palästinas<br />

und zeigt Zufälligkeiten der Ereignisse.<br />

49 Orientalischer Formulierer<br />

Mit Abraham Gabriel Yehoshua ist<br />

der letzte große Erzähler der Gründergeneration<br />

Israels verstorben.<br />

50 Sammler in der Großstadt<br />

Walter Benjamin war einer der führenden<br />

Intellektuel len der Zeit zwischen<br />

den Kriegen. Auf der Flucht vor den<br />

Nazis nahm er sich das Leben.<br />

52 Literatursommer <strong>2022</strong><br />

Sommerurlaub ohne Lektüre ist wie<br />

Strand ohne Sand, Wald ohne Bäume<br />

oder Urlaub ohne Früh stück im Bett.<br />

Hier unsere wärmsten Empfehlungen.<br />

56 In Baden und Graz<br />

Über das Leben und Sterben im<br />

jüdischen Baden und Graz hat Elie<br />

Ro sen viel zu erzählen und liefert dazu<br />

auch gleich zwei Neuerscheinungen.<br />

58 Kleine Frau, große Haltung<br />

Auch nach ihrem Abschied vom Volkstheater<br />

bleibt Schauspielerin Doris<br />

Weiner präsent – ganz aktuell mit der<br />

Lesereihe Vier Frauen im Vierten.<br />

60 Ausbruch mit Folgen<br />

Von der hermetischen Welt der Satmarer<br />

Chassiden und seiner schmerzlichen<br />

Befreiung erzählt Rabbi Akiva<br />

Weingarten in Ultraorthodox.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

05 WINA_Kommentar<br />

Oliver Das Gupta über den Antisemitismusskandal<br />

auf der diesjährigen<br />

documenta<br />

11 Kommentar aus Genf<br />

Rassismus und Intoleranz muss<br />

man ein für alle Mal beenden.<br />

Von Leon Saltiel<br />

14 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Nächste Wahl, gleiche Kandidaten,<br />

neue Rollen. Von Gisela Dachs<br />

20 Urban Legends<br />

Alexia Weiss über die persönliche<br />

Brille, durch die man die Welt sieht.<br />

28 WINA_Lebensart<br />

Ein paar Sommer-Highlights –<br />

nur für den Fall …<br />

40 Matok & Maror<br />

& Flora: ein neues Neubauer Hotelrestaurant<br />

mit kreativer Küche<br />

41 WINA_kocht<br />

Kalter Kaffee und knusprige Schnitzel<br />

zwischen Wien und Israel<br />

61 WINA_Werkstädte<br />

Das Jüdische Museum in San Francisco<br />

steht nicht zufällig schräg<br />

62 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den Sommer<br />

64 Das letzte Mal<br />

UNTAY heißt der israelische Künstler,<br />

dessen Bilder ganze Werbeflächen<br />

einnehmen können<br />

Coverfoto: xxxxxxx<br />

„Ich gehe wie eine Bildhauerin<br />

vor, indem ich<br />

von einer abstrakten<br />

Farbfläche ausgehend<br />

konkrete Elemente<br />

herausarbeite.“<br />

Alina Nosow<br />

S.27<br />

Alina Nosow wurde in Kiew<br />

geboren und studierte in<br />

Deutschland und Österreich<br />

Kunst. Heute sind ihre großformatigen<br />

Bilder und Skulpturen<br />

international vielbeachtet.<br />

2 wına | Junli/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

3


HIGHLIGHTS | 01<br />

WINA KOMMENTAR<br />

100 spannende Jahre<br />

Der im Sudan geborene Schweizer jüdische<br />

Unternehmer, Philanthrop und Funktionär<br />

Nessim Gaon ist tot.<br />

Geboren wurde Nessim David Gaon 1922 in<br />

Khartoum im Sudan, seine sephardisch-jüdische<br />

Familie stammte ursprünglich aus der Türkei<br />

und war über Ägypten dort hin gezogen.<br />

Abgerüstet bei der britischen Armee hat er<br />

1946 als Hauptmann. Gekämpft hatte er davor<br />

in Italien, im Irak und im Iran. Vor dem Militärdienst<br />

hatte er bereits eine solide Ausbildung<br />

an der London School of Economics genossen.<br />

Nach dem Krieg übersiedelte Gaon in die Schweiz,<br />

wurde Schweizer Staatsbürger und baute in Genf<br />

ein Unternehmen für den Handel mit Erdnüssen,<br />

Getreide und Pestiziden auf. Später gründete er<br />

die internationale Immobilienfirma Noga SA. Diese<br />

kooperierte dann jahrelang mit der Hilton Hotelgruppe.<br />

Gemeinsam eröffnete man etwa Häuser<br />

in der Schweiz, in Frankreich oder in Nigeria. 1996<br />

ging Noga in Konkurs, nach einem teuren Rechtsstreit<br />

über Barter-Handelsgeschäfte mit Russland.<br />

Doch das Geschäftliche umfasste nur einen<br />

Teil der vielfältigen Aktivitäten Gaons. Er setzte<br />

sich auf unterschiedliche Weise für jüdische und<br />

israelische Anliegen ein, war auch befreundet mit<br />

Staatspräsident Shimon Peres und mit Ministerpräsident<br />

Menachem Begin. Von 1971 bis zu seinem<br />

Tod leitete er die World Sephardi Federation,<br />

zwischenzeitig war er auch Vizepräsident<br />

des World Jewish Congress. Überdies stand er<br />

dem Board of Governors der Ben-Gurion-Universität<br />

im Negev vor. 1980, unmittelbar nach dem<br />

Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten,<br />

organisierte Gaon eine großzügige Spende für<br />

die Restaurierung der Sha’ar-Hashamayim-Synagoge<br />

in Kairo. In Genf ließ er die sephardische<br />

Hekhal-Haness-Synagoge errichten.<br />

Doch er konnte auch weniger offiziell aktiv werden,<br />

arbeitete etwa eng mit dem israelischen Geheimdienst<br />

Mossad zusammen. Das betraf die<br />

Evakuierung von äthiopischen Juden im Rahmen<br />

der „Operation Moses“ Anfang der 1980er-Jahre.<br />

Nicht alle wurden damals via Luftbrücke ausgeflogen.<br />

Gaon baute für den Mossad im<br />

Sudan eine Scheinfirma am Meer auf, eine<br />

Tauchschule, inklusive fiktiver Tauchlehrer<br />

und falscher Touristen. Dort wurden äthiopische<br />

Flüchtlinge gesammelt und in der<br />

Nacht mit Schlauchbooten auf israelische<br />

Schiffe vor der Küste gebracht. Gaon starb<br />

im Mai 100-jährig in Genf. <br />

RE<br />

17<br />

Tausend<br />

Juden haben nach israelischen Angaben<br />

Russland seit der russischen<br />

Invasion der Ukraine Richtung Israel<br />

verlassen. Unter ihnen auch Pinchas<br />

Goldschmidt: „Als sich der schreckliche<br />

Krieg gegen die Ukraine in den<br />

letzten Monaten entfaltete, konnte<br />

ich nicht schweigen, da ich so viel<br />

menschliches Leid sah.“<br />

„Glücklicherweise<br />

hat man mir nie die<br />

Chance gegeben,<br />

Sehnsucht nach Österreich<br />

zu haben.“<br />

Georg Kreisler (1922–2011)<br />

Israelische Drohne<br />

für die Schweizer<br />

Luftwaffe.<br />

Nessim Gaon<br />

baute eine fiktive<br />

Tauchschule im<br />

Sudan auf, um von<br />

dort aus äthiopischen<br />

Juden die Flucht zu<br />

ermöglichen.<br />

Drohnen über<br />

den Alpen<br />

Die Schweiz kauft in Israel unbemannte<br />

Aufklärungsflugzeuge.<br />

Im Frühjahr sind die ersten beiden israelischen<br />

Drohnen in der Schweiz angekommen,<br />

bis zum Ende des kommendes<br />

Jahres sollen vier weitere folgen.<br />

Es handelt sich um unbemannte, unbewaffnete<br />

Aufklärungsflugzeuge des<br />

Typs Hermes 900 HFE mit rund einer<br />

Tonne Gewicht und einem Heckpropeller.<br />

Angetrieben wird dieser – auf<br />

Schweizer Wunsch – von einem Dieselmotor.<br />

Gebaut wird das Fluggerät<br />

vom Rüstungskonzern Elbit Systems in<br />

Haifa, einem der weltweit führenden<br />

Entwickler und Hersteller von Drohnen.<br />

Die Lieferung stand allerdings unter keinem<br />

ganz guten Stern: Vor zwei Jahren<br />

stürzte eine schon für die Schweiz vorgesehene<br />

Drohne in Israel ab. Üblicherweise<br />

gehen die Testpiloten, in diesem<br />

Fall vom Boden aus, mit Neuentwicklungen<br />

an die erwarteten Belastungsgrenzen.<br />

Doch hier überschritten sie diese,<br />

die Drohne entwickelte massive Schwingungen,<br />

schließlich brach das Leitwerk<br />

ab: Totalausfall. Verletzt wurde niemand.<br />

Der Hersteller baute nach technischen<br />

Adaptionen eine neue Hermes für die<br />

Schweizer Luftwaffe, das führte zu einer<br />

Verzögerung bei der Auslieferung. Mittlerweile<br />

werden die ersten beiden Geräte<br />

über den Alpen getestet, allerdings<br />

fehlt bisher in der Schweiz die notwendige<br />

Radarzulassung für das autonome<br />

Fliegen. Daher dürfen die Drohnen nur<br />

bei Tag im unbewachten Luftraum üben,<br />

weit weg von den kommerziellen Flugrouten.<br />

Außerdem muss sie jedesmal<br />

ein herkömmliches Pilatus-Schulflugzeug<br />

mit Pilot am Steuer begleiten. RE<br />

© Martial Trezzini / EPA / picturedesk.com; Georgios Kefalas / Keystone / picturedesk.com; flash90<br />

Kassel<br />

Ein Warnzeichen<br />

Der Antisemitismusskandal auf der Kasseler Kunstausstellung documenta<br />

geht weit über ein Plakat mit Fratzen hinaus.<br />

Ein Soldat mit Schweinenase, der ein Halstuch mit<br />

Davidstern trägt und einen Helm mit der Aufschrift<br />

„Mossad“. Ein Mann mit blutroten Augen, spitzen<br />

Reißzähnen und krummer<br />

Von Oliver das gupta Nase, auf dessen Hut die SS-Runen<br />

prangen. Ein applaudierender<br />

Teufel mit Fliege und Anzug – ist das nicht ein kleiner<br />

weißer Magen David auf seiner Brust?<br />

Experte für antisemitische Stereotype muss man wahrlich<br />

nicht sein, um solche Motive zu entschlüsseln. Diese<br />

beschriebenen Gestalten sind Teil eines großflächigen Plakats,<br />

das zwischenzeitlich auf dem zentralen Friedrichsplatz<br />

in Kassel zu sehen war. Und zwar als Teil der documenta,<br />

einer der weltweit wichtigsten Ausstellungen für<br />

zeitgenössische Kunst. Politik und Feuilletons reagierten<br />

erschrocken, die Veranstalter ruderten zurück, das „Werk“<br />

der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi namens<br />

People’s Justice wurde entfernt. In dem muslimisch geprägten<br />

Land fühlte man sich den Palästinensern nahe, hieß es<br />

schon vorher. Die documenta widmete sich diesmal dem<br />

„globalen Süden“. Künstler aus Israel einzuladen, kam den<br />

Machern nicht in den Sinn.<br />

Die Dimension des Skandals geht weit über ein Plakat<br />

voller Fratzen hinaus. Hier wurde unter dem Deckmantel<br />

der Kunst versucht, eine wahnsinnige Opfer-Täter-Umkehr<br />

in aller Öffentlichkeit darzustellen: Juden als blutrünstige<br />

Dämonen mit Nazi-Bezug – und das mitten in Deutschland.<br />

Darüber muss offen gesprochen werden, die Debatte<br />

sollte allerdings den Fokus weiten. Was ist das für ein<br />

Klima, in dem solche „Kunst“ als präsentierwürdig bewertet<br />

wird? Antisemitismusvorwürfe gegen das von der<br />

documenta beauftragte Kuratorenkollektiv Ruangrupa<br />

gab es schon lange vor der Eröffnung – nahm man also<br />

den Skandal wissend in Kauf? Wenn die Aufarbeitung<br />

stockt und namhafte Experten wie der Frankfurter Pädagoge<br />

Meron Mendel frustriert ihr Angebot zur Mitarbeit<br />

zurückziehen, was sagt das über die Kompetenz der documenta-Spitze<br />

aus?<br />

Bei den in Kassel involvierten Personen und Institutionen<br />

handelt es nicht um tumbe Kellernazis. Hier haben<br />

intellektuelle Köpfe entschieden, von denen sich wohl<br />

nicht wenige selbst als Linke oder Liberale sehen, auf jeden<br />

Fall als gute Demokraten. Sie wollen, dass Kunst in<br />

Bei den in Kassel involvierten Personen<br />

und Institutionen handelt es nicht um<br />

tumbe Kellernazis. Hier haben intellektuelle<br />

Köpfe entschieden.<br />

die Gesellschaft wirkt, Denkanstöße liefert – in diesem<br />

Fall war es eine Darstellung, die aber unzweifelhaft darauf<br />

abzielt, Israel als Nazi-Regime zu verunglimpfen. Ein bisschen<br />

Judenhass ist okay – das ist die fatale Botschaft, die<br />

unterschwellig von der documenta ausgeht. Daran ändert<br />

auch das Abhängen des Plakats nur wenig, auch nicht der<br />

Rücktritt der documenta-Direktorin.<br />

Das Signal aus Kassel steht im krassen Gegensatz zu einer<br />

anderen Entwicklung. Gerade in Deutschland und in<br />

Österreich, den beiden Täterländern, wächst die Sensibilisierung<br />

für Misogynie, Rassismus, Homophobie seit Jahren:<br />

Diskriminierungen aller Art werden mehr und mehr<br />

gesellschaftlich geächtet und gesetzlich bekämpft – und<br />

das ist immens wichtig und überfällig.<br />

Umso grotesker ist es, dass in der Mitte der Allgemeinheit<br />

immer wieder Antisemitismus in unterschiedlichen<br />

Schattierungen sichtbar wird. Denn gegen Juden gerichteter<br />

Hass ist die älteste und folgenschwerste Variante gruppenbezogener<br />

Menschenfeindlichkeit.<br />

Kassel reiht sich ein in ähnlich grundierte Vorfälle in<br />

der jüngeren Vergangenheit, die den Kulturbereich im<br />

weiteren Sinne betrafen. Man denke nur an die antisemitischen<br />

Pointen einer österreichischen Kabarettistin oder<br />

entsprechende Karikaturen in einer deutschen Qualitätszeitung.<br />

Mag sein, dass sich bei solchen Fällen die Motive<br />

unterscheiden, mal gibt Skandalgeilheit den Ausschlag,<br />

mal Ignoranz, mal Boshaftigkeit.<br />

Kassel ist ein besonders grelles Warnzeichen dafür, dass<br />

sich unter dem Deckmantel der Kunst etwas Gefährliches<br />

entfaltet. Kunst entstehe nicht im luftleeren Raum, sagt<br />

Meron Mendel, der die Frankfurter Bildungsstätte Anne<br />

Frank leitet. Deshalb muss dagegengehalten werden – zu<br />

jeder Zeit, auf allen Ebenen, von Menschen mit jüdischem<br />

und mit nichtjüdischem Hintergrund.<br />

4 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

5


Gegen Antisemitismus<br />

Für jüdisches Leben<br />

INTERVIEW MIT MICHAEL BLUME<br />

„Wir haben noch<br />

einige harte<br />

Jahre vor uns“<br />

Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter<br />

der Landesregierung Baden-Württemberg, nahm<br />

Mitte Juni am Ersten Nationalen Forum gegen<br />

Antisemitismus in Wien teil und besuchte dabei<br />

auch die IKG. WINA sprach mit ihm über<br />

seinen Zugang, das Problem Antisemitismus in<br />

den Griff zu bekommen, aber auch darüber, wie<br />

es ist, auch von jüdischer Seite attackiert zu<br />

werden. Interview: Alexia Weiss<br />

MICHAEL BLUME,<br />

geb. 1976 in Filderstadt, Deutschland, ist Religions-<br />

und Politikwissenschaftler und seit 2018 An-<br />

tisemitismusbeauftragter der Landesregierung<br />

von Baden-Württemberg. Er ist zudem Autor<br />

zahlreicher Bücher, darunter Warum der Antisemi-<br />

tismus uns alle bedroht (2019). In seinem Podcast<br />

Verschwörungsfragen klärt er über Antisemitismus<br />

und Verschwörungsmythen auf.<br />

WINA: 2021 wurden in Deutschland 3.028 antisemitische<br />

Straftaten erfasst. Das American Jewish Committee (AJC) ließ<br />

daraufhin in einer Studie das Institut für Demographie Allensbach<br />

die Haltungen der Bevölkerung zu Antisemitismus<br />

erheben. Das Ergebnis: Antisemitismus ist auch in der Mitte<br />

der Gesellschaft verankert, deutliche Problemgruppen sind<br />

demnach AfD-Anhänger sowie religiöse Muslime. Warum<br />

überraschten sie die Ergebnisse der AJC-Studie nicht?<br />

Michael Blume: Ja, tatsächlich kann ich das so bestätigen.<br />

Ich habe mich auch immer wieder dagegen gewehrt, dass<br />

es geheißen hat, der Antisemitismus sei in der Mitte der<br />

Gesellschaft angekommen. Tatsächlich war er nie wirklich<br />

weg. Und ich spreche sogar von einem libertären Antisemitismus,<br />

zum Beispiel bei Leuten wie Tilman Knechtel,<br />

die sich selber als weder rechts noch links empfinden,<br />

aber sagen, der ganze Staat, die ganze Demokratie, die Republik<br />

ist eine vermeintlich zionistisch dominierte Verschwörung.<br />

Der muslimisch geprägte Antisemitismus<br />

wird bisher tatsächlich noch unterschätzt. Ich will aber<br />

auch darauf hinweisen, dass das nicht nur ein religiöser<br />

Antisemitismus ist. Der Antisemitismus mit muslimischem<br />

Hintergrund ist genauso vielschichtig wie der<br />

in der christlichen Welt.<br />

Wie sieht die Situation in Baden-Württemberg aus?<br />

I Wir haben einen Rückgang der allgemeinen Kriminalität,<br />

aber einen Anstieg der sogenannten Hassverbrechen.<br />

Das heißt, wir haben einen starken Anstieg im Bereich<br />

Antisemitismus. Ich muss aber sagen: Es steigt nicht<br />

die Zahl der Antisemiten in Baden-Württemberg an. Das<br />

ist die gute Nachricht. Die ganze Bildungsarbeit hat eine<br />

Wirkung. Aber die Leute, die zu Antisemitismus, Rassismus,<br />

Sexismus tendieren, radikalisieren sich digital. Und<br />

deswegen muss ich leider auch für die nächsten Jahre sagen,<br />

wir müssen mit Gewalt rechnen. Also leider kann ich<br />

keine Entwarnung geben. Wir haben noch einige harte<br />

Jahre vor uns.<br />

In Zahlen gegossen, wie schaut da die Zunahme in Baden-<br />

Württemberg aus?<br />

I Wir hatten in den letzten Jahren immer so eine Zunahme<br />

der antisemitischen Straftaten zwischen zehn und 25 Pro-<br />

© @ die arge lola / Kai Loges + Andreas Langen<br />

zent. Etwa ein Zehntel der antisemitischen Meldefälle<br />

in ganz Deutschland entfällt auf Baden-Württemberg<br />

(11,1 Millionen Einwohner, Anm.). Das ist<br />

etwas über dem Schnitt, kann aber natürlich auch<br />

damit zusammenhängen, dass wir sehr lebendige jüdische<br />

Gemeinden haben und es auch gelungen ist,<br />

zum Beispiel durch die Einsetzung von Polizeirabbinern,<br />

die Meldungen zu erhöhen. Bei uns haben die<br />

jüdischen Gemeinden jetzt direkte Drähte zur Polizei,<br />

es werden Fälle zur Anzeige gebracht, wie jetzt gerade<br />

wieder ein antisemitischer Aufmarsch mit der sogenannten<br />

Schwarzen Sonne vor der Synagoge (ein NS-<br />

Symbol, Anm.) in Ulm. Das bedeutet natürlich auch,<br />

dass mehr gemeldet wird. Und jetzt kommt es darauf<br />

an, dass dann auch mehr aufgeklärt wird.<br />

Sie haben im <strong>Juli</strong> 2019 Ihren ersten Bericht als Beauftragter<br />

der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus<br />

vorgelegt. Darin geben sie auf 30 Seiten auch konkrete<br />

Handlungsanleitungen, die Ähnlichkeit mit dem haben,<br />

was die österreichische Bundesregierung in ihrer Nationalen<br />

Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt hat. Sie empfehlen<br />

beispielsweise ein noch besseres Monitoring. Welche<br />

Ihrer Empfehlungen wurden bis heute umgesetzt?<br />

I Wir haben eine Vielzahl von Empfehlungen, wie die<br />

Polizeirabbiner, umsetzen können und auch eine Meldestelle<br />

aufgebaut. Was noch nicht so gut klappt, ist<br />

die Vernetzung. Meines Erachtens sollten die ganzen<br />

deutschsprachigen Länder gemeinsame Kriterien erarbeiten.<br />

Wien liegt von Stuttgart aus zehn Kilometer<br />

näher als Berlin, und ich hätte gerne, dass Baden-<br />

Württemberg ein bisschen ein verbindendes Element<br />

darstellt. Wenn das nicht klappt, dann wird Deutschland<br />

mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus<br />

(RIAS) einen eigenen Weg gehen.<br />

In Wien wurde eine solche Meldestelle bereits aufgebaut.<br />

Sollte Ihr Wien-Besuch hier auch zu einer Vernetzung beitragen?<br />

I Ganz genau, das hat auch bereits begonnen. Es ist ja<br />

so, dass es im süddeutschen Raum eine sehr föderale<br />

Tradition gibt. Wir sind stark beeinflusst durch die<br />

Schweiz und Österreich, das sehen Sie zum Beispiel in<br />

den süddeutschen Ratsverfassungen. Aber gleichzeitig<br />

wissen wir natürlich auch, dass man sich abstimmen<br />

und gemeinsame Kriterien finden muss. Es wäre<br />

mein Traum, wenn wir in allen deutschsprachigen<br />

Ländern eine gemeinsame Datenbasis haben könnten.<br />

Welche Ihrer Empfehlungen sind noch nicht umgesetzt?<br />

I Am meisten Arbeit sehe ich noch im Bereich von Bildung.<br />

Wir hatten in Deutschland die sogenannte Holocaust-Pädagogik.<br />

Viele junge Leute lernen nur tote<br />

Juden kennen, aber sie haben noch kaum Kenntnisse<br />

beispielsweise von jüdischen Festen. Mitleid ist doch<br />

kein Respekt. Ich wünsche mir sehr, dass die nächste<br />

Generation das Judentum auch als lebendiges Judentum<br />

kennenlernt.<br />

Wie viele Juden und Jüdinnen leben in Baden-Württemberg?<br />

„Ganz konkret<br />

wünsche ich<br />

mir, dass es<br />

ein Medienzentrum<br />

gibt<br />

für jüdisches<br />

Leben und<br />

gegen Antisemitismus.“<br />

Michael Blume<br />

I Wir haben in den jüdischen Gemeinden knapp<br />

10.000 Mitglieder, und man schätzt noch mal einige<br />

Tausend, die nicht Mitglieder sind. Es werden aber<br />

mehr. Zum einen haben wir auch wieder kinderreiche,<br />

häufig religiöse Familien. Und wir haben jetzt gerade<br />

auch einen starken Zustrom von Jüdinnen und<br />

Juden aus der Ukraine.<br />

Wie schwierig ist es, im Kampf gegen Antisemitismus etwas<br />

konkret zu bewegen?<br />

I Jeder sieht gerne den Antisemitismus der anderen.<br />

Die Rechten verweisen nach links, die Linken verweisen<br />

nach rechts, die Religiösen auf die Säkularen und<br />

die Säkularen auf die Religiösen. Meine häufigste Begrüßung<br />

lautet eigentlich „Herr Dr. Blume, Ihre Arbeit<br />

ist super wichtig, aber bitte machen Sie sie woanders.“<br />

Was gut ist, es gibt ein breites öffentliches<br />

Interesse. Auch viele Politikerinnen und Politiker nutzen<br />

die Chance der Hintergrundgespräche. Ein großer<br />

Nachteil ist der Hass, auch gegen meine Familie.<br />

Ich halte die Funktion des Antisemitismusbeauftragten<br />

für gut, weil es dem Thema ein Gesicht gibt. Aber<br />

man muss sich klar machen, wenn man dann auch<br />

digital sichtbar wird, bedeutet das Einschnitte bis ins<br />

private Leben hinein. Man wird erkannt, man wird<br />

beschimpft, bedroht.<br />

Was würden Sie sich wünschen, um schlagkräftiger wirken<br />

zu können?<br />

I Wenn wir Antisemitismus bekämpfen wollen, brauchen<br />

wir Netzwerke. Ganz konkret wünsche ich mir,<br />

dass es ein Medienzentrum gibt für jüdisches Leben<br />

und gegen Antisemitismus. Wir haben ein sehr gutes<br />

jüdisches Forum in Berlin, und ich würde mir ein solches<br />

Medienzentrum in Wien wünschen, möglicherweise<br />

gemeinsam finanziert, beispielsweise von den<br />

südlichen Bundesländern Deutschlands, der Schweiz<br />

und Österreich. Ich halte beispielsweise die ORF-Dokumentation<br />

Verschwörungswelten für im deutschsprachigen<br />

Raum führend, aber sie ist leider nicht mehr in<br />

der Mediathek erhältlich und wurde in Deutschland<br />

zu wenig wahrgenommen. Es ist schade, wenn jedes<br />

Land immer wieder für sich das Rad neu erfindet, obwohl<br />

wir schon sehr gute Inhalte haben.<br />

Warum schwebt Ihnen gerade in Wien ein Medienzentrum<br />

vor, das dann in den deutschsprachigen Raum ausstrahlt,<br />

und nicht eines in Bayern oder bei Ihnen in Baden-Württemberg?<br />

I Zum einen hat Wien eine ganz reiche deutsch-jüdische<br />

Geschichte. Und dann habe ich den Eindruck,<br />

dass durch eine gewisse Multikulturalität in Wien<br />

auch eine Sensibilität für Medien und Medienarbeit<br />

da ist. Das Jüdische Museum in Wien hat mich mit<br />

dem Fahrrad von Theodor Herzl beeindruckt. Das ist<br />

genau die Art, die wir brauchen, frisch erzählen, mutig<br />

erzählen, sich klar machen, dass man nicht nur<br />

ein Milieu ansprechen darf. Und ganz ehrlich gesagt<br />

glaube ich, da können auch wir Baden-Württemberger<br />

von Wien lernen.<br />

6 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

7


Bedrohliche Verschwörungsmythen<br />

Sie gerieten Ende 2021 selbst in die Kritik, als das Simon<br />

Wiesenthal Center Ihnen vorwarf, antisemitisch bzw. antiisraelisch<br />

agierende Akteure und Positionen zu unterstützen,<br />

dabei ging es um Social Media. Kritisiert wurden aber auch<br />

Partnerschaften baden-württembergischer Städte mit iranischen<br />

Städten. Die jüdischen Gemeinden im Land, aber<br />

auch der Zentralrat der Juden in Deutschland stellten sich<br />

hinter Sie. Können Sie die Vorwürfe des Wiesenthal Centers<br />

nachvollziehen?<br />

I Nein. Ich war ja der erste Antisemitismusbeauftragte<br />

in Deutschland. Kurz nach Amtsantritt habe<br />

ich einen ersten Troll auch von israelischer Seite bekommen,<br />

der meine Familie und mich sehr rechtsextrem<br />

beschimpft hat und von vornherein Forderungen<br />

stellte, die auch dem deutschen Recht<br />

widersprechen. Ich sollte beispielsweise für die Kündigung<br />

von Konten sorgen bei einer Bank im Sparkassenverband.<br />

Das ist bei uns rechtlich gar nicht<br />

möglich. Oder in die kommunale Selbstverwaltung<br />

eingreifen und einem Gemeinderat vorschreiben,<br />

mit wem er eine Städtepartnerschaft hat. Ich habe in<br />

aller Ruhe erklärt, dass ich mein Amt im Rahmen des<br />

Rechtsstaates ausübe und Städtepartnerschaften bei<br />

uns von Städten entschieden werden. Es gibt leider<br />

durchaus auch auf amerikanischer und israelischer<br />

Seite rechte Positionen, die unser Prinzip der Gewaltenteilung<br />

nicht respektieren. Und da gehört dann<br />

auch Zivilcourage dazu, sich nicht unter Druck setzen<br />

zu lassen. Ich werde immer für die Demokratie eintreten,<br />

und das bedeutet auch, dass ich eine Grenze<br />

bei Leuten ziehe, die Donald Trump verherrlichen.<br />

Wie schwierig ist es, das Bemühen um Dialog mit verschiedensten<br />

Gruppierungen und den Kampf gegen Antisemitismus<br />

zu vereinen?<br />

I Genau das war tatsächlich auch ein Wunsch der jüdischen<br />

Gemeinden in Baden und Württemberg, als<br />

sie mich vorgeschlagen haben, weil ich eben auch<br />

Bücher über den Islam geschrieben habe, mit einer<br />

Muslimin verheiratet bin, dass ich also auch an die<br />

Stellen gehe, wo es weh tut, zum Beispiel in Moscheegemeinden.<br />

Dass ich nicht nur mit den Leuten rede,<br />

die ohnehin über alle Zweifel erhaben sind. Wenn<br />

man dieses Amt wirklich ernst nimmt, bedeutet das,<br />

dass man auch Risiken eingehen muss. Man muss<br />

auch bereit sein, eine Meile extra zu gehen und sich<br />

auch beschimpfen zu lassen.<br />

„Wenn man<br />

dieses Amt<br />

wirklich ernst<br />

nimmt, bedeutet<br />

das, dass<br />

man auch<br />

Risiken eingehen<br />

muss. Man<br />

muss auch bereit<br />

sein, eine<br />

Meile extra<br />

zu gehen und<br />

sich auch beschimpfen<br />

zu<br />

lassen.“<br />

Michael Blume<br />

I In Ihrem Buch Warum der Antisemitismus uns alle bedroht<br />

legten Sie 2019 unter anderem dar, dass jede neue<br />

Kommunikationsform – vom Buchdruck bis zum Fernsehen<br />

– Antisemitismus beförderte. Nun sind wir weltweit mit<br />

antisemitischen Inhalten im Internet und auf Social Media<br />

konfrontiert. Sie selbst betreiben den Podcast Verschwörungsfragen.<br />

Darin behandeln Sie unterschiedlichste Facetten<br />

des Themas Antisemitismus. Warum haben Sie für<br />

den Podcast diesen Titel gewählt?<br />

I Mir geht es praktisch nicht nur darum zu erklären,<br />

was Antisemitismus ist, sondern warum generell<br />

Verschwörungsmythen immer wieder in Antisemitismus<br />

münden. Ich möchte, dass die Menschen<br />

verstehen, dass Verschwörungsmythen generell eine<br />

Bedrohung sind, da sie Menschen zu falschen Entscheidungen<br />

führen, beispielsweise sich nicht impfen<br />

zu lassen. Und dass sie den Antisemitismus auch,<br />

aber nicht nur, den jüdischen Gemeinden zuliebe bekämpfen<br />

sollen. Wer Verschwörungsmythen durchschaut<br />

und nicht mehr darauf hereinfällt, schützt<br />

sich auch selbst. Ich mag es nicht, wenn so getan<br />

wird, als ob man den Antisemitismus nur den Juden<br />

zuliebe bekämpfen soll.<br />

Wer hört Ihren Podcast realistischerweise an?<br />

I Leute, die zu Antisemitismus tendieren, kommen<br />

kaum je zu einer Veranstaltung des Antisemitismusbeauftragten.<br />

Aber mit Videos und mit Podcasts erreichen<br />

wir sie. Ich bin Beauftragter einer Landesregierung<br />

in einem Staatsministerium, ich kann<br />

nicht lustige Unterhaltungsformate präsentieren,<br />

aber ich kann trockene Aufklärung bieten, wo man<br />

zum Beispiel verlässliche Informationen zu den Adrenochrom-Verschwörungsmythen<br />

von QAnon und<br />

Xavier Naidoo findet. Wir bekommen zum Beispiel E-<br />

Mails von Leuten, die sagen, „seitdem meine Tante<br />

Sie hört, können wir wieder miteinander reden.“<br />

Das heißt, Leute suchen im Netz nach Stichworten, die sie<br />

woanders finden, stoßen auf Sie und hören sich das dann<br />

auch unvoreingenommen an? Ich wäre jetzt eher davon<br />

ausgegangen, dass man sagt, ein Antisemitismusbeauftragter<br />

ist Teil der Verschwörung.<br />

I Also für eingefleischte Verschwörungsgläubige bin<br />

ich, wie es ein Twitterer geschrieben hat, ein falscher<br />

Jude, der seine Daseinsberechtigung verloren hat. Da<br />

brauche ich mir wenig Hoffnung zu machen. Aber wir<br />

wissen, auch Verschwörungsgläubige, vor allem am<br />

Anfang oder auch zwischendrin, haben manchmal<br />

Zweifel. Und in diesen Phasen brauchen sie Informationen,<br />

mit denen sie ihre Zweifel bearbeiten können.<br />

Der Musiker Xavier Naidoo wurde immer wieder antisemitisch<br />

auffällig und hat nun eine Entschuldigungsaktion<br />

gestartet. Wie ernst zu nehmen ist das?<br />

I Xavier Naidoo lebt ja in Baden-Württemberg, und<br />

wir haben im Podcast Verschwörungsfragen auch seine<br />

antisemitischen Verschwörungsmythen thematisiert.<br />

Ich habe jetzt gesagt, sein Statement ist ein erster<br />

Schritt. Zu einem nichtöffentlichen Gespräch mit<br />

ihm wäre ich auch bereit. Denn es reicht nicht, in einem<br />

Drei-Minuten-Video zu sagen, war alles nicht so<br />

gemeint. Man muss das aufarbeiten: Was ist da alles<br />

schiefgelaufen? Was habe ich auch für Schaden angerichtet?<br />

Dieser Weg wird kein leichter sein. Das ist<br />

schon etwas, das man auch verlangen muss. Ja, Antisemiten<br />

sollten die Möglichkeit haben, sich zu deradikalisieren<br />

und zurückzukommen in die Gesellschaft.<br />

Aber das ist ein Prozess und nichts, was man in<br />

einem Drei-Minuten-Video nachts um halb eins ins<br />

Internet stellt und danach wieder in die Talkshows<br />

eingeladen wird.<br />

8 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


Die Massenzustrom-Richtlinie: Fremdenrechtlicher<br />

Status und Arbeitsmarktzugang<br />

für Vertriebene aus der Ukraine<br />

Bezahlte Anzeige<br />

Die EU-Ebene<br />

Die Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20.7.2001 (RL)<br />

existiert schon seit 2001. Durch die Umsetzung der RL ist ein vorübergehender<br />

Schutz von Drittstaatsangehörigen unabhängig von einem Flüchtlingsstatus<br />

möglich. Allerdings scheiterte eine „Aktivierung“ der RL sogar noch im<br />

Zuge des Syrien-Konfliktes 2015 am politischen Willen einiger Mitgliedstaaten.<br />

In Folge der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine ab dem<br />

24.2.<strong>2022</strong> wurde nun erstmals ein entsprechender Durchführungsbeschluss<br />

auf EU-Ebene gefasst. Dieser gilt im Wesentlichen für ukrainische Staatsangehörige,<br />

die vor dem 24.2.<strong>2022</strong> ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten, für<br />

Staatenlose und Drittstaatsangehörige, die vor diesem Datum in der Ukraine<br />

internationalen oder gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben,<br />

samt Familie.<br />

Status in Österreich<br />

Im Zuge der Durchführung der RL ist Österreich nun verpflichtet, für die gesamte<br />

Dauer des zu gewährenden Schutzes (derzeit bis März 2023, verlängerbar)<br />

Mindestanforderungen zu erfüllen bzw. den Vertriebenen Rechte zu<br />

gewähren, wie zum Beispiel einen Aufenthaltstitel (Vertriebenen-Ausweis),<br />

die Erlaubnis einer abhängigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit, Bildungsangebote,<br />

soziale Sicherheit im Rahmen der Arbeit, angemessene Unterkunft,<br />

Zugang zum öffentlichen Bildungssystem usw.<br />

Österreich hat auf Basis dieser Vorgaben die so genannte VertriebenenVO<br />

erlassen. Der genannte Personenkreis erhält ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht;<br />

jene, die vor dem 24.2.<strong>2022</strong> die Ukraine verlassen haben, sind jedoch<br />

auf die Stellung eines Asylantrags angewiesen.<br />

Der Ausweis für Vertriebene in Form einer „Blauen Karte“ bildet zugleich<br />

einen Aufenthaltstitel und ein Mittel zum Zugang zum Arbeitsmarkt. Eine Registrierung<br />

reicht für den Erhalt, ein Asylantrag ist nicht erforderlich. Im Mai<br />

<strong>2022</strong> waren über 50.000 Vertriebene in der Grundversorgung aufgenommen,<br />

es hatten sich aber schon 71.800 von ihnen in Österreich als Vertriebene<br />

registriert.<br />

Das Aufenthaltsrecht der Vertriebenen gilt derzeit ab der Einreise bis<br />

3.3.2023 und verlängert sich, falls es nicht zuvor für beendet erklärt wird, automatisch<br />

um jeweils sechs Monate, höchstens jedoch um ein Jahr. Durch<br />

eine weitere Verordnung vom 11.3.<strong>2022</strong> ist auch die Öffnung der Krankenversorgung<br />

für ukrainische Vertriebene erfolgt.<br />

Arbeitsmarkzugang<br />

Für die Dauer des vorübergehenden Schutzes ist auch für Vertriebene der<br />

volle Arbeitsmarktzugang gegeben, egal ob sie einer angestellten oder<br />

selbständigen Tätigkeit nachgehen wollen. Bildungsangebote für Erwachsene<br />

und berufliche Fortbildung sind ebenso verfügbar, wobei die allgemeinen<br />

Rechtsvorschriften betreffend das Arbeitsentgelt, soziale Sicherheit<br />

sowie sonstige Beschäftigungsbedingungen zu beachten sind. Im Wege eines<br />

an den Vorstand des AMS gerichteten Erlasses des Bundesministeriums<br />

für Arbeit (BMA) vom 11.3.<strong>2022</strong> wurden dafür relevante Kriterien festgelegt<br />

bzw. konkretisiert.<br />

Der Vertriebenenausweis stellt gem. § 62 Abs 1 AsylG als Aufenthaltstitel<br />

die Basis für die Beschäftigung dar. Für Personen im Besitz eines solchen<br />

Ausweises sind auf Antrag (und natürlich bei Erfüllung der allgemeinen Voraussetzungen)<br />

in allen Branchen Beschäftigungsbewilligungen zu erteilen,<br />

und zwar auch über die Bundeshöchstzahl gemäß § 12a Abs 1 AuslBG hinaus.<br />

Von der Arbeitsmarktprüfung/Ersatzkrafteinstellung wird abgesehen.<br />

Aus Sicht des BMA liegt es im öffentlichen Interesse, Vertriebenen weitestgehend<br />

Möglichkeiten zu eröffnen, durch eigene Erwerbstätigkeit für ihren<br />

Unterhalt aufzukommen, zumal in vielen Bereichen (Fach-)Arbeitskräfte<br />

nach wie vor dringend gesucht werden. In diesem Sinne stehen also der Bewilligungserteilung<br />

für Vertriebene auch keine „wichtigen öffentlichen und<br />

gesamtwirtschaftlichen Interessen“ entgegen.<br />

Freilich gelten die übrigen allgemeinen gesetzlichen Bedingungen für die<br />

Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung sehr wohl weiter, wie zB die Einhaltung<br />

der Lohn- und Arbeitsbedingungen, das „Wohlverhalten“ des Arbeitgebers<br />

hinsichtlich unbewilligter Beschäftigungen oder die Verständigung des<br />

Betriebsrates vor Antragstellung. Der Antrag auf Beschäftigungsbewilligung<br />

ist vom Arbeitgeber persönlich, postalisch oder auch per E-Mail und jedenfalls<br />

unter Vorlage einer beidseitigen Kopie des Vertriebenenausweises an<br />

der regionalen Geschäftsstelle des AMS zu stellen.<br />

Die Beschäftigung darf bekanntlich vor Erteilung der Beschäftigungsbewilligung<br />

nicht begonnen worden sein, sondern muss nach ihrer Erteilung<br />

- bei sonstigem Erlöschen - binnen sechs Wochen aufgenommen werden<br />

Für österreichische Betriebe könnte der Ausfall bisheriger ukrainischer<br />

Saisonkräfte, insbesondere im Bereich der Erntehelfer, durch die Beschäftigung<br />

Vertriebener substituiert werden. In den Branchen Tourismus sowie<br />

Land- und Forstwirtschaft können sogar außerhalb der Saisonkontingente<br />

Beschäftigungsbewilligungen erteilt werden können.<br />

Praktische Fragen<br />

Auf Basis des vorübergehenden Schutzes gemäß der RL (inklusive Verlängerungsmöglichkeiten)<br />

erscheint eine maximale Schutzdauer und<br />

damit Dienstvertragsdauer bis längstens 3.3.2025 denkbar. Die Befristungen<br />

der Beschäftigungsbewilligungen werden sich vorerst aber wohl am bislang<br />

feststehenden Datum 3.3.2023 orientieren.<br />

Zu bedenken ist bei der Vertragsgestaltung, dass die Befristung eines<br />

Dienstvertrags eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich<br />

ausschließt und eine Kündigung nur bei Existenz einer vorab geschlossenen,<br />

wirksamen Kündigungsvereinbarung möglich ist. Die Befristung<br />

hat aus Sicht des Dienstgebers andererseits den Vorteil, dass ein auf<br />

Dauer der Beschäftigungsbewilligung befristeter Arbeitsvertrag automatisch<br />

mit dem Ablauf derselben endet. Wir stehen Ihnen gerne beratend zur Seite.<br />

Von RA Mag.<br />

Valentin Neuser<br />

und RA Mag.<br />

Piroska Vargha


KOMMENTAR AUS GENF<br />

Antisemitismus<br />

sollte uns alle angehen<br />

Da es keine Anzeichen für ein Abklingen gibt,<br />

müssen wir Rassismus und Intoleranz ein für<br />

alle Mal beenden.<br />

Kurz bevor das Treffen der International<br />

Holocaust Remembrance Alliance<br />

(IHRA) diesen Sommer in Stockholm<br />

stattfand, wurde mir die Ehre erteilt,<br />

im europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss<br />

in Brüssel zum Thema Antisemitismus zu sprechen.<br />

Ein Thema, mit dem ich mich täglich im<br />

Rahmen meiner Arbeit, aber als Enkel von Holocaust-Überlebenden<br />

auch in einem persönlicheren<br />

Kontext auseinandersetze.<br />

Bedauerlicherweise ist der Antisemitismus fast<br />

80 Jahre nach dem Holocaust wieder auf dem Vormarsch,<br />

angeheizt durch Verschwörungsmythen<br />

und angetrieben durch die sozialen Medien. Während<br />

der Covid-19-Pandemie haben wir beispielsweise<br />

einen starken Anstieg des Hasses auf der<br />

ganzen Welt erlebt. Menschen wurden beschuldigt,<br />

das Virus verursacht, und/oder davon profitiert<br />

zu haben. Gleichzeitig fand auch eine massive<br />

Verharmlosung des Holocaust statt, indem Antiimpfdemonstranten<br />

gelbe Sterne trugen oder die<br />

Quarantänemaßnahmen mit den Erfahrungen<br />

von Anne Frank verglichen wurden.<br />

Was vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich<br />

ist, ist die Tatsache, dass der heutige Antisemitismus<br />

nicht nur für Juden, die er am unmittelbarsten<br />

und direktesten trifft, sondern auch für<br />

Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinschaft<br />

ein ernstes Problem darstellt.<br />

Antisemitismus bezeichnet zwar den Hass auf<br />

das jüdische Volk, bedroht aber alle Gesellschaf-<br />

Von Leon Saltiel<br />

Die Geschichte hat uns immer wieder gezeigt,<br />

dass sich hasserfüllte Äußerungen, die sich<br />

zunächst gegen Juden richten, bald auf andere<br />

Mitglieder der Gesellschaft ausweiten.<br />

ten, und sein Ausmaß ist stets ein Indikator für<br />

umfassendere Probleme. Als „ältester Hass“ der<br />

Welt deckt er die Schwächen jeder Gesellschaft<br />

auf, und obwohl Jüdinnen und Juden oft die Ersten<br />

sind, die zu Sündenböcken gemacht werden,<br />

sind sie leider nicht die Letzten. Die Geschichte hat<br />

uns immer wieder gelehrt, dass sich hasserfüllte<br />

Äußerungen, die sich zunächst gegen Juden richten,<br />

bald auf andere Mitglieder der Gesellschaft<br />

ausweiten.<br />

Darüber hinaus gibt es Antisemitismus unabhängig<br />

von der Größe oder Präsenz einer jüdischen<br />

Gemeinde. Wie die Generaldirektorin der<br />

UNESCO, Audrey Azoulay, erläutert, braucht es für<br />

den Antisemitismus nicht einmal die Anwesenheit<br />

einer jüdischen Gemeinde, um sich auszubreiten,<br />

denn es „gibt ihn in religiösen, sozialen und politischen<br />

Formen und Gestalten und auf allen Seiten<br />

des politischen Spektrums“.<br />

Jüdinnen und Juden werden gleichzeitig als „kapitalistisch“<br />

und „kommunistisch“ angegriffen, als<br />

reich und arm, als inselhaft und kosmopolitisch.<br />

Sie werden beschuldigt, die Welt zu kontrollieren,<br />

mal als Puppenspieler, mal als Marionetten, und<br />

egal wie: Heimlich steuern sie in jedem Fall Medien,<br />

Regierungen und die Weltwirtschaft.<br />

Die Ironie dabei ist, dass so sehr der Antisemitismus<br />

„die Juden“ in den Mittelpunkt all dessen<br />

stellt, was in der Welt schief läuft, so wenig hat der<br />

antisemitische Diskurs selbst mit Juden zu tun.<br />

Kurz nach der Befreiung von Paris von den Nazis<br />

schrieb der französische Philosoph Jean-Paul Sartre,<br />

der Antisemit sei „ein Mann, der Angst hat“.<br />

Er habe Angst „nicht vor den Juden, um sicher zu<br />

sein, sondern vor sich selbst, vor seinem eigenen<br />

Bewusstsein, seiner Freiheit, seinen Instinkten,<br />

seiner Verantwortung, der Einsamkeit, der Veränderung,<br />

der Gesellschaft und der Welt – vor allem<br />

außer den Juden“. Und Sartre fügte hinzu: „Wenn<br />

es den Juden nicht gäbe, würde der Antisemit ihn<br />

erfinden.“<br />

© Shahar Azran ; Swen Pfˆrtner / dpa / picturedesk.com<br />

Antisemitismus geht auch mit antidemokratischer<br />

Politik einher, seine Verschwörungsmythen<br />

schaffen bzw. stärken eine Wählerschaft, der es an<br />

kritischem Urteilsvermögen mangelt, die sich mit<br />

populistischen Antworten zufrieden gibt, die zu einer<br />

illiberalen Politik und zu Extremen neigt und<br />

damit leicht manipulierbar wird. Es ist kein Zufall,<br />

dass die Schnittmenge jener Menschen, die antisemitisches<br />

Gedankengut äußern und jenen, die<br />

der Anti-Vax-Bewegung angehören, recht groß ist.<br />

Und es ist wohl kein Zufall, dass es während der<br />

Covid-19-Pandemie einen alarmierenden Anstieg<br />

antisemitischer Vorfälle weltweit gab.<br />

Der aktuell aufkeimende Antisemitismus richtet<br />

sich in erster Linie nicht gegen Juden, die zahlenmäßig<br />

eine kleine Minderheit in Europa darstellen.<br />

Vielmehr wirkt er sich, wenn er nicht<br />

eingedämmt wird, auf die gesamte Bevölkerung<br />

aus, da er Vorurteile und aktive Diskriminierung<br />

in der europäischen Gesellschaft ermöglicht und<br />

damit moderne Demokratien, die Rechtsstaatlichkeit<br />

und die Durchsetzung der Menschenrechte<br />

bedroht. Abgesehen von dem unsäglichen Leid<br />

und Schmerz hat diese Pandemie gezeigt, dass wir<br />

nicht nur gegen einen Virus ankommen müssen –<br />

die in unseren Gesellschaften tief verwurzelte Intoleranz<br />

sowie ein beachtliches Bildungsdefizit gilt<br />

es ebenso zu besiegen.<br />

Im Oktober 2021 haben sich auf dem Internationalen<br />

Forum zum Holocaust-Gedenken und zur<br />

Bekämpfung des Antisemitismus zahlreiche europäische<br />

Regierungen und NGOs in Malmö verpflichtet,<br />

dafür etwas zu tun. Und tatsächlich sind<br />

seitdem beachtliche Fortschritte erzielt worden.<br />

Die erste EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus<br />

und zur Förderung des jüdischen<br />

Lebens, die 2021 vorgelegt wurde und von Ka-<br />

Antisemitismus<br />

bedroht nicht nur<br />

Juden, sondern die<br />

gesamte<br />

Gesellschaft.<br />

Wir müssen Rassismus und Intoleranz ein für<br />

alle Mal beenden und den künftigen Bürgern<br />

und Bürgerinnen die grundlegenden Werte<br />

von Demokratie und Toleranz vermitteln.<br />

tharina von Schnurbein und ihrem engagierten<br />

Team koordiniert wird, oder der Aktionsplan des<br />

UN-Sonderberichterstatters für Religions- und<br />

Glaubensfreiheit stellen beispielsweise wichtige<br />

Maßnahmen dar. Der Jüdische Weltkongress als<br />

Vertreter des jüdischen Volkes unterstützt nachdrücklich<br />

diese wichtigen Schritte in ihrer Umsetzung.<br />

Wir müssen gemeinsam unsere Anstrengungen<br />

verdoppeln, um Rassismus und Intoleranz ein<br />

für alle Mal aus der Welt zu schaffen und eine Bildungspolitik<br />

zu ermöglichen, die künftige Bürgerinnen<br />

und Bürger mit den Werten der Demokratie,<br />

der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der<br />

anderen vertraut macht. Wir brauchen jede und<br />

jeden in diesem Kampf um die Zukunft Europas,<br />

so auch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss,<br />

der als Plattform der europäischen<br />

Zivilgesellschaft in der Lage ist, ein wichtiger Verbündeter<br />

zu sein.<br />

Wir haben keine Zeit zu verlieren!**<br />

Leon Saltiel ist Vertreter des<br />

Jüdischen Weltkongresses bei den<br />

Vereinten Nationen in Genf und bei<br />

der UNESCO sowie deren Koordinator<br />

für die Bekämpfung des<br />

Antisemitismus.<br />

* Das IHRA-Treffen fand Ende Juni in Stockholm statt: www.holocaustremembrance.com.<br />

** Aus der Rede vor der Fachgruppe für Außenbeziehungen des europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel am 9. Juni <strong>2022</strong>.<br />

10 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

11


Diplomat & Realpolitiker<br />

Historiker & Berater<br />

„STUDIEREN SIE GESCHICHTE!“<br />

Henry Kissinger legt mit 99 Jahren<br />

ein ausgreifendes und anregendes<br />

Werk über Staatskunst und sechs<br />

eminente politische Persönlichkeiten<br />

des 20. Jahrhunderts vor.<br />

Von Alexander Kluy<br />

© Ting Shen Xinhua / Eyevine / picturedesk.com<br />

Henry Kissinger ist in<br />

den vergangenen 45 Jahren<br />

politischer Denker, gefragter<br />

Berater und zugleich Buchautor<br />

gewesen.<br />

Geschichte von der Warte<br />

großer Menschen aus erzählen?<br />

Wie altmodisch.<br />

Und dann noch deskriptive<br />

Geschichtsschreibung!<br />

Wie altbacken, würden akademische<br />

Historiker schaudernd antworten,<br />

die in den letzten zwei Generationen der<br />

Historiografie diverse, in sich komplex<br />

fragmentierte Konzepte entwickelten,<br />

Geschichte zu schreiben.<br />

Henry Kissinger, am 27. Mai 1923 in<br />

Fürth bei Nürnberg geboren – Fürth war<br />

seit alters in Franken Heimat für Juden<br />

gewesen, die sich in der viel größeren alten<br />

Handelsstadt Nürnberg nicht niederlassen<br />

durften –, somit 99 Jahre jung und<br />

1938 mit Familie nach New York entkommen,<br />

erzählt die Geschichte großer Menschen.<br />

Geschichte, die er erlebt, mitgeprägt,<br />

sehr lang begleitet hat. Er ist in den<br />

vergangenen 45 Jahren politischer Denker,<br />

gefragter Berater und Buchautor gewesen.<br />

Welcher lebende Politiker kann<br />

schon von sich behaupten, den Friedensnobelpreis<br />

bekommen zu haben und sieben<br />

Jahre später, 1980, den National Book<br />

Award in History, einen der wichtigsten<br />

Buchpreise der USA, und zwar für Teil I<br />

seiner Memoiren – und 32 Jahre später<br />

die Israelische Präsidenten-Medaille für<br />

das Lebenswerk?<br />

Zugleich ist Kissinger im progressiven<br />

politischen Spektrum noch heute hochumstritten,<br />

ja, wird angefeindet. Der<br />

Brite Christopher Hitchens, der zuvor<br />

Mutter Teresa und Lady Diana „entzauberte“,<br />

verfasste 2001 mit Die Akte Kissinger<br />

ein buchlanges Traktat voller Anwürfe,<br />

das auch ins Deutsche übersetzt wurde.<br />

Sechs „Führungspersönlichkeiten“<br />

porträtiert Kissinger in Staatskunst: den<br />

deutschen Nachkriegskanzler Konrad<br />

Adenauer, den Franzosen und General<br />

Charles de Gaulle, den US-Präsidenten<br />

Richard Nixon – Kissinger war dessen<br />

nationaler Sicherheitsberater, ehe er als<br />

Außenminister amtierte –, den ägyptischen<br />

Staatspräsidenten Anwar el-Sadat,<br />

Lee Kuan Yew aus Singapur und die britische<br />

Premierministerin Margaret Thatcher.<br />

Allen begegnete Kissinger „auf dem<br />

Höhepunkt ihres Wirkens“.<br />

„Große Staatskunst<br />

ist mehr als<br />

die Beschwörung<br />

eines vorübergehenden<br />

Hochgefühls;<br />

sie erfordert<br />

die Fähigkeit,<br />

langfristig zu inspirieren<br />

und eine<br />

Vision am Leben<br />

zu erhalten.“<br />

Henry Kissinger in<br />

Staatskunst<br />

Henry Kissinger:<br />

Staatskunst. Sechs<br />

Lektionen für das<br />

21. Jahrhundert.<br />

Übersetzt von Henning<br />

Dedekind u. a.<br />

Bertelsmann <strong>2022</strong>,<br />

608 S., € 39,10<br />

gen, Bildung und Charakter aufbauende<br />

Strategien entwickelt und von deren<br />

Endzielen durchdrungen ist.<br />

Das Essenzielle, ja, geradezu Unverzichtbare,<br />

das bei jeder und jedem der<br />

Porträtierten in aller Deutlichkeit aufscheint,<br />

ist: Moral, moralische Verpflichtungen,<br />

ein moralisches Fundament.<br />

Krasser hätte Kissinger, der „Realpolitiker“,<br />

seine in mehreren Jahren geschriebene<br />

Darstellung von Ethos und<br />

Kraft nicht wider aktuelle Tendenzen<br />

in Europa, Asien und den USA ausrichten<br />

können. Zu schweigen, welchem aktiven<br />

Politiker im höchsten Staatsamt er<br />

wie de Gaulle die Attribute Leidenschaft,<br />

Eleganz und Eloquenz zuweisen würde.<br />

Auf diesen, den so geschichtsbewussten<br />

Kenner französischer Geschichte<br />

und, nebenbei erwähnt, großartigen Stilisten<br />

– seine „Mémoires“ wurden sehr<br />

geschichtsbewusst im Jahr 2000 in die<br />

Bibliothèque de Pléïade, den Pantheon<br />

klassischer französischer Literatur, auf-<br />

Moralische Verpflichtungen. Leadership,<br />

auf Deutsch das bei vielen Gänsehaut<br />

auslösende Wort „Führung“, hat vor drei<br />

Jahren der englische Historiker Andrew<br />

Roberts in seinem Buch Leadership in War<br />

formuliert, wird zwar im Allgemeinen<br />

mit einer ihr innewohnenden Tugend –<br />

froh, wer dieses Substantiv in der politischen<br />

Manege noch kennt! – in direkte<br />

Verbindung gebracht. Tatsächlich aber,<br />

so der Napoleon- wie Churchill-Biograf,<br />

ist es „moralisch völlig neutral“ und<br />

„ebenso fähig, die Menschheit an den Abgrund<br />

wie auch auf das sonnenbeschienene<br />

Hochland zu führen. Es ist eine<br />

Urgewalt mit entsetzlicher Kraft.“ Kissinger<br />

ergänzt sehr bewusst: eine Kraft,<br />

die durch unsere Bemühungen auf moralische<br />

Ziele hin auszurichten sei.<br />

Sein Buch ist ein Loblied auf die Diplomatie:<br />

mit der Gegenwart im Blick, aber<br />

darüber hinausschauend auf politischen<br />

Wagemut – eine besonders im Finale gepriesene<br />

Eigenschaft, die sich nicht an<br />

Meinungsumfragen orientiert und deren<br />

quecksilbrig oszillierende Momentaufnahmen<br />

als zittrige Handlungsgrundlage<br />

nimmt, sondern auf tiefen Überzeugungenommen<br />

–, münzt Kissinger eine brillante<br />

Beobachtung: Für den Franzosen<br />

sei Politik nicht die Kunst des Möglichen<br />

gewesen, vielmehr die Kunst des<br />

Gewollten.<br />

Henry Kissinger ist ein eminenter Historiker.<br />

Er machte an der Harvard University<br />

als Metternich-Kenner Karriere,<br />

seine 1957 als Buch veröffentlichte historische<br />

Dissertation ist bis heute ein Standardwerk<br />

über europäische Geschichte<br />

in den ersten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts,<br />

und einer seiner Lieblingssätze ist<br />

Churchills Empfehlung „Studieren Sie<br />

Geschichte!“<br />

Er blickt aber auch auf 60 Jahre Erfahrung<br />

in der Politik zurück und begann<br />

seine Laufbahn bereits während der<br />

Kennedy-Administration 1961.<br />

In seinem neuen Buch nimmt er einen<br />

großen Pinsel, um Entwicklungen nachzuzeichnen.<br />

Dabei gehen, nicht zuletzt<br />

ob seiner transatlantischen Perspektive,<br />

hie und da aufschlussreiche, psychologisch<br />

signifikante Details verloren, es<br />

finden sich einige historische Schnitzer<br />

und gelegentlich Weichgezeichnetes. Dafür<br />

entschädigt reichlich anderes, in erster<br />

Linie die Wiedergabe erinnerter und<br />

lebendig nachgezeichneter Gespräche.<br />

Der Band, der mit Reflexionen über<br />

Ukraine-Krieg, China, die USA ausklingt,<br />

ist eine anregende Lektüre. Man will sich<br />

gar nicht die Frage stellen, über welche<br />

Staatsmänner und -frauen der ersten 20<br />

Jahre des 21. Jahrhunderts jemand eine<br />

solche Porträtgalerie verfassen könnte.<br />

So mancher Spötter wettet da gerade einmal<br />

auf eine Broschüre, ein Faltblatt. Wie<br />

schreibt Kissinger: „Große Staatskunst ist<br />

mehr als die Beschwörung eines vorübergehenden<br />

Hochgefühls; sie erfordert die<br />

Fähigkeit, langfristig zu inspirieren und<br />

eine Vision am Leben zu erhalten.“<br />

12 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

13


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Yair, Benny oder Bibi?<br />

Heißer Sommer in Israel<br />

Die Kandidaten sind die gleichen, nur treten<br />

sie diesmal in anderen Funktionen gegeneinander<br />

an. Offen ist, ob die fünfte Wahl<br />

innerhalb von weniger als vier Jahren in Israel<br />

stabile Verhältnisse schaffen kann.<br />

Ein Jahr und eine Woche hat das gesellschaftlich<br />

und politisch womöglich interessanteste<br />

Experiment in der westlichen<br />

Welt angehalten, dann haben die<br />

beiden Verantwortlichen das Handtuch geworfen.<br />

Premierminister Naftali Bennett und Außenminister<br />

Yair Lapid sahen zuletzt keinen vernünftigen<br />

Weg mehr, mit ihrer Acht-Parteien-Koalition<br />

effektiv weiter zu regieren. Diese wird aber trotzdem<br />

in die Geschichte eingehen. Allein schon ihre<br />

Existenz bedeutet ein neues Kapitel, denn sie hat<br />

ideologisch völlig unterschiedliche Gruppen zur<br />

pragmatischen Zusammenarbeit veranlasst. Bis<br />

dahin hätte das wahrscheinlich niemand überhaupt<br />

für möglich gehalten.<br />

Über die Bilanz lässt sich streiten. Von Anfang an<br />

war klar gewesen, dass der Spielraum beschränkt<br />

sein würde. Denn der gemeinsame Nenner hieß:<br />

Hauptsache nicht mehr Bibi. Aber immerhin war<br />

so erstmals nach drei Jahren ein Haushalt verabschiedet<br />

worden, konnten überfällige Entscheidungen<br />

getroffen werden. Die Minister und<br />

Ministerinnen haben die Hemdsärmel hinaufgekrempelt<br />

und sich im Rahmen des Möglichen<br />

ans Werk gemacht, in einem erfrischend<br />

umgänglichen Ton. Inhalte waren<br />

wichtiger als die Diskreditierung des Geg-<br />

Von Gisela Dachs<br />

Von Anfang an war klar gewesen, dass<br />

der Spielraum beschränkt sein würde.<br />

Denn der gemeinsame Nenner hieß:<br />

Hauptsache nicht mehr Bibi.<br />

ners. Das gab es so lange nicht. Bennett und Lapid,<br />

der jetzt als Übergangspremier die Geschäfte<br />

übernommen hat, standen für ein neues Politikverständnis.<br />

Wenigstens eine Weile.<br />

Jetzt aber ist erneut Wahlkampf. Gewählt wird<br />

am 1. November – zum fünften Mal in weniger als<br />

vier Jahren. Um das Amt des Premiers streiten sich<br />

Lapid, Verteidigungsminister Benny Gantz und<br />

Oppositionschef Benjamin Netanjahu. Nichts aber<br />

garantiert, dass sich die Machtverhältnisse verändern<br />

werden. Denn was die bisherige Regierung<br />

zusammengebracht hat, war die Abneigung gegen<br />

Netanjahu, der wegen Korruptionsvorwürfen vor<br />

Gericht steht. Bibi ist in einem Paradox gefangen.<br />

Solange er da ist, werden viele sich einer Koalition<br />

mit seiner Partei verweigern. Das könnte bedeuten,<br />

dass er – wie zuletzt schon drei Mal hintereinander<br />

– auch beim nächsten Versuch wieder<br />

scheitern könnte, eine Regierung zu bilden.<br />

Würde er hingegen abtreten, stünde einer großen,<br />

stabilen Koalition nichts im Weg.<br />

Sein Comeback ist möglich, es bräuchte nur wenige<br />

Abtrünnige, seine Kandidatur könnte aber<br />

auch das Land weiter in die Unregierbarkeit treiben.<br />

Zwar ist eine knappe Mehrheit der Israelis (51<br />

Prozent) durchaus dafür, Neuwahlen abzuhalten,<br />

aber 57,7 Prozent gehen nicht davon aus, dass danach<br />

eine stabile Regierung entstehen wird.<br />

Jetzt aber verspricht der Ex-Premier auf den sozialen<br />

Medien erst einmal billigere Preise. Auf Tik-<br />

Tok steht er mit einer Milchflasche in der Hand vor<br />

der Kamera in einem Supermarkt und sagt, dass<br />

unter ihm alles sowieso viel besser werden würde.<br />

Die vielen positiven Reaktionen werden einzeln<br />

prompt beantwortet. Jede Stimme zählt. Es gibt<br />

© ATEF SAFADI / AFP / picturedesk.com<br />

aber auch solche, die an die hohen Benzinpreise<br />

von 2012 erinnern, als Bibi als Regierungschef fest<br />

im Sattel saß. Seine Fans lässt das kalt.<br />

Netanjahus Likud-Partei bringt es in den Umfragen<br />

auf 34 von 120 Mandate, so viel wie derzeit<br />

keine andere. Fraglich ist, ob sich seine Anhänger<br />

von den jüngsten Zeugenaussagen abschrecken<br />

lassen, die beschreiben, wie das regierende<br />

Ehepaar Netanjahu von dem Hollywood-Produzenten<br />

Arnon Milchan über die Jahre einen steten<br />

Zufluss an Champagner, Zigarren und Schmuck als<br />

selbstverständliche Geschenke eingefordert hat.<br />

Im Gegenzug arrangierte Bibi für seinen reichen<br />

„Freund“ eine Verlängerung dessen US-Visums.<br />

Demgegenüber versucht sich Lapid, der eigentliche<br />

Architekt der bisherigen Koalition, in<br />

seiner neuen Rolle zu profilieren. Er präsentiert<br />

sich als würdiger Staatsmann, trifft sich mit Joe<br />

Biden und Emmanuel Macron. Noch bastelt er an<br />

der Liste seiner Zukunftspartei. Dabei soll erstmal<br />

auch ein arabischer Kandidat auf einen aussichtreichen<br />

Platz gesetzt werden. Damit will Lapid signalisieren,<br />

dass die Zeit der jüdisch-arabischen<br />

Kooperation – wie sie in der bisherigen Regierung<br />

mit der Vereinten Arabischen Liste von Mansour<br />

Abbas möglich war – keine Eintagsfliege war.<br />

Offen ist auch die Frage nach Neuzugängen,<br />

mit denen sich punkten lässt. Zu Letzteren gehört<br />

der ehemalige Generalstabschef Gadi Eisenkot,<br />

der wie viele seiner Vorgänger nach dem Ausscheiden<br />

aus der Armee in der Politik als ein großes<br />

Auch Staatsmänner<br />

haben<br />

Spaß Joe Biden<br />

trifft Yair Lapid<br />

in Israel. Lapid<br />

gilt als Architekt<br />

der aktuellen<br />

Koalition.<br />

Plus gehandelt wird. Der Israeli mit orientalischen<br />

Wurzeln ist zudem populär und ein Kind der Arbeiterklasse.<br />

Gleich mehrere Parteien werben<br />

um ihn. Die größten Chancen rechnet sich Lapids<br />

Zukunftspartei aus. Um Eisenkot aber wirbt auch<br />

Benny Gantz, der mittlerweile auch erneut Interesse<br />

am Posten des Premiers signalisiert hat. Dazu<br />

Demgegenüber versucht sich Lapid,<br />

der eigentliche Architekt der<br />

bisherigen Koalition, in seiner<br />

neuen Rolle zu profilieren.<br />

hat sich sein Blau-Bündnis mit Gideon Sa’ars Partei<br />

der neuen Hoffnung zusammengetan.<br />

Darüber hinaus werden bis zur Wahl auch noch<br />

andere neue Allianzen erwartet. Denn einige Parteien<br />

könnten es im Alleingang nicht über die<br />

3,25-Prozent-Hürde schaffen, dazu gehören auch<br />

Yamina, die künftig statt von Naftali Bennett (der<br />

sich aus der Politik erst einmal zurückgezogen hat)<br />

von Ayelet Shaked angeführt wird, Meretz und die<br />

Vereinte Arabische Liste von Mansour Abbas. Die<br />

Rede ist davon, dass sich die Arbeitspartei mit Meretz<br />

zusammentun könnte. Alles andere wird sich<br />

in den nächsten Monaten finden.<br />

So oder so wird es ein heißer Sommer werden.<br />

14 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

15


INTERVIEW MIT NIKOLAUS LUTTEROTTI<br />

Das Leben hier ist<br />

vielschichtiger, als man<br />

es von Weitem mitbekommt<br />

Seit letztem März ist die Residenz der Österreichischen Botschaft in<br />

Herzlia wieder bewohnt. Nikolaus Lutterotti kam am Höhepunkt<br />

einer neuen Terrorwelle in Israel an. Daniela Segenreich sprach mit dem<br />

Botschafter über seine ersten Eindrücke, berufliche Schwerpunkte und<br />

persönliche Pläne in „seinem neuen Land“.<br />

© Daniela Segenreich<br />

16 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

Nikolaus Lutterotti_Botschafter_GRj_korrAH_END.indd 16 25.07.22 13:41


Verbindungen weiter ausbauen<br />

Botschafter Lutterotti<br />

sieht viel Potenzial in<br />

der Intensivierung der<br />

bilateralen wirtschaftlichen<br />

Beziehungen.<br />

„Das ist für uns<br />

keine Selbstverständlichkeit,<br />

dass diese<br />

Menschen<br />

wieder Österreicher<br />

sein<br />

wollen, und wir<br />

sind dankbar<br />

und froh, wenn<br />

sie mit dieser<br />

Heimat, die<br />

ihnen entrissen<br />

wurde, wieder<br />

eine Verbindung<br />

aufbauen<br />

wollen.“<br />

Nikolaus Lutterotti<br />

Chancen eines verstärkten Besuchsaustausches. Und<br />

jeder dieser Besuche bringt natürlich auch konkrete<br />

Projekte mit sich. Wir haben erst kürzlich ein Memorandum<br />

of Understanding zum Jugendaustausch unterschrieben.<br />

Und Nationalratspräsident Sobotka hat<br />

bei seinem Aufenthalt hier ein Memorandum unterschrieben,<br />

um die Kooperation der Parlamente<br />

in einigen Bereichen zu verstärken.<br />

Sehr viel Potenzial besteht auch in einer Intensivierung<br />

unserer bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen.<br />

Da würde ich mich gerne stark engagieren<br />

und ein Netzwerk mit weiteren potenziellen Partnern<br />

in Österreich aufbauen. Beispielsweise hat Österreich<br />

Israel im Bereich der Verkehrsinfrastruktur<br />

einiges zu bieten, aber auch in Bereichen wie Energieeffizienz<br />

oder nachhaltige Städteplanung. Und<br />

andererseits hat Österreich großes Interesse an Israels<br />

Hightech-Sektor.<br />

Wichtig ist auch der Austausch zwischen den<br />

Menschen, besonders der Jugendaustausch, da haben<br />

wir jetzt schon konkrete Maßnahmen gesetzt.<br />

Auch der Gedenkdienst und der Zivildienst und<br />

das Programm Understanding Israel sind wichtige Aspekte,<br />

die wir weiterführen müssen, und der Studentenaustausch<br />

im Rahmen des europäischen Austauschprogramms<br />

Erasmus plus. Das sind prägende<br />

Erfahrungen für junge Menschen und auch für das<br />

Verständnis Israels und der Region sehr wichtig.<br />

In diesem Zusammenhang schaffen auch die Verleihungen<br />

der vielen Staatsbürgerschaften an die<br />

Nachfolger der Opfer des Nationalsozialismus eine<br />

ganz starke Verbindung mit vielen neuen Österreicherinnen<br />

und Österreichern hier im Land. Wir haben<br />

bereits über 6.000 Staatsbürgerschaften vergeben.<br />

Das wird weitergehen, und das ist nicht nur ein<br />

Signal der Bereitschaft Österreichs zur historischen<br />

Verantwortung, es ist auch ein Angebot an jene Nachfahren,<br />

wieder ein Stück ihrer Familiengeschichte<br />

zurückzubekommen.<br />

Und es ist natürlich eine ganz starke menschliche<br />

Verbindung, die da zwischen Menschen in Israel<br />

und Österreich entsteht. Ich glaube, darin liegt<br />

eine große Kraft, damit unsere Beziehungen auch<br />

nachhaltig positiv besetzt bleiben. Ich werde auch<br />

das fortsetzen, was meine Vorgängerin Hannah Liko<br />

begonnen hat, und denjenigen, die das wünschen,<br />

diese Staatsbürgerschaft in einer formellen Zeremonie<br />

bei uns an der Botschaft überreichen. Das ist für<br />

uns keine Selbstverständlichkeit, dass diese Menschen<br />

wieder Österreicher sein wollen, und wir sind<br />

dankbar und froh, wenn sie mit dieser Heimat, die<br />

ihnen entrissen wurde, wieder eine Verbindung aufbauen<br />

wollen.<br />

Und für Sie persönlich? Sie sind ja noch nicht „richtig angekommen“,<br />

Ihre Familie ist noch nicht hier, Ihre Möbel<br />

und persönlichen Sachen. Wie sind Ihre ersten Eindrücke<br />

und Ihre persönlichen Pläne?<br />

I Es ist schön zu sehen, wie positiv und freundlich<br />

man hier als Repräsentant Österreichs empfangen<br />

wird. Welche Sympathien die Leute, zumindest jene,<br />

mit denen ich zusammengetroffen bin, gegenüber<br />

Österreich haben. Es ist auch schön zu sehen, wie<br />

viele Kontraste und Diversität das Land bietet – Tel<br />

Aviv mit seinem dynamischen Leben, Jerusalem mit<br />

seiner Geschichte, ich bin an der Küste entlanggefahren,<br />

ich war in Haifa und Akko, habe ein bisschen<br />

etwas sehen können und freue mich, das Land<br />

bald noch weiter entdecken zu können. Es soll ja hier<br />

auch sehr schöne Wanderungen geben. Ich bin ja<br />

noch ganz am Anfang meiner Zeit hier, ich möchte<br />

so viel wie möglich lernen und aufsaugen. Insgesamt<br />

freue mich sehr auf diese vier Jahre hier in Israel, ich<br />

glaube, das wird eine wunderbare Zeit.<br />

18 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


Wunschposten Israel<br />

© Daniela Segenreich<br />

WINA: Sie sind mitten in der letzten Welle von Terroranschlägen<br />

hier gelandet und erwarten demnächst auch<br />

Ihre Frau und Ihre Tochter, die noch bis Ende des Schuljahres<br />

in Belgrad waren. Gibt es da keine Befürchtungen?<br />

Nikolaus Lutterotti: Natürlich beschäftigt man sich<br />

auch beruflich mit der Sicherheitslage der Region,<br />

und die Serie von Anschlägen gibt einem da auch zu<br />

denken. Aber es ist ja so, dass man durch die Medien<br />

immer nur einen Teil des gesamten Puzzles sieht. Das<br />

Leben hier ist um einiges vielschichtiger, als man es<br />

von Weitem mitbekommt. Und ich habe in der kurzen<br />

Zeit auch schon erfahren, wie sehr die Menschen<br />

hier in Krisenzeiten zusammenhalten und sich gegenseitig<br />

helfen, man spürt da eine große Solidarität.<br />

Und persönlich fühle ich mich insgesamt eigentlich<br />

trotz allem recht sicher hier in Israel.<br />

Der Posten hier wurde ja sehr überraschend frei, nachdem<br />

Ihre Vorgängerin Hannah Liko nach Wien berufen<br />

wurde. War Israel ein seit Langem angepeiltes Wunschziel<br />

oder ein schnelles Einspringen?<br />

I Es war wohl beides. Es war überraschend, und ich<br />

habe auch gar nicht damit gerechnet, dass ich mich<br />

bewerben können würde. Aber ich habe mich sehr<br />

schnell entschieden, und es war in gewisser Weise<br />

auch ein Wunschposten. Israel hat mich immer interessiert<br />

und fasziniert – ich kenne das Land ein wenig<br />

von einigen Dienstreisen mit Sebastian Kurz –,<br />

und die Entscheidung, mich zu bewerben, ist mir<br />

dann sehr leichtgefallen.<br />

Sie haben die Dienstreisen angesprochen – österreichische<br />

Politiker haben sich vor der Corona-Zeit hier beinahe<br />

die Türklinke in die Hand gegeben, und auch jetzt sind<br />

bereits wieder zahlreiche Besuche<br />

angesagt, darunter auch im <strong>Juli</strong><br />

Überraschend und der von Kanzler Nehammer. Wie<br />

mit Überzeugung:<br />

Nikolaus Lutterotti hat<br />

kommt es, dass Israel bei österreichischen<br />

Politikern so ein beliebtes<br />

sich rasch und gerne<br />

um den neuen Posten Reiseziel ist?<br />

in Israel bemüht. I Ich glaube, im letzten Jahrzehnt<br />

ist da eine neue Beziehung<br />

entstanden, die auf noch mehr Vertrauen fußt,<br />

wir haben eine ganz neue Gesprächsbasis mit Israel<br />

gefunden, und wir haben natürlich auch viele gemeinsame<br />

Interessen. Damit hat der Besuchsaustausch<br />

sehr stark zugenommen. Ich bin erst seit<br />

wenigen Wochen hier und hatte bereits vier Delegationen<br />

zu betreuen. Das ist sehr gut und sehr positiv.<br />

Wo liegen für Sie die Schwerpunkte Ihrer Arbeit hier, und<br />

was sind Ihre persönlichen Pläne für Ihre Zeit in Israel?<br />

I Wichtig ist, dass man diesen Schwung und die Dynamik,<br />

die diese positiven Beziehungen mit sich<br />

bringen, beibehält. Die sind keine Selbstverständlichkeit<br />

und bedürfen der ständigen Pflege. Nach<br />

den Corona-Lockdowns bieten sich jetzt wieder die<br />

„Ich glaube,<br />

im letzten<br />

Jahrzehnt<br />

ist eine neue<br />

Beziehung<br />

entstanden,<br />

die auf noch<br />

mehr Vertrauen<br />

fußt.<br />

Wir haben<br />

eine ganz<br />

neue Gesprächsbasis<br />

mit Israel<br />

gefunden,<br />

und wir haben<br />

natürlich<br />

auch viele<br />

gemeinsame<br />

Interessen.“<br />

Nikolaus<br />

Lutterotti<br />

Die Verantwortung<br />

Österreichs<br />

Botschafter Nikolaus Lutterotti zum österreichischen<br />

Regierungsprogramm, in dem<br />

Israel seit 2020 speziell erwähnt wird.<br />

Er erklärt diese Erwähnung damit, dass die<br />

Beziehungen zu Israel für den damaligen<br />

Bundeskanzler Sebastian Kurz eine große Priorität<br />

gehabt hätten, was dementsprechend im<br />

Regierungsprogramm reflektiert wird. Da sei<br />

sehr viel gemacht worden, um diese Beziehung<br />

auf eine noch breitere Basis zu stellen: im Bereich<br />

der Aufarbeitung der österreichischen Geschichte,<br />

was den Holocaust betrifft, bei der<br />

Wahrnehmung der historischen Verantwortung<br />

Österreichs und auch im Kampf gegen Antisemitismus,<br />

der stark in den Vordergrund gestellt<br />

wurde. Natürlich konnte Kurz dabei auf der Vorarbeit<br />

von vorigen Regierungen aufbauen. Er<br />

habe aber einen Schwerpunkt gesetzt, die bilateralen<br />

Beziehungen mit Israel weiter stark zu<br />

verbessern und sein Augenmerk auf die Pflege<br />

dieser Beziehungen zu legen.<br />

Eine große Rolle spiele dabei auch die jüdische<br />

Gemeinde in Österreich. Da wäre in den letzten<br />

Jahren sehr viel gemacht worden, unter anderem<br />

durch das Kulturgütergesetz zur Förderung des jüdischen<br />

Lebens in Österreich und zum Schutz der<br />

jüdischen Gemeinde. Die jüdische Gemeinde sei<br />

damit ein ganz wichtiges Bindeglied in den Beziehungen<br />

zwischen Israel und Österreich.<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

Nikolaus Lutterotti_Botschafter_GRj_korrAH_END.indd 17 25.07.22 13:41


HIGHLIGHTS | 02<br />

Spazieren durch<br />

das jüdische Wien<br />

Die Covid-Pandemie brachte auch den Städtetourismus zum Erliegen. Nun<br />

ist die Innenstadt wieder voller Touristen. An sie, aber auch Wiener und Wienerinnen<br />

wendet sich das Angebot der IKG Wien, mit Walking Tours durch<br />

die Stadt das jüdische Wien zu erkunden.<br />

Ein sonniger Sommervormittag am<br />

Desider-Friedmann-Platz: Ein Soldat<br />

geht auf und ab und hat jeden<br />

im Blick, der die Straßenzüge rund<br />

um den Stadttempel betritt. Auf einem<br />

Fenster wurde ein Plakat mit der Aufschrift<br />

„Explore Fascinating Jewish Vienna“<br />

affichiert. Darauf Fotos von Führungen<br />

durch das jüdische Wien und<br />

mittendrin Walter Juraschek, der nun gegenüber,<br />

vor dem Hoteleingang, auch<br />

ganz real auf die heutigen Tourteilnehmer<br />

wartet. Angesagt haben sich Gäste<br />

aus den USA. Juraschek ist ein geprüfter<br />

Austria Guide, seit rund 15 Jahren<br />

mache er auch Touren durch das jüdische<br />

Wien, erzählt er. Inzwischen führt<br />

er diese im Rahmen des 2019 geschaffenen<br />

Infopoint Jewish Vienna der IKG<br />

durch, der seit Sommer 2021 von Viktor<br />

Zirelman geleitet wird.<br />

Der Tourismusfachmann ist derzeit<br />

dabei, das Angebot an Führungen zu<br />

erneuern und zu erweitern. Die tägliche<br />

Führung durch den Stadttempel haben<br />

Die Walking Tours führen<br />

durch die bewegte jüdische<br />

Geschichte der Innenstadt<br />

und des zweiten Bezirks.<br />

inzwischen junge Guides aus der Community<br />

übernommen – sie erzählen aus<br />

der bewegten Geschichte dieser Synagoge<br />

und der vergangenen jüdischen<br />

Gemeinden Wiens und beantworten<br />

bei Interesse auch Fragen zum jüdischen<br />

Leben in Wien heute. Mit Juni starteten<br />

zudem die Walking Tours – sie führen<br />

durch die Innenstadt, in den zweiten<br />

Bezirk oder um die Ringstraße. 45 Prozent<br />

der Palais wurde von Juden beziehungsweise<br />

jüdischen Familien erbaut,<br />

erzählt Juraschek.<br />

Er zeigt an diesem Vormittag den<br />

amerikanischen Gästen jüdische Orte<br />

von heute und damals in der Wiener Innenstadt.<br />

Vom Desider-Friedmann-Platz<br />

geht es durch die Seitenstettengasse,<br />

vorbei am Stadttempel und zum Morzinplatz.<br />

Auf einem Tablet lässt er mit<br />

historischen Aufnahmen das Hotel Metropol<br />

wiedererstehen, erzählt vor dem<br />

Denkmal für NS-Opfer zu Gedenkpolitik,<br />

reißt mit Blick über den Donaukanal kurz<br />

die Geschichte der zweiten jüdischen<br />

Gemeinde in der heutigen Leopoldstadt<br />

an. Dann geht es zurück über die<br />

Herzlstiege mit – richtig – einigen Worten<br />

zu Theodor Herzl und Zionismus, weiter<br />

durch die Judengasse zum Hohen<br />

Markt. Die Anekdote über den Weihnachtsbaum<br />

in Fanny Arnsteins Salon<br />

amüsiert die Zuhörenden – leider steht<br />

das Palais von damals, in das sich die Familie<br />

eingemietet hatte (Grunderwerb<br />

war ihr zu Beginn des<br />

19. Jahrhunderts nicht<br />

möglich), nicht mehr.<br />

Weitere Stationen<br />

an diesem Vormittag<br />

sind der Judenplatz,<br />

zentraler Ort<br />

der mittelalterlichen<br />

Gemeinde, der Kohlmarkt<br />

mit Anekdoten zu jüdischen Hoflieferanten<br />

von einst und die Dorotheergasse,<br />

wo sich das Haupthaus des<br />

Jüdischen Museums befindet. Juraschek<br />

ist es wichtig darzustellen, dass Juden in<br />

Wien zentral für die Entwicklung der Gesellschaft<br />

waren, betont er. Was er dagegen<br />

ablehnt ist so genannter Schwarzer<br />

Tourismus, also Führungen, die sich nur<br />

auf Gräueltaten konzentrieren.<br />

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Dennoch müsse<br />

Infos und Buchungen unter<br />

die NS-Geschichte, ikg-wien.at/infopoint.<br />

aber etwa auch das<br />

blutige Ende der mittelalterlichen<br />

Gemeinde vermittelt<br />

werden, so der Guide – aber eben<br />

nicht nur. Die richtige Mischung zu finden,<br />

sei „ein Drahtseilakt“. Um die richtige<br />

Mischung geht es auch bei den weiteren<br />

Plänen Zirelmans. Gemeinsam mit<br />

Awi Blumenfeld recherchiert er weitere<br />

Details, Gebäude, Objekte, über die bei<br />

den Walking Tours erzählt werden kann.<br />

Bereits jetzt kooperiert er mit Uniworld,<br />

einem Boutique-Flusskreuzfahrtunternehmen,<br />

das seinen Reisenden die Touren<br />

durchs jüdische Wien anbietet. Dass<br />

Zirelmans Bemühungen bereits Früchte<br />

tragen, davon zeugt auch ein jüngst zuerkannter<br />

Preis: Der Infopoint Jewish Vienna<br />

erhielt den Travel and Hospitality<br />

Award <strong>2022</strong> in der Kategorie „Extraordinary<br />

Cultural Experience of Austria“. wea<br />

© IKG / Infopoint/Schmidl<br />

wına-magazin.at<br />

19


URBAN LEGENDS<br />

Auf Schritt<br />

und Tritt<br />

Wie man sich in einem Leben sein ganz persönliches Mosaik im Kopf<br />

zusammensetzt. Die Teile dafür finden sich nahezu überall, man<br />

muss nur durch die richtige Brille schauen.<br />

Jüdische Identität hat viele Facetten – aus<br />

diesen sich in seinem Leben nach und<br />

nach ein Mosaik zu bauen, ist eine davon.<br />

s gibt da so die urban legend: Wenn<br />

eine schwangere Frau durch die<br />

Stadt spaziert, sieht sie überall<br />

andere schwangere Frauen. Ähnlich<br />

geht es mir mit Hunden. Seitdem<br />

ein Chihuahua-Mädchen<br />

zu unserer Familie gehört, sehe ich sie überall: Viele<br />

Langhaar-Chihuahuas, weniger kurzhaarige wie unser<br />

Hündchen, viele mit braunem oder sandfarbigem Fell,<br />

manche mit schwarzem, einige<br />

Von Alexia Weiss<br />

mit weißem. Wer gerne elegante<br />

Handtaschen trägt, der werden<br />

besonders schöne Modelle bei anderen Spaziergängerinnen<br />

eher auffallen als sportliche Rucksäcke. Jeder<br />

hat sein ganz persönliches Set an Brillen, durch das er<br />

seine Umwelt sieht.<br />

„In jedem Urlaub findest du etwas Jüdisches, das wir<br />

uns ansehen“, sagte meine Tochter, als wir vor ein paar<br />

Wochen ein paar Tage zum Relaxen in Baden verbrachten.<br />

Aktuell ist dort im Kaiserhaus die Schau Sehnsucht<br />

nach Baden. Jüdische Häuser erzählen Geschichte(n) zu sehen.<br />

Sie bedient verschiedene interessante Erzählstränge:<br />

Da ist zum einen die Architektur und vor allem Innenarchitektur<br />

der zehn vorgestellten Villen. Da sind zum<br />

anderen die Geschichten ihrer Bewohner. Und wenn<br />

man sich diese durchliest, bilden sie wieder ein paar<br />

Puzzlesteine in diesem Vergangenheitsmosaik.<br />

Ich gebe zu: Ich liebe dieses Mosaik. Es lässt sich ständig<br />

erweitern: ob beim Lesen, beim Anschauen einer<br />

Dokumentation (wie kürzlich im ORF über den jüdischen<br />

Witz als Waffe), beim Besuch einer Ausstellung<br />

oder einem Bummel durch Wien. Und ja, da hat meine<br />

Tochter schon Recht: Wenn wir eine Stadt im Ausland<br />

besuchen, sehen wir uns das dortige jüdische Museum<br />

an oder machen eine Tour durch das (ehemalige) jüdische<br />

Viertel.<br />

Eine Gemeinsamkeit haben wir jüngst auch festgestellt:<br />

Besonders spirituell sind wir beide nicht, eigentlich<br />

gar nicht, geradeheraus gesagt. Dafür sind wir sehr<br />

politisch, und bei mir kommt irgendwie auch noch dieser<br />

Hang zur Nostalgie dazu, mit dem ich mein Kind<br />

langsam anstecke. Jüdische Identität hat viele Facetten<br />

– sich in seinem Leben nach und nach ein Mosaik<br />

zu bauen, dessen Versatzstücke jüdische Kunst, jüdische<br />

Alltagskultur durch die Jahrhunderte, Lebensgeschichten<br />

von Jüdinnen und Juden, aber auch fiktive<br />

jüdische Charakter in Literatur, Film und TV-Serien<br />

sind, ist eine davon.<br />

In Baden hatte ich beispielsweise Nathan Englanders<br />

neues Buch kaddish.com im Gepäck. Da versucht<br />

ein atheistischer Jude, den Ansprüchen seiner orthodoxen<br />

Schwester zu genügen, und lässt die Pflicht des<br />

Kaddisch-Sagens nach dem Tod des Vaters auf jemand<br />

anderen übertragen. Was grundsätzlich gut funktionieren<br />

würde, würde er nicht wieder in ein observantes<br />

Leben zurückkehren, woraus schließlich massive Gewissensbisse<br />

resultieren. Englander spielt mit einer<br />

witzigen Idee, streckenweise zieht sich die Geschichte<br />

dennoch ein wenig wie ein Strudelteig.<br />

Stichwort Sweets: Habe ich schon einmal erzählt,<br />

dass ich zwar gerne backen können würde, es mir dann<br />

allerdings doch wieder zu mühsam erscheint? Diese<br />

Anwandlungen bekomme ich nur dann, wenn ich sehe,<br />

wie jemand anderer selbst und offenbar so easy süße<br />

Köstlichkeiten fabriziert. In diesem Sommer war das<br />

Hadar Schwarzbaum (siehe Seite 25). Ihre essbaren<br />

Blumensträuße erfreuen Auge und Magen, ihre Meerestorte<br />

versetzt einen in Strandlaune. Schönen Sommer<br />

allseits!<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

20 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


Wieder Sommer genießen<br />

Die Leichtigkeit des<br />

sommerlichen Seins<br />

Text: Alexia Weiss<br />

Zwei Winter im Pandemiemodus liegen<br />

hinter uns, mit Lockdowns, Beschränkungen<br />

des Soziallebens, einem<br />

unglaublichen Organisationsaufwand<br />

vor allem für Familien, weil eines der<br />

Kinder wieder einmal quarantänebedingt<br />

zu Hause ist und betreut werden<br />

muss. Noch schwerer wiegen die<br />

Abschiede von nahe stehenden Menschen,<br />

die eine Covid-Infektion nicht<br />

überlebt haben.<br />

Und als ob diese seit nunmehr zweieinhalb<br />

Jahren angespannte Situation<br />

nicht schon genug aufs Gemüt<br />

gedrückt hätte, sitzt der Schock über<br />

den Angriffskrieg Wladimir Putins auf<br />

die Ukraine immer noch tief. Die Fotos<br />

und Filmaufnahmen, die uns seit<br />

Monaten aus der Ukraine erreich(t)<br />

en, zeigen Zerstörung und unfassbares<br />

menschliches Leid – menschengemachtes<br />

menschliches Leid. Ein Krieg<br />

ist keine Naturkatastrophe, und dennoch<br />

fühlen sich die Ohnmacht und<br />

Hilflosigkeit angesichts dessen, was<br />

derzeit in diesem europäischen Land<br />

passiert, ähnlich an.<br />

Doch wir alle müssen trotz dieser<br />

Widrigkeiten auch wieder Kraft schöpfen,<br />

Energie tanken für den nächsten<br />

Pandemiewinter und für die Fortsetzung<br />

der Flüchtlingshilfe. Denn nur<br />

wer selbst fit ist, kann auch helfen.<br />

Und so möchte Sie die WINA-Redaktion<br />

einladen zu überlegen, wie der<br />

Somme aktiv zum Aufladen unser aller<br />

Batterien genutzt werden kann.<br />

Sechs Frauen mit ganz unterschiedlichen<br />

Berufen inspirieren dabei vielleicht<br />

mit ihren Blicken auf die warmen<br />

und lichtspendenden Monate des<br />

Jahres.<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

wına-magazin.at<br />

21


Fit im Sommer<br />

Weite statt Grenze<br />

<strong>Juli</strong>a Esther Pitkovsky, 35<br />

Fitnesstrainerin und Ernährungscoach<br />

Bella Baruch, 44<br />

Faszien-Yoga-Trainerin, Shiatsu-Praktikerin und Atemtrainerin<br />

Was hat dich in die Fitnessbranche<br />

gebracht?<br />

Ich habe schon als Kind getanzt und bin ein<br />

Mensch, der immer in Bewegung ist. Mit 19 Jahren<br />

habe ich am Wingate College in Netanja die<br />

Ausbildung zur Sporttrainerin begonnen und arbeite<br />

inzwischen seit 14 Jahren als Trainerin, obwohl<br />

ich danach in Israel parallel auch Psychologie<br />

und später in Wien an der Lauder Business School<br />

Wirtschaft studiert habe. Seit der Geburt meiner<br />

beiden Kinder arbeite ich vor allem mit Frauen,<br />

auch mit orthodox lebenden Frauen, entweder in<br />

der Gruppe oder als Personal Trainer, und das in<br />

vier Sprachen – Deutsch, Hebräisch, Russisch und<br />

Englisch. Mein Ziel ist es, dass Frauen sich in ihrem<br />

eigenen Körper mögen.<br />

Wie spürst du in deinem Beruf<br />

den Sommer?<br />

Der Sommer kündigt sich bei mir immer um<br />

Pessach herum an. Dann melden sich viele, um<br />

für den Sommer fit zu werden, um besser auszusehen.<br />

Und ich freue mich immer, wenn ich dann<br />

die schönen Erfolge meiner Kundinnen mitverfolgen<br />

kann.<br />

Was kann man sich unter Faszien-Yoga<br />

vorstellen?<br />

Faszien ist ein neues Modewort für das Bindegewebe,<br />

welches den Körper auf wunderbare Weise<br />

zusammenhält, so ähnlich wie die weiße Haut in<br />

einer Zitrusfrucht. Beim Faszien-Yoga geht es darum,<br />

dieses Netzwerk möglichst flexibel und weich<br />

werden zu lassen mittels Dehnung, fließenden Bewegungen<br />

und Muskelstärkung. Schmerzen vermindern<br />

sich wie von selbst.<br />

In der warmen Jahreszeit bieten<br />

Sie Ihre Yoga-Gruppen im Freien<br />

auf der Jesuitenwiese im Prater<br />

an. Warum?<br />

Gerade im Sommer sind wir im Feuer-Element,<br />

welches mit sehr viel Kraft verbunden ist. Allein<br />

das Fühlen des Grases unter den Füßen verbindet<br />

uns mit der Erde, lädt den ganzen Körper auf<br />

und stärkt das Immunsystem. Feuer steht auch für<br />

Ausbreitung in alle Richtungen – so wie die Wiese<br />

mit ihrer Weite anstatt der Grenzen eines Raumes.<br />

22<br />

wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

23


Abnehmen mit Freude<br />

Backen aus Leidenschaft<br />

Ursula Vyberal, 55<br />

Ernährungsberaterin, Abnehmcoach und Bestsellerautorin<br />

Hadar Schwarzbaum, 42<br />

Patissière, betreibt die Bäckerei Dari’s<br />

Sie haben die Easy-Eating-Methode<br />

kreiert. Wie kam es dazu?<br />

Ich habe Easy Eating vor 16 Jahren entwickelt,<br />

ursprünglich aus einem persönlichen Leidensdruck<br />

heraus. Ich nahm mit den Vorläufern meiner<br />

heutigen Methode 30 Kilo ab. Nach der Geburt<br />

meiner Tochter wollte ich mich beruflich<br />

verändern (ich war zuvor im Marketing tätig)<br />

und anderen Menschen helfen, ebenfalls ihr<br />

Wohlfühlgewicht zu erreichen. Meine Methode<br />

basiert auf „Zwölf goldenen Geboten“ und dem<br />

daraus resultierenden „perfekten Abnehmtag“.<br />

Mein Credo lautet seit jeher: Easy Eating – Abnehmen<br />

funktioniert nur mit Essen. Das ist auch<br />

der Titel meines neuesten Buches.<br />

Was wäre ein gutes, leichtes Sommeressen?<br />

Leichte Salate mit einer guten Kohlenhydratund<br />

Eiweißquelle, zum Beispiel Nicoise (Thunfisch<br />

und Kartoffeln) oder Tabouleh mit Feta.<br />

Abends wieder leichtes Eiweiß wie mageres<br />

Fleisch, Fisch, Tofu oder Käse – mit viel Gemüse<br />

und/oder Rohkost garniert. Wer abnehmen<br />

möchte, der verzichte abends auf Kohlenhydrate<br />

wie Brot, Kartoffeln, Reis und Nudeln.<br />

Warum bist du Patissière geworden?<br />

Meinen ersten Kuchen habe ich im Alter von<br />

neun Jahren gebacken, das war ein Schokoladenkuchen.<br />

Und seitdem backe ich. Im Alter<br />

von 29 Jahren habe ich beschlossen, das auch<br />

professionell zu machen, und habe die Tadmor<br />

School in Herzlia absolviert. Was mir dabei so<br />

Spaß macht? Das klingt vielleicht ein bisschen<br />

wie ein Klischee, aber es ist die Freude in den<br />

Gesichtern der Menschen, die die Torte oder<br />

das Gebäck dann essen.<br />

Deine Torten sehen zum Beispiel<br />

aus wie ein Blumenstrauß, man<br />

könnte auch sagen: Kunst zum Essen.<br />

Was reizt dich daran?<br />

Ich liebe Blumen, die Natur, ich liebe schöne<br />

Sachen. Und ich hole mir da auch die Inspirationen<br />

für meine Torten.<br />

Wie würdest du die Leichtigkeit des<br />

Sommers in etwas Süßes übersetzen?<br />

Etwas mit mehr Teig und weniger Crème. Für<br />

ein Picknick am Strand würde ich zum Beispiel<br />

Muffins backen – oder Babka.<br />

24<br />

wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

25


Räume träumen<br />

Farben fließen<br />

Lilia Maier, 50<br />

Innenarchitektin, Co-Geschäftsführerin von Vienna Interiors<br />

Alina Nosow, 34<br />

Bildende Künstlerin<br />

Warum haben Sie diesen Beruf gewählt?<br />

Weil ich in diesem Beruf meine Kreativität<br />

ausleben kann und jeder Tag anders ist. Weil<br />

ich für verschiedenste Lebensbereiche planen<br />

kann, von privaten Wohnungen, wo man<br />

auch auf den Stil der unterschiedlichen Menschen<br />

eingeht, bis zu Hotels und Büros. Aber<br />

auch die Materialien, mit denen man arbeitet,<br />

sind vielfältig – es geht um Formen, Farben,<br />

Stoffe, aber auch um bauliche Detaillösungen.<br />

Ich persönlich nehme mich mit Farben immer<br />

sehr zurück. Aber für die Kunden freue<br />

ich mich, wenn es gewünscht ist, in den Farbtopf<br />

zu greifen.<br />

Wenn nun ein Kunde zu Ihnen käme<br />

und sagt: „Ich wohne zwar in einem<br />

Haus in Wien, in meinem Wohnzimmer<br />

möchte ich mich aber so fühlen<br />

wie im Sommerurlaub am Meer.“<br />

Wie könnten Sie diesen Wunsch umsetzen?<br />

Mit mediterranen Möbeln, zum Beispiel aus<br />

Korbgeflecht, kühlenden, leichten Stoffen in<br />

hellen Tönen. Polstermöbel sind da durchaus<br />

auch möglich und werden zur Zeit auch sehr<br />

häufig im Außenbereich verwendet.<br />

Sie schaffen großformatige Bilder<br />

und Skulpturen. Wie ist die Herangehensweise<br />

an Ihre Arbeiten?<br />

In meiner Malerei gehe ich wie eine Bildhauerin<br />

vor, in dem ich von einer abstrakten Farbfläche<br />

ausgehend konkrete Elemente herausarbeite.<br />

Dabei findet man selten vollständige<br />

oder unbeschädigte Objekte. Meistens sind es<br />

Teile eines menschlichen Körpers, angedeutete<br />

Posen oder Szenen – eine eindeutige Lesbarkeit<br />

biete ich nicht an. Auch meine Skulpturen<br />

weisen – vor allem hinsichtlich ihres<br />

Geschlechts – Ambivalenzen auf.<br />

Wie bringen Sie den Sommer auf die<br />

Leinwand?<br />

Kaum eines meiner Bilder ist eindeutig einer<br />

Jahreszeit zuzuordnen. Derzeit arbeite ich aber<br />

sehr viel mit kräftigen, satten Farben und pastosen<br />

Übergängen. Außerdem tauchen in manchen<br />

Bildern Strandszenen (Tel Aviv Beach) und<br />

Unterwasserszenarien auf.<br />

26<br />

wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

27


LEBENS ART<br />

Endlich Sommer!<br />

Wir vermuten zwar nicht, dass Ihnen zur<br />

schönsten Zeit des Jahres langweilig werden<br />

könnte. Haben aber trotzdem ein paar unserer<br />

Sommer-Highlights zusammengestellt, damit<br />

Sie in der Hängematte oder am Sandstrand eine<br />

angemessene Lektüre haben.<br />

1020 – KVETCH<br />

Die Taborstraße<br />

21A ist bekannt für<br />

super Burger – und<br />

Tahina-Softeis!<br />

So schmeckt<br />

der Sommer<br />

1070 – MASCHU<br />

MASCHU<br />

Lust auf Pitot? In<br />

der Neubaugasse<br />

20 wird sie mit<br />

israelischem Salat<br />

gefüllt.<br />

So duftet<br />

der Sommer<br />

BUNT Beim<br />

Calle Libre<br />

Festival werden<br />

Mauern zu<br />

Leinwänden.<br />

Buntes für<br />

die Brache<br />

Bereits seit 2014<br />

verwandeln internationale<br />

Künstler*innen im<br />

Rahmen von Calle<br />

Libre jährlich Wiener<br />

Hauswände in<br />

bunte Kunstwerke.<br />

In der neunten<br />

Ausgabe des Festivals<br />

wird nun der brachliegende Nordwestbahnhof<br />

von ihnen bespielt. Von<br />

1. bis 7. <strong>August</strong> entsteht hier zum ersten<br />

Mal auch ein eigenes Festivalgelände,<br />

das neben Kunst und Musik auch Erfrischung<br />

und Erholung bietet.<br />

Tickets: cooltix.at, Infos: callelibre.at<br />

Siehe auch Interview Seite 64<br />

So färbt sich<br />

der Sommer<br />

Fotos: Hersteller<br />

Komplexität im Glas<br />

Auch in diesem Sommer lädt das Impuls-<br />

TanzFestival Wien wieder zum Tanzen. Unsere<br />

Empfehlung ist All the good von Jan<br />

Lauwers und der Needcompany. Worum<br />

es geht? Elik, ein ehemaliger israelischer Elitesoldat,<br />

der nach einem Unfall Tänzer geworden<br />

ist, und die junge Romy erkunden<br />

eine Welt, in der Europa seine Werte opfert,<br />

die Gesellschaften sich spalten und vielfach<br />

Hass die Kommunikation vergiftet. Ebenso<br />

im Raum: 800 Glasballons eines Handwerkers<br />

aus dem Westjordanland und die<br />

Frage, was Freiheit in der Kunst heute sein<br />

kann. Die Vorstellung ist multilingual, u. a.<br />

in Englisch, Französisch, Deutsch und Hebräisch.<br />

17. & 19. 7., Volkstheater,<br />

impulstanz.com<br />

Weil die meisten Menschen über viel Sommer, aber zu<br />

wenige Urlaubstage verfügen, haben wir eine kleine<br />

kulinarische Afterwork-Reiseroute zusammengestellt. Erster<br />

Stopp: Bei Maschu Maschu in Neubau warten gefüllte Babypitot<br />

mit Vogerlsalat, israelischem Salat, Hummus und Tahina<br />

auf die Gäste (maschu-maschu.at). Die beliebten Massabaha<br />

Lima Beans bietet das Miznon an. Dazu wird eiskalter Eistee<br />

aus eigener Produktion serviert (miznonvienna.com). Den<br />

süßen Abschluss bietet das neueste Molcho-Gastroprojekt:<br />

Im Kvetch gibt es Tahina-Softeiscreme mit Crumble und Dulce<br />

de Leche (kvetch.at)!<br />

So liebt<br />

es sich im<br />

Sommer<br />

Turbulente Familienzusammenführung.<br />

Was passiert, wenn eine Israelin (Shira, gespielt von<br />

Moran Rosenblatt) und eine Deutsche (Maria, gespielt<br />

von Luise Wolfram) sich dafür entscheiden,<br />

mit ihren jeweiligen Familien in Jerusalem zu heiraten,<br />

zeigt die LGBTQ-Screwball-Komödie Kiss me kosher.<br />

Kleiner Spoiler: Die Großmutter von Shira (Berta,<br />

dargestellt vom großartigen Allround-Show-Talent<br />

Rivka Michaeli) versucht, die Hochzeit auf<br />

Biegen und Brechen zu verhindern.<br />

Im Rahmen des Volxkinos, 21. 7., 21 Uhr,<br />

Der Wildgarten, Emil-Behring-Weg 3, 1230 Wien<br />

1010 – MIZNON<br />

In der Schulerstraße 4<br />

gibt es die beliebten<br />

Massabaha Lima<br />

Beans.<br />

Die Note der Saison … ist vielleicht salzige Haut mit einem<br />

Spritz Sonnenmilch? Oder ein Hauch heißer Teer und<br />

Wassermelone? Seit 1989 duftet der Sommer jedenfalls nach<br />

„Sun“, dem pudrigen Vanille-Orange-Parfüm der deutschen<br />

Modeikone Jil Sander. Schon heute ein Klassiker: Tom Fords edles<br />

„Soleil Blanc“, das als sonniger Blütenduft mit Ambernote<br />

betörend duftet (und für tollen Glow als Shimmering Body Oil<br />

erhältlich ist!). Der Aromaduft „Eau de Jardins“ von Clarins<br />

vereint wiederum ätherische Öle und Pflanzenextrakte.<br />

Was da so köstlich duftet? Belebende Pampelmuse und<br />

Orange! Oder einfach: Sommer pur.<br />

WELLE DER<br />

LIEBE Shira und<br />

Maria wollen<br />

heiraten. Nicht alle<br />

Familienmitglieder<br />

sind happy<br />

darüber.<br />

WUFF Auch<br />

ein Chow Chow<br />

spielt beim<br />

Spielen eine<br />

Rolle.<br />

Lachen auf Gold-Niveau<br />

Lustig wird es im <strong>August</strong> mit Elon Gold. Der in New York geborene<br />

Humorist hat bereits im Jugendalter angefangen, als Stand-up-Comedian<br />

sein Geld zu verdienen. Mittlerweile spielt er in der Königsklasse,<br />

etwa in der Show von Radio-Talker Howard Stern, in Larry<br />

Davids Curb Your Enthusiasm oder an der Seite von Pamela Anderson<br />

in der Comedy-Central-Serie Stacked. 31. 8., 19.30 Uhr, Globe<br />

Wien/Marx Halle, Tickets: oeticket.com<br />

28 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

29


Die Geschichte ist nicht zu Ende<br />

Das chinesische Erbe<br />

des Wiener Fädenziehers<br />

Rund 20.000 jüdische Flüchtlinge fanden während des Zweiten Weltkriegs<br />

in Shanghai eine vorübergehende Bleibe. Spuren dieser Menschen<br />

sind in der chinesischen Metropole kaum zu finden. Und doch<br />

gibt es sie. Manchmal kommen sie durch Zufall ans Licht.<br />

Von Uli Jürgens<br />

Der Schwan, nach einem Märchen<br />

von Hans Christian Andersen, inszeniert<br />

von Yu Zheguang.<br />

© Jiao Da<br />

Mai 1942, Shanghai<br />

Bubbling Well<br />

Road 722. Im Theatersaal<br />

des Jewish<br />

Club hebt<br />

sich der<br />

Vorhang der Shanghaier Puppenspiele.<br />

Gezeigt wird eine Bearbeitung<br />

des Zaubermärchens<br />

Der Bauer als Millionär von Ferdinand<br />

Raimund. Die Journalistin<br />

Gertrude Herzberg, die der Vorstellung<br />

in Begleitung des elfjährigen<br />

Peter beiwohnt, schreibt<br />

später im Jewish Chronicle: „Er war<br />

mit den Darbietungen, mit den<br />

großen und kleinen Aufregungen<br />

des Stücks, restlos zufrieden,<br />

und seine blauen Augen strahlten<br />

vor Freude über das Spiel<br />

der Puppen, über die glückliche<br />

Wendung zum Guten.“ Auch<br />

ein paar Chinesen sitzen im Publikum,<br />

unter ihnen der Kunstlehrer Yu<br />

Zheguang. Direktor dieses kleinen Theaters<br />

ist der jüdische Wiener Filmschaffende<br />

Arthur Gottlein. Er ist im Juni 1941<br />

mit seiner Frau aus Manila (wohin das<br />

Paar mit Hilfe eines Filmvertrages vor<br />

den Nationalsozialisten fliehen konnte)<br />

nach Shanghai gekommen. Als am 7. Dezember<br />

mit dem japanischen Überfall<br />

auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor der<br />

Pazifikkrieg beginnt, kann das Ehepaar<br />

Gottlein nicht mehr auf die Philippinen<br />

zurück. Doch Arthur Gottlein – bereits<br />

Die Zeugnisse<br />

Wiener Exilkultur<br />

in – die<br />

Kaffeehäuser,<br />

Geschäfte und<br />

auch Gottleins<br />

Puppenbühne –<br />

sind aus Shanghai<br />

verschwunden.<br />

während der Stumm- und Tonfilmzeit in<br />

Österreich und Deutschland als kreativer<br />

Kopf dafür bekannt, für jedes Problem<br />

eine Lösung zu finden – gründet kurzerhand<br />

ein Marionettentheater<br />

und sichert damit seiner<br />

Frau, sich selbst und seinen<br />

Mitarbeiter:innen das Überleben.<br />

Als ich im Herbst des Vorjahres<br />

mein Buch Der Fädenzieher<br />

über Arthur Gottlein vorstellte,<br />

schien es so, als sei die<br />

Geschichte mit der Rückkehr<br />

des Paares nach Österreich<br />

beendet. Denn die Flüchtlinge,<br />

denen die chinesische<br />

Stadt Shanghai vorübergehend<br />

eine – zumindest weitgehend<br />

– sichere Zuflucht bot,<br />

reisten nach Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges rasch weiter.<br />

Ein paar alte Straßenzüge<br />

sind zwar heute noch so, wie sie damals<br />

waren, und es gibt ein Exilmuseum. Die<br />

Zeugnisse Wiener Exilkultur – die Kaffeehäuser,<br />

Geschäfte und auch Gottleins<br />

Puppenbühne – sind aber verschwunden.<br />

Da mich Marionettentheater interessiert<br />

(ich habe selbst im Marionettentheater<br />

Schloss Schönbrunn gespielt), postete<br />

ich in einer einschlägigen Facebook-<br />

Gruppe Fotos von Gottleins Shanghaier<br />

Puppentheater und erhielt eine spannende<br />

Rückmeldung. Dmitri Carter, ein<br />

Puppenspieler aus Seattle mit Kontakten<br />

30 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

31


Yu Zheguang und Arthur Gottlein<br />

Figurentheater-Tradition<br />

nach China, schrieb mir, sein Freund<br />

Jiao Da sei der Enkel des oben erwähnten<br />

Yu Zheguang, der Gottleins Marionettenspiel<br />

in den 1940er-Jahren live miterlebte<br />

und schließlich ein eigenes Theater<br />

nach Gottleins Vorbild etablierte. Meine<br />

Neugier war geweckt.<br />

Kunststudent, Kunstlehrer, Puppenspieler.<br />

Geboren wurde Yu Zheguang 1906 in<br />

der Stadt Wuxi, rund 150 Kilometer nordwestlich<br />

der Metropole Shanghai. Bereits<br />

als Kind war er von fahrenden Schaustellern<br />

fasziniert, die sogenannte „Holzkopfshow“<br />

– eine Art Handpuppentheater<br />

– hinterließ einen tiefen Eindruck,<br />

erzählte er viele Jahre später in einem Zeitungsartikel.<br />

Es sind einfache Geschichten,<br />

die auf den Märkten gezeigt wurden:<br />

ein menschenfressender Tiger, ein altes<br />

keifendes Paar. Mit knapp 20 Jahren begann<br />

Yu Zheguang ein Studium an der<br />

Kunstakademie Shanghai, beschäftigte<br />

sich mit traditioneller chinesischer Malerei,<br />

unterrichtete bald als Kunstlehrer<br />

an verschiedenen Schulen. Und er interessierte<br />

sich für den Bau von Puppenbühnen<br />

ebenso wie für die Spieltechnik verschiedener<br />

Figuren. China hat eine lange<br />

Puppentheatertradition, Marionettenspiel<br />

gilt sogar als älteste Variante dieser<br />

Kunstform. Hinweise darauf gibt es bereits<br />

aus der Tang-Dynastie um das Jahr<br />

Enkelsohn Jiao Do sah seinem<br />

Großvater Yu Zheguang<br />

gerne beim Entwerfen und<br />

Bauen der Handpuppen zu.<br />

China hat eine lange<br />

Puppentheatertradition,<br />

Marionettenspiel<br />

gilt sogar als<br />

älteste Variante dieser<br />

Kunstform.<br />

760. Die Figuren wurden zunächst vor allem<br />

bei Trauerfeierlichkeiten eingesetzt,<br />

erst später dann bei festlichen Anlässen<br />

und zur Belustigung auf Jahrmärkten. Sie<br />

waren überaus ausgereift und kunstvoll<br />

geschnitzt, manche hatten bis zu 50 Führungsfäden,<br />

das ist weit mehr als bei vergleichbaren<br />

europäischen Marionetten.<br />

Und im Gegensatz zum in unseren Breiten<br />

verwendeten Spielkreuz wurde die chinesische<br />

Marionette mit einem Holzrechteck<br />

bewegt.<br />

Yu Zheguang erkannte jedenfalls rasch<br />

den pä-dagogischen Wert dieser Art von<br />

Theater. Nach seinem Besuch von Gottleins<br />

Zaubermärchen im Frühjahr 1942,<br />

dessen Lieder – auf Deutsch gesungen und<br />

auf Englisch übersetzt – jedoch vom chinesischen<br />

Publikum kaum verstanden wurden,<br />

gründete Yu Zheguang kurzerhand<br />

einen Marionetten-Amateur-Club. Noch<br />

im gleichen Jahr wurde sein erstes Stück<br />

Der Urmensch im Jewish Club aufgeführt,<br />

in mehreren Szenen war die Entstehung<br />

der Menschheit zu sehen, vom Vulkanausbruch<br />

über den Dinosaurierkampf bis zu<br />

einer romantischen Szene im Mondlicht.<br />

Kurz danach wurde Der Schwan nach einem<br />

Märchen von Hans Christian Andersen inszeniert.<br />

Ob und inwieweit sich Yu Zheguang<br />

bei der Machart der Figuren, der Befestigung<br />

der Fäden und der Dramaturgie<br />

etwas von Arthur Gottleins Truppe abgeschaut<br />

hat? Schwer zu sagen. Die Figuren<br />

© Filmarchiv Austria; Jiao Da<br />

Yu Zheguang<br />

bei der Herstellung eines Animationsfilms<br />

mit Origamifiguren, um 1960.<br />

waren jedenfalls knapp einen halben Meter<br />

hoch, sechs Fäden sorgten für die Beweglichkeit.<br />

Auch die Guckkastenbühne<br />

war jener Gottleins ähnlich, rund zwei<br />

Meter breit und eineinhalb Meter tief – die<br />

Puppenspieler waren hinter einem dunklen<br />

Vorhang versteckt und für das Publikum<br />

nicht zu sehen. Bis etwa 1950 entstanden<br />

noch zahlreiche Marionettenstücke.<br />

Dann wandte sich Yu Zheguang dem Marionettenfilm<br />

für Kinder zu, als Direktor des<br />

Shanghai Art Film Studios war er für Drehbuch<br />

und Regie von mehr als 20 Puppenfilmen<br />

verantwortlich. Später verquickte<br />

er das Marionettenspiel mit dem klassischen<br />

chinesischen Schattentheater und<br />

entwickelte eine neue Form des animierten<br />

Puppenfilmes, indem er aus Papier gefaltete<br />

Tiere zum Leben erweckte. Seine<br />

Origami-Kinderfilme aus den 1960er-Jahren,<br />

in denen Enten die Hauptrollen spielten,<br />

sind heute Klassiker und werden bei<br />

Retrospektiven gezeigt.<br />

Von der Leidenschaft erfasst. Die Kommunikation<br />

mit China ist heutzutage nicht<br />

ganz einfach, Facebook – so wie wir es<br />

kennen – ist dort nicht erlaubt. Und so<br />

vergingen mehrere Wochen, bis ich all<br />

diese Informationen beisammen hatte.<br />

Die persönlichen Mails zwischen Jioa Da<br />

(Jahrgang 1953) und mir werden stets<br />

mit Google-Translate übersetzt, und auch<br />

wenn manche Passagen mit viel Einfallsreichtum<br />

interpretiert werden müssen,<br />

ist der Ton überaus herzlich. Für den Enkelsohn<br />

des Puppentheater- und Puppenfilmdirektors<br />

Yu Zheguang ist es eine<br />

große Freude, dass in Österreich über seinen<br />

Großvater berichtet wird. Bei einem<br />

Vortrag im Shanghai Minsheng Art Museum<br />

im <strong>August</strong> 2019 erzählte er, er habe<br />

seinem Großvater als Kind gerne beim<br />

Entwerfen und Bauen der fantasievollen<br />

Figuren und Bühnendekorationen zugesehen.<br />

Sein Großvater habe ihn immer<br />

an Geppetto erinnert, den alten Tischler,<br />

der die Holzpuppe Pinocchio schnitzte.<br />

Die Leidenschaft seines Großvaters habe<br />

ihn schließlich selbst erfasst. Jiao Da ist<br />

Mitglied verschiedener Puppentheater-<br />

Vereinigungen einschließlich der chinesischen<br />

Teilorganisation der UNIMA<br />

(Union Internationale de la Marionette).<br />

Mehrfach schickte mir Jiao Da chinesische<br />

Zeitungsausschnitte, diverse biografische<br />

Texte und Fotografien. Auch hier leisten<br />

moderne Übersetzungstools gute Arbeit<br />

und sorgen ab und zu für ein überraschtes<br />

Schmunzeln. In einem Artikel aus dem<br />

Jahr 1942 zum Beispiel wird von einem Juden<br />

erzählt, der ein Puppentheater leitete.<br />

Dabei konnte es sich nur um Arthur<br />

Gottlein handeln. Auf Chinesisch wird<br />

er „Gao Tianlun“ genannt, vielleicht eine<br />

lautmalerische Übertragung des Namens.<br />

Das Ehepaar Gottlein verließ Shanghai<br />

im Frühjahr 1949 und kehrte nach Österreich<br />

zurück. Auch hier blieb Arthur<br />

Gottlein seiner Liebe zum Figurentheater<br />

treu: Im Dezember 1949 war er Produktionsleiter<br />

bei der Aufzeichnung einer Vorstellung<br />

des Teschner-Figurentheaters,<br />

1957 führte er Regie beim Film Marionetten<br />

sprechen zu euch, einem Stück aus dem<br />

Marionettentheater Ruprecht in Wien-<br />

Hernals. Dann beendete Arthur Gottlein<br />

seine aktive Filmkarriere, wurde in der<br />

Gewerkschaft tätig und organisierte Ausstellungen<br />

zum österreichischen Film.<br />

Ob er wusste, dass sein kleines Shanghaier<br />

Marionettentheater chinesische<br />

Produktionen inspiriert hatte? Eher unwahrscheinlich.<br />

Und doch hat er – im Gegensatz<br />

zu Tausenden anderen jüdischen<br />

Flüchtlingen – in Form von geschnitzten,<br />

von Menschenhand bewegten, an Fäden<br />

tanzenden Figuren im fernen Shanghai<br />

seine Spuren hinterlassen.<br />

32 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

33


Sieben Gemeinden<br />

Prosperierendes Leben<br />

„Hochfürstlich<br />

Esterházy<br />

Schutzjuden“<br />

Die private Synagoge von<br />

Samson Wertheimer, heute<br />

Heimat des Österreichischen<br />

Jüdischen Museums.<br />

Die Adelsfamilien Esterházy und<br />

Batthyány gewährten in den Jahren<br />

1612 bis 1848 der jüdischen Bevölkerung<br />

im heuten Burgenland Privilegien für<br />

ein prosperierendes Leben.<br />

Von Viola Heilman<br />

Das Denkmal<br />

für die Juden von<br />

Zelem, das 2012<br />

auf Initiative von<br />

Michael Feyer<br />

errichtet wurde.<br />

Die zurückgestellten<br />

Grabsteine auf dem<br />

jüdischen Friedhof in<br />

Deutschkreutz.<br />

Historisch betrachtet gab es für<br />

Juden keinen geografischen<br />

Ort in Europa, von dem sie<br />

nicht vertrieben, verfolgt oder<br />

ihrer Rechte beraubt wurden. In Wiederholungen<br />

ging es an den Wohnorten einige<br />

Jahrzehnte oder Jahrhunderte irgendwie<br />

gut, bis sich alles zum sehr viel Schlechteren<br />

änderte. So ist auch die Geschichte der<br />

Juden im Burgenland nicht anders.<br />

Die ersten Nachweise jüdischen Lebens<br />

im Burgenland finden sich bereits im 13.<br />

Jahrhundert, nachdem Juden aus der Steiermark,<br />

Kärnten und ungarischen Städten<br />

vertrieben worden waren. Aber erst ab<br />

der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde das<br />

Burgenland kontinuierlich von Juden besiedelt.<br />

Auch dieser Zuzug jüdischer Menschen<br />

war durch Ausweisung aus Wien,<br />

Niederösterreich und Oberösterreich begründet.<br />

Zu dieser Zeit gewährte die ungarische<br />

Adelsfamilie Esterházy den jüdischen Bewohnern<br />

Schutz, und es begann ein prosperierendes<br />

Gemeindeleben in den „Sieben<br />

Gemeinden“ (hebr.: Schewa Kehilot)<br />

Eisenstadt, Mattersburg, Kittsee, Frauenkirchen,<br />

Kobersdorf, Lackenbach und<br />

Deutschkreutz. Zu den „Sieben Gemeinden“<br />

gehörte ursprünglich auch Neufeld<br />

als achte Gemeinde, allerdings wurde sie<br />

1739 aufgelöst und scheint nicht als „achte“<br />

Gemeinde auf. Die Bewohnerinnen und<br />

Bewohner der südburgenländischen Gemeinden<br />

Rechnitz, Stadtschlaining und<br />

Güssing sowie die heute ungarischen Gemeinden<br />

Körmend und Nagykanizsa hatten<br />

ebenfalls Schutzstatus, allerdings hier<br />

durch den Grafen Batthyány. Diese fünf<br />

Ortschaften werden aber nicht zu den „Sieben<br />

Gemeinden“ gezählt.<br />

Die 1690 verfassten Schutzbriefe der Esterházys<br />

regelten in Form eines Vertrags<br />

auf sehr detaillierte Weise die Rechte und<br />

Pflichten der jüdischen Bevölkerung. Um<br />

die Vorteile der im Vertrag festgelegten<br />

Schutzbestimmungen zu erhalten, wurde<br />

eine Schutzgebühr eingehoben, die die<br />

religiöse Freiheit garantierte. Der Schutzbrief<br />

enthielt unter anderem Regelungen<br />

zu Steuerpflicht, Gemeindeverwaltung<br />

und Handelsfreiheit. Außerdem gab es<br />

Vorschriften für Alltägliches. So wurden<br />

Juden zur Sauberkeit in Haus und Viertel<br />

verpflichtet.<br />

Noch bis 2. Oktober <strong>2022</strong> ist im Schloss<br />

Esterházy in Eisenstadt die Jahresausstellung<br />

Schewa Kehilot – Die Jüdischen Sieben-<br />

Gemeinden unter den Fürsten Esterházy (1618–<br />

1848) zu sehen (siehe Seite 38 ff.), die bislang<br />

kaum bekannte und wenig erforschte Aspekte<br />

der jüdischen Geschichte auf dem<br />

einstigen westungarischen Gebiet thematisiert.<br />

Es sind unbekannte historische<br />

Die 1690 verfassten<br />

Schutzbriefe<br />

der Esterházys<br />

regelten<br />

in Form eines<br />

Vertrags auf<br />

sehr detaillierte<br />

Weise die Rechte<br />

und Pflichten<br />

der jüdischen<br />

Bevölkerung.<br />

© Christian Michelides CC BY-SA 4.0; Dguendel, CC-BY-3.0; IKG Wien<br />

Die bedeutenden jüdischen<br />

Friedhöfe sind<br />

oft das einzige, das blieb.<br />

son Wertheimer. Heute<br />

ist das Österreichische<br />

Jüdische Museum darin<br />

untergebracht. Die beiden<br />

jüdischen Friedhöfe<br />

konnten nach 1945 trotz<br />

starker Verwüstung wieder<br />

instandgesetzt werden.<br />

Das auf eine mittelalterliche<br />

Burg zurückgehende,<br />

in mehreren<br />

Bauetappen entstandene<br />

Schloss wurde im 17. Jahrhundert<br />

unter dem ersten<br />

in Eisenstadt geborenen Esterházy’schen<br />

Fürsten Paul I. (1635–1713) erbaut. Paul I.<br />

ist auch für die Geschichte der jüdischen<br />

Gemeinde Eisenstadt bedeutsam, denn in<br />

seine Regierungszeit fällt die Ausstellung<br />

des „Schutzbriefes“ (1690), der die Grundlagen<br />

des jüdischen Gemeinwesens in Eisenstadt<br />

vertraglich regelte.<br />

Knapp 40 Kilometer südlich von Eisenstadt<br />

liegt die Gemeinde Deutschkreutz,<br />

die im 15. Jahrhundert von seinen jüdischen<br />

Bewohnern Zelem genannt wurde.<br />

Zelem – Hebräisch für Kreuz – hat Juden<br />

Dokumente und Publikationen, Pläne,<br />

Karten und Objekte zu sehen, die die Lebensumstände<br />

und Lebensbedingen der<br />

jüdischen Menschen zeigen und das rege<br />

wirtschaftliche und geistig kulturelle Leben<br />

näherbringen.<br />

Die erhaltenen historischen Reste des<br />

ehemaligen jüdischen Viertels in Eisenstadt<br />

befinden sich ganz in der Nähe des<br />

Schlosses. Vor allem interessant ist die original<br />

erhaltene private Synagoge von Samaus<br />

religiösen Gründen erspart, das Wort<br />

„Kreuz“ des Ortsnamens auszusprechen.<br />

Die Geschichte der Juden von Deutschkreutz<br />

ist Bespiel für alle anderen „Sieben<br />

Gemeinden“ im Burgenland. Alle ereilte<br />

nach 1938 dasselbe Schicksal.<br />

Im 15. Jahrhundert lebten nur wenige<br />

Juden in Deutschkreutz, was sich aber ab<br />

dem 17. Jahrhundert änderte. Paul Esterházy<br />

erlaubte per Vertrag 1701, dass Juden<br />

Häuser von Christen erwerben durften.<br />

Durch einen Schutzbrief wurde zusätzlich<br />

ihr Leben und ihr Besitz vor jeglichen<br />

Übergriffen geschützt. Auch wurden ihnen<br />

Privilegien auf dem wirtschaftlichen<br />

Sektor zugestanden, wie z. B. Fleischereien<br />

oder eine Brauerei zu eröffnen.<br />

Der Zuzug nach Deutschkreutz unterlag<br />

nun keiner Behinderung mehr, und auch<br />

Eheschließungen waren ohne Einschränkung<br />

möglich. In religiösen Belangen besaß<br />

die Gemeinde vollkommene Autonomie.<br />

Rabbiner und Vorbeter konnten frei<br />

gewählt werden, eine Synagoge gebaut<br />

(1747) und ein Friedhof angelegt werden<br />

(1759), der von einer Chevra Kadischa verwaltet<br />

wurde. Auch politische Autonomie<br />

wurde Juden zugestanden, und so konn-<br />

34 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

35


Thema<br />

Kulturelles Erbe<br />

Elon Gold “Live”<br />

31. <strong>August</strong> <strong>2022</strong>, 19:30 Uhr<br />

GLOBE WIEN, Karl Farkas Gasse 19, 1030 Wien<br />

Der US-amerikanische Comedian und Schauspieler spielte in<br />

Bones – die Knochenjägerin sowie mit Larry David in Curb Your<br />

Enthusiasm. Aktuell ist sein Stand-up-Special Elon<br />

Gold: Chosen & Taken auf Netflix zu sehen.<br />

Le’Chaim<br />

Auf das Leben<br />

Das Konzert zum<br />

jüdischen<br />

Neujahrsfest<br />

Es erwartet Sie reichlich jüdischer Humor,<br />

und vieles mehr.<br />

Tickets via QR-Code &<br />

unter: www.globe.wien<br />

Ethel Merhaut & Ensemble: Mit viel Charme und Hingabe entstaubt<br />

sie Chansons, Foxtrotts, Filmmusik und Tangos.<br />

Ben Salomo: In Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen,<br />

zählt er zu den bekanntesten Deutsch-Rappern.<br />

Roman Grinberg & Yiddish Swing Orchestra sind ein Garant für beste<br />

Unterhaltung. Special Guest: Oberkantor Shmuel Barzilai<br />

11. September <strong>2022</strong>, 19:30 Uhr, Mozart-Saal,<br />

Wiener Konzerthaus, Lothringerstraße 20, 1030 Wien<br />

ten sie einen Gemeindevorsteher wählen<br />

und sogar eine jüdische Polizei aufstellen.<br />

Durch diese weitreichenden Freiheiten gewann<br />

Deutschkreutz als Handelszentrum<br />

große Bedeutung, das mit Wien, Wr. Neustadt,<br />

Pressburg und Ödenburg (heutiges<br />

Sopron) in regelmäßigen Geschäftsbeziehungen<br />

stand. Ein Großbrand 1777 vernichtete<br />

fast sämtliche Dokumente und<br />

Gebäude, sodass heute sehr wenig historisches<br />

Material aus dieser Zeit vorhanden<br />

ist. 1857 hatte die Gemeinde 1.240 Mitglieder<br />

und war die größte unter den „Sieben<br />

Gemeinden“.<br />

Nach dem Ende der Schutzherrschaft<br />

der Familie Esterházy 1848 änderte sich die<br />

Situation für Juden im Burgenland. Es war<br />

auch die Abschaffung<br />

Gerade die<br />

burgenländischen<br />

Juden<br />

waren 1938<br />

die ersten in<br />

Österreich,<br />

die von den<br />

Ausweisungsbefehlen<br />

der<br />

Nazis betroffen<br />

waren.<br />

des Feudalsystems<br />

nach der Revolution<br />

von 1848, die schließlich<br />

die Sonderstellung<br />

der „Sieben Gemeinden“<br />

überflüssig<br />

machte. Ab diesem<br />

Zeitpunkt wurden<br />

die jüdischen Aktivitäten<br />

im Burgenland<br />

als Bestandteil<br />

aller Juden des Landes<br />

betrachtet. Die<br />

„Hochfürstlich Esterházy<br />

Schutzjuden“<br />

wurden ungarische<br />

Staatsbürger:innen<br />

in der Österreichischungarische<br />

Monarchie und durften sich ab<br />

1860 in den Städten niederlassen. Zur Zeit<br />

der Doppelmonarchie erklärte die Verfassung<br />

von 1867 das jüdische Individuum<br />

zum gleichberechtigten Bürger, verlangte<br />

aber auch von ihm die völlige Eingliederung<br />

in Gesellschaft und Staat. In diesem<br />

Jahr wurde auch allen Juden der Erwerb<br />

von Immobilien erlaubt. Der jüdische<br />

Glaube wurde den christlichen Konfessionen<br />

gleichgestellt, so dass es für Juden<br />

möglich war, staatliche Subventionen für<br />

ihre Religions- und Erziehungseinrichtungen<br />

zu bekommen.<br />

Zerstörungswut der Nationalsozialisten. Der<br />

Erste Weltkrieg brachte auch den burgenländischen<br />

jüdischen Gemeinden viel Leid<br />

und wirtschaftliche Rückschläge. Zahlreiche<br />

jüdische Männer waren unter den Gefallenen.<br />

Als Folge wanderten viele jüdische<br />

Burgenländer nach Wien ab.<br />

1921 wurde das heutige Burgenland in<br />

die Republik Österreich eingegliedert und<br />

© Österreichisches Jüdisches Museum<br />

der Autonomiestatus der burgenländischjüdischen<br />

Gemeinden anerkannt.<br />

Im Mai 1922 wurde der Verband der autonomen<br />

orthodoxen israelitischen Kultusgemeinden<br />

des Burgenlandes gegründet.<br />

Diese Vereinigung konnte erreichen,<br />

dass sich die österreichische Regierung am<br />

Erziehungs- und Rabbinatsbudget beteiligte.<br />

In der schwierigen Zwischenkriegszeit<br />

veränderte sich die Zahl der Juden im Burgenland<br />

nur wenig; Laut Volkszählung des<br />

Jahres 1923 bildete Zelem die größte burgenländische<br />

jüdische Gemeinde mit 435<br />

Mitgliedern. Die Synagoge und die über<br />

die Landesgrenzen bekannte Talmudschule<br />

galten als Zentrum des jüdischen<br />

Lebens von Zelem/Deutschkreutz.<br />

Die jüdische und nicht-jüdische<br />

Deutschkreutzer Gesellschaft kam fast<br />

drei Jahrhunderte gut miteinander aus –<br />

bis 1938, als für Juden die dunkelste Zeit<br />

begann. Gerade die burgenländischen Juden<br />

waren 1938 die ersten in Österreich,<br />

die von den Ausweisungsbefehlen der Nazis<br />

betroffen waren. Fast alle Zeichen ihres<br />

Lebens wurden vernichtet, womit die<br />

mehrere Jahrhunderte dauernde jüdische<br />

Geschichte der „Sieben Gemeinden“<br />

ihr abruptes Ende fand. 1941 wurde die Synagoge<br />

von Deutschkreutz von den Nationalsozialisten<br />

gesprengt und der Friedhof<br />

verwüstet. Nur ein besonders wertvolles<br />

Erinnerungsstück, der Thoravorhang,<br />

wurde aus der Synagoge gerettet und von<br />

den damaligen Stiftern viele Jahre später<br />

nach Jerusalem gebracht.<br />

Nach 1945 kehrten nur mehr sehr wenige<br />

jüdische Familien ins Burgenland zurück,<br />

und heute gibt es kaum ein Dutzend<br />

Jüdinnen und Juden, die im Burgenland<br />

wohnen. Von den etwa 3.900 im Jahr 1938<br />

im Burgenland ansässigen jüdischen Personen<br />

wurde rund ein Drittel in der Shoah<br />

ermordet.<br />

Heute erinnert ein Denkmal an die jüdische<br />

Gemeinde von Zelem, das durch<br />

die Initiative von Michael Feyer aus Wien<br />

im Jahr 2012 errichtet wurde. Eine Gedenktafel<br />

am Friedhof von Deutschkreutz<br />

und ein virtuelles Friedhofsprojekt<br />

mit Namen von fast 300 verstorbenen<br />

oder durch die Nationalsozialisten getöteten<br />

Zwangsarbeitern wurde auf Betreiben<br />

von Nechemja Gang, dem Präsidenten<br />

der Misrachi Wien, 2014 errichtet.<br />

Von der Zerstörungswut der Nationalsozialisten<br />

blieben im Burgenland nur<br />

zwei Synagogen verschont: die Synagoge<br />

Grabsteinfragmente in Zelem:<br />

Sie wurden bei einem Stadlabriss<br />

geborgen und später in die Friedhofsmauer<br />

eingemauert.<br />

Kobersdorf und die ehemalige Privatsynagoge<br />

in Eisenstadt.<br />

Seit über zehn Jahren haben sich die<br />

Bemühungen der burgenländischen Forschungsgesellschaft<br />

und des Landes Burgenland<br />

um eine historische Aufarbeitung<br />

und Dokumentation der jüdischen<br />

Gemeinden verstärkt. Die Synagoge Kobersdorf<br />

wurde vor Kurzem vollständig<br />

renoviert und wird zukünftig unter anderem<br />

für Veranstaltungen, die der wissenschaftlichen<br />

Aufarbeitung der Geschichte<br />

der Burgenland-Juden und ihres<br />

Umfeldes in Zusammenhang mit der Geschichte<br />

des europäischen Judentums gewidmet.<br />

Zuletzt fand Anfang Juni <strong>2022</strong> ein<br />

Symposium unter dem Titel Wissenschaft<br />

in der Synagoge der burgenländischen Forschungsgesellschaft<br />

statt. Aber die ehemalige<br />

Synagoge soll nicht nur Ort der Lehre<br />

und des Wissens sein, sondern auch ein<br />

Raum der Begegnung unterschiedlicher<br />

Meinungen – mit dem Ziel, eine solidarische<br />

Gesellschaft zu stärken und Ressentiments<br />

abzubauen. Geboten wird ein<br />

ambitioniertes Programm, um eine Vernetzung<br />

mit anderen Forschungseinrichtungen<br />

herbeizuführen. Es ist aber auch<br />

ein Anliegen, über den engeren Fachbereich<br />

hinauszugehen und Jugendliche<br />

wie Erwachsene zum Diskurs mit Wissenschaft<br />

und Forschung anzuregen.<br />

In der Eisenstädter Synagoge ist heute<br />

das Österreichische Jüdische Museum untergebracht,<br />

das bereits 1972 als erstes jüdisches<br />

Museum in Österreich nach 1945<br />

gegründet wurde.<br />

Mit einer neuen, für das Smartphone<br />

kompatiblen Website werden von der burgenländischen<br />

Forschungsgesellschaft 12<br />

Rundgänge angeboten, die die reiche jüdische<br />

Geschichte des Burgenlandes wieder<br />

sichtbar und begehbar macht. Der burgenländische<br />

Kulturwanderweg ist eingegliedert<br />

in die European Routes of Jewish<br />

Heritage, die seit 2004 von der European<br />

Association for the Preservation and Promotion<br />

of Jewish Culture and Heritage<br />

(AEPJ) verwaltet und unterstützt werden.<br />

Mit den Rundgängen durch die „Sieben<br />

Gemeinden“, die Schewa Kehilot im Norden<br />

und die fünf Gemeinden im Südburgenland,<br />

ist Österreich nun auch Teil der<br />

European Routes of Jewish Heritage. Der<br />

burgenländische jüdische Kulturweg ist<br />

der erste dieser Art, den es in Österreich<br />

gibt.<br />

Als weiterreichende Information ist<br />

der lesenswerte Reiseführer Jüdische Kulturwege<br />

im Burgenland veröffentlicht worden,<br />

der in den Tourismusbüros aufliegt.<br />

Die Broschüre ist eine Gemeinschaftsproduktion<br />

der burgenländischen Volkshochschulen,<br />

der burgenländischen Forschungsgesellschaft,<br />

des Landesmuseums<br />

und des jüdischen Museums in Eisenstadt.<br />

Große Unterstützung bei der Forschungsarbeit<br />

liefern die 459 Kartons,<br />

die den „Judenkataster des Burgenlandes“<br />

darstellen und derzeit noch von<br />

Mitarbeiter:innen des Archivs der IKG<br />

Wien aufgearbeitet werden. Dieser Katas-ter<br />

wurde bereits in den 1930er-Jahren<br />

im Landesarchiv des Burgenlandes<br />

in Eisenstadt den jüdischen Gemeinden<br />

abgenommen. Nach einem langen und<br />

schwierigen Prozess, der vom Grazer IKG-<br />

Präsidenten Elie Rosen und der Exekutivdirektorin<br />

des Präsidiums der IKG, Erika<br />

Jakubovits, geführt wurde, ist der Kataster<br />

2021 dem Archiv der IKG Wien übergeben<br />

worden. Die Dokumente stellen<br />

ein einzigartiges kulturelles Erbe dar und<br />

spielen eine wesentliche Rolle für das individuelle<br />

und kollektive Gedächtnis des<br />

Burgenlands, dessen jüdisches Leben ab<br />

1938 ausgelöscht wurde.<br />

Mehr Informationen und Tickets<br />

36 wınaunter: | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> www.konzerthaus.at<br />

<strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

37


Die sieben heiligen Gemeinden<br />

Gedenktafeln und Friedhöfe<br />

Die Fürsten und ihre Juden<br />

Das Fürstentum Esterházy ließ sich den Schutz der Juden zwar teuer<br />

bezahlen. Dennoch erlebten die sieben jüdischen Gemeinden des Burgenlands<br />

eine wertvolle Blütezeit. Im Schloss in Eisenstadt gibt eine Ausstellung<br />

Einblick in das Leben der „Hochfürstlichen Esterházy Schutzjuden“.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Manche schauen düster drein,<br />

andere etwas freundlicher,<br />

aber alle zeigen in ihrer Körperhaltung,<br />

dass sie das Sagen<br />

und die Macht haben.<br />

Die Gemälde der Fürsten von Esterházy<br />

sind riesig und alle in Farbe gehalten – die<br />

historischen Dokumente und spärlichen<br />

Fotos ihrer jüdischen Untertanen sind dagegen<br />

alle schwarz-weiß. So entsteht eindeutig<br />

der Eindruck, dass die Herrschenden<br />

auf die unter ihrem Schutz stehenden<br />

Juden herabblicken. Dennoch ging es den<br />

westungarischen (später burgenländischen)<br />

jüdischen Gemeinden unter diesem<br />

Primat wesentlich besser als in den Ländern,<br />

aus denen sie vertrieben wurden.<br />

Die Juden zahlten laufend hohe Summen<br />

– unter den verschiedensten Titeln – für die<br />

Möglichkeit, sich hier ansiedeln, arbeiten,<br />

einfach leben zu dürfen.<br />

Die Jahresausstellung Schewa Kehilot – Die<br />

Jüdischen Sieben-Gemeinden unter den Fürsten<br />

Esterházy (1618 – 1848) im Schloss Esterházy,<br />

in unmittelbarer Nähe zur einstigen jüdischen<br />

Gemeinde in Eisenstadt, gewährt einen<br />

umfassenden Einblicke in das jüdische<br />

Leben vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.<br />

Bis zum 2. Oktober <strong>2022</strong> ist der Besuch<br />

dieser sehenswerten Schau möglich, die<br />

der burgenländische Historiker Felix Tobler<br />

aus den umfangreichen Sammlungen<br />

der Privatstiftung Esterházy zusammengestellt<br />

hat.<br />

Obwohl sich die Ausstellung ausschließlich<br />

auf die Herrschaftsperiode der Esterházys<br />

von 1612 bis 1848 bezieht, erfährt<br />

man durch die historischen Bezüge davor<br />

und danach Wesentliches über das Schicksal<br />

der Juden und insbesondere über die<br />

große Bedeutung dieser „Sieben-Gemeinden“<br />

– hebräisch „Schewa Kehilot“ – Eisenstadt,<br />

Mattersdorf*, Kittsee, Frauenkirchen,<br />

Deutschkreutz, Kobersdorf und<br />

Lackenbach.<br />

Die ersten sicheren Spuren von Juden auf<br />

dem Gebiet des heutigen Burgenlands<br />

führen in das 13. Jahrhundert. Nach ihrer<br />

Vertreibung aus der Steiermark und<br />

aus Kärnten 1496 unter Kaiser Maximilian<br />

I. und aus Ödenburg sowie weiteren<br />

ungarischen Städten nach der Schlacht<br />

von Mohács 1526 fanden viele Vertriebene<br />

Zuflucht auf westungarischem, heute burgenländischem<br />

Gebiet. Im zweiten Drittel<br />

des 17. Jahrhunderts erfolgte nach der Ausweisung<br />

der jüdischen Bevölkerung aus<br />

Wien, Niederösterreich und Oberösterreich<br />

unter Kaiser Leopold I. erneut eine<br />

jüdische Zuwanderung und damit auch die<br />

kontinuierliche Besiedlung.<br />

Obwohl Paul I. Fürst Esterházy unter<br />

dem Einfluss der von Kaiser Leopold I.<br />

1670/71 verfügten Vertreibung der Juden<br />

aus Wien und Niederösterreich zuerst auch<br />

„seine“ Juden aus den Gemeinden Eisenstadt,<br />

Mattersdorf und Lackenbach ausgewiesen<br />

hatte, siedelte er ab 1676 mit dem<br />

Beginn einer judenfreundlicheren Politik<br />

erneut Juden in seinem Einflussbereich an.<br />

Daher bestanden bis zum Ende der Ester-<br />

Jüdische Geschichte<br />

Burgenlands im<br />

Schloss Esterházy in<br />

Eisenstadt.<br />

házy-Schutzherrschaft im Jahre 1848 die<br />

weithin bekannten fürstlichen Judengemeinden.<br />

(Unter dem Schutz der Familie<br />

Batthyány haben sich im heutigen Südburgenland<br />

ebenfalls drei jüdische Gemeinden<br />

etabliert, und zwar Rechnitz, Schlaining<br />

und Güssing.)<br />

Paul Esterházy machte dies nicht aus humanitären<br />

Gründen, für ihn standen wirtschaftliche<br />

Interessen im Vordergrund, die<br />

aber nicht nur zum Nachteil der Juden gerieten:<br />

Er stellte für die Judengemeinden<br />

Schutzbriefe aus, in denen der Status<br />

der jüdischen Gemeinden sowie die<br />

Rechte und Pflichten der Untertanen bis<br />

ins kleinste Detail festgeschrieben waren.<br />

Die Juden bezahlten der Familie Esterházy<br />

Schutzgebühren für die ihnen eingeräumten<br />

Rechte und nannten sich stolz „Hochfürstliche<br />

Esterházy Schutzjuden“.<br />

Zum Glück für die Juden erloschen die<br />

Schutzbriefe auch nicht mit dem Tode des<br />

Grundherrn, sondern wurden bei jedem<br />

Herrscherwechsel erneuert. Da Fürst Paul<br />

II. Anton Esterházy de Galantha (1711–1762)<br />

kinderlos starb, beerbte ihn sein Bruder,<br />

© Reinhard Engel<br />

Nikolaus I., der als Freund der Juden galt.<br />

Da er den Eisenstädter Schutzjuden Moyses<br />

Helin noch aus seiner Jugend kannte<br />

und sein kluges Auftreten als Händler<br />

schätzte, da er ihm persönlich vieles beschaffen<br />

konnte, erhob er Helin aufgrund<br />

seiner treuen Dienste zum Hoffaktor. Von<br />

da an trug dieser den Ehrentitel eines Hofjuden.<br />

Nach seinem Regierungsantritt bestätigte<br />

Fürst Nikolaus I. die Schutzbriefe<br />

aller seiner jüdischen Gemeinden.<br />

„Die Juden sprechen<br />

ein reines, fehlerloses,<br />

etwas hartes Deutsch<br />

und vertragen sich<br />

ausgezeichnet mit<br />

der Bevölkerung. Die<br />

deutschen Bauern<br />

machen einen strengen<br />

Unterschied zwischen<br />

‚Budapester‘<br />

und ‚unseren‘ Juden.“<br />

Joseph Roth**<br />

Jüdische Lehre, kulturelle Errungenschaften<br />

und Friedhöfe. Unter diesen günstigen<br />

Rahmenbedingungen entwickelte sich ein<br />

ungestörtes Kommunal-, Wirtschafts- und<br />

Geistesleben. Es gab eine jüdische Verwaltung<br />

und Gemeindeorganisation mit Ärzten,<br />

Lehrern, Schächtern und anderen<br />

Berufen. Aus Mattersdorf sind z. B. Berufe<br />

wie Schneider, Branntweinbrenner,<br />

Fleischhacker und Bierbrauer belegt. Die<br />

meisten orthodoxen Juden lebten in Mattersdorf<br />

und Deutschkreutz, wo sich bedeutende<br />

Jeschiwot befanden. In Mattersdorf<br />

wirkte unter anderem auch der<br />

große Rabbiner Mosche Schreiber, bekannt<br />

als Chatam Sofer (1762 Frankfurt<br />

– 1839 Pressburg/Bratislava), der zunächst<br />

in Mattersdorf lebte und wirkte<br />

und ab 1806 in Pressburg tätig war. Weltweit<br />

bekannt war die jüdische Gemeinde<br />

von Deutschkreutz wegen ihrer Talmudschule,<br />

an der orthodoxe Studenten aus<br />

ganz Mitteleuropa eine traditionell-jüdische<br />

Ausbildung genossen.<br />

So wie Eisenstadt und Mattersdorf<br />

dürfte auch Kobersdorf im 16. Jahrhundert<br />

eine voll ausgebildete Gemeinde mit<br />

Synagoge, Friedhof, Rabbiner, Kantor,<br />

Schächter und Gemeindegericht gewesen<br />

sein. Schon 1569 zählte die Gemeinde<br />

18 jüdische Familien in sieben Häusern.<br />

Kobersdorf galt vor allem wegen des<br />

Mineralwassers als beliebter Kurort, und<br />

die Gemeinde bemühte sich besonders<br />

um orthodoxe jüdische Sommergäste.<br />

Berühmte Musiker stammen auch aus<br />

dieser Gegend: Im jüdischen Viertel von<br />

Kittsee wurde 1831 der bekannte Geiger<br />

und Komponist Joseph Joachim geboren.<br />

In Keszthely am Balaton<br />

1830 als Sohn eines jüdischen<br />

Kantors geboren, übersiedelte<br />

Carl Goldmark im Alter<br />

von vier Jahren nach Deutschkreutz,<br />

wo er in ärmlichen Verhältnissen<br />

in seiner deutschjüdischen<br />

Familie aufwuchs. Mit<br />

elf Jahren bekam er den ersten<br />

Geigenunterricht, mit 14 Jahren<br />

zog er nach Wien, und im<br />

Alter von 18 Jahren trat er bereits<br />

als Sologeiger auf. Später<br />

entwickelte er sich zum populären<br />

Komponisten.<br />

Den Juden von Deutschkreutz<br />

setzte niemand Geringerer<br />

als Joseph Roth im <strong>August</strong><br />

1919 ein Denkmal: Nach<br />

seiner Reise durch das Heanzenland (als<br />

Heanzen werden die deutschsprachigen<br />

Bewohner des südlichen und mittleren<br />

Burgenlands bezeichnet) beschrieb er berührend,<br />

was ihm der Rabbiner der Stadt<br />

über den Alltag in den Siebengemeinden<br />

erzählt hatte. Ruwen Hirschler, ein<br />

Förderer des jungen Franz Liszt, wurde<br />

ebenso in Lackenbach geboren wie der sozialistische<br />

Politiker <strong>Juli</strong>us Deutsch, Mitbegründer<br />

des Republikanischen Schutzbundes.<br />

Gleich nach dem „Anschluss“<br />

1938 wurden die meisten Lackenbacher<br />

Juden auf Lastwagen gepfercht und nach<br />

Wien zwangsumgesiedelt. 1942 wurde<br />

die prächtige Synagoge gesprengt – eine<br />

ganz kleine, kaum auffindbare Gedenktafel<br />

erinnert heute daran. Der Gottesacker<br />

ist erhalten geblieben und mit 1.770<br />

Grabsteinen der größte jüdische Friedhof<br />

im Burgenland. Hier findet sich auch<br />

das Grab von Arthur Schnitzlers Urgroßvater<br />

Markus Mordechai Schey, den der<br />

Schriftsteller als gelähmten Greis deutlich<br />

in Erinnerung hatte. Ihm und seinem<br />

jüngeren Bruder, Baron Philipp Freiherr<br />

Schey, dessen Grab sich auch auf<br />

dem Lackenbacher Friedhof findet, setzte<br />

Schnitzler in Der Weg ins Freie ein literarisches<br />

Denkmal.<br />

Dieser effektive „Weg ins Freie“ erfolgte<br />

im Jahr 1848 nach dem Ende des Abhängigkeitsverhältnisses<br />

vom Hause Esterházy:<br />

Die Juden wurden freie, gleichberechtigte<br />

– ungarische – Staatsbürger. Die<br />

endgültige Gleichstellung der Juden erfolgte<br />

schließlich am 20. Dezember 1867<br />

in Folge des Österreich-Ungarischen Ausgleiches:<br />

Sie waren nun Staatsbürger mit<br />

allen Rechten und Pflichten. Nach dem<br />

Ende des Ersten Weltkrieges bekam Österreich<br />

die deutschsprachigen Teile der<br />

westungarischen Komitate zugesprochen,<br />

die ab 1921 zum Burgenland zusammengefasst<br />

wurden.<br />

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten<br />

auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes<br />

noch etwa 8.000 Juden. Die burgenländischen<br />

Juden waren 1938 die<br />

ersten in Österreich, die von den Ausweisungen<br />

der Nazis betroffen waren. Schon<br />

wenige Tage nach dem „Anschluss“ im<br />

März begann die systematische Ausweisung<br />

der Juden aus ihren Gemeinden. Am<br />

1. November 1938 meldete die Presse, dass<br />

„sämtliche Kultusgemeinden des Burgenlandes<br />

[...] nicht mehr existieren“. Als der<br />

NS-Landeshauptmann Dr. Tobias Portschy<br />

am 2. April 1938 forderte, im Burgenland<br />

neben der Agrarreform und der „Zigeunerfrage“<br />

auch die „Judenfrage mit nationalsozialistischer<br />

Konsequenz zu lösen“,<br />

bedeutete dies das endgültige Ende einer<br />

dreihundertjährigen kontinuierlichen jüdischen<br />

Geschichte im jüngsten Bundesland<br />

Österreichs.<br />

Nach 1945 kehrten nur mehr sehr wenige<br />

jüdische Familien ins Burgenland<br />

zurück. Heute gibt es, verstreut über das<br />

ganze Bundesland, kaum ein Dutzend Juden.<br />

Von den ehemaligen Synagogen blieben<br />

nur jene von Kobersdorf erhalten – die<br />

jüngst aufwendig renoviert wurde – sowie<br />

die vom Eisenstädter Weinhändler Sándor<br />

Wolf erbaute Privatsynagoge im heutigen<br />

Österreichischen Jüdischen Museum in<br />

Eisenstadt. Sehr treffend beschreibt dieses<br />

Museum den heutigen Zustand: „Eine<br />

Reise auf den Spuren der ehemaligen jüdischen<br />

Gemeinden des Burgenlandes ist<br />

heute eine Reise zu einigen Gedenktafeln<br />

und jüdischen Friedhöfen.“<br />

* Die Gemeinde trug bis zum 14. Juni 1924 offiziell den Namen „Mattersdorf“.<br />

Am 2. <strong>Juli</strong> 1926 erfolgte die Stadterhebung als „Mattersburg“.<br />

** Joseph Roth: Reise durchs Heanzenland. In: Der Neue Tag, 9.8.1919, S. 4f.,<br />

zitiert nach www.ojm.at.<br />

38 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

39


MATOK & MAROR<br />

Orientalisch im Siebenten<br />

& Flora heißt ein neues Hotelrestaurant mit kreativer – fast vegetarischer – Küche.<br />

Bei Hotelrestaurants gab es früher<br />

vor allem zwei Typen: teuren Luxus<br />

mit Familienöffnung für die<br />

Sonntagsbruncher. Oder – wie<br />

Florian Holzer im Kurier richtig bemerkte<br />

– die international bekannten, lähmenden<br />

Standards: Burger, Club Sandwich, dazu<br />

eventuell noch die Wiener Variante mit<br />

Schnitzel.<br />

Das hat sich in den letzten Jahren in ganz<br />

Europa geändert. Ein neuer Typus von Innenstadthotels<br />

ist entstanden, bunt, schräg,<br />

voller Kunst und Pflanzen, gegenüber den<br />

traditionellen Häusern<br />

modernisiert und abgespeckt.<br />

Manchmal<br />

checkt man selbst mit<br />

dem Handy ein. Die<br />

Lobby dient gleichzeitig<br />

als Working Space<br />

für Laptop-Besitzer.<br />

Und statt sich etwas<br />

aus der nicht existierenden<br />

Minibar zu holen, muss man auch<br />

in der Nacht hinunter an die Rezeption marschieren.<br />

Doch manche dieser Häuser haben nicht<br />

alles eingespart, sondern im Gegenteil in<br />

interessante Gastronomie investiert. Das<br />

Wiener Gilbert, an der Schnittstelle von MuseumsQuartier<br />

und Spittelberg gelegen, ist<br />

ein Beispiel dafür. Von den Tischen im begrünten<br />

Innenhof schaut man auf der einen<br />

Seite auf den Hoteleingang, auf der anderen<br />

Seite kann man durch große Glasscheiben<br />

die Küchenbrigade bei der Arbeit beobachten.<br />

Und was diese produziert, kann sich sehen<br />

– und schmecken lassen.<br />

Zwei Bücher hat die Küchenchefin Marvin<br />

Razavi schon geschrieben, eines behandelt<br />

die Gerichte der Hauptstadt ihrer<br />

ehemaligen Heimat, Teheran, das<br />

andere vegetarische Speisen des Orients.<br />

Und so sieht auch die Karte aus: kreativ,<br />

bunt und gemüselastig, freilich nicht ganz<br />

ohne Fleisch. Gelegentlich mischt sich et-<br />

Und so sieht auch<br />

die Karte aus:<br />

kreativ, bunt und<br />

gemüselastig,<br />

freilich nicht ganz<br />

ohne Fleisch.<br />

WINA- TIPP<br />

& FLORA<br />

Breite Gasse 9, 1070 Wien<br />

Tel.: +43/(0)1/523 13 45 100<br />

Mi.– Fr., 7:30–24 Uhr (Frühstück & Lunch<br />

bis 14 Uhr; Dinner 17:30–22 Uhr; Drinks<br />

& Snacks 14–17:30 Uhr); Sa., 8:30–24 Uhr<br />

(Frühstück & Lunch bis 14 Uhr; Dinner<br />

17:30–22 Uhr; Drinks & Snacks 14–17:30<br />

Uhr); So. & Feiertag, 8:30–17 Uhr (Brunch à<br />

la carte bis 16 Uhr); Mo. u. Di., 7:30–17 Uhr<br />

(Achtung: nur Drinks & Snacks)<br />

undflora.at<br />

was Rind, Kalb oder Fisch am Rand in das<br />

– nicht koschere – Speiseangebot.<br />

Die – kleinere – Lunchkarte beginnt etwa<br />

mit einer Madame Crousto Bruschetta mit<br />

Humus und dreierlei Karotte (eine davon<br />

tief violett) um € 12,50. Das Brot dafür<br />

kommt übrigens von Öfferl. Beim Tatar<br />

kann man zwischen der klassischen Rindervariante<br />

(€ 19) und der vegetarischen<br />

mit Fenchel entscheiden (€ 17). Und wem<br />

dabei der Schweizer Blauschimmelkäse<br />

Mürgu noch immer zu tierisch schmeckt,<br />

der kann es auch beim Chili-Orangenöl als<br />

vegetarischem Geschmacksträger belassen.<br />

Unter den warmen Gerichten finden sich<br />

etwa ein Zitronen-Emmer Risotto (€ 19), gegrillte<br />

Melanzani mit Minze und Tahina<br />

(€ 16) oder die gegrillten Salatherzen mit<br />

Labneh, einer Berberitzen-Kapern-Salsa,<br />

darüber Haselnüsse und Granatapfelkerne<br />

(€ 14). Für diese Komposition müsste sich<br />

ein Yotam Ottolenghi nicht genieren, sie<br />

würde auch gut in sein Programm passen.<br />

Am Abend wird die Karte erweitert,<br />

dann gibt es etwa noch ein Tatar von der<br />

Lachsforelle (€ 19), eine Suppe aus Miso,<br />

Fischflocken und Algen namens Dashi mit<br />

Ei (€ 14) oder Dan Dan Noodles mit Spinatgemüse<br />

und Erdnussöl, die weichgekocht<br />

werden und Italophile, die al dente gewohnt<br />

sind, eventuell verstören könnten (€ 18).<br />

Bei den Tacos werden wieder zwei Varianten<br />

angeboten, eine fleischige, diesmal mit<br />

Pulled Lamb, sowie eine vegetarische mit<br />

Melanzani und Miso-Sellerie (€ 19).<br />

Eine kleine – nicht ganz günstige – Weinkarte<br />

mit österreichischen bekannten Namen<br />

und Bioproduzenten rundet das Angebot<br />

ab. Wer will, kann überdies auf der<br />

Speisekarte die regionalen Lieferanten<br />

nachlesen. Und wer sich beim Kellner über<br />

unbekannte Speisen informieren möchte,<br />

wird freundlich und kompetent aufgeklärt,<br />

mit studentischem „Du“, auch wenn<br />

der Uni-Besuch der Gäste schon Jahrzehnte<br />

zurückliegt. <br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel<br />

40 wına | Juni <strong>2022</strong>


WINAKOCHT<br />

Warum ist kalter Kaffee<br />

kein kalter Kaffee, …<br />

… und wieso knuspert das Schnitzel in Israel so anders als in Wien? Die Wiener Küche<br />

steckt voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />

Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Werte Kulinarik-ExpertInnen,<br />

neulich servierte ich Gästen aus Israel einen Eiskaffee.<br />

Er hat ihnen geschmeckt. Doch waren sie<br />

im ersten Moment sichtlich irritiert – und ich meinerseits<br />

über ihre Reaktion. Habe ich bezüglich<br />

der internationalen Kulinarikverständigung vielleicht<br />

etwas falsch gemacht?<br />

Simona S.<br />

Keine Sorge. Ihr Ruf als Gastgeberin hat<br />

sicher nicht gelitten. Ein Wiener Eiskaffee<br />

ist schließlich köstlich. Wir nehmen<br />

an, Sie haben den Klassiker kredenzt, wie<br />

ihn der Kaffeesieder Milani im Jahr 1790<br />

in seinem „Limonadezelt“ – nach heutigem<br />

Verständnis ein Schanigarten – am Kohlmarkt<br />

erstmals servierte: erkalteter schwarzer<br />

Kaffee, Vanilleeis und viel Schlagobers.<br />

Oder schätzen Sie die gerührte Variante, bei<br />

der das Eis mit heißem Kaffee verrührt wird?<br />

Das ist ja reine Geschmackssache, ebenso wie<br />

die Frage, ob man lieber Mokka nimmt oder<br />

Filterkaffee. In jedem Fall aber empfehlen<br />

sich Bohnen aus Zentral- oder Südamerika.<br />

Ihr nussig-schokoladiges Aroma passt nämlich<br />

besonders gut zum Vanilleeis. Und noch<br />

ein Tipp: Eine mittlere Röstung sorgt dafür,<br />

dass die kulinarische Sommerfreude nicht<br />

zu süß wird.<br />

Warum nun Ihre Gäste verwundert waren?<br />

Weil kalter Kaffee nicht (gleich) kalter<br />

Kaffee ist. In vielen Ländern versteht man<br />

unter Eiskaffee „Iced Coffee“, und den gibt es<br />

in vielen regionalen Varianten: vom griechischen<br />

Café Frappé bis zum vietnamesischen<br />

Ca Phe Sua Da. In Israel etwa entspricht er<br />

ungefähr dem, was wir kaffeeneudeutsch<br />

als „Frappuccino“ bezeichnen würden. Probieren<br />

Sie ihn doch einfach mal aus. Zwei<br />

Grundrezepte haben wir Ihnen beigestellt.<br />

Wem das zu puristisch ist, der kann das Getränk<br />

auch noch mit Haselnuss oder anderen<br />

Sirupgeschmacksrichtungen wie „Cookie<br />

and Cream“ mixen.<br />

ISRAELISCHER<br />

EISKAFFEE<br />

VARIANTE 1<br />

ZUTATEN:<br />

Milcheiswürfel,<br />

erkalteter Kaffee,<br />

Dattelhonig oder Ahornsirup<br />

zum Süßen<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Zwei Eiswürfelformen mit Milch füllen<br />

(Sie können auch vegane Milchalternativen<br />

verwenden) und im Gefrierschrank<br />

gefrieren lassen. Für den<br />

Kaffee zwei Esslöffel Kaffee mit zwei<br />

Esslöffeln kochendem Wasser aufbrühen<br />

und auskühlen lassen. Milcheiswürfel,<br />

erkalteten Kaffee und Dattelhonig<br />

(Menge nach persönlicher<br />

Süßvorliebe) im Mixer zu einer cremigen<br />

Masse mixen. Sofort servieren.<br />

VARIANTE 2<br />

ZUTATEN:<br />

1 ½ Tasse Wasser,<br />

2 Esslöffel Instant-Kaffeecups,<br />

⅓ Tasse Milch,<br />

1 bis 2 EL Zucker<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Instant-Kaffee in einem Glas unter<br />

Rühren vollständig im Wasser auflösen.<br />

Kaffee in eine Eiswürfelform füllen<br />

und im Gefrierschrank gefrieren<br />

lassen. 4 bis 5 Kaffeeeiswürfel mit der<br />

Milch und dem Zucker im Mixer mixen.<br />

Sofort servieren.<br />

Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion,<br />

in Israel gibt es an jeder Straßenecke Schnitzel –<br />

am Teller, in der Semmel oder in einer Pita. Mir<br />

schmeckt es dort ja fast besser als in seiner/meiner<br />

Heimat Wien. Irgendwas ist an der Panade<br />

anders. Kennen Sie das Geheimnis?<br />

Daniel W.<br />

Gelernte Österreicher:innen erstaunt<br />

das immer ein bisschen: Aber tatsächlich<br />

ist das Schnitzel so etwas wie ein Nationalgericht<br />

in Israel. Und als solches wurde<br />

es nach seinem Import aus der alten Heimat<br />

natürlich auch etwas adaptiert. Da Kalbfleisch<br />

in Israel eher schwer zu bekommen<br />

und auch recht teuer ist, werden meist das<br />

günstigere Huhn oder Truthahn in Öl gebraten.<br />

Den Geschmacksunterschied bei<br />

der Panade erklärt dies freilich nicht. Wir<br />

vermuten, dass es Sesamkörner waren, die<br />

Sie da begeistert haben. Viele Israelis mischen<br />

sie gern in den Paniermehlüberzug.<br />

So wird’s extra knusprig. Eventuell wurde<br />

auch Matzenmehl verwendet oder japanisches<br />

Paniermehl (Panko), gemischt mit<br />

Chilli-, Paprika- und oder Knoblauchpulver?<br />

Hier können wir auch nur spekulieren.<br />

Jede Familie hat da ihr eigene (Würz-)<br />

Mischung.<br />

Übrigens: Den Rest Paniermehl und<br />

Ei, der nach dem Baden des Schnitzels oft<br />

übrigbleibt, muss man nicht wegschmeißen.<br />

Einfach zusammenrühren,<br />

ein wenig ruhen lassen<br />

und dann dünne „Laberln“ davon<br />

braten. Und wenn Sie’s schon mögen:<br />

Mischen Sie hier einfach auch ein paar Sesamkörner<br />

unter.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle<br />

Fragen haben, schicken Sie sie bitte an:<br />

office@jmv-wien.at,<br />

Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at<br />

41


Jüdische Geschichte in Mähren<br />

Jüdischer Friedhof in der Innenstadt<br />

Mikulov – ein historisches<br />

Juwel vor der Haustür Wiens<br />

Der jüdische Friedhof von Mikulov/Nikolsburg wurde<br />

Mitte des 15. Jahrhunderts angelegt. Der faszinierende<br />

„ewige Garten“ bietet nun für eine geflüchtete Ukrainerin<br />

und ihren Sohn neue Hoffnung.<br />

Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert,<br />

Fotos: Reinhard Engel<br />

Ob sich das Bürgermeister Moriz<br />

Abeles, Johanna Auerschitz<br />

oder Leon Eisler je hätten vorstellen<br />

können? Dass nämlich<br />

der jüdische Friedhof im tschechischen<br />

Mikulov/Nikolsburg, wo sie seit mehr als<br />

110 Jahren begraben sind, im Sommer<br />

<strong>2022</strong> von Daria, die aus dem immer noch<br />

andauernden Ukraine-Krieg geflüchtet<br />

ist, beaufsichtigt wird. Es ist einer der<br />

größten und bedeutendsten jüdischen<br />

Friedhöfe Tschechiens, der Mitte des 15.<br />

Jahrhunderts angelegt und bis zur Zerstörung<br />

der jüdischen Gemeinden in der<br />

Shoah genutzt wurde. Auf der zwei Hektar<br />

großen hügeligen Grünfläche befinden<br />

sich etwa 4.400 Grabsteine.<br />

Die 42-jährige Daria, Mutter eines<br />

13-jährigen Buben, ist vor zwei Monaten<br />

aus Krementschuk – etwa 300 Kilometer<br />

südöstlich von Kiew – geflohen<br />

und musste ihre Eltern und schwangere<br />

Schwester dort zurücklassen. „Ich habe in<br />

der Logistikabteilung der Raffinerie gearbeitet,<br />

auf die sind neun Raketen eingeschlagen“,<br />

erzählt sie in einfachem Englisch.<br />

Daria sitzt im Eingangsbereich des<br />

Friedhofs in einem Gebäude, das der bekannte<br />

mährisch-jüdische Architekt Max<br />

Fleischer (Prossnitz 1841 – Wien 1905) bei<br />

einer der letzten Erweiterungen des Friedhofs<br />

im späten 19. Jahrhundert im eklektischen<br />

Stil als Teil der Zeremonienhalle erbaut<br />

hat. Hier kassiert sie 50 tschechische<br />

Kronen (rund zwei Euro) für den Eintritt<br />

in einen paradiesischen<br />

verzauberten Garten, der<br />

die vielschichtige und bedeutende<br />

jüdische Vergangenheit<br />

Mährens nur erahnen<br />

lässt.<br />

Über drei Jahrhunderte<br />

hinweg galt die Stadt<br />

als kulturelles und geistiges<br />

Zentrum des mährischen<br />

Judentums. Die älteste<br />

Nachricht über Juden<br />

in Nikolsburg stammt aus<br />

dem Jahre 1369 und bezieht<br />

sich auf eine Schuldnerliste, in der<br />

der Jude Efrom – nur auf der Durchreise<br />

– genannt ist. Erstmalig siedelten sich jüdische<br />

Familien aus Niederösterreich<br />

und Wien ab 1421 in Nikolsburg an: Herzog<br />

Albrecht V. betrieb ihre Vertreibung.<br />

Den ersten Zufluchtsort fanden sie nahe<br />

der Grenze, nur 99 Kilometer von Wien<br />

entfernt, auf dem Handelsweg von Wien<br />

nach Brünn. In Nikolsburg standen sie<br />

unter dem Schutz der Fürsten von Liechtenstein.<br />

Weitere jüdische Ansiedler kamen<br />

1454 infolge der Ausweisungen aus<br />

den königlichen Städten Mährens. Die Gemeinde<br />

erlangte ab 1575 mehr Bedeutung,<br />

als Kardinal Franz Xaver von Dietrichstein<br />

die Juden schützte, weil er ihre Steuern für<br />

seinen Einsatz im Dreißigjährigen Krieg<br />

benötigte.<br />

Hier erkannte man den wirtschaftlichen<br />

Vorteil der Juden für die Stadt – ne-<br />

Die Volkszählung<br />

von 1754<br />

ergab, dass<br />

die jüdische<br />

Bevölkerung<br />

mit etwa<br />

3.000 Seelen<br />

die Hälfte der<br />

Einwohner von<br />

Mikulov ausmachte.<br />

ben dem Handel war es schließlich das<br />

Handwerk, das wesentlich zur Blütezeit<br />

beigetragen hat. So wurde Mikulov allmählich<br />

zum Zentrum der mährischen<br />

Juden und ab 1653 zum Sitz der Landesrabbiner.<br />

Der berühmteste unter ihnen<br />

amtierte hier von 1553 bis 1573: Rabbi Judah<br />

Löw, auch als Maharal bekannt (Abkürzung<br />

für Moreinu ha-Rav Loew – Unser<br />

Lehrer Rabbi Loew), ist am Prager Friedhof<br />

begraben. Ihm wird der Legende nach<br />

die Erschaffung des Golem* zugeschrieben.<br />

In seinem ehemaligen Wohnhaus<br />

ist heute das Restaurant Marcel untergebracht.<br />

Weitere gelehrte<br />

Rabbiner waren Menachem<br />

Mendel Krochmal<br />

(1648–1661), David Oppenheim<br />

(1689–1708) sowie Samuel<br />

Schmelke Horowitz<br />

(1774–1778). Die lokale Je-<br />

shiwa (Religionsschule)<br />

genoss großes Ansehen in<br />

ganz Europa.<br />

Die jüdischen Familien<br />

wohnten an der Westseite<br />

des Schlosshügels, so entstand<br />

später hier das jüdische<br />

Viertel. Eine Reihe<br />

von Katastrophen mussten<br />

die Juden erleiden: 1719 vernichtete<br />

ein Großfeuer fast das gesamte Viertel,<br />

zudem wurde der Besitz der obdachlos<br />

gewordenen Bewohner noch geplündert.<br />

Erst viele Jahre später wurde den Juden<br />

der Wiederaufbau ihrer Häuser gestattet.<br />

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />

zählte die Gemeinde von Mikulov mehr<br />

als 600 Familien und bildete die größte<br />

jüdische Niederlassung in Mähren. Die<br />

von Kaiserin Maria Theresia angeordnete<br />

Volkszählung von 1754 ergab, dass die jüdische<br />

Bevölkerung mit etwa 3.000 Seelen<br />

die Hälfte der Einwohner von Mikulov<br />

ausmachte. Aus dem Mikulov-Ghetto<br />

entstammen einige bekannte Persönlichkeiten,<br />

wie Joseph von Sonnenfels (1733–<br />

1817), Professor für Staats- und Rechtswissenschaften<br />

an der Universität Wien<br />

und einflussreicher Berater Kaiserin Maria<br />

Theresias.<br />

Der Schloss Mikulov befindet<br />

sich in direkter Nähe des<br />

Stadtzentrums.<br />

Historische Zdaka<br />

(Spendenbox) aus der<br />

Synagoge.<br />

Der jüdische Friedhof<br />

in Mikulov wurde im 15.<br />

Jahrhundert angelegt.<br />

Auf einer Fläche<br />

von fast 20.000 m²<br />

stehen weit über 4.000<br />

Grabsteine aus drei<br />

Jahrhunderten.<br />

* Der Golem ist ab dem frühen Mittelalter in Mitteleuropa die Bezeichnung für eine<br />

Figur der jüdischen Literatur und Mystik. Dabei handelt es sich um ein von Weisen<br />

mittels Buchstabenmystik aus Lehm gebildetes stummes, menschenähnliches<br />

Wesen, das oft gewaltige Größe und Kraft besitzt und Aufträge ausführen kann.<br />

** Die Bima (hebräisch für Bühne) ist der Platz in einer Synagoge, von dem aus die<br />

Tora während des Gottesdienstes verlesen wird.<br />

42 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

43


Bis 1938 wurde hier gebetet<br />

Die Überreste einer Mikwe<br />

(rituelles Tauchbad), um 1800<br />

errichtet, wurden im Jahr 2004<br />

während einer archäologischen<br />

Untersuchung auf dem ehemaligen<br />

Gelände des jüdischen<br />

Viertels in Mikulov entdeckt.<br />

Das älteste noch bestehende jüdische<br />

Heiligtum ist die Obere<br />

Synagoge (auch Alte Synagoge<br />

genannt) in der Hus-Straße<br />

(Husova), sie stammt aus dem<br />

Jahre 1550 und war ursprünglich<br />

ein Renaissancebauwerk.<br />

Ihr heutiges Aussehen erhielt<br />

sie nach mehreren Umbauten, vor allem<br />

nach den Zerstörungen durch Brände im<br />

jüdischen Viertel von Mikulov in den Jahren<br />

1561 und 1719. Nach dem zweiten Feuer<br />

wurde sie im Stil des Barock umgebaut.<br />

Bedingt durch die Straßenführung und<br />

religiöse Erfordernisse (Toraschrein an<br />

der Ostwand) hat das Gebäude einen rautenförmigen<br />

Grundriss. Die Bima** befindet<br />

sich in der Mitte des Raumes zwischen<br />

vier Säulen, deren Baldachin wiederum<br />

die Decke abstützt. Dieses Konzept hatte<br />

sich in der polnisch-litauischen Adelsrepublik<br />

ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />

als ein baugeschichtlich völlig<br />

neuartiger Aufbau einer Synagoge entwickelt.<br />

Bis 1938 wurde hier noch gebetet.<br />

Ein ewiger Garten in der Innenstadt. Im<br />

Jahre 1938 zählte Mikulov etwa 8.000<br />

Einwohner, davon 472 Juden. Von diesen<br />

Der Rundgang<br />

auf dem jüdischen<br />

Friedhof<br />

von Mikulov<br />

kann eine<br />

Stunde dauern<br />

oder einen<br />

ganzen Tag.<br />

Die Bima<br />

in der Synagoge<br />

von<br />

Mikulov: Bis<br />

1938 wurde<br />

hier noch<br />

gebetet.<br />

konnten 110 ins Ausland<br />

fliehen, 327 überlebten<br />

die Shoah nicht. Damit war<br />

das Ende der jüdischen Gemeinde<br />

in Nikolsburg besiegelt.<br />

Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg als Lagerraum<br />

genutzt, sollte das Gotteshaus<br />

abgerissen werden.<br />

Ende der 1970er-Jahre begann<br />

man dennoch mit<br />

einer umfassenden Sanierung,<br />

die 1989 abgeschlossen<br />

wurde. Heute wird das<br />

Gebäude vom Regionalmuseum<br />

Mikulov genutzt.<br />

Wer heute durch Mikulov mit seinen knapp<br />

7.500 Einwohnern spaziert, findet ein gepflegtes,<br />

sauberes Städtchen vor: Die Häuser<br />

am Hauptplatz, aber auch in den Nebengassen<br />

sind frisch gestrichen und bunt herausgeputzt.<br />

Die Attraktion, um die sich hier alles<br />

dreht, ist das Schloss Mikulov. Es befindet sich<br />

an der Stelle einer slawischen Siedlung, an der<br />

seit Ende des 13. Jahrhunderts eine steinerne<br />

Burg stand. Die Burg erweiterten später die<br />

Herren von Liechtenstein, das heutige Aussehen<br />

erhielt sie durch einen großzügigen Umbau<br />

in den Jahren 1719 bis 1730 unter den Fürsten<br />

von Dietrichstein, die das Schloss im 16.<br />

Jahrhundert erworben hatten. Während des<br />

Preußisch-Österreichischen Krieges von 1866<br />

war das Schloss das Hauptquartier des preußischen<br />

Königs Wilhelm I. und des preußischen<br />

Kanzlers Otto von Bismarck sowie des Generalstabs.<br />

Hier wurde am 26. <strong>Juli</strong> 1866 der Vor-<br />

frieden von Nikolsburg zwischen Preußen<br />

und Österreich geschlossen. Im April 1945<br />

brannte das Schloss infolge von Kampfhandlungen<br />

aus. Heute dient es als Regionalmuseum.<br />

Die Krönung eines Ausflugs nach Mikulov<br />

– nicht nur für jüdische Besucher<br />

– bildet der weltweit bekannte, einzigartige<br />

Friedhof, der sich am nordwestlichen<br />

Rande des ehemaligen jüdischen Viertels<br />

befindet. Allein die Tatsache, dass er in der<br />

Innenstadt liegt, zeugt von seinem Alter. Er<br />

wurde zweifellos kurz nach der Gründung<br />

der jüdischen Gemeinde angelegt, irgendwann<br />

in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts,<br />

und behielt seine ursprüngliche<br />

Lage. Der älteste lesbare Grabstein ist<br />

für Samuel ben Leb Aschkenazi aus dem<br />

Jahr 1605, noch ältere Gräber sind verwittert<br />

und nicht mehr zu entziffern. Das<br />

Faszinierende an diesem „ewigen Garten“<br />

ist vor allem die Vielfalt der Grabsteine,<br />

sowohl vom Material (von Sandstein bis<br />

Marmor) wie auch von der Gestaltung des<br />

Ortes her: Es gibt keine Wege zu den einzelnen<br />

Gräbern, und sie sind auch nicht<br />

zeitlich geordnet. Steine aus dem 16. Jahrhundert<br />

stehen schief und halb versunken<br />

neben Grabmälern aus dem frühen<br />

20. Jahrhundert, die protzig in den Himmel<br />

ragen. Der historisch interessanteste<br />

Teil ist der sogenannte „Rabbinerhügel“,<br />

wo fast alle mährischen Rabbiner über<br />

fünf Jahrhunderte begraben wurden.<br />

Auch der jüngeren historischen Ereignisse<br />

wird hier gedacht: Ein großes, halbrundes<br />

Denkmal erinnert an die 25 jüdischen<br />

Opfer des Ersten Weltkrieges, ein viel<br />

bescheideneres Monument soll die Ermordung<br />

von 21 jüdischen Häftlinge aus Ungarn<br />

unvergessen machen, die in Mikulov<br />

am Ende des Zweiten Weltkrieges von<br />

deutschen Nazis erschossen wurden. Der<br />

Rundgang auf dem jüdischen Friedhof von<br />

Mikulov/Nikolsburg kann eine Stunde dauern<br />

oder einen ganzen Tag, und man kann<br />

immer wieder kommen und Neues entdecken.<br />

Etwas erschöpft, aber beseelt vom Erlebten<br />

beendet man den Zittergang durch<br />

Wildwuchs, Büsche, Erdbeersträucher<br />

und grasbedeckte Fallen. Daria sitzt noch<br />

immer im Friedhofsbüro. Tschechische<br />

Sprach- und jüdische Geschichtsbücher<br />

liegen offen übereinander auf dem Tisch:<br />

Sie konzentriert sich auf ihr so unerwartet<br />

neues Leben. In ihrer Heimat tobt der<br />

Krieg, hier aber liegen hinter ihr Jahrhunderte,<br />

die von der Geschichte eines Volkes<br />

erzählen, dass immer wieder unter Kriegen<br />

und Verfolgung gelitten hat.<br />

44 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


Alles so bunt hier<br />

Eine Milton-Avery-Retrospektive in London<br />

präsentiert den US-Maler erstmals in Europa<br />

Sie suchen noch eine knifflige Frage für die Millionenshow?<br />

Wie wäre es mit: Wer war Milton<br />

Avery? Das dürften selbst Scharen promovierter<br />

Kunsthistoriker:innen nicht beantworten können. Vor<br />

allem, wenn sie aus Europa stammen. Denn der USamerikanische<br />

Maler, geboren 1885 und gestorben<br />

1965, erhält erst jetzt, fast 50 Jahre nach seinem Tod,<br />

seine erste große transatlantische Retrospektive. In der<br />

Royal Academy zu London sind bis 16. Oktober 70 Arbeiten<br />

von ihm zu sehen.<br />

Es ist eine ganz erstaunliche Kunstschau. Denn wie<br />

sonst recht eigentlich nur beim Niederländer<br />

Piet Mondrian ist bei und<br />

mit Avery, der erst mit 30 Jahren ein<br />

Gemälde öffentlich ausstellen konnte<br />

und sich zehn Jahre später endgültig<br />

in New York niederließ, die Entwicklung<br />

von einem an Landschaftsmotiven<br />

sich orientierenden, talentiert exekutierten<br />

Postimpressionismus zu<br />

einem farbstarken abstrakten Expressionismus<br />

zu verfolgen. Mit seinem berückenden<br />

Kolorismus war der umgängliche<br />

Maler zugleich Ziehvater und<br />

Inspirator für die eine Generation Jüngeren<br />

wie Mark Rothko; ein weiteres<br />

Echo ließe sich, betrachtet man Averys<br />

Badende, deutlich bei Alex Katz finden.<br />

A.K.<br />

MILTON AVERY, AMERICAN COLOURIST<br />

Royal Academy of Art, London<br />

bis 16. Oktober <strong>2022</strong><br />

royalacademy.org.uk<br />

Postimpressionist bis<br />

abstrakter Expressionist:<br />

Milton Avery, Seated Girl<br />

with Dog, 1944.<br />

Die Taylor, fotografiert<br />

von Helmut Newton in<br />

Los Angeles für Vanity<br />

Fair, 1985.<br />

Alles so<br />

filmisch hier<br />

Hollywood: Das Berliner Museum<br />

für Fotografie zeigt Fotos von Newton,<br />

Morath, Leibovitz und anderen<br />

Natürlich darf Newtons Foto von Elizabeth<br />

Taylor im Pool mit grünem Papagei<br />

aus dem Jahr 1985 nicht fehlen. Schließlich<br />

ist der Kern der Ausstellungsaktivitäten<br />

des Museums für Fotografie in Berlin das<br />

große Werk von Helmut Newton. In Hollywood<br />

wird bis 20. November Hollywood<br />

präsentiert, durch die Augen und Kameralinsen<br />

von Newton, Inge Morath und <strong>Juli</strong>us<br />

Shulman, Annie Leibovitz und George Hoyningen-Huene,<br />

von Steve Schapiro, Alice<br />

Springs, Eve Arnold oder Anton Corbijn.<br />

So unterschiedlich die Stile und Manierismen, so eindringlich<br />

sind die Aufnahmen aus fast einhundert Jahren.<br />

Man sieht Schauspielerinnen und Schauspieler. Entweder<br />

am Set – noch immer großartig, wie Eve Arnold die hochkonzentrierte<br />

Marilyn Monroe bei The Misfit einfing. Oder<br />

ausgefuchst inszeniert bei Helmut Newton. Anders Anton<br />

Corbijn, der in Schwarz-Weiß eine sinnierende Marianne<br />

Faithfull zeigt oder jede Falte von Clint Eastwood.<br />

Schön auch, dass der fotografische Blick über Filmstars<br />

hinausgeht – auf die Stadt, auf Häuser, bei Shulman und,<br />

ganz anders, bei Michael Dressel – oder hin zu Street<br />

Photography, die zwischen Raffinesse und Elend oszilliert.<br />

A.K.<br />

HOLLYWOOD<br />

Museum für Fotografie, Berlin<br />

bis 20. November <strong>2022</strong><br />

smb.museum<br />

MUSIKTIPPS<br />

ORLOWSKY<br />

Viele bedauerten, dass David Orlowsky<br />

(Paris-Odessa) 2019 sein<br />

langjähriges Trio auflöste. Nun hat der Klarinettist<br />

aus Tübingen einen feinen Mit- und Gegenspieler<br />

gefunden, den Lautisten David Bergmüller.<br />

Klarinette und Laute, bitte wie, bitte was? Und<br />

dann noch Eigenkompositionen, die sich zu Henry<br />

Purcells Dido’s Lament gesellen, zu John Dowland,<br />

Kapsberger und Thomas Prestons La Mi Re? Aber<br />

ja! Alter Ego (Warner) ist mitreißend und meditativ.<br />

Klug und ergreifend musikempathisch.<br />

GÖTZ<br />

Das klingt nach Desaster. Da montierte<br />

2021 Christian von Götz für<br />

die Oper Köln viele Songs aus New Yorker jiddischen<br />

Operetten, komponiert zwischen 1900 und<br />

1920, legte sie der uralten Lea Singer in den Mund,<br />

der in der Nacht zu Pessach Erinnerungsgeister erscheinen,<br />

Ahnen wie einstige Verehrer. Aber: Dalia<br />

Schaechter als Lea, die Diva an der Schwelle des Todes,<br />

war ein Ereignis! Nachzuhören ist die hinreißende<br />

„musikalische Farce“ (warum: Farce?) Mazeltov,<br />

Rachel’e (Ars) nun auf Silberling.<br />

HAMPSON<br />

2006 gab Thomas Hampson während<br />

der Salzburger Festspiele einen<br />

Liederabend. Und vielleicht war Verfolgt – verbannt<br />

(Orfeo) einer der besten Auftritte des amerikanischen<br />

Baritons. Einer der zu Recht höchstgelobten.<br />

Und einer der intelligentesten. Die in Diktaturen verfemten,<br />

vertriebenen Lieder von Schönberg, Mahler<br />

und Giacomo Meyerbeer, von Mendelssohn und<br />

Zemlinsky, Berg und Zeisl wirken anno <strong>2022</strong> noch<br />

ergreifender. Jetzt ist die CD zum Sonderpreis zu haben<br />

und ein diskografisches must hear. A.K.<br />

© 2021 Milton Avery Trust / Artists Rights Society (ARS), New York and DACS, London 2021. Foto: Jim Frank; © Helmut Newton Foundation<br />

wına-magazin.at<br />

45


Eine andere Perspektive einnehmen<br />

INTERVIEW MIT DAN DINER <br />

„Es hätte auch<br />

ganz anders<br />

kommen können“<br />

WINA: Wenn man Ihr Buch in Zusammenhang mit<br />

Ihren biografischen Daten bringt, kommt man zu<br />

dem Schluss, dass wohl nur Sie diese beiden Perspektiven<br />

auf den Zweiten Weltkrieg zwischen Europa<br />

und dem Raum der Levante in eine Gesamtschau<br />

bringen konnten. Inwieweit hat Ihr Lebenslauf zwischen<br />

Deutschland und Israel Ihr Werk bestimmt?<br />

Dan Diner: Nicht mein Lebenslauf hat die<br />

Struktur meines Werkes bestimmt, sondern vielmehr<br />

der Lebenslauf meiner Eltern, der ja wiederum<br />

als Erinnerungskontext für mich und meine Interessen<br />

relevant ist. Gleichzeitig mit der Geschichte<br />

meiner Eltern ist es aber eine jüdische Kollektivgeschichte.<br />

Meine Eltern sind aus Osteuropa, waren<br />

während des Krieges in der Sowjetunion, sind<br />

dann nach Westen und danach nach Israel. Die Wegstrecken<br />

vieler überlebender Juden, die nicht<br />

unmittelbar deutscher Herrschaft unterworfen<br />

waren, sind die Wegstrecken meiner Eltern<br />

gewesen, und mir haben sich schon seit früher<br />

Kindheit diese Muster eingeprägt. Und so<br />

ist dieses Buch auch als eine jüdische Kollektivbiografie<br />

entstanden.<br />

In seiner spannenden Geschichtsanalyse<br />

Ein anderer Krieg betrachtet der<br />

deutsch-israelische Historiker Dan<br />

Diner den Zweiten Weltkrieg aus der<br />

Perspektive des jüdischen Palästina<br />

und erzählt von den vielen Zufälligkeiten<br />

der Ereignisse. Auf Einladung des<br />

Centers for Israel Studies Vienna war<br />

er in Wien zu Gast. Ein Gespräch über<br />

Vergangenheiten, das mit einem düsteren<br />

Blick auf die Gegenwart endet.<br />

Interview: Anita Pollak.<br />

Dan Diner:<br />

Ein anderer Krieg. Das<br />

jüdische Palästina und<br />

der Zweite Weltkrieg.<br />

DVA Verlag 2021,<br />

352 S., € 35<br />

Auch wenn man als Historiker um Objektivität bemüht<br />

sein muss, gibt es wohl immer noch einen<br />

subjektiven Zugang zu Kriegen und Konflikten vor<br />

allem der jüngeren Vergangenheit. Wie sehen Sie<br />

das?<br />

I Mit Sicherheit identifiziert man sich mit den<br />

Alliierten gegen Hitlerdeutschland. Meine Geschichte<br />

ist eine der jüdischen Flüchtlinge, die<br />

nach Palästina gekommen sind, es ist keine zionistisch<br />

erzählte Geschichte. Es beleuchtet viele Zufälligkeiten,<br />

die mit den Ereignissen des Zweiten<br />

Weltkriegs in Verbindung stehen, und insofern ist<br />

das Element der Zufälligkeit das eigentliche Thema.<br />

Das heißt, es musste nicht so kommen, die Wahrscheinlichkeit<br />

war größer, dass es anders hätte kommen<br />

können.<br />

In welchem Sinn anders?<br />

I Vielleicht in dem Sinn, dass der Yishuv (Anm.:<br />

das jüdische Gemeinwesen vor der Staatsgründung<br />

1948) den Krieg nicht überstanden hätte.<br />

Es war ja nah dran. Und dieses „nah dran“ ist<br />

das eigentliche Thema.<br />

© Wikipedia/ Dontworry; Amazon<br />

DAN DINER<br />

wurde 1946 als Kind polnisch-litauischer Eltern<br />

in einem Displaced-Person-Lager in München<br />

geboren. 1949 wanderte die Familie nach Israel<br />

aus und emigrierte 1954 nach Deutschland,<br />

wo Diner studierte und sich habilitierte. Nach<br />

diversen Lehrstühlen in Europa und in Israel<br />

leitete er an der Universität von Tel Aviv das<br />

Institut für deutsche Geschichte, war von 1999<br />

bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts<br />

für jüdische Geschichte an der Universität<br />

Leipzig und lehrt seit 2014 an der Hebräischen<br />

Universität Jerusalem moderne Geschichte. Er<br />

lebt in Israel und Berlin.<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Ihnen<br />

geschilderte Panik, die die Zionisten ergriff, als sie den<br />

Krieg bzw. die Front näher kommen sahen, bis hin zu Ideen<br />

eines kollektiven Selbstmords à la Masada. Wo muss man<br />

stehen, um einen Perspektivenwechsel weg vom eurozentristischen<br />

Weltbild vornehmen zu können?<br />

I Die Gedächtnisgeografie und die politische Geografie<br />

sind hier entscheidend. Mein Blick unterscheidet<br />

sich von den üblich eingenommenen Blickwinkeln<br />

insofern, als ich davon ausgehe, dass Palästina über<br />

das Mittelmeer von Europa nicht erreichbar war. Das<br />

Mittelmeer war ein geschlossenes Kriegsgebiet. Um<br />

Entwicklungen in diesem Gebiet zu erkennen, muss<br />

man den Blick von Asien her bzw. vom<br />

Zentralbereich des britischen Empires,<br />

dem Indischen Ozean, einnehmen, ein<br />

Blick von Süden nach Norden und weniger<br />

von Westen nach Osten. Palästina hat<br />

sich am nordwestlichen Zipfel einer britischen<br />

Verteidigungszone befunden, die<br />

sich um das asiatische Empire gelegt hat.<br />

Diese Perspektive macht es möglich, die<br />

Realität, die sich damals abgespielt hat,<br />

angemessen zu verstehen.<br />

Für Nichthistoriker ist sicherlich sehr vieles neu<br />

und überraschend. Unter anderem, wie sich<br />

die damaligen Zionisten und späteren Staatsgründer<br />

im Holocaust den Juden der Diaspora<br />

gegenüber verhalten haben. Wie sieht man das heute in<br />

der israelischen Geschichtsschreibung?<br />

I Vor 20, 30 Jahren war das ein sehr wichtiges Thema,<br />

wie sich der Yishuv dem Holocaust gegenüber verhalten<br />

hat, inzwischen ist die Diskussion darüber<br />

eher abgeklungen. Ich verstehe mein Buch im Abklang<br />

dieser eher erregten Diskussion der 1980erund<br />

1990er-Jahre, indem ich keine Schuldzuweisung<br />

vornehme, sondern einfach über die Topografie des<br />

Krieges zu erklären versuche, wie man in die Lage<br />

geraten ist, etwas nicht wahrzunehmen. Zwei verschiedene<br />

Dinge, die auch im Buch eine Rolle spielen,<br />

sind dabei wichtig. Das eine, dass auch für die<br />

säkularsten Juden das Land, Eretz Israel, von etwas<br />

Sakralem durchdrungen ist, als ein Ort, der Rettung,<br />

der Errettung, verheißt. Dieser Begriff wandelt sich<br />

im Hebräischen in den späten 1930er-, 1940er-Jahren.<br />

Errettung war etwas Spirituelles und wird später<br />

zu etwas Physischem, weil man tatsächlich im Land<br />

vor dem Schlimmsten bewahrt wurde, aber nicht<br />

vom Land selbst, sondern von der britischen Armee,<br />

die Rommel den Weg nach Palästina verstellt hat.<br />

Zweitens muss man den Zweiten Weltkrieg als globalen<br />

Krieg sehen, um zu verstehen, warum es den<br />

Achsenmächten nicht gelungen ist, Palästina zu erreichen.<br />

Etwa bis tief in den Indischen Ozean, nach<br />

Asien schauen, um zu begreifen, dass diese Lage des<br />

Ortes im nordwestlichen Zipfel der britischen Verteidigung<br />

das eigentlich Entscheidende gewesen ist.<br />

Es ist natürlich psychisch schwer zu ertragen, dass<br />

das die Gründe sind, weil man dem Land mehr an<br />

Bedeutung zuweist, als es tatsächlich hatte. Das ist<br />

aber auch die kritische Absicht, die ich mit diesem<br />

Buch verfolgt habe.<br />

„Mit dem<br />

Mauerfall<br />

und der<br />

Auflösung der<br />

Sowjetunion<br />

haben wir die<br />

Implosion<br />

gesehen, aber<br />

der Knall<br />

erreicht uns<br />

erst jetzt, 30<br />

Jahre später.“<br />

46 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

47


Die Gegenwart verstehen lernen<br />

Viele beschriebene Details sind weitgehend unbekannt,<br />

z. B. die faszinierende Geschichte der s.g. „Anders-Armee“,<br />

eine polnische Exilarmee, der auch Menachem Begin angehörte.<br />

Sie zeigt deutlich, dass der Antisemitismus auch<br />

dort wirksam war, wo man die Juden als Soldaten gebraucht<br />

hat. Der Antisemitismus als globales Phänomen<br />

zieht sich durch die von Ihnen beleuchteten Schauplätze<br />

abseits von Hitler-Deutschland, von Bagdad bis in die Sowjetunion.<br />

Ist er, von heute her gesehen, eine Konstante?<br />

I Ja und nein. Es gibt unterschiedliche Ausdrucksformen<br />

des Antisemitismus. In der Anders-Armee war<br />

es ein kulturell-religiöser Antisemitismus, aber auch<br />

ein polnisch-jüdischer Gegensatz, der mit der Politik<br />

in Polen zu tun hatte. Dann muss man unterscheiden<br />

zwischen dem Pogromantisemitismus im Irak,<br />

den ich beschreibe, einer Form des muslimischen<br />

Antijudaismus, und natürlich dem Nationalsozialismus,<br />

der auf Vernichtung aller Juden aus war. Dabei<br />

kommt es aber eher darauf an, die Unterschiede festzuhalten,<br />

als die Gemeinsamkeiten herauszustellen.<br />

Von Ihnen stammt ja der Terminus „Zivilisationsbruch“.<br />

Die Singularität der Shoah wird aber heute oft relativiert,<br />

sogar in Frage gestellt. Wie kann man da als Historiker im<br />

Diskurs wirksam werden?<br />

I Ich selbst habe das Wort von der Singularität nie<br />

verwendet, sondern immer auf die Besonderheit des<br />

Holocaust verwiesen, und unterscheide auch zwischen<br />

dem Allgemeinbegriff des Genozids und dem,<br />

was ich als den absoluten Genozid bezeichne, nämlich<br />

den Holocaust, das Vorhaben, das gesamte Judentum<br />

zu vernichten. Ich neige nicht dazu, in einen<br />

Diskurs der Meinungen und Behauptungen einzutreten,<br />

sondern würde als Historiker gern über die<br />

Einzelphänomene diskutieren, aber der Diskurs ist<br />

mittlerweile derartig kontaminiert, dass man sich<br />

da besser heraushält.<br />

Die Simultanität zeitgeschichtlicher Ereignisse zu erkennen,<br />

gelingt wahrscheinlich nur aus historischer Distanz.<br />

Das Jahrhundert verstehen hieß eines Ihrer Bücher aus<br />

dem Ende des 20. Jahrhunderts. Hilft dieses Verständnis<br />

auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts?<br />

Man kann Tendenzen vielleicht besser erkennen,<br />

man kann Bezüge aus der Vergangenheit in die Gegenwart<br />

ziehen und sie auch in die Zukunft projizieren.<br />

Es gibt Kontinuitäten und Diskontinuitäten, zum<br />

Beispiel wurde das Verhältnis zwischen Juden und Ukrainern<br />

in der Vergangenheit als äußerst schlecht angesehen,<br />

seit Jahrhunderten gab es dort immer wieder<br />

Pogrome an Juden, und jetzt vertritt Selenskyj als<br />

Jude die Ukraine, und zwar völlig unhinterfragt seitens<br />

der ukrainischen Bevölkerung. Auch das ukrainisch-polnische<br />

Verhältnis war schlecht, und heute<br />

gibt es so eine Art Völkerfreundschaft, also insofern<br />

ist es schwierig, sich auf die Vergangenheit zu berufen,<br />

um Gegenwärtiges zu verstehen. Aber Russland<br />

war früher ein Hort des Antisemitismus, und man hat<br />

„Auch für die<br />

säkularsten<br />

Juden ist Eretz<br />

Israel ein Ort,<br />

der Errettung<br />

verheißt.“<br />

heute den Eindruck, dass sich da wenig verändert hat.<br />

Ich würde die Geschichte nicht als Kompass benützen,<br />

sie ist hilfreich, um Wiederholungen zu erkennen,<br />

aber auch Veränderungen.<br />

Wir sind nun wieder mit strategischen und militär-technischen<br />

Termini konfrontiert, die wir längst vergessen<br />

durften. Sie beweisen in<br />

Ihrem Buch eine große<br />

Kenntnis der Militärgeschichte.<br />

Wie betrachten<br />

Sie mit diesem Wissen<br />

den Ukraine-Krieg?<br />

Es hat viel mit dem<br />

Kalten Krieg zu tun,<br />

in dem der Raum eine<br />

geringere Rolle spielte<br />

als die Zeit. Wie lange<br />

braucht eine Rakete,<br />

um von einem Ort zum<br />

anderen zu gelangen.<br />

Und deshalb waren<br />

die großen Konflikte<br />

damals Zeitkonflikte,<br />

die an einem bestimmten<br />

Tag begannen und<br />

an einem bestimmten<br />

Tag endeten, z. B.<br />

die Berlinkrise 1958, 1961, die Kuba-Krise 1962. Das<br />

war dem nuklearen Gegensatz geschuldet, entweder<br />

kommt es zu einem nuklearen Krieg oder es hört auf.<br />

Heute haben es wir mit sehr langfristigen, am Boden<br />

haftenden Konflikten zu tun, wo plötzlich Fragen<br />

der Geografie, der Topografie, der Bewegungen<br />

im Raum, Flüsse und Brücken eine Rolle spielen. Die<br />

Zeit des Krieges verlangsamt sich und dehnt sich aus.<br />

Das sind meiner Ansicht nach Zerfallskriege. 1989<br />

mit dem Mauerfall und 1991 mit der Auflösung der<br />

Sowjetunion, da haben wir die Implosion gesehen,<br />

aber der Knall erreicht uns erst jetzt, 30 Jahre später.<br />

Diese Verzögerung von 30 Jahren ist historisch<br />

nicht sehr viel, aber für ein Menschenleben schon. Es<br />

könnte sein, dass wir jetzt in eine Zeit hineingeraten,<br />

die man vielleicht mit dem Dreißigjährigen Krieg<br />

vergleichen kann, wo ganze Gemeinwesen auseinanderbrechen,<br />

Hungersnöte, Inflation usw., wovon<br />

wir in der Zeit des Kalten Krieges bewahrt geblieben<br />

waren. Insofern ist alles sehr schwer voraussehbar,<br />

aber der Historiker behilft sich dann immer mit Vergleichen<br />

aus der Vergangenheit.<br />

Ist Ihr neues Opus magnum auch auf Hebräisch erschienen,<br />

und welche Reaktionen erwarten Sie dort?<br />

Es wird auf Hebräisch erscheinen. Heute denke ich,<br />

es wird mit Interesse zur Kenntnis genommen werden,<br />

früher hätte ich erwartet, dass es eher als Skandalwerk<br />

angesehen worden wäre, denn ich begreife<br />

Israel nicht als ein Land der Erlösung, sondern als<br />

eine Heimat von Flüchtlingen. A Refugee Nation. Ich<br />

48 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


WINAERINNERT<br />

ZUM TOD DES SCHRIFTSTELLERS A. B. JEHOSHUA (1936–<strong>2022</strong>)<br />

Ein orientalischer Fabulierer<br />

und literarischer Meister<br />

Sein etwas jüngerer Freund Amos Oz ist ihm bereits vor wenigen Jahren<br />

vorausgegangen. Nun ist mit Abraham Gabriel Yehoshua auch der letzte große<br />

Erzähler der Gründergeneration Israels verstorben.<br />

Von Anita Pollak<br />

Ein alter Mann blickt zurück. Auf sein Leben, auf<br />

sein Schaffen, auf seine Beziehungen, auf<br />

sein Land. Bereits 2013 hat Abraham B.<br />

Yehoshua mit dem Roman Spanische Barmherzigkeit<br />

ein Alterswerk im wahrsten Wortsinn<br />

vorgelegt. 2019 folgte Der Tunnel, ein Hohelied<br />

auf die eheliche Liebe, gewidmet seiner<br />

2016 verstorbenen Frau Ika. Und gleichzeitig<br />

ein berührendes Zeugnis der Angst vor<br />

dem Verlust der Geisteskräfte, vor einer beginnenden<br />

Demenz. Erzählt mit leiser Selbstironie,<br />

deren Meister Jehoshua seit jeher war.<br />

Israelische Autoren sind, wenn eine solche Generalisierung<br />

zulässig ist, zumeist Geschichtenerzähler.<br />

Verknappung, Lakonie, Erzählökonomie findet man sogar<br />

bei Autor:innen der jüngeren Generation höchst selten.<br />

Als Sepharde, dessen Vater Orientalist und Übersetzer aus dem<br />

Arabischen war – die Familie ist seit mehreren Generationen in Jerusalem<br />

ansässig –, war A. B. Jehoshua überdies in der Tradition<br />

des orientalischen Erzählens verwurzelt. Ausufernd, abschweifend,<br />

in reichen Arabesken fabulierend, mäandert er in scheinbar<br />

unendlichen Nebenflüssen, die, kunstvoll die Spannung wahrend,<br />

letztlich in einem breiten Strom münden. Ein Könner eben.<br />

Mit seinem Generationenroman Die Manis, in der er auch seine<br />

eigene Familiengeschichte bis ins Griechenland des Jahres 1848<br />

vielstimmig in historischen Rückblenden fiktionalisiert, hat er<br />

früh seine Meisterschaft bewiesen. Romane wie Der Liebhaber, Späte<br />

Scheidung oder Die fünf Jahreszeichen des Molcho beleuchten individuelle<br />

Schicksale, die, stets ins Geschehen des Landes eingebettet,<br />

von Israel und seiner Geschichte nicht weggedacht werden können.<br />

Genauso wenig wie die Traditionen des biblischen, talmudischen<br />

Judentums, aus welcher der säkulare Autor ebenso schöpft<br />

wie sein bester Schriftstellerfreund Amos Oz.<br />

Im Familienroman Freundesfeuer erfährt ein Mann während der<br />

Chanukka-Woche unter anderem, dass sein greiser Vater einst für<br />

seine heimliche Geliebte in Jerusalem einen eigenen kleinen Lift<br />

auf ihr Dachgeschoß hat einbauen lassen und sein Neffe<br />

nicht durch Feindeshand gefallen war.<br />

Die Nachricht vom Tod seines einzigen Sohnes<br />

in einem Gefecht im Jordantal erhält ein einsamer<br />

alter Mann in der erschütternden Erzählung<br />

Frühsommer 1970.<br />

Liebe und Tod, die großen Themen der<br />

Literatur schlechthin, hat Jehoshua in seinen<br />

insgesamt elf Romanen, mehreren<br />

Erzählungen und Stücken vor dem zeitgeschichtlichen<br />

Hintergrund seiner Heimat in<br />

unterschiedlichsten Handlungsentwürfen empathisch<br />

variiert.<br />

Dafür ist er mit allen literarischen Preisen, die Israel<br />

zu vergeben hat, ausgezeichnet worden.<br />

Politisch war der Autor als Angehöriger linker Parteien lange in<br />

der Friedensbewegung und der Idee einer Zwei-Staaten-Lösung<br />

Zusammen mit Amos Oz, der ihm über<br />

Jahrzehnte ein enger Freund war, und<br />

David Grossmann bildete Yehoshua ein<br />

literarisches Trio, das weit über Israel<br />

hinausstrahlte. Peter Münch, SZ*<br />

engagiert, bevor er Letztere 2016 für tot erklärte und eine pragmatischere<br />

Form des Zusammenlebens beider Völker propagierte.<br />

Seine öffentliche Äußerung, dass ein volles jüdisches Leben nur<br />

in Israel möglich sein könne, sorgte, als Abwertung der Diaspora<br />

verstanden, vor allem in Amerika für Befremden.<br />

Am 14. Juni ist A. B. Yehoshua 85-jährig in Tel Aviv seinem<br />

Krebsleiden erlegen.<br />

„Sein Werk reflektierte uns in einem genauen, scharfen, liebevollen<br />

und manchmal schmerzlichen Spiegelbild“, würdigte ihn<br />

Israels Präsident Jitzchak Herzog.<br />

© Serge Attal / Visum / picturedesk.com * www.sueddeutsche.de/kultur/abraham-b-yehoshua-nachrufisrael-hebraeische-literatur-1.5603017<br />

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<strong>wina</strong> errinert_A.B.Yehushua_GRj_korrAH_END.indd 49 26.07.22 07:40


Vom Großbürgertum zur Kapitalismuskritik<br />

Das Jüdische an Benjamin<br />

Klingel schlug<br />

freundlicher an. Hinter<br />

der Schwelle dieser Wohnung<br />

war ich geborgener „Keine<br />

als selbst in der elterlichen. […] In ihrem<br />

Inneren saß die Großmutter […]. Wenn<br />

man die alte Dame auf ihrem teppichbelegten<br />

und mit einer kleinen Balustrade<br />

verzierten Erker, welcher auf den<br />

Blumeshof hinausging, besuchte, konnte<br />

man sich schwerlich denken, wie sie große<br />

Seefahrten oder gar Ausflüge in die Wüste<br />

unternommen hatte. Madonna di Campiglio<br />

und Brindisi, Westerland und Athen<br />

und von wo sonst sie auf ihren Reisen Ansichtskarten<br />

schickte.“<br />

Dieser kurze Abschnitt aus den Erinnerungen<br />

Berliner Kindheit um neunzehnhundert<br />

verweist bereits auf das gehobene soziale<br />

Umfeld des Buben. Walter Benedix<br />

Schoenflies Benjamin wurde am 15. <strong>Juli</strong><br />

1892 in Berlin in eine großbürgerliche,<br />

jüdische assimilierte Familie hineingeboren.<br />

Sein Vater Emil Benjamin hatte als<br />

Kunst- und Antiquitätenhändler ein beträchtliches<br />

Vermögen erwirtschaftet und<br />

bezeichnete sich zwar selbst noch als Kaufmann,<br />

heute würde man wohl ihn eher<br />

Investor nennen. Er widmete sich zunehmend<br />

wechselnden Beteiligungen an Firmen,<br />

die er dann wieder gewinnbringend<br />

verkaufte. Die geliebte Großmutter mütterlicherseits,<br />

der Benjamin seine spätere<br />

Reiselust verdankte, lebte ebenfalls in gut<br />

gepolsterten Verhältnissen, ihre Wohnung<br />

zählte – je nach Berichterstatter – zwölf bis<br />

14 Zimmer. Und auch ins Theater nahm<br />

sie den Enkel regelmäßig mit – literarische<br />

Grundausbildung inklusive. Ihre Seite der<br />

Familie hatte überdies schon eine Reihe<br />

von – getauften – jüdischen Professoren<br />

aufzuweisen, ob für klassische Archäologie<br />

oder für Mathematik.<br />

„Als wohl behütetes Großbürgerkind genoss<br />

der älteste Sohn der Familie zunächst<br />

Privatunterricht“, schreibt sein Biograf<br />

Momme Brodersen. „Erst mit fast neun<br />

Jahren kam er in eine öffentliche Anstalt:<br />

auf die Charlottenburger Kaiser-Friedrich-Schule<br />

am Savignyplatz.“ Doch das<br />

war nur von kurzer Dauer, der kränkelnde<br />

Walter wurde in ein Landerziehungsheim<br />

nach Thüringen – weit außerhalb der<br />

Großstadt – versetzt und lernte dort eine<br />

liberalere, tolerantere Umgebung kennen.<br />

Dazu trug wesentlich der Schulreformer<br />

Gustaf Wyneken bei, den Benjamin später<br />

im Studium wieder treffen sollte.<br />

Nach dem Abitur studierte er in Freiburg,<br />

in Berlin und dann in München<br />

eine Mischung aus Philosophie, Kunstgeschichte<br />

und Germanistik. Zwar hatte<br />

er sich zunächst der Stellung als Einjährig-Freiwilliger<br />

unterzogen, simulierte<br />

dann aber bei Kriegsausbruch 1914 einen<br />

„Zitterer“ und übersiedelte später in die<br />

Der Sammler<br />

in der Großstadt<br />

Vor 130 Jahren wurde in Berlin Walter Benjamin<br />

geboren. Er sollte zu einem führenden Intellektuellen<br />

der Zeit zwischen den Kriegen werden – und nahm<br />

sich auf der Flucht vor den Nazis an der französischspanischen<br />

Grenze das Leben.<br />

Von Reinhard Engel<br />

„Der Kapitalismus dient essentiell<br />

der Befriedigung derselben<br />

Sorgen, Qualen, Unruhen, auf<br />

die ehemals die so genannten<br />

Religionen Antwort gaben.“<br />

Walter Benjamin<br />

Schweiz, nach Bern, wo er vor dem Eingezogen-Werden<br />

sicher war. Dort promovierte<br />

er dann 1917 mit einer Arbeit über<br />

die Kunstkritik in der deutschen Romantik.<br />

Und er heiratete eine Wienerin, Dora<br />

Kellner, die Tochter eines Anglisten und<br />

Freunds von Theodor Herzl. Dora war<br />

Journalistin und Autorin von Krimis, sie<br />

wurde in bekannten Zeitschriften gedruckt<br />

und redigierte das Modeblatt Die<br />

praktische Berlinerin. Das war für das Paar –<br />

mit einem kleinen Sohn – ökonomisch<br />

wichtig, viele Jahre lang bestritten die Einkünfte<br />

Doras den überwiegenden Teil der<br />

Lebenskosten.<br />

Denn Benjamin wollte zunächst eine<br />

wissenschaftliche Karriere einschlagen.<br />

Er versuchte sich an mehreren Universitäten<br />

zu habilitieren, schrieb auch über<br />

einen längeren Zeitraum an einer großen<br />

Arbeit. Doch 1925 wurde diese an der<br />

Universität Frankfurt abgelehnt. Sein Vater,<br />

der ihn immer wieder gedrängt hatte,<br />

sich einem lukrativen Beruf zuzuwenden,<br />

brach mit ihm, er musste anfangen, sich<br />

als freier Autor durchzuschlagen.<br />

Das sollte auch sein weiteres Leben<br />

bestimmen. Es gelang ihm, für durchaus<br />

angesehene Publikationen Beiträge zu<br />

liefern, etwa die Frankfurter Zeitung, das<br />

Berliner Tagblatt, die Literarische Welt, Der<br />

Querschnitt oder die Vossische Zeitung. Und<br />

er knüpfte Kontakte zu führenden Intellektuellen<br />

der Zeit, von Siegfried Kracauer<br />

bis Hugo von Hofmannsthal, von Filippo<br />

Marinetti bis André Gide und Bertolt<br />

Brecht. Zu diesem entwickelte sich eine<br />

Freundschaft, man plante sogar eine gemeinsame<br />

Zeitschrift, aus der aber dann<br />

nichts wurde.<br />

„Proletarische Mimikry des zerfallenden<br />

Bürgertums“. Benjamin begann – ganz<br />

nach dem Vorbild seiner Großmutter –<br />

zu reisen: nach Frankreich, nach Italien,<br />

nach Österreich, nach Norwegen oder Dä-<br />

© Austrian Archives / brandstaetter images / picturedesk.com<br />

nemark, wo Brecht ein Haus hatte. Und er<br />

begann, zusätzlich zu seinen Feuilleton-<br />

Artikeln längere Texte zu schreiben und<br />

auch zu übersetzen, etwa Werke von Marcel<br />

Proust oder Charles Baudelaire. In seinen<br />

Kritiken widmete er sich Karl Kraus,<br />

Ernst Jünger und Franz Kafka, er schrieb<br />

über den beispielhaften Großstadtroman<br />

von Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz,<br />

und er legte sich mit den damals populären<br />

Kollegen Erich Kästner und Kurt Tucholsky<br />

an.<br />

Benjamin war inzwischen politisiert<br />

worden – links, allerdings ohne je der<br />

Kommunistischen Partei beizutreten. In<br />

manchen der linken Schriftsteller sah er<br />

freilich bloß modische Salonsozialisten,<br />

die auf radikal machten, aber sich ihres<br />

ebenfalls bürgerlichen Publikums sicher<br />

waren: „Die linksradikalen Publizisten<br />

vom Schlage der Kästner, Mehring und<br />

Tucholsky sind die proletarische Mimikry<br />

des zerfallenden Bürgertums. Ihre Funktion<br />

ist, politisch betrachtet, nicht Parteien,<br />

sondern Cliquen, literarisch betrachtet,<br />

nicht Schulen, sondern Moden, ökonomisch<br />

betrachtet nicht Produzenten, son-<br />

dern Agenten hervorzubringen.“ Letzten<br />

Endes dienten sie der Zerstreuung, dem<br />

Amüsement, dem Konsum.<br />

Ein Besuch in der Sowjetunion, angeregt<br />

von seiner Geliebten, einer litauischen<br />

Kommunistin, bereitet ihm mehrere<br />

Enttäuschungen, sowohl, was eigene<br />

Publikationsmöglichkeiten betraf, wie<br />

auch die intellektuellen Einschränkungen<br />

des politischen Systems. Und doch<br />

werden für ihn politökonomische Themen<br />

immer wichtiger. So befasst er sich<br />

intensiv mit Theorien der Warenwelt, wie<br />

sie Karl Marx nur angerissen hatte, etwa<br />

wie aus Gebrauchsgegenständen durch<br />

Werbung und Präsentation „Rauschmittel“<br />

werden. Er wendet sich gegen Mainstream-Historiker,<br />

die immer nur die<br />

Sieger beschreiben, die Massen der unterdrückten<br />

Arbeiter oder Leibeigenen stets<br />

vernachlässigen. Er durchstreift – geistig<br />

und real – die Großstädte, vor allem Berlin<br />

und Paris, und philosophiert über das<br />

völlig neue, andere Lebensgefühl der anonymisierten<br />

Massen. Schließlich analysiert<br />

er neue Medien, hier vor allem den<br />

Film, von dem er sich auch politisch viel<br />

Benjamin und das<br />

Jüdische<br />

A<br />

ngeblich koexistierten in der Familie<br />

Benjamin jüdische Feiertage und der<br />

christliche Weihnachtsbaum. Von einer<br />

dezidiert jüdischen Ausbildung schreiben<br />

seine Biografen nichts, aber er dürfte unter<br />

all seiner umfassenden Lektüre auch<br />

die wichtigsten religiösen Schriften gelesen<br />

haben. Am Beginn seiner schriftstellerischen<br />

Tätigkeit, ehe er zum linken Materialisten<br />

wurde, finden sich von ihm sogar<br />

Texte mit mythischen Bezügen.<br />

Einer seiner wichtigsten Lebensmenschen<br />

war der jüdische Gelehrte Gerhard<br />

Gershom Scholem, den er 1915 kennen<br />

lernte und mit dem er bis zu seinem<br />

Tod 1940 befreundet blieb und einen regen<br />

– äußerst vielfältigen und intellektuell<br />

hoch stehenden – Briefwechsel unterhielt.<br />

Scholem war schon in den 1920er-Jahren<br />

überzeugt, dass die Assimilation der Juden<br />

in Deutschland gescheitert sei, und<br />

emigrierte folgerichtig nach Palästina.<br />

Dort arbeitete er erst als Bibliothekar, später<br />

als Professor für jüdische Mystik an der<br />

Hebräischen Universität in Jerusalem.<br />

Er wirkte auf Benjamin ein, ebenfalls<br />

nach Palästina zu kommen, und verschaffte<br />

ihm ein Stipendium einer jüdischen<br />

Organisation zum Hebräisch-Lernen.<br />

Benjamin nahm das Geld zwar an,<br />

brach aber die Sprachstunden bald darauf<br />

endgültig ab. Das trübte eine Zeit lang<br />

das Verhältnis zu Scholem.<br />

Jüdisches Denken findet sich bei Benjamin<br />

in seinen zahlreichen Schriften immer<br />

wieder, manchmal sogar in seltsamen,<br />

schwer verständlichen Kombinationen,<br />

etwa von historischer Entwicklung, revolutionärer<br />

Politik und messianischer Erlösung:<br />

„Der echte Begriff der Universalgeschichte<br />

ist ein messianischer. Die<br />

Universalgeschichte im heutigen Verstande<br />

ist eine Sache der Dunkelmänner.“<br />

Und manchmal poppen alte Worte<br />

an unerwarteten Stellen auf, etwa bei einem<br />

Artikel über Karl Kraus: „Dass dieser<br />

Mann, einer der verschwindend wenigen,<br />

die eine Anschauung von Freiheit<br />

haben, ihr nicht anders dienen kann denn<br />

als oberster Ankläger, das stellt seine gewaltige<br />

Dialektik am reinsten dar. Ein Dasein,<br />

das, eben hierin, das heißeste Gebet<br />

um Erlösung ist, das heute über jüdische<br />

Lippen kommt.“<br />

50 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

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51


Thema<br />

Walter Benjamin Memorial<br />

des israelischen Künstlers Dani<br />

Karavan in Portbou, Spanien.<br />

© Nostrix; CC BY-SA 3.0<br />

erwartet, nicht weniger als eine Emanzipation<br />

der Zuseher.<br />

„Die technische Reproduzierbarkeit des<br />

Kunstwerks verändert das Verhältnis der<br />

Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten,<br />

z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt<br />

es in das fortschrittlichste, z. B. angesichts<br />

eines Chaplin, um.“ Wie so oft in seinen<br />

Schriften reiht er brillante Gedanken, Assoziationen,<br />

Schlüsse seiner umfangreichen<br />

Bildung aneinander, und dann wird<br />

doch keine logisch konsistente Theorie<br />

daraus. Ähnliches gilt für die Ökonomie,<br />

ebenso für die Politik. Seine Warentheorie<br />

hängt auf der Produktionsseite in der Luft,<br />

die politische Analyse ist im kleinen Detail<br />

scharf und präzise, bleibt dann aber doch<br />

nur eine große Klage über die herrschenden<br />

Verhältnisse. „Mussolini“, schreibt er<br />

schon 1924, „sieht anders aus als der Herzensbrecher,<br />

den die Ansichtskarten zeigen:<br />

unlauter, träge und von einem Hochmut,<br />

als sei er mit ranzigem Öl reichlich<br />

gesalbt.“ An Hitler erkennt er, nachdem<br />

er bei Brecht in Dänemark eine Radiorede<br />

des Führers gehört hatte, „herabgeminderte<br />

Männlichkeit […] so viel Glanz um<br />

so viel Schäbigkeit. Der arme Teufel will<br />

ernst genommen werden, und sogleich<br />

muss er die ganze Hölle aufbieten.“<br />

Diese Schäbigkeit und ihre Hölle reichten<br />

freilich aus, um einem jüdisch stämmigen<br />

Autor das Leben zunehmend<br />

schwer zu machen. „Es gelang ihm kaum<br />

mehr, lohnenswerte Aufträge hereinzuholen“,<br />

schreibt Biograf Brodersen. „Vom<br />

Rundfunk, seiner damaligen Haupteinnahmequelle,<br />

hatten die Nazis so umgehend<br />

und gründlich Besitz ergriffen, dass<br />

er sich keinerlei Hoffnungen auf eine weitere<br />

gedeihliche Zusammenarbeit machen<br />

konnte. Und auch die Frankfurter<br />

Zeitung, seine zweite Stütze, verhielt sich<br />

angesichts der politischen Entwicklung<br />

zunächst abwartend.“<br />

Die politische Verfolgung nahm schnell<br />

Fahrt auf, zahlreiche intellektuelle<br />

Freunde Benjamins verließen fluchtartig<br />

Deutsche Dichter, Pariser Passagen<br />

Benjamins Werk ist auf zahlreiche essayistische<br />

Einzelpublikationen und Feuilleton-Artikel<br />

verteilt. Nur weniges wurde<br />

zu seinen Lebzeiten zwischen Buchdeckeln<br />

publiziert. Unter Intellektuellen bekannt<br />

wurde er durch den Band kurzer,<br />

manchmal aphoristischer Texte Einbahnstraße,<br />

der 1928 bei Rowohlt heraus kam.<br />

Ein Beispiel: „Glücklich sein heißt ohne<br />

Schrecken seiner selbst innewerden können.“<br />

Oder: „Es gibt in Mietskasernen eine<br />

Musik von so todtrauriger Ausgelassenheit,<br />

dass man nicht glauben will, es sei für<br />

den, der spielt: Es ist Musik für die möblierten<br />

Zimmer, wo einer sonntags in Gedanken<br />

sitzt, die bald mit diesen Noten sich<br />

garnieren wie eine Schüssel Obst mit welken<br />

Blättern.“<br />

In der Schweiz erschien 1936 der Band<br />

Deutsche Menschen, eine von Benjamin<br />

kommentierte Briefsammlung aus den<br />

Jahren 1767 bis 1883. Darunter sind etwa<br />

Schreiben von Friedrich Hölderlin, Georg<br />

Christoph Lichtenberg, Clemens Brentano,<br />

Annette von Droste-Hülshoff, Georg<br />

Büchner oder Clemens von Metternich.<br />

Das Werk, an dem Benjamin viele Jahre arbeitete,<br />

besser: für das er recherchierte<br />

und sammelte, erschien erst postum,<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg: Passagen.<br />

Es ist eine unstrukturierte, teilweise widersprüchliche<br />

und manchmal rätselhafte<br />

Sammlung von Ideen, Texten und<br />

– zunehmend – Zitaten anderer Autoren.<br />

Ausgangspunkt seiner geplanten umfassenden<br />

Studie waren die Pariser Einkaufspassagen<br />

des frühen 19. Jahrhunderts mit<br />

ihren verlockenden Auslagen voller Waren,<br />

quasi die verlängerten Wohnzimmer<br />

der wohlhabenden, gelangweilten Flaneure:<br />

„Die Stadt zehnfach und hundertfach<br />

topographisch zu bauen aus ihren<br />

Passagen und ihren Toren, ihren Friedhöfen<br />

und Bordellen, ihren Bahnhöfen […]<br />

genau wie sie sich früher durch ihre Kirchen<br />

und ihre Märkte bestimmte. Und<br />

die geheimeren, tiefer gelagerten Stadtfiguren:<br />

Morde und Rebellionen, die blutigen<br />

Knoten im Straßennetze, Lagerstätten<br />

der Liebe und Feuersbrünste.“<br />

Inmitten dieser Materialfülle beginnt sich<br />

der Autor quasi aufzulösen: „Methode<br />

dieser Arbeit: literarische Montage. Ich<br />

habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich<br />

werde nichts Wertvolles entwenden und<br />

mir keine geistvollen Formulierungen aneignen.<br />

Aber die Lumpen, den Abfall: die<br />

will ich nicht inventarisieren sondern sie<br />

auf die einzig mögliche Weise zu ihrem<br />

Rechte kommen lassen: sie verwenden.“<br />

Deutschland, darunter Brecht und Kracauer.<br />

Er selbst wechselte mehrmals sein<br />

Exilland, einmal nach Spanien, dann wieder<br />

nach Südfrankreich, wohnte dort kurz<br />

bei seiner Frau, von der er inzwischen geschieden<br />

war, dann zog er nach Paris. Er<br />

publizierte vereinzelt noch unter anderen<br />

Namen in wenigen deutschen Medien<br />

sowie in einigen deutschsprachigen Exilblättern.<br />

Die größte Hilfe bot ihm die Zeitschrift<br />

für Sozialforschung des gleichnamigen<br />

Instituts, das erst nach Frankreich, später<br />

in die USA übersiedelte. Seine Ansprechpartner<br />

waren der ehemalige Schüler<br />

Theodor Adorno sowie Max Horkheimer<br />

und Leo Löwenthal. Auch wenn er dort<br />

nicht alles unterbrachte, was er schrieb,<br />

wenn man ihn auch immer wieder redigierte<br />

oder zum Umarbeiten anhielt, so<br />

bekam er doch mehrere Jahre lang ein –<br />

kleines, überlebenswichtiges – monatliches<br />

Fixum.<br />

1940 eroberten die Deutschen in einem<br />

Blitzkrieg große Teile Frankreichs<br />

inklusive Paris. Benjamin entschloss sich<br />

nun doch, ins ungeliebte Amerika zu fliehen.<br />

Ein Affidavit hatten ihm die Kollegen<br />

beim Institut für Sozialforschung in<br />

New York besorgt. Doch nun änderten<br />

sich die Bedingungen für die Ausreise aus<br />

Frankreich in immer kürzeren Abständen.<br />

Benjamin versuchte erst, in Marseille<br />

mit falschen Papieren auf einen Frachter<br />

zu kommen, wurde aber entdeckt. Der<br />

nächste Plan sah vor, über einen Pfad auf<br />

der östlichen Seite der Pyrenäen nach<br />

Spanien zu gelangen und dann von Lissabon<br />

aus in die USA zu fahren. Doch auch<br />

die spanischen Grenzbeamten hatten<br />

eine neue Direktive erhalten, sie durften<br />

niemanden ins Land lassen, der keine gültigen<br />

französischen Ausreisepapiere hatte.<br />

Benjamin, mit einer Herzschwäche ohnehin<br />

schon am Ende seiner Kräfte, nahm<br />

sich daraufhin in einem Hotel mit mitgebrachten<br />

Morphium-Tabletten das Leben.<br />

Am Ort des gescheiterten Grenzübertritts,<br />

in Portbou nahe Girona hat der begnadete<br />

israelische Bildhauer Dani Karavan<br />

ein Denkmal für Walter Benjamin<br />

gebaut. Ein beklemmender stählerner<br />

Korridor führt steil hinunter ans blaue<br />

Mittelmeer, an jenes Meer, über das heute<br />

Flüchtlinge aus Afrika nach Europa streben.<br />

Als wäre es eine düstere Vorahnung<br />

gewesen, hatte Benjamin einst in einem<br />

Essay über Kafka diesen zitiert: „Oh, Hoffnung<br />

genug, unendlich viel Hoffnung –<br />

nur nicht für uns.“<br />

52 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

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53


Sommerlektüren <strong>2022</strong><br />

LITERATUR SOMMER<br />

Sommerurlaub ohne Lektüre ist wie Strand ohne<br />

Sand, Wald ohne Bäume oder Urlaub ohne Frühstück<br />

im Bett. Hier die wärmsten Empfehlungen<br />

für die heißesten Tage des Jahres aus der Kulturredaktion.<br />

Von Alexander Kluy<br />

Isaak Babel:<br />

Wandernde Sterne. Dramen,<br />

Drehbücher, Selbstzeugnisse.<br />

Herausgegeben von Urs Heftrich und<br />

Bettina Kaibach. Übersetzt von Bettina<br />

Kaibach & Peter Urban. Hanser Verlag,<br />

München <strong>2022</strong>, 848 S., € 39,10<br />

Babel<br />

Dieser Band präsentiert<br />

aufregend den, wie häufig<br />

kolportiert, endlos neugierigen<br />

Isaak Babel (1894–1940) aus<br />

Odessa. Wandernde Sterne ergänzt den<br />

Band Mein Taubenschlag (2014), der alle<br />

Erzählungen Babels enthielt. Hier finden<br />

sich Dramen wie Marija von 1934:<br />

Die Leseprobe am Moskauer Wachtangow-Theater<br />

kam gut an und wurde<br />

kurze Zeit später von kommunistischen<br />

Ideologen verdammtm, denn das Bild,<br />

das Babel vom revolutionären Petrograd<br />

1920 zeichnete, stand in zu krassem<br />

Kontrast zum Moskau des stalinistischen<br />

Terrors. Und Sonnenuntergang,<br />

das Stück, das in Odessas Moldavanka<br />

spielt. Interessante, mentalitätshistorisch<br />

aufschlussreiche Drehbücher.<br />

Dazu Reportagen und Reiseberichte<br />

aus Georgien und Frankreich, flankiert<br />

von Babels Reden und Stellungnahmen,<br />

instruktiv und kundig kommentiert.<br />

Christina Maria Landerl<br />

und Ronny Aviram:<br />

Telavivienna. Vom Heimkommen.<br />

Deutsch-Hebräisch. Müry Salzmann<br />

Verlag, Salzburg <strong>2022</strong>,<br />

112 S., € 24<br />

Vertraute<br />

Ferne<br />

Ganze Bibliotheken ließen<br />

sich nur mit Wien- und Tel-<br />

Aviv-Büchern füllen. Dieses<br />

schmale, gut gedruckte Wien-Tel-Aviv-<br />

Buch ist etwas anders. Die Schriftstellerin<br />

Christina Maria Landerl, Sozialpädagogin<br />

und Germanistin aus Steyr,<br />

studierte in Wien und lebt heute in<br />

Berlin. Die Philosophin und Künstlerin<br />

Ronny Aviram aus Haifa ist in Tel<br />

Aviv aufgewachsen und lebt heute in<br />

Leipzig. Landerl schreibt Textblitzlichter<br />

über Wien, über Bahnhof, Friedhof,<br />

Wohnen, Leben, Sterben und Gedenken<br />

oder die „Tel Aviv Beach“-Bar<br />

am Donaukanal (inzwischen „Neni am<br />

Wasser“). Aviram antwortet mit Fotografien<br />

aus Tel Aviv, antipittoresken<br />

Aufnahmen von Autos, Rissen in Betonwänden,<br />

vom übersehenen Nebenbei.<br />

Eine sensible Um- und Einkreisung<br />

ferner Heimat, vertrauter Distanz. Vom<br />

„Heimat-Komplex“. Und wie komplex<br />

dieser ist.<br />

Grete Weil:<br />

Der Weg zur Grenze.<br />

Roman. Herausgegeben und<br />

mit einem Nachwort von<br />

Ingvild Richardsen.<br />

C. H. Beck Verlag, München <strong>2022</strong>,<br />

384 S., € 25,70<br />

Weil<br />

Geht das schon als Renaissance<br />

und Wiederentdeckung<br />

durch? Da ist 2021 Grete Weils<br />

Roman Tramhalte Beethovenstraat neu<br />

aufgelegt worden, heuer im Februar<br />

ihre Erzählung Ans Ende der Welt. Und<br />

jetzt erscheint aus dem Nachlass der<br />

1999 verstorbenen Autorin der Erstling<br />

Der Weg zur Grenze, nie zuvor gedruckt,<br />

nun sorgsam erläutert. 1932<br />

hatte die Münchner Anwaltstochter<br />

den Theaterdramaturgen Edgar Weil<br />

geheiratet. Ein Jahr später Flucht nach<br />

Amsterdam, ab 1940 Versuche zu überleben.<br />

Edgar Weil, im Juni 1941 verhaftet,<br />

wurde im September 1941 im KZ<br />

Mauthausen ermordet. Nur leicht verschleiert<br />

begann sie nach seinem Tod<br />

ihre Liebesgeschichte aufzuschreiben,<br />

von ihrer beider Leben und Schicksale<br />

zu erzählen. In Romanform. Eine wichtige<br />

Ergänzung des Werks der hochbetagt<br />

verstorbenen Autorin.<br />

© 123RF<br />

Tod Goldberg:<br />

The Low Desert.<br />

Gangster Stories. Counterpoint Press,<br />

Berkeley <strong>2022</strong>, 304 S., € 17,50<br />

Suburbia-<br />

Noir<br />

Sechs Jahre ist es mittlerweile<br />

her, dass Tod Goldbergs Gangsterland<br />

auf Deutsch erschienen<br />

ist; die Fortsetzung Gangster Nation ist<br />

bisher nicht übersetzt worden. Diese<br />

bösen, intelligenten, witzigen Thriller<br />

waren Paradebeispiel für Neo-Noir.<br />

Taucht doch ein Mafiakiller ab und<br />

dann wieder auf. Als Rabbi. In einem<br />

Vorort von Las Vegas im Tempel Beth<br />

Israel von Rabbi Kales mit Tikva-Vorschule,<br />

Kinderzentrum und im Bau<br />

befindlicher Halle für darstellende<br />

Künste. Dazu Begräbnisinstitut und<br />

großer Friedhof, beide wichtig.<br />

Auch The Low Desert spielt in Suburbia,<br />

diesmal von Los Angeles, in<br />

Bakersfield, Carson City, Van Nuys.<br />

Wieder tiefschwarz sind diese Storys,<br />

in denen gute Absichten böse Pläne<br />

entblößen. Schnelle Dialoge. Treffend<br />

gezeichnete Figuren. Schlanke,<br />

sardonische Prosa.<br />

Elazar Benyoëtz:<br />

Buchstabil. Von Büchern und<br />

Menschen. Elazar Benyoëtz zum 85.<br />

Geburtstag. Herausgegeben von Anna<br />

Rosa Schlechter und Claudia Welz.<br />

Braumüller Verlag, Wien <strong>2022</strong>, 200 S., € 28<br />

Schriftzüge,<br />

Denksätze<br />

Das Schwierigste ist stets das<br />

Kurze. Dabei ist, Paradox Nr.<br />

1, im kurzatmigen Twitter- und<br />

SMS-Zeitalter im Aussterben begriffen<br />

ausgerechnet der Aphorismus. In der<br />

deutschsprachigen Gegenwart gibt es da<br />

aber eine Ausnahme – Elazar Benyoëtz,<br />

der, Paradox Nr. 2, in Haifa auf Deutsch<br />

schreibt: Aphorismen. Der heuer im<br />

März 85 wurde, fünf Dutzend Bücher<br />

veröffentlichte. Buchstabil führt biografische<br />

Arabesken und Erinnerungen,<br />

wissenschaftliche Betrachtungen und<br />

Analysen, Erinnerungen von Freunden<br />

und Lesern zusammen, dazu einen 1962<br />

geschriebenen, hier erstveröffentlichten<br />

Eigenechotext. Gemahnung ist dieses<br />

Buch, alles andere von Benyoëtz wieder<br />

oder neu zu lesen, das Anregende,<br />

Aufblitzende, Weise. Dabei meint ausgerechnet<br />

er: „Der Aphoristiker beginnt,<br />

wenn er mit seiner Weisheit am Ende<br />

ist.“ Reden und Stellungnahmen, instruktiv<br />

und kundig kommentiert.<br />

Helena Janeczek:<br />

Die Schwalben von Montecassino.<br />

Roman. Berlin Verlag, Berlin <strong>2022</strong>,<br />

432 S., € 24,70<br />

Erinnerung,<br />

sprich<br />

Helena Janeczek, 1964 in<br />

München als Tochter zweier<br />

Shoah-Überlebender geboren,<br />

1983 nach Italien übersiedelt,<br />

später in Mailand Verlagslektorin,<br />

heute bei Varese lebend, veröffentlichte<br />

1989 ihren ersten Gedichtband<br />

auf Deutsch, seither schreibt sie auf<br />

Italienisch. Nach dem preisgekrönten<br />

Gerta-Taro-Roman Das Mädchen<br />

mit der Leica folgt nun in Übersetzung<br />

Le rondini di Montecassino von 2010. Ein<br />

Roman um die blutige Schlacht um<br />

Monte Cassino von Jänner bis Mai<br />

1944. Ein Mosaik aus Geschichten,<br />

Minigeschichten, Miniaturbiografien,<br />

aus Damals und noch älter, aus<br />

ganz unterschiedlichen Komponenten,<br />

Konstellationen und kaleidoskopischen<br />

Teil- und Vollaufnahmen.<br />

Inklusive persönlicher Erinnerungsfragmente.<br />

In Schichtung und Verästelung<br />

sieht man zugleich, wie ein Roman<br />

beim Lesen „entsteht“.<br />

„Von seinen Eltern<br />

lernt man lieben,<br />

lachen, und laufen.<br />

Doch erst<br />

wenn man mit<br />

Büchern in Berührung<br />

kommt, entdeckt<br />

man, dass<br />

man Flügel hat.“<br />

Helen Hayes<br />

54 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

55


Stadtgeschichte(n)<br />

Lebenszyklus<br />

in Baden und Graz<br />

Zwei Städte, zwei Bücher, ein Präsident:<br />

Über Leben und Sterben im jüdischen<br />

Baden und Graz hat Autor und Gemeindepräsident<br />

in beiden Städten Elie Rosen<br />

viel zu erzählen. Und das tut er jetzt<br />

in gleich zwei Neuerscheinungen.<br />

Von Viola Heilman<br />

m <strong>Juli</strong> <strong>2022</strong> erscheinen zwei Bücher<br />

von Elie Rosen, dem Präsidenten der<br />

Grazer, Badener und slowenischen jüdischen<br />

Gemeinde. Die Themen dieser<br />

Bücher können nicht unterschiedlicher<br />

sein. Eines beschäftigt sich mit<br />

dem jüdischen Leben in Baden, das<br />

andere mit dem Sterben im Judentum<br />

und dem Friedhof in Graz.<br />

„Da ich teilweise in Baden aufgewachsen<br />

bin, habe ich mich mit der<br />

Stadt aus persönlichen Gründen<br />

viel auseinandersetzt“,<br />

erzählt Elie Rosen. „Mir lag es daran, im<br />

Buch zu zeigen, welchen Zusammenhang<br />

es zwischen jüdischen Künstlern und Wissenschaftlern<br />

mit der Stadt Baden gibt.“<br />

Schon früh setzte er sich für die jüdische<br />

Gemeinde in Baden ein und konnte 1988<br />

erfolgreich die Rettung der Synagoge vor<br />

dem Abriss erreichen, die dann 2005 wieder<br />

eingeweiht wurde. 17 Jahre mussten<br />

vergehen und viele Kämpfe ausgefochten<br />

werden, damit die Synagoge in der Grabengasse<br />

wieder renoviert wurde. Baden galt<br />

vor dem Zweiten Weltkrieg als beliebter Ort<br />

der „Sommerfrische“ und als Treffpunkt intellektueller,<br />

künstlerischer und gehobener<br />

sozialer Kreise. Nicht zuletzt auch, weil Kaiser<br />

Franz I. mit seinem Hofstaat die Sommer<br />

in Baden verbrachte.<br />

Der erste „Israelitische Kultusverein“<br />

wurde 1871 in Baden begründet. Aber auch<br />

nach 1945 war es die Stadt Baden, wo sich<br />

die einzige jüdische Gemeinde in Niederösterreich<br />

wieder etablierte. Das Buch Jüdisches<br />

Baden. Entdeckungsreisen, Spurensuche,<br />

Stadtwanderungen beschreibt in Spaziergängen<br />

die Geschichte und Gegenwart jüdischen<br />

Lebens in Baden. Für Elie Rosen war<br />

seine Arbeit zu diesem Buch ein „emotioneller<br />

Hochseilakt“, denn in der ehemals drittgrößten<br />

jüdischen Gemeinde Österreichs<br />

wurde nahezu jede Erinnerung an eine jüdische<br />

Existenz zerstört. „Für mich war das<br />

Vorhaben der Renovierung der Synagoge<br />

auch deshalb so wichtig, weil es die Erhaltung<br />

des einzigen Mahnmals der ehemaligen<br />

jüdischen Gemeinde in Baden bedeutete“.<br />

Die Rundgänge in Baden verlangen<br />

nach individuellem historischen Vorstellungsvermögen,<br />

das durch Gedichte, interessante<br />

Textstellen und tatsächliche<br />

Überreste jüdischer Kultur das Leben vor<br />

der Zerstörung durch die Nationalsozialisten<br />

wieder aufleben lässt. So wird das frühere<br />

alltägliche jüdische Leben, das Theater,<br />

die Literatur, Musik und Architektur,<br />

aber auch Wirtschaft und Wissenschaft der<br />

Kurstadt in diesem Buch wieder lebendig.<br />

Über Arthur Schnitzler, ein regelmäßiger<br />

Gast in Baden, ist in mehreren Kapiteln<br />

des Buches zu lesen. 2021 wurde Baden<br />

von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben,<br />

und so fügt sich auch darin das zeitgenössische<br />

jüdische Leben und die einhergehende<br />

Kultur ein. Dieses und nächstes Jahr<br />

wird des 150-jährigen Bestehens des jüdischen<br />

Friedhofs und der Synagoge gedacht.<br />

Das Buch ist auch ein Teil dieser Gedenkkultur,<br />

aber auch ein ungewöhnlicher Reiseführer,<br />

der Vergangenes und Zeitgenössisches<br />

durch Essays, Gedichte und nicht<br />

zuletzt durch die wunderbaren Fotografien<br />

von Ouriel Morgensztern zusammenführt<br />

und zum Flanieren einlädt.<br />

Garten G-ttes für die Ewigkeit. Vieles in<br />

der jüdischen Geschichte ist durch Zerstörung<br />

oder Vergessen nicht mehr sichtbar.<br />

Jüdische Friedhöfe aber sind für die<br />

Ewigkeit ausgerichtet. In Österreich gibt<br />

es etwas mehr als 60 jüdische Friedhöfe,<br />

Nur für Pressezwecke<br />

© Amalthea Verlag<br />

Elie Rosen:<br />

Beit Ha’Chajim.<br />

Haus des Lebens.<br />

Der jüdische Friedhof<br />

von Graz. Vom Tod und<br />

Sterben im Judentum.<br />

Amalthea <strong>2022</strong>,<br />

256 S., € 38<br />

Elie Rosen:<br />

Jüdisches Baden.<br />

Entdeckungreisen,<br />

Spurensuche,<br />

Stadtwanderungen.<br />

Amalthea <strong>2022</strong>,<br />

216 S., € 27<br />

davon stehen 49 im Eigentum der jüdischen<br />

Gemeinden, die einen großen Teil<br />

der Erhaltungskosten tragen müssen. Allein<br />

das „IV. Tor“ am Zentralfriedhof in<br />

Wien hat 260.000 m 2 , gefolgt vom Friedhof<br />

Wien-Währing, Baden und Graz. Die<br />

kleinsten Anlagen liegen in Bad Pirawarth,<br />

Bad Aussee und St. Pölten. Seit 2010 hat die<br />

Republik Österreich einen Fonds zur Instandsetzung<br />

der jüdischen Friedhöfe eingerichtet.<br />

Elie Rosen beschreibt im reichbebilderten<br />

Buch Beit Ha’Chajim. Haus des<br />

Lebens die fast 160-jährige Geschichte des<br />

jüdischen Friedhofs von Graz. Eine lyrische<br />

Unterbrechung der vielen Beschreibungen<br />

der Bestattungsriten und Trauervorschriften<br />

bilden Gedichte und literarische Szenen<br />

jüdischer Schriftsteller:innen. Die<br />

zahlreichen Fotos wurden vom slowenischen<br />

Fotografen Le.Luka gemacht, der<br />

durch seine Schwarz-weiß-Aufnahmen<br />

die Leser:innen in künstlerische Besinnlichkeit<br />

versetzt. Elie Rosen beschreibt in<br />

© Jüdische Gemeinde Graz<br />

56 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

Eli Rosen_buecher_GR_korrAH_END.indd 56 25.07.22 13:06


Praktische Vermittlung<br />

Jüdischer Friedhof<br />

in Graz erzählt<br />

von der lebendigen<br />

Stille der Stadt.<br />

© Jüdische Gemeinde Graz<br />

„Die Gedanken<br />

zum Leben nach<br />

dem Tod oder<br />

wie sieht die<br />

Welt im Jenseits<br />

aus, ist mir zu<br />

philosophisch,<br />

denn das kann<br />

niemand beantworten.“<br />

Elie Rosen<br />

chronologischer Reihenfolge den rituellen<br />

Ablauf des jüdischen Sterbens und hilft damit<br />

den interessierten Leser*innen, viele<br />

Fragen zu beantworten, die dieses schwierige<br />

Thema betreffen. Das Foto eines Toten,<br />

nach der Tahara (Waschung) in seine Leichentücher<br />

gehüllt, ist wohl eines der beeindruckendsten<br />

in diesem Bild- und Textband.<br />

„Mir ging es darum, wie der Tod und<br />

das Sterben nach der jüdischen Tradition<br />

ablaufen. Die praktische Vermittlung von<br />

Kultur und Religion auch zu diesem Thema<br />

ist ein wichtiger Beitrag. Das weiterzugeben<br />

und die Auseinandersetzung mit Tod und<br />

Sterben im Judentum sind mir ein Anliegen,<br />

weil das in einer tieferen Form nicht so<br />

oft vorkommt“, erläutert Elie Rosen.<br />

Nach den allgemeinen Beschreibungen<br />

der Vorschriften, wie mit einem Leichnam<br />

umzugehen ist, werden die zahlreichen<br />

Symbole auf jüdischen Grabsteinen erklärt.<br />

So überrascht die Symbolik der Schlange,<br />

die nicht für Verführung, sondern Symbol<br />

für den ewigen Kreislauf von Leben und Tod<br />

steht. „Die Gedanken zum Leben nach dem<br />

Tod oder wie sieht die Welt im Jenseits aus,<br />

ist mir zu philosophisch, denn das kann niemand<br />

beantworten.“<br />

Der Bild- und Textband beschreibt das<br />

Sterben im Allgemeinen, bezieht sich aber<br />

auch auf den jüdischen Friedhof in Graz.<br />

Nach der Shoah sind die jüdischen Friedhöfe<br />

Österreichs häufig die letzten Relikte<br />

und Zeugnisse einer weitgehend zerstörten<br />

Kultur. Der über 18.000 m 2 große<br />

Friedhof Graz ist einer der wenigen noch<br />

aktiven jüdischen Friedhöfe in Öster-<br />

reich. 1864 gegründet, wurden auf ihm<br />

von 1865 bis heute rund 1.460 Gräber<br />

errichtet. Er dient als Hauptbegräbnisstätte<br />

der jüdischen Gemeinde Graz. Es<br />

finden sich auf diesem Friedhof im Gegensatz<br />

zu Wien nur wenige über die Stadt<br />

Graz hinaus bekannte Persönlichkeiten,<br />

die hier begraben wurden. Hervorgehoben<br />

werden kann hier das Grab von Madame<br />

D’Ora, Dora Philippine Kallmus. Die<br />

international bekannte Fotografin (1881–<br />

1963) wurde vor allem mit Porträtaufnahmen<br />

aus der Wiener Künstler- und Intellektuellenszene<br />

bekannt, etwa von Alma<br />

Mahler-Werfel, Arthur Schnitzler, Anna<br />

Pawlowa, Gustav Klimt und Emilie Flöge,<br />

Marie Gutheil-Schoder, Pau Casals, Berta<br />

Zuckerkandl-Szeps und Anita Berber. 1916<br />

fotografierte sie offiziell auch die Krönung<br />

Kaiser Karls zum ungarischen König.<br />

Interessant ist auch der Gedenkstein<br />

für KR Simon Rendi. Geboren als Simon<br />

Rosenbaum, zählte er gemeinsam mit<br />

seinem Bruder Adolf Rendi zu den erfolgreichsten<br />

jüdischen Geschäftsleuten<br />

in Graz. Er war von 1912 bis 1922 Präsident<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

sowie Gründer und Präsident der Grazer<br />

B’nai-B’rith-Loge. Rendi blieb kinderlos<br />

und wurde 1942 im Konzentrationslager<br />

Jasenovac ermordet. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg ließen nach Graz zurückgekehrte<br />

Mitglieder der Familie Rendi den<br />

Gedenkstein errichten. Simon Rendi war<br />

über die Linie seines Großvaters ein Verwandter<br />

des Ehemannes der SPÖ-Politikerin<br />

Pamela Rendi-Wagner.<br />

Die zahlreichen Fotos der Grabsteine<br />

am Ende des Bildbandes erzählen über<br />

Menschen, die die jüdische Geschichte<br />

der Stadt Graz mitgestaltet haben. Ein<br />

beeindruckender Rundgang zu einem<br />

Thema, das lebendig in seiner Stille ist.<br />

wına-magazin.at<br />

57<br />

Eli Rosen_buecher_GR_korrAH_END.indd 57 25.07.22 13:06


Jüdischer Urgroßvater<br />

Gewaltiges Rollenspektrum<br />

Kerzengerade, als hätte sie gerade<br />

einen Stock verschluckt,<br />

sitzt die kleine, zierliche Frau<br />

im Garten des Cafés in der Josefstädter<br />

Straße. Diese aufrechte Haltung<br />

und Dynamik gehören auch zum<br />

Charakter von Doris Weiner, sie sind nicht<br />

nur ihrer frühen Ballettausbildung geschuldet,<br />

sondern lassen sie auch ein wenig<br />

größer erscheinen. Denn die angeblich<br />

fehlende Körpergröße hat auch viel<br />

im Leben der Schauspielerin, Regisseurin<br />

und Lehrerin bewegt und bestimmt.<br />

1949 in Wien geboren, trägt die verheiratete<br />

Frau noch immer ihren Mädchennamen.<br />

„Der Name Weiner soll ungarisch-jüdische<br />

Wurzeln haben“, erzählt<br />

sie. „Ich liebe die Geschichte, die mein<br />

Vater über seinen Großvater erzählte.<br />

Dieser war Pferdehändler und so kräftig,<br />

dass er am Markt die Betrüger in der<br />

Leopoldstadt einfach über den Tisch geworfen<br />

hat. Das war mir deshalb so wichtig,<br />

weil es nach der Shoah immer wieder<br />

geheißen hat, die Juden hätten sich<br />

nicht gewehrt und seien schwach gewesen.<br />

Aber mein jüdischer Urgroßvater war<br />

sehr stark!“<br />

Obwohl unser Gespräch vor allem Doris<br />

Weiners Programm Vier Frauen im Vierten<br />

gewidmet ist, möchte sie dem WINA-<br />

Magazin doch mehr über ihre jüdischen<br />

Wurzeln anvertrauen, vor allem über ihren<br />

Vater. „Meine ungeliebte Großmutter<br />

hat sich von meinem Großvater 1938<br />

sofort scheiden lassen. Er wurde daraufhin<br />

ins KZ Flossenbürg deportiert, das lag<br />

etwa auf halber Strecke zwischen Nürnberg<br />

und Prag, wo er bei der Zwangsarbeit<br />

verstarb. Vielleicht hätte er überlebt,<br />

wenn sie ihn noch in die Wohnung gelassen<br />

hätte.“ Doris’ Vater, Hermann Weiner,<br />

Jahrgang 1924, musste keinen Judenstern<br />

Kleine Frau<br />

mit großer Haltung<br />

Auch nach ihrem Abschied vom Volkstheater bleibt die<br />

beliebte Schauspielerin Doris Weiner präsent: Jetzt<br />

mit den Leseabenden Vier Frauen im Vierten.<br />

Ein Porträt von Marta S. Halpert<br />

tragen, weil „seine Mutter mit irgendwelchen<br />

Nazis geschlafen hat“, so die strenge<br />

Enkelin. Kurz vor Kriegsende wurde Hermann<br />

Weiner gemeinsam mit dem späteren<br />

Wiener Bürgermeister Felix Slavik<br />

noch an die Ostfront geschickt, wo sie<br />

Gruben aushoben und schnell verstanden,<br />

dass diese für die Erschießung jüdischer<br />

Menschen gedacht waren. „Slavik<br />

sagte zu meinem Vater, ‚Renn!‘, und gemeinsam<br />

ist ihnen die Flucht gelungen –<br />

so begann eine Freundschaft fürs Leben.“<br />

Engagement für starke Frauen. Mit 71 Jahren<br />

ging Doris Weiner nach 43-jähriger<br />

Zugehörigkeit zum Wiener Volkstheater<br />

in Pension. Und da ihr Untätigkeit ein<br />

Fremdwort ist, macht sie gleich weiter:<br />

„Ab sofort bin ich freischaffende Künstlerin<br />

und hoffe auf Engagements, denn das<br />

Wichtigste sind mir das Spielen und auf<br />

der Bühne Stehen.“ Als es die Pandemie<br />

vorübergehend erlaubte, präsentierte<br />

Weiner bereits 2021 eine One-Woman-<br />

Show mit Klavierbegleitung. Das Thema<br />

passte hervorragend zu ihrer Neugier<br />

und Vielseitigkeit: Vier Frauen im Vierten<br />

hieß die Lesereihe, die aus einer Ausstellung<br />

mit dem Titel Berühmte Frauen aus dem<br />

Vierten hervorgegangen war, die von Lea<br />

Halbwidl, der SPÖ-Bezirksvorsteherin im<br />

vierten Bezirk, initiiert worden war. „Wir<br />

porträtierten vier Frauen, die alle einen<br />

persönlichen Bezug zur Wieden hatten.<br />

Entweder sind sie hier aufgewachsen, haben<br />

da gelebt oder sind irgendwann zugezogen“,<br />

erklärt die Künstlerin. Zu den<br />

ersten vier Frauen zählte Alma Rosé, die<br />

berühmte Geigerin, die am 2. April 1944<br />

zum letzten Mal das sogenannte Mädchenorchester<br />

im Vernichtungslager<br />

Auschwitz leitete. Es folgten die Porträts<br />

der großen Volksschauspielerin Dorothea<br />

Neff, der Sozialdemokratin Adelheid Popp<br />

sowie der Malerin und Schriftstellerin<br />

Rosa Mayreder.<br />

Die vier Abende des Jahres 2021 widmeten<br />

sich jeweils einer dieser vier Frauen,<br />

konnten jedoch danach nicht mehr wiederholt<br />

werden. Möchte Doris Weiner<br />

diese kulturell wertvolle Veranstaltung<br />

nicht in Post-Covid-Zeiten wiederholen?<br />

„Ja das wäre schön“, antwortet sie und ergänzt:<br />

„Derzeit arbeiten wir bereits an Teil<br />

zwei des Projektes.“<br />

Initiiert wurde Vier Frauen im Vierten<br />

von Doris Weiner und Susanne Abbrederis,<br />

der langjährigen Chefdramaturgin des<br />

Volkstheaters. Nach dem plötzlichen Tod<br />

der angesehenen Kollegin im November<br />

2021 stellt nun die Wiener Dramaturgin<br />

Angela Heide die vier neuen Lesungen zusammen,<br />

wieder in enger Zusammenarbeit<br />

mit Doris Weiner. Die vier Abende, die<br />

Ende <strong>August</strong> in der Bibliothek der Wiener<br />

Arbeiterkammer Premiere haben, sind<br />

so auch der gemeinsamen Freundin und<br />

künstlerischen Wegbegleiterin Susanne<br />

Abbrederis gewidmet.<br />

© Lalo Jodlbauer<br />

Faszinierende und mutige Frauen. Auch<br />

der zweite Teil der Reihe präsentiert eine<br />

spannende Mischung von bemerkenswerten<br />

Frauen aus dem vierten Bezirk. Den<br />

Auftakt macht am 23. <strong>August</strong> ein Porträt<br />

über die berühmte jüdische Malerin<br />

Broncia Koller-Pinell, die engen Kontakt<br />

zu den „Secessionisten“, vor allem zu Gustav<br />

Klimt, Josef Hoffmann und Koloman<br />

Moser pflegte und 1934 in ihrer Wohnung<br />

in der Prinz-Eugen-Straße 12 starb.<br />

Am 25. <strong>August</strong> folgt ein Einblick in das<br />

bewegte Leben von Wanda Lanzer, die<br />

als Tochter des bekannten Rechtsanwalts<br />

Max Landau in Wien geboren wurde. Das<br />

Ehepaar Landau unterhielt einen Treffpunkt<br />

für emigrierte polnische Sozialdemokraten,<br />

und das prägte auch den Werdegang<br />

von Wanda, die 1924 mit einer<br />

Arbeit über „Marxistische Krisentheorie“<br />

promovierte. Danach trat sie in die Arbeiterkammer<br />

ein, wo sie bis zu den Februarkämpfen<br />

1934 beschäftigt war, ehe sie<br />

während der NS-Zeit in Schweden lebte<br />

und erst in ihren letzten Lebensjahren<br />

wieder zurück nach Wien konnte.<br />

„Die Romanbiografie von Peter Stephan<br />

Jungk über seine Großtante Edith Tudor-<br />

Hart* hat uns bei der Gestaltung des ihr<br />

gewidmeten dritten Abends sehr geholfen.<br />

Sie war eine der wichtigsten österreichisch-britischen<br />

Fotografinnen des 20.<br />

Jahrhunderts“, erzählt Weiner über die<br />

Recherchen zur Lesung am 30. <strong>August</strong>.<br />

Am 1. September wird schließlich die politische<br />

Aktivistin und Autorin Irene Harand<br />

gewürdigt. Bereits im Jahr 1935<br />

erschien ihr Buch Sein Kampf – Antwort<br />

an Hitler. Darin widerlegt die leidenschaftliche<br />

Antifaschistin Adolf<br />

Hitlers Pamphlet Mein Kampf in allen<br />

Details, vor allem aber jegliche<br />

antisemitische Stereotype und geht<br />

in einem eigenen Kapitel auf die Fälschung<br />

der Protokolle der Weisen<br />

von Zion ein. Das Buch, das auch auf<br />

Französisch und Englisch erschien,<br />

sowie ihre ausgedehnten Vortragsreisen<br />

durch Europa und die USA<br />

(1937) sollten ihr bei der Mobilisierung<br />

der Öffentlichkeit gegen den<br />

Nationalsozialismus behilflich sein.<br />

Wie wir heute wissen, gelang dies<br />

nicht. Harand und ihr Mann konnten<br />

noch rechtzeitig in die USA fliehen,<br />

wo sie auch 1975 starb, viele ihrer<br />

Wegbegleiter, darunter ihr großes Vorbild,<br />

der jüdische Anwalt Moriz Zalman,<br />

wurden hingegen in der Shoah ermordet.<br />

Zielstrebige Bühnenkarriere. Zielstrebig und<br />

energiegeladen betreibt Weiner dieses<br />

Projekt heute als Freischaffende, und genauso<br />

verfolgte sie auch ihre Bühnenkarriere:<br />

Zuerst studierte sie Tanz bei Rosalia<br />

Chladek, danach Gesang und Schauspiel.<br />

Ihr erstes Engagement führte sie nach Basel,<br />

danach spielte sie Operetten in Baden<br />

und St. Pölten. „Das war eine schöne Zeit<br />

als Soubrette, da wird man als Allround-<br />

Talent gefordert“, lacht sie. Karl Schuster,<br />

der damals das „Volkstheater in den Außenbezirken“<br />

leitete, entdeckte sie, und<br />

Weiner wurde ans Wiener Volkstheater<br />

engagiert. „Gustav Manker, das schwierige<br />

Genie, engagierte mich 1976 an das Haus,<br />

Doris Weiner:<br />

Der Publikumsliebling<br />

ist auch in<br />

diesem Theatersommer<br />

vielbeschäftigt.<br />

„Ab sofort bin<br />

ich freischaffende<br />

Künstlerin<br />

und hoffe<br />

auf Engagements,<br />

denn<br />

das Wichtigste<br />

sind mir das<br />

Spielen und<br />

auf der Bühne<br />

Stehen.“<br />

Doris Weiner<br />

ab 1977 war ich<br />

fix im Ensemble.“<br />

Fünf Direktorinnen<br />

und Direktoren<br />

hat sie erlebt.<br />

Der sechste, Kay<br />

Voges, gewährte ihr noch zwei selbst verantwortete<br />

Abschiedsrunden: Sie stand in<br />

ihrer eigenen Inszenierung der Komödie<br />

Barfuß im Park in der Rolle einer agilen älteren<br />

New Yorker Mutter nahezu allabendlich<br />

auf einer anderen Bühne in den Außenbezirken.<br />

Gleichzeitig probte sie das<br />

Zwei-Personen-Stück Sechs Tanzstunden in<br />

sechs Wochen. Das und die Ehrenmitgliedschaft<br />

des Volkstheaters waren ihr Abschiedsgeschenk<br />

nach 43 Jahren.<br />

Mehrfach wurde Weiner in diesen Jahren<br />

zum Publikumsliebling gewählt, kein<br />

Wunder bei ihrem Rollenspektrum: Sie<br />

gab die Flora Baumscher in Nestroys Der<br />

Talisman und die Madame Knorr in dessen<br />

Einen Jux will er sich machen, spielte in<br />

Schnitzlers Anatol, in Eugène Labiches Das<br />

Glas Wasser oder in Tennessee Williams’ Die<br />

Glasmenagerie. Seit der Saison 2005/2006<br />

führte sie neben ihrer Schauspieltätigkeit<br />

das Volkstheater in den Bezirken und inszenierte<br />

auch zahlreiche Stücke. Doris<br />

Weiner leitete sowohl die Schauspielschule<br />

am Volkstheater wie auch – zusammen mit<br />

ihrem Kollegen Erwin Ebenbauer und anderen<br />

– das Volkstheater-Studio. „Ich bin<br />

auf alle meine Schülerinnen und Schüler<br />

stolz, dazu gehören Ursula Strauss, <strong>Juli</strong>a<br />

Cencig, Ali Jagsch, Aglaia Szyszkowitz<br />

oder auch Christian Dolezal.“ Und sie gesteht<br />

weiter: „Ich hätte immer am liebsten<br />

eine Bühne in einer Kleinstadt geleitet, wo<br />

jeder jeden kennt. Auf der anderen Seite<br />

bin ich aber durch und durch ein Großstadtkind<br />

– die Bezirkstournee war mein<br />

Ersatz“, schmunzelt sie.<br />

Der Sommer <strong>2022</strong> führt Doris Weiner<br />

so auch nicht nur mit Vier Frauen im Vierten<br />

an die Wiedner Arbeiterkammer, sondern<br />

auch zum Theaterfestival HIN&WEG ins<br />

niederösterreichische Litschau, wo sie bereits<br />

am 20. und 21. <strong>August</strong> den Text Liebste<br />

Mama lesen wird – „eine persönliche Geschichte,<br />

die mit Onkel Harry aus Tel Aviv,<br />

dem echten Sabre, begonnen hat“.<br />

* Peter Stephan Jungk: Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart.<br />

Geschichten eines Lebens. Frankfurt am Main: S. Fischer 2015.<br />

58 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

59


Ausbruch<br />

aus dem Gefängnis<br />

Von der hermetischen Welt der Satmarer Chassiden, seiner<br />

schmerzlichen Befreiung und dem Weg abseits des Weges erzählt<br />

Rabbi Akiva Weingarten in seinem Buch Ultraorthodox.<br />

Von Anita Pollak<br />

Heiratet seine jüngere Schwester<br />

vor ihm, dann ist er „geskipped“,<br />

ein „Übersprungener“,<br />

und das heißt am<br />

Heiratsmarkt zweite Wahl. Akiva ist noch<br />

nicht Zwanzig, als er diese Gefahr auf sich<br />

zukommen sieht. Also sagt er Ja zu Yalda,<br />

die 18 ist, aber geistig eigentlich noch ein<br />

Kind. „G’tt hat den Frauen ein kleineres<br />

Gehirn gegeben“, klärt ihn der zu Rate<br />

gezogene Rabbiner auf, „es reicht, wenn<br />

Frauen uns von der Sünde retten und unsere<br />

Kinder erziehen.“<br />

Nach drei gemeinsamen Kindern<br />

bricht Akiva nicht nur aus der unglücklichen<br />

Ehe aus. Er verlässt vor allem die<br />

ultraorthodoxe Gemeinschaft der Satmarer<br />

Chassiden, in die er hineingeboren<br />

wurde, und fliegt oder besser flieht<br />

eines Nachts aus Israel allein nach Berlin.<br />

Mit Unorthodox hat Deborah Feldman<br />

bereits vor zehn Jahren einen Einblick in<br />

die hermetische Welt der Satmarer Sekte<br />

in New York gegeben und damit einen<br />

„Es reicht, wenn Frauen uns<br />

von der Sünde retten und<br />

unsere Kinder erziehen.“<br />

Akiva Weingarten:<br />

Ultraorthodox.<br />

Mein Weg.<br />

Gütersloher<br />

Verlagshaus,<br />

256 S., € 20,60<br />

von Netflix 2020 auch verfilmten Weltbestseller<br />

gelandet. Unaufgeklärt und<br />

zutiefst verzweifelt in einer arrangierten<br />

Ehe, geht auch sie als junge Mutter gerade<br />

nach Berlin.<br />

Mit Ultraorthodox beleuchtet nun der<br />

jetzt als „liberal-chassidischer“ Rabbiner<br />

in Dresden tätige Akiva Weingarten quasi<br />

die männliche Seite derselben Medaille.<br />

Es ist eine von religiösen Geboten und<br />

Verboten beherrschte, von der Außenwelt<br />

streng abgeschottete Gesellschaft, in<br />

der sie aufwachsen. Ihrer beider Comingof-Age-Geschichten<br />

weisen dahingehend<br />

viele Parallelen auf.<br />

Selbstsuche. Akiva trägt aber darüber hinaus<br />

noch die Bürde als ältester, erstgeborener<br />

Sohn von insgesamt elf Geschwistern.<br />

Nach dem Willen des Vaters,<br />

der erst als junger Mann zu den Satmarern<br />

stieß, durchläuft Akiva in mehreren<br />

„Jeshivot“ zunächst in Amerika und<br />

dann in Israel die klassische Ausbildung<br />

zum ultraorthodoxen Rabbiner. Mit diversen<br />

Jobs, unter anderem<br />

mit dem Verkauf von<br />

Filterprogrammen für ein<br />

koscheres Internet, muss<br />

der junge Vater, der sich<br />

nur dem Studium der heiligen<br />

Schriften widmen<br />

sollte, aber auch zum Familienerhalt beitragen.<br />

Verstärkt durch das Fiasko seiner<br />

Ehe bekommt das Gefüge seiner scheinbar<br />

heilen Herkunftswelt Risse, Glaubenszweifel<br />

brechen immer drängender<br />

in den religiösen Alltag ein.<br />

Für ein Leben außerhalb dieser Welt ist<br />

er als „OTD, ein off the derech“, also als einer,<br />

der den „derech“, den Weg, verlassen<br />

hat, nach seinem Ausbruch aber in keiner<br />

Weise vorbereitet.<br />

Die Suizidrate unter dieser Art von<br />

Aussteigern ist alarmierend hoch, fallen<br />

sie doch aus einer rundum versorgenden<br />

Umgebung gleichsam ins bodenlose<br />

Nichts, begleitet vom Gefühl der absoluten<br />

Sinnlosigkeit. In einer Metamorphose<br />

seines Gottglaubens letztlich eine<br />

neue, freiere jüdische Identität findend,<br />

fängt sich Akiva vor dem drohenden Absturz<br />

auf.<br />

Nach diversen Erfahrungen unter anderem<br />

in Indien, in neuen erotischen<br />

Beziehungen, Begegnungen mit anderen<br />

religiösen Bewegungen und psychotherapeutischer<br />

Unterstützung gründet er<br />

schließlich in Dresden eine Selbsthilfegruppe<br />

Gleichgesinnter, beendet in Potsdam<br />

seine „Jüdischen Studien“ und ist<br />

heute als Rabbiner tätig, der sich schon<br />

auch mal mit Streimel und Kaftan fotografieren<br />

lässt.<br />

Keine Peep-Show. Seinen langen, schmerzlichen<br />

Weg dahin beschreibt er ohne Bitterkeit<br />

und ohne die Gemeinschaft, der<br />

seine Eltern, die trotz aller Befremdung<br />

zu ihm halten, seine Geschwister und<br />

Kinder immer noch angehören, zu diffamieren<br />

oder Peep-Show-artig bloßzustellen.<br />

Vom Aufwachsen in der beengenden<br />

Welt der Satmarer Chassiden, die er<br />

als „Gefängnis“ erlebt hatte, ihren absurd<br />

anmutenden Regeln, Zwängen und<br />

Tabus erzählt er im Rückblick fast abgeklärt<br />

und mit glaubhafter Authentizität<br />

und Ehrlichkeit.<br />

Fernsehserien wie Shtisel haben gezeigt,<br />

dass geschlossene Gemeinschaften wie die<br />

der Ultraorthodoxen, entsprechend präsentiert,<br />

auch für Außenstehende durchaus<br />

eine gewisse, vielleicht nicht nur der<br />

Neugier geschuldete Faszination ausüben<br />

können. Akiva Weingartens kaum fiktionalisierte,<br />

höchst persönliche Bekenntnisse<br />

reihen sich wie ein weiterer Puzzlestein<br />

in dieses komplexe Bild ein.<br />

60 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


WINA WERK-STÄDTE<br />

San Francisco<br />

Jüdische Museen gibt es weltweit in sämtlichen<br />

Formen. Aber nur wenige stehen so schräg wie<br />

das in San Francisco.<br />

Von Esther Graf<br />

Das Contemporary<br />

Jewish Museum befindet<br />

sich in der 736 Mission Street<br />

bei der Yerba Buena Lane<br />

im Stadtteil South of Market<br />

(SoMa).<br />

Kalifornien ist immer eine<br />

Reise wert. Der sonnige Bundesstaat<br />

an der amerikanischen<br />

Westküste ist nicht nur<br />

für Surfer ein Paradies, sondern hat auch<br />

kulturell einiges zu bieten. San Francisco<br />

zum Beispiel, die hügelige Metropole am<br />

Pazifischen Ozean, hält vor allem für Architekturliebhaber<br />

einige Schmankerl bereit.<br />

Zu den sehenswerten Bauwerken zählt<br />

das Contemporary Jewish Museum. 1984<br />

in einer kleinen Galerie eröffnet, führte<br />

eine umfangreiche Planungsphase zu einem<br />

Bau mit eigenwilligem Konzept. Untergebracht<br />

ist es seit 2008 in einem ehemaligen<br />

Umspannwerk. Das Museum ohne<br />

Sammlung sieht seinen Auftrag darin, im<br />

Rahmen wechselnder Ausstellungen zeitgenössisches<br />

Judentum in seiner Vielfalt<br />

zu zeigen. Der Stararchitekt Daniel Liebeskind<br />

verpasste den Innenräumen des<br />

Umspannwerks einen modernen Look und<br />

ergänzte das alte Gebäude um einen symbolträchtigen<br />

Anbau. Der dekonstruktivistische<br />

Kubus bezieht sich auf den Ausruf<br />

„Le Chajim“ (Auf das Leben!). Die hebräischen<br />

Buchstaben Chet und Jud, die das<br />

Wort „Chaj“ (Lebe!) bilden, standen Pate<br />

für die Form des schräg stehenden Kubus.<br />

Liebeskind erklärt den Einsatz der Buchstaben<br />

wie folgt: „The chet provides an overall<br />

continuity for the exhibition and educational<br />

spaces, and the yud with its 36<br />

windows serves as special exhibition, performance<br />

and event space.“ Die Architektur<br />

sieht Liebeskind somit als aktiven Teil<br />

der Vermittlungsarbeit.<br />

SAN FRANCISCO<br />

In der viertgrößten City Kaliforniens leben heute knapp 874.000 Menschen. Mitte des 19.<br />

Jahrhunderts folgten Juden dem Goldrausch und kamen in die 1776 gegründete Stadt. Bereits<br />

1851 gab es zwei Synagogen, 1870 machte die jüdische Bevölkerung zehn Prozent der 150.000<br />

nicht indianischen Bewohner der Stadt aus – nach New York City die zweitgrößte jüdische<br />

Ansiedlung in Amerika. 1977 wurde hier die erste Synagoge für homosexuelle Juden und<br />

Jüdinnen gegründet. Zum Vorstand gehörte der Schwulenaktivist Harvey Milk, der ein Jahr<br />

später ermordet wurde. Heute leben über 350.000 Jüdinnen und Juden im Bay Area.<br />

© Carol M. Highsmith, 2016, Commons Wikimedia<br />

wına-magazin.at<br />

61


SOMMER KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

HOMMAGE<br />

19 Uhr<br />

Bibliothek der Arbeiterkammer,<br />

Prinz-Eugen-Straße 20–22, 1040 Wien<br />

wien.gv.at/bezirke/wieden/pdf/<br />

kultursommer<strong>2022</strong>.pdf<br />

HÖRTOUR<br />

ueber-die-grenze.at<br />

AB 2. JULI <strong>2022</strong><br />

FLUCHTGESCHICHTEN PER RAD<br />

Mit einem beeindruckenden Projekt widmet sich<br />

das Jüdische Museum Hohenems – Projektleitung<br />

und Texte: Hanno Loewy und Raphael Einetter<br />

– über 100 Kilometern und über 50 Geschichten<br />

zum Thema Flucht vor dem NS-Regime in den Jahren<br />

1938 bis 1945. Der am 3. <strong>Juli</strong> feierlich eingeweihte<br />

mobile Hörweg entlang der Fluchtstationen führt<br />

auf der internationalen Radroute No. 1 vom Bodensee<br />

bis zur Silvretta und durch Vorarlberg, die<br />

Schweiz und Liechtenstein.<br />

Zwischen 1938 und 1945 flohen Tausende von Menschen<br />

über Vorarlberg in die Schweiz, von der sie<br />

die rettende Aufnahme erhofften. Die meisten von<br />

ihnen waren bereits ab 1933 im „Deutschen Reich“<br />

und ab März 1938 infolge des „Anschlusses“ auch<br />

im vorerst noch rettenden Österreich ihrer Existenzgrundlagen<br />

beraubt worden und versuchten nun,<br />

nur noch das schiere Leben zu retten. Doch schon<br />

im Sommer 1938 schloss die Schweiz die rettenden<br />

Grenzen, sodass nur noch illegale, oft lebensgefährliche<br />

Routen in Frage kamen, um Österreich<br />

und damit den sicheren Tod zu verlassen. Über die<br />

Grenze erzählt an ausgewählten Orten entlang der<br />

Radroute No. 1 von den Ereignissen rund um die<br />

NS-Verfolgung und die Fluchtrouten in dieser Region,<br />

wobei ein großer Teil des präsentierten Materials<br />

auf den bereits gut dokumentierten Fluchtgeschichten<br />

aufbaut, die von persönlichen Briefen<br />

und behördlichem Schriftgut bis hin zu Fotografien<br />

von Originalschauplätzen reichen. Die Tour präsentiert<br />

so ein multimedial beeindruckendes Bild jener<br />

Zeit und der dramatischen Ereignisse, und dies<br />

in einer Landschaft, die für die meisten heute nur<br />

noch als beliebtes „Urlaubsparadies“ zwischen See<br />

und Bergen bekannt ist.<br />

MUSIKREVUE<br />

20:15 Uhr, Wachauarena,<br />

Rollfährestraße 1, 3390 Melk<br />

wachaukulturmelk.at<br />

6. JULI BIS 13. AUG. <strong>2022</strong><br />

GLORREICHE TAGE<br />

Mit Glory Days oder Junge Römer präsentieren<br />

die Sommerspiele Melk eine<br />

Musikrevue, die niemand Geringerer<br />

als Publikumsliebling Tania Golden<br />

gestaltet hat, die auch für die Regie<br />

verantwortlich zeichnet. Dabei bewegt<br />

sich die vielseitige Künstlerin auf<br />

ganz neuem Terrain und lässt nicht<br />

weniger als 40 Evergreens und Popsongs<br />

in einer Art Science-Fiction-Setting<br />

à la Zurück in die Zukunft wiedererstehen.<br />

Futuristische Designs treffen<br />

hier auf historische Kostüme und berühmte<br />

Herrscher:innen von einst<br />

auf historische Epochen, von denen<br />

sie zu Lebzeiten noch nichts wussten<br />

und in denen sie sich von einer ganz<br />

neuen Seite zeigen müssen. Klingt<br />

ziemlich verrückt? Ist es auch! Und<br />

gerade deshalb einen sommerlichen<br />

Zeit-Sound-Trip in die Wachau wert.<br />

Tania Golden: Buch & Regie; Gerald Huber-<br />

Weiderbauer, Michael Strauss, Magdalena<br />

Schweiger: Musikalische Leitung & Arrangements;<br />

Thomas Huber: Choreografie; mit:<br />

Eleftherios Chladt, Thomas Dapoz, Florian<br />

Sebastian Fitz, Valentina Inzko Fink, Matthias<br />

Liener, Cornelia Mooswalder<br />

THEATERWANDERUNG<br />

8:45 Uhr<br />

Treffpunkt Kirche Gargellen, Montafon, Vorarlberg<br />

teatro-caprile.at<br />

montafon.at/auf-der-flucht<br />

15. JULI BIS 4 SEPT. <strong>2022</strong><br />

WANDERN AUF DEN SPUREN<br />

DER FLUCHT<br />

Das freie Wiener Ensemble teatro caprile hat sich<br />

in den letzten Jahren auf die Erarbeitung historischer<br />

Themen und Texte zur Shoah spezialisiert,<br />

die es den Besucher:innen an Originalschauplätzen<br />

im Rahmen mehrstündiger szenischer<br />

Touren näher bringt. Diesen Sommer präsentiert<br />

die Gruppe mit Auf der Flucht die „Montafoner<br />

Theaterwanderung“, eine „Grenzerfahrung<br />

zwischen Österreich und der Schweiz“. Die<br />

Produktion fußt unter anderem auf Texten von<br />

Franz Werfel und Jura Soyfer, anhand derer teatro<br />

caprile in theatralischen und tänzerischen<br />

Streiflichtern Fluchtrouten während der NS-Zeit<br />

nachspürt. Gespielt wird im Hotel Madrisa, in<br />

Almhütten und im freien Gelände, das Publikum<br />

begleitet dabei die Protagonist:innen hautnah<br />

auf ihrer theatralen Geschichtstour, deren<br />

Ziel das Sarotla-Joch ist. Die Inszenierung arbeitet<br />

gekonnt mit dem natürlichen Licht der Originalschauplätze<br />

und erzeugt innerhalb der Weite<br />

der faszinierenden Naturlandschaft eine beeindruckende<br />

kammerspielartige Dichte, in der<br />

Darsteller:innen, Gelände, die Geräusche von<br />

Wind, Wasser und Steinen, Licht und Schatten,<br />

Nebel, Regen und Schnee, aber auch Tiere, die<br />

den Weg kreuzen, eine ungewöhnliche szenische<br />

Symbiose eingehen.<br />

Konzept: Katharina Grabher; Regie: Andreas Kosek;<br />

Choreografie: Maria King; Bergcoaching und Moderation:<br />

Friedrich Juen, Stefanie Juen<br />

15.–17.07., 26.–28.08., 02.–04.09.<strong>2022</strong>; Dauer: ca. 5–6<br />

Stunden; die Tour findet bei jedem Wetter statt<br />

© Jüdisches Museum Hohenems; Glory Days/Daniela Matejschek/Melk; teatro caprile; Verlag; privat; theater 7<br />

SZENISCHE LESUNG<br />

13:30 Uhr (20.08.), 15 Uhr (21.08.)<br />

3874 Litschau (genauer Ort ab Anfang <strong>August</strong>)<br />

hinundweg.jetzt<br />

20. &. 21. AUGUST <strong>2022</strong><br />

BRIEFE AN DIE MUTTER<br />

Liebste Mama, die Geschichte einer Familie<br />

in Briefen nach einem Text von Daisy<br />

Koeb präsentieren dieses Jahre die beiden<br />

Schauspielerinnen Naemi Latzer und<br />

Doris Weiner im Rahmen des Hin und<br />

Weg Festivals in Litschau, das sich binnen<br />

weniger Ausgaben zu einem veritablen<br />

Theaterhotspot in Österreich entwickelt<br />

hat, das so einiges kann: jung und<br />

etwas weniger jung vereinen, Innovatives<br />

im landschaftlichen Setting des Waldviertels<br />

präsentieren und zum anregenden<br />

künstlerischen Austauch abseits der<br />

klassischen Sommertheaterbühnen einladen.<br />

Daisy Koeb, Jahrgang 1927, die 2019<br />

in Israel starb, begann ihre Arbeit, als sie<br />

in Pension ging und bei der Durchsicht<br />

alter Papiere auf Dokumente stieß, die<br />

sie selbst fast ein ganzes Leben lang vergessen<br />

hatte: ihre eigenen Briefe, die sie<br />

aus dem schwedischen Exil ab 1939 an<br />

ihre Eltern geschrieben hatte. Daisys Eltern<br />

gehörten zu jenen, denen die Flucht<br />

noch gelang – 1946 sahen sich Mutter<br />

und Tochter im Hafen von Haifa wieder.<br />

2007 erschien Koebs Familiengeschichte<br />

in Briefen Liebste Mama, die nun in einer<br />

szenischen Lesung mit Publikumsliebling<br />

Doris Weiner und ihrer jungen Schauspielkollegin<br />

Naemi Latzer präsentiert<br />

wird – ein faszinierendes und berührendes<br />

Zeitdokument.<br />

23., 25., 30. AUG. & 1. SEPT. <strong>2022</strong><br />

STARKE FRAUEN IM VIERTEN<br />

2021 präsentierten die Wiener Schauspielerin<br />

und langjährige Leiterin des Theaters in den<br />

Bezirken, Doris Weiner, und Dramaturgin Susanne<br />

Abbrederis den ersten Teil ihrer Reihe Vier<br />

Frauen im Vierten. <strong>2022</strong> erinnert nun der zweiten<br />

Teil, der in memoriam Susanne Abbrederis, der<br />

Ende 2021 verstorbenen langjährigen Chefdramaturgin<br />

des Volkstheaters, und erneut in der<br />

künstlerischen Leitung von Doris Weiner realisiert<br />

wird, an weitere vier Frauen, die im vierten<br />

Bezirk aufwuchsen, wirkten oder nach ihrer Emigration<br />

hierher zurückkehrten: an Wanda Lanzer,<br />

die heute fast vergessene Gründerin der Wiener<br />

Abendschulen, deren Verdienste um den Aufbau<br />

der AK-Bibliothek bislang noch viel zu wenig<br />

gewürdigt wurden. An Edith Tudor-Hart, die<br />

eminente sozialkritische Fotografin, deren Bilder<br />

über das Elend in Wien und London von der Zwischen-<br />

bis zur Nachkriegszeit heute von ikonografischem<br />

Wert sind. An Broncia Koller-Pinell,<br />

eine der ersten österreichischen Malerinnen, die<br />

sich um 1900 in der männlich dominierten Wiener<br />

Kunstszene einen festen (wenn auch postum<br />

wieder vergessenen) wichtigen Platz erringen<br />

konnten. Und an Irene Harand, deren mutige<br />

Schrift Sein Kampf. Antwort auf Hitler und internationale<br />

antifaschistische Bewegung zu den<br />

wichtigsten frühen großen Widerstandsaktionen<br />

gezählt werden muss. Sie alle sind heute weitgehend<br />

vergessen: Mit Vier Frauen im Vierten soll ihnen<br />

daher in diesem Sommer zumindest ein kleines<br />

szenisches Denkmal gesetzt werden.<br />

Mehr zu Doris Weiner und ihren aktuellen Projekten im<br />

Interview mit Marta S. Halpert auf Seite 58.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

STATIONENTHEATER<br />

Forum Am Seebogen,<br />

Eileen-Gray-Gasse 2, 1220 Wien<br />

(U2-Endstation „Seestadt“,<br />

Ausgang Lina-Bo-Bardi-Platz)<br />

theater7.at/lebensboegen<br />

AB 27. AUGUST <strong>2022</strong><br />

LEBENSBÖGEN, WEIBLICH<br />

Lebensbögen heißt das bereits zweite Stationentheater,<br />

das das freie Wiener Ensemble<br />

theater 7 auf die Beine gestellt hat.<br />

Wie schon im ersten Teil widmet sich auch<br />

Folge 2 Frauen, die den Straßennamen des<br />

großen Wiener Stadtentwicklungsgebietes<br />

Seestadt Aspern ihren Namen gegebenen<br />

haben. Darunter der brasilianischen Architektin<br />

Lina Bo Bardi, der österreichischen<br />

Autorin Käthe Recheis, der afrikanischen<br />

Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathaai<br />

und der vor zehn Jahren verstorbenen<br />

Wiener Widerstandskämpferin und Autorin<br />

Antonia Bruha. Für die Idee und künstlerische<br />

Leitung zeichnet auch diesen Sommer<br />

die Schauspielerin Vanessa Payer Kumar<br />

verantwortlich, die zudem gemeinsam mit<br />

Florian Stanek das Buch zu dieser spannenden<br />

Wiener Stadttour verfasst hat. Und:<br />

Keine Geringere als Multitalent Tania Golden<br />

zeichnet bei diesem Stück für die Regie<br />

verantwortlich und schlüpft an der Seite<br />

von Marion Rottenhofer, Viktoria Hillisch, Artur<br />

Ortens und anderen in so manche historische<br />

Rolle.<br />

27.8., 11 Uhr: Voraufführung; 28.8., 11 Uhr: Premiere;<br />

weitere Vorstellungen: 3. u. 10.9., 11 Uhr; 4. u.<br />

11.9.<strong>2022</strong>, 16 Uhr; Reservierungen: theater7.lebensbogen@gmail.com<br />

oder +43/(0)677/644 03 986<br />

62 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong><br />

wına-magazin.at<br />

63


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich meine Kunst an einem<br />

ungewöhnlichen Ort gesehen habe,<br />

war … Vergangenen April nahm ich an<br />

einer öffentlichen Kunstausstellung<br />

teil, die Hunderte von Busbahnhöfen<br />

in Tel Aviv bespielte. Es war schön,<br />

meine und die Kunst anderer in großen<br />

Formaten und statt der Werbung,<br />

die an solchen Orten üblicherweise<br />

gezeigt wird, zu sehen.<br />

Das letzte Mal, dass ich Horror vacui<br />

verspürte, war ... Um ehrlich zu sein,<br />

bin ich das Gegenteil von Horror vacui:<br />

Ich kenne dieses Gefühl kaum und<br />

neige dazu, beim Zeichnen und Malen<br />

so viel Raum wie möglich zu lassen. Ich<br />

mag die Leere, sie gibt mir das Gefühl,<br />

dass Luft zwischen den Elementen,<br />

Formen und verschiedenen Kompositionen<br />

„fließt“.<br />

Das letzte Mal, dass ich ein<br />

Kunstwerk gekauft habe, war …<br />

Zählen Musikkonzerte als Kunstwerke?<br />

Wenn ja: Vergangenen Mai habe ich in<br />

London viele Konzerte gesehen, das<br />

ist sicher die Kunstform, für die ich<br />

das meiste Geld ausgegeben habe.<br />

Wenn wir eher von „physischer“ Kunst<br />

sprechen, habe ich mir im <strong>August</strong> 2020<br />

ein frisches Tattoo von einem meiner<br />

Lieblingstätowierer stechen lassen.<br />

Das letzte Mal, dass ich durch meine<br />

Arbeit tolle Menschen kennengelernt<br />

habe, war … Immer, wenn jemand in<br />

mein Studio kommt, um sich tätowieren<br />

zu lassen, treffe ich auf einen einzigartigen<br />

Menschen mit seiner persönlichen<br />

Geschichte. Im April 2021 habe<br />

ich außerdem während meiner letzten<br />

Einzelausstellung die Gründer des Design<br />

Terminals in Bat Yam unweit von<br />

Tel Aviv kennengelernt. Alle Leute, die<br />

diesen Ort verwalten, sind einzigartig<br />

und großartig.<br />

Das letzte Mal, dass Kunst mich etwas<br />

verstehen ließ, war ... Bei jeder<br />

Show der Band IDLES: Gib jedes Mal,<br />

wenn du deine Kunst veröffentlichst,<br />

dein absolut Bestes – als wäre es dein<br />

letzter Tag auf Erden.<br />

VON DER LUFT ZWISCHEN<br />

DEN FORMEN<br />

Es gibt für alles ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

In diesem Monat berichtet der israelische Künstler UNTAY<br />

über seine Bilder, die ganze Werbeflächen einnehmen<br />

oder gerne mal in die Haut gestochen werden.<br />

Boaz Sides, auch bekannt als UNTAY, ist ein multidisziplinärer<br />

bildender Künstler, der in Tel Aviv lebt und arbeitet. Mittlerweile<br />

umfasst sein Œuvre eine Vielzahl von Straßen- und<br />

Studioarbeiten, Tätowierungen sowie kuratorische Projekte<br />

und die Produktion alternativer Kunstveranstaltungen und<br />

Ausstellungen. Für das diesjährige Streetart-Festival Calle<br />

Libre, bei dem er auch vor Ort teilnehmen wird, gestaltetet<br />

UNTAY das Plakatsujet (siehe auch Seite 29).<br />

untayart.com<br />

64 wına | <strong>Juli</strong>/<strong>August</strong> <strong>2022</strong>


Erleben Sie modernen Luxus und<br />

Wiener Charme im Ringstraßenpalais!<br />

Das 5-Sterne Superior<br />

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befindet sich im 1. Bezirk unweit der<br />

beliebtesten Sehenswürdigkeiten.<br />

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