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Simon Haas: Multirationales Management (Leseprobe)

Als hybride Organisation finden sich konfessionelle Unternehmen der Sozialwirtschaft gleichzeitig mehreren unterschiedlichen Handlungslogiken gegenüber, die allesamt für deren Fortbestand notwendig sind. Sie sind gefordert, diese innerhalb der Organisation zu vermitteln sowie in ein Verhältnis zu ihrem Existenzgrund zu setzen, um diesen in der Praxis von normativem, strategischem und operativem Handeln zu verwirklichen. Im Kontext des Werkes wird Multirationalität deshalb als notwendige Bedingung für die Gestaltung des Organisationstypus illustriert und dieser unter Rekurs zu einer systemtheorethischen und neoinstitutionalistischen Organisationstheorie untersucht. Schwerpunkt ist neben einer theoriegeleiteten Deskription die Bezugnahme zu der normativen Dimension konfessioneller sozialwirtschaftlicher Unternehmen und deren Bedeutung als gestaltungsbestimmende Maximen.

Als hybride Organisation finden sich konfessionelle Unternehmen der Sozialwirtschaft gleichzeitig mehreren unterschiedlichen Handlungslogiken gegenüber, die allesamt für deren Fortbestand notwendig sind. Sie sind gefordert, diese innerhalb der Organisation zu vermitteln sowie in ein Verhältnis zu ihrem Existenzgrund zu setzen, um diesen in der Praxis von normativem, strategischem und operativem Handeln zu verwirklichen. Im Kontext des Werkes wird Multirationalität deshalb als notwendige Bedingung für die Gestaltung des Organisationstypus illustriert und dieser unter Rekurs zu einer systemtheorethischen und neoinstitutionalistischen Organisationstheorie untersucht. Schwerpunkt ist neben einer theoriegeleiteten Deskription die Bezugnahme zu der normativen Dimension konfessioneller sozialwirtschaftlicher Unternehmen und deren Bedeutung als gestaltungsbestimmende Maximen.

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<strong>Simon</strong> <strong>Haas</strong><br />

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VDWI 67


Vorwort<br />

Grundlage dieses Buches ist die im Rahmen meines Studiums im Bereich <strong>Management</strong>,<br />

Ethik und Innovation im Nonprofitbereich. Diakonische Führung und Steuerung<br />

am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg unter<br />

der Fragestellung, multirationales <strong>Management</strong> in konfessionellen Unternehmen<br />

der Sozialwirtschaft. Zur innerorganisatorischen Verarbeitung pluraler Umweltimpulse.<br />

Am Beispiel der Diakonie. verfasste Masterthesis. Zur Publikation bei der<br />

evangelischen Verlagsanstalt Leipzig wurden die Inhalte überarbeitet.<br />

Die Entstehung der Fragestellung war maßgeblich von den Inhalten des Studiums,<br />

sowie von der Reflexion dieser im Kontext meiner beruflichen Tätigkeiten<br />

in den Bereichen der öffentlichen Verwaltung, sowie der freien Wohlfahrtspflege<br />

geprägt. Besonders beschäftigt hat mich dabei die Bedeutung des Propriums<br />

konfessioneller Unternehmen der Sozialwirtschaft und die Art und Weise,<br />

wie dieses als Ausdruck einer Unternehmenskultur im praktischen Handeln<br />

in unterschiedlichen Umwelten und im Umgang mit divergierenden Anforderungen<br />

erkennbar wird. Mit dem Ziel öffentliche Finanzierungsdefizite zu überwinden<br />

lösen gegenwärtige sozialstaatliche Modernisierungsprozesse die Verantwortung<br />

für Prozesse der Wohlfahrtsproduktion aus der Sphäre des Staates<br />

heraus und konstituieren diese in einem Netzwerk des Zusammenwirkens von<br />

unterschiedlichen (sozialräumlichen) Akteuren aus Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft<br />

und staatlichen Institutionen. In der Konsequenz wird das Feld sozialer<br />

personenbezogener Dienstleistungen zunehmend entsprechend marktlicher Steuerungsprinzipien<br />

organisiert. Als Erbringer sozialer personenbezogener Dienstleistungen<br />

sind Unternehmen der Sozialwirtschaft nunmehr gefordert mit diesem<br />

paradigmatischen Umbau und den Postulaten von Konkurrenz, Wirkungsorientierung<br />

und Rechenschaftsdarlegung in der Praxis umzugehen. Wenn im nachfolgenden<br />

Werk die These aufgestellt wird, dass sich das Konfessionelle und somit<br />

die Glaubwürdigkeit am praktischen Handeln messen lassen muss, dann<br />

stehen konfessionelle Unternehmen der Sozialwirtschaft gerade im Zusammenhang<br />

mit dieser strukturellen Neuorganisation des Feldes vor einer bedeutenden<br />

Herausforderung. Sie sind gefordert, Austausch- und Kommunikationsprozesse<br />

mit vielfältigen, für das Überleben der Organisation relevanten Umwelten si-


6<br />

Vorwort<br />

cherzustellen und müssen als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche zugleich<br />

die präskriptive Wirkung ihres Existenzgrundes in ein stimmiges Gesamtkonzept<br />

überführen, das eine Kohärenz zwischen normativem, strategischem und<br />

operativem <strong>Management</strong> aufweist, deren Strahlkraft einen glaubwürdigen Dienst<br />

am Nächsten ermöglicht, ohne sich einer betriebswirtschaftlichen Dominanz<br />

hinzugeben oder unreflektiert Erfüllungsgehilfe aktivierender Sozialverwaltung<br />

zu sein. Als Fach- und Führungskraft in der öffentlichen Verwaltung bzw. der<br />

freien Wohlfahrtspflege, die im sozialrechtlichen Dreieck agiert, habe ich wahrgenommen,<br />

dass sowohl die Veränderungsprozesse im Feld der Sozialwirtschaft<br />

als auch die vielfältigen internen und externen Anforderungen konfessioneller<br />

Unternehmen der Sozialwirtschaft diese vor eine Herausforderung stellen. Häufig<br />

wird diesem Druck zulasten einer Positionierung zwischen Markt und Staat<br />

nachgegeben, die schlussendlich in einer Diskrepanz zwischen normativen Ansprüchen<br />

und tatsächlichem Handeln mündet. Konfessionelle Unternehmen der<br />

Sozialwirtschaften stehen dabei nicht zuletzt auch deshalb unter Druck, da, so<br />

nehme ich es wahr, die gesellschaftliche Bewertung ihres Handelns zwar analytisch<br />

auf ein Motiv-Ertragskontinuum zwischen Egoismus und Altruismus, sowie<br />

Eigennutz und Gemeinwohl rekurrieren, eine Legitimität des Agierens aber ausschließlich<br />

aus einer unmittelbaren Normativität von Altruismus und Gemeinwohl<br />

erfolgt.<br />

Aus dem persönlichen Glauben und der Überzeugung, dass Subsidiarität mit<br />

ihren christlichen Wurzeln und eine korporatistische Verfasstheit politischer<br />

Willensbildung weiterhin wesentliche Konstitutionsbedingungen des sozialstaatlichen<br />

Arrangements sind, die auch in Zeiten von Quasi-Märkten einen entscheidenden<br />

gesellschaftlichen Mehrwert darstellen, wollte ich es in Folge der Wahrnehmung<br />

solcher Diskrepanzen nicht hinnehmen, konfessionelle Unternehmen<br />

der Sozialwirtschaft als nachteilig oder überholt zu akzeptieren oder einer privatwirtschaftlichen<br />

Organisation der Anbieterstrukturen einen Vorrang einzuräumen,<br />

um diese komplexen Spannungen und Widersprüche zu überwinden.<br />

Vielmehr war ich herausgefordert, meine Wahrnehmungen nicht als statische<br />

Gegebenheit zu akzeptieren, welche in organisationaler Ohnmacht mündet, sondern<br />

die Komplexität des organisationalen Gefüges mit all den Einbindungen in<br />

mannigfaltigen Umwelten deskriptiv zu erfassen und wissenschaftlich zu untersuchen,<br />

um die Frage, wie ein gelingendes organisationales Gefüge im Kontext<br />

dieser schwierigen Aufgabe im Zusammenhang mit widersprüchlichen Umweltanforderungen<br />

gestaltet werden kann, zu klären. Während der gesamten Zeit des<br />

Studiums hat mich deshalb die Reflexion und Gestaltung von Organisationen in<br />

pluralen Umwelten als zentrale Fragestellung im aktuellen Fachdiskurs fasziniert.<br />

Insbesondere die Reflexion des Gegenstandsbereichs im Kontext unterschiedlicher<br />

theoretischer Grundlagen habe ich dabei als notwendige Bedingung<br />

und zentralen Mehrwehrt wahrgenommen, um dieser Komplexität gerecht zu<br />

werden. Gemündet sind diese Gedanken abschließend in meiner Masterthesis<br />

mit o.g. Gegenstand, die nun in überarbeiteter Form veröffentlicht wird.


Vorwort 7<br />

Danken möchte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Johannes Eurich und Dr. Georg<br />

Mildenberger, welche nicht nur meine Masterthesis betreut haben, sondern auch<br />

während der gesamten Zeit des Studiums wertvolle Wegbereiter waren. Danken<br />

möchte ich Prof. Dr. Johannes Eurich für die Möglichkeit meine Arbeit bei der<br />

evangelischen Verlagsanstalt Leipzig veröffentlichen zu dürfen.<br />

Besonders danken möchte ich auch meinen Eltern, Rosemarie und Martin,<br />

sowie meiner Freundin Julia, für die Begleitung, die Unterstützung, die vielfältigen,<br />

prägenden Gespräche und Impulse sowie das unbegrenzte Mitfiebern und<br />

-feiern.<br />

Herzlichen Dank auch an das Diasporahaus Bietenhausen e.V. für die Unterstützung<br />

bei der Veröffentlichung meiner Arbeit.


Inhalt<br />

Einleitung ................................................................................................................... 11<br />

1 Analytischer Rahmen: Merkmale moderner Gesellschaften ..................... 13<br />

2 Theoretische Grundlagen ................................................................................. 17<br />

2.1 Grundlagen systemtheoretischer Organisationstheorie ................... 17<br />

2.2 Grundlagen neoinstitutionalistischer Organisationtheorie .............. 22<br />

2.3 Das Konzept der Multirationalität ........................................................ 26<br />

2.3.1 Eine konzeptionelle Entfaltung und<br />

organisationstheoretische Reflexion ........................................ 26<br />

2.3.2 Multirationalität und Hybridität ................................................ 28<br />

2.3.3 Multirationale Unternehmenssteuerung in pluralen<br />

Umweltkontexten ......................................................................... 31<br />

3 Organisation der Sozialwirtschaft. Eine Bestimmung am Beispiel<br />

der Diakonie ....................................................................................................... 35<br />

3.1 Zur Rolle der freien Wohlfahrtspflege im Sozialstaat und der<br />

Sozialwirtschaft ........................................................................................ 35<br />

3.2 Begründungsmuster organisierter Diakonie ...................................... 40<br />

3.3 Hybridität als Paradigma für Sozialwirtschaft und<br />

unternehmerische Diakonie................................................................... 45<br />

4 Multirationalität im Kontext unternehmerischer Diakonie ....................... 55<br />

4.1 Optionen multirationaler Steuerung: Neoinstitutionalistische<br />

Überlegungen ........................................................................................... 55<br />

4.2 Optionen multirationaler Steuerung: Systemtheorethische<br />

Überlegungen ........................................................................................... 62<br />

4.3 Folgerungen für multirationales <strong>Management</strong> diakonischer<br />

Unternehmen ............................................................................................ 69<br />

5 Ansätze zur Vermittlung pluraler Rationalitäten in Organisationen ...... 79<br />

5.1 Architektur organisationaler Vermittlungsfähigkeit:<br />

Interdisziplinarität ................................................................................... 79<br />

5.2 Architektur organisationaler Entscheidungsfähigkeit: Diskurse.... 82<br />

5.3 Architektur der Handlungsfähigkeit multirationaler<br />

Organisationen ......................................................................................... 96<br />

6 Auswahl praxisrelevanter Ansätze .............................................................. 101<br />

6.1 Kontextsteuerung am Beispiel von Corporate Governance ........... 101<br />

6.2 Balanced Scorecard ................................................................................ 104<br />

6.3 Unternehmenskultur und die Bedeutung von<br />

Führungshandeln ................................................................................... 106<br />

7 Fazit ................................................................................................................... 111<br />

Literaturverzeichnis ............................................................................................... 119


Einleitung<br />

Im Ringen um einen flächendeckenden Tarifvertrag im Bereich der Altenhilfe<br />

Anfang des Jahres 2021 hat die Arbeitgeberseite der Caritas von ihrem Vetorecht<br />

Gebrauch gemacht und die Umsetzung eines verbindlichen Tarifabkommens<br />

blockiert. Im gesellschaftlichen Diskurs wurde dieses Vorgehen erheblich kritisiert.<br />

An diesem Beispiel wird deutlich, welche Spannungs- und Konfliktfelder<br />

auf konfessionelle Unternehmen der Sozialwirtschaft zwischen wirtschaftlichen<br />

Erfordernissen, normativen Ansprüchen und gesellschaftlichem Wandel an der<br />

Schnittstelle zwischen Organisation und Umwelt wirken.<br />

Ziel dieses Buches mit dem Titel <strong>Multirationales</strong> <strong>Management</strong>. Diakonische<br />

Unternehmen in pluralen Umwelten gestalten ist, zu untersuchen, welche Implikationen<br />

und Notwendigkeiten aus dem Wesen konfessioneller Unternehmen der<br />

Sozialwirtschaft unter Zuhilfenahme des Ansatzes des Multirationalen <strong>Management</strong>s<br />

nach Schedler und Rüegg-Stürm im Hinblick auf die Gestaltung der Organisationssteuerung<br />

und -strukturen abgeleitet werden können. Diese Fragestellung<br />

soll am Beispiel der Diakonie bearbeitet werden. Der Ansatz des Multirationalen<br />

<strong>Management</strong>s ist für das Feld konfessioneller Unternehmen der Sozialwirtschaft<br />

von erheblicher Relevanz, da er sich mit der organisationalen<br />

Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Organisationen befasst, die grundlegend<br />

als hybrid konstruiert sind und aufgrund dieser pluralistischen Beschaffenheit<br />

mit vielfältigen und komplexen Wechselwirkungen zwischen Organisation<br />

und Umwelt umzugehen haben. Ausgangspunkt der Untersuchung bildet mit<br />

der Fokussierung der Organisation die Mesoebene. Kapitel 1 der vorliegenden<br />

Arbeit führt als analytischen Rahmen die Annahme einer funktional differenzierten<br />

Gesellschaft ein, die sich durch vielfältige, wechselseitige Kommunikationsund<br />

Austauschprozesse zwischen Gesellschaft, Organisation und Individuum<br />

auszeichnet und die aufgrund dieser netzwerkartigen Beziehungsstrukturen einen<br />

erheblichen Grad an Komplexität aufweist. Mit den Organisationstheorien<br />

des Neoinstitutionalismus und der Systemtheorie werden unter Kapitel 2 die<br />

Ausgangspunkte des Konzeptes des Multirationalen <strong>Management</strong>s vorgestellt<br />

und die für den Gegenstandsbereich dieser Arbeit relevanten theoretischen<br />

Grundlagen geschaffen. Kapitel 3 konkretisiert die Sphäre der konfessionellen


12<br />

Einleitung<br />

Unternehmen der Sozialwirtschaft und illustriert am Beispiel der unternehmerischen<br />

Diakonie deren normativen Bezugspunkte, sowie die Sphäre der Umwelt,<br />

um daraus ein spezifisches System-Umwelt-Verhältnis abzuleiten. Es soll aufgezeigt<br />

werden, dass unternehmerische Diakonie per se hybrid konstruiert und<br />

grundlegend gefordert ist, plurale Umweltimpulse zu verarbeiten. Dabei soll ein<br />

Bewusstsein für den Raum, die Paradoxien und Widersprüchlichkeiten, sowie<br />

die Bezugspunkte der unternehmerischen Diakonie geschaffen werden, die sich<br />

historisch bedingt mit der Frage nach einem Primat von Theologie bzw. Ökonomie<br />

befasst und aufgrund aktueller, sozialstaatlicher Entwicklungs- und Wandlungsprozesse<br />

organisationale Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit im Kontext<br />

vielfältiger Konfliktfelder sicherstellen muss. Im Verlauf von Kapitel 4 werden<br />

die zuvor gebildeten, theoretischen Grundlagen auf den Gegenstandsbereich<br />

der unternehmerischen Diakonie übertragen und aus Perspektive des Konzeptes<br />

der Multirationalität reflektiert, um daraus Implikationen für die Steuerung unternehmerischer<br />

Diakonie abzuleiten. Ziel ist es, aufzuzeigen, dass aufgrund der<br />

hybriden Beschaffenheit konfessioneller Unternehmen der Sozialwirtschaft ein<br />

gleichberechtigtes Verhältnis der einzelnen Rationalitäten im Rahmen der Organisationssteuerung<br />

notwendig ist, es aufgrund der spezifischen normativen Bezugspunkte<br />

allerdings eines differenzierteren Bildes von multirationaler Steuerung<br />

bedarf. Zwar stellt so das Prinzip der Binnendifferenzierung als Entfaltung<br />

von Paradoxien und Widersprüchlichkeiten zur Herstellung der organisationalen<br />

Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit eine unabdingliche Notwendigkeit multirationaler<br />

Strukturgestaltung dar. Das vermeintlich organisationsweite, gleichrangige<br />

Verhältnis aller Rationalitäten muss in diakonischen Unternehmen allerdings<br />

aufgrund der Wirklichkeit Gottes und deren Auftrag der Zuwendung<br />

zum Menschen als Existenzgrundlage durch eine Differenzierung auf zwei Ebenen<br />

ersetzt werden. Zum einen stehen in einem praktischen Vollzug multiple<br />

Rationalitäten gleichberechtigt nebeneinander. Zum anderen bildet die theologisch-biblische<br />

Begründung eine Super-Rationalität auf der Metaebene. <strong>Multirationales</strong><br />

<strong>Management</strong> als explizite Förderung der Entscheidungsfähigkeit, verstanden<br />

als bewusster Selektionsprozess, muss daher konfliktreduzierend auf<br />

zwei Ebenen wirken. Zum einen muss das gegensätzliche Charakteristikum des<br />

Entscheidungsbegriffs überwunden und zum anderen müssen die unterschiedlichen<br />

normativen Positionen auf Inhalts- und Beziehungsebene befriedet werden.<br />

In den Mittelpunkt der innerorganisationalen Verarbeitung pluraler Umweltimpulse<br />

im Lichte des Konzeptes des multirationalen <strong>Management</strong>s rückt der Entwurf<br />

einer Beziehungs- und Kommunikationsarchitektur. Anhand der Überlegungen<br />

zu Interdisziplinarität und Diskursen soll unter Kapitel 5 eine solche Beziehungs-<br />

und Kommunikationsarchitektur dargestellt werden. Kapitel 6 schließt<br />

die Arbeit mit einer skizzenhaften Darstellung einer Auswahl an Möglichkeiten,<br />

den spezifischen Entwurf von Multirationalem <strong>Management</strong> in konfessionellen<br />

Unternehmen der Sozialwirtschaft in die Praxis zu transformieren, ab.


1 Analytischer Rahmen: Merkmale<br />

moderner Gesellschaften<br />

Die zu Beginn erforderliche Konkretisierung des Gegenstandbereichs von Gesellschaft<br />

kann unter Zuhilfenahme der systemtheoretischen Architektur Niklas<br />

Luhmanns erfolgen, in welcher auf drei Ebenen verschiedene Systemtypen untergliedert<br />

werden. Auf der ersten Ebene findet sich der allgemeine Begriff der<br />

Systeme. Dieser gliedert sich auf der zweiten Ebene in Maschinen, Organismen,<br />

soziale Systeme und psychische Systeme (vgl. Seiler 2014, S. 56). In Abgrenzung<br />

zu den genannten Systemtypen sind soziale Systeme nichttriviale Systeme, d.h.<br />

komplexe Systeme, die keiner geradlinigen Ursache-Wirkungs-Beziehung folgen<br />

und in ihrem Letzt-Element aus Kommunikationen bestehen (vgl. <strong>Simon</strong> 2017, S.<br />

40). Betrachtet man Systeme aus einer Metaperspektive, so kann man zwischen<br />

System und Umwelt differenzieren. Folglich ist etwas stets Umwelt oder System.<br />

Als Umwelt von Systemen sind u.a. Organismen, physische Systeme oder der<br />

Kosmos zu betrachten (vgl. <strong>Simon</strong> 2017, 100f.). Auf einer dritten Ebene werden<br />

soziale Systeme in Gesellschaft, Organisation und Interaktion unterteilt. Während<br />

Interaktionssysteme entstehen, wenn zwei Akteure in Beziehung zueinander stehen,<br />

konstituieren sich Organisationen als mitgliedschaftlich gebildete Kommunikationssysteme<br />

auf der Basis von Entscheidungen (vgl. Seiler 2014, S. 56). Gesellschaft<br />

ist als die Gesamtheit aller Kommunikationen zu verstehen, die alle<br />

sozialen Systeme einschließt und in der Konsequenz keine soziale Umwelt kennt<br />

(vgl. Luhmann 2018, S. 244f.). Im Kontext der Analyse moderner Gesellschaften<br />

ist die Verknüpfung eines Differenzierungs- mit einem Funktionsprinzip aufschlussreich.<br />

Die systemtheoretische Gesellschaftsanalyse versteht Gesellschaften<br />

als funktional ausdifferenziert und erklärt ihre Verfasstheit mit der Funktion,<br />

welche ein soziales System für seine Umwelt erfüllt. Entsprechend dieser<br />

Annahme sind Gesellschaften ihrer Funktion nach in Teilsysteme gegliedert. Die<br />

einzelnen Funktionssysteme stehen in Interaktion zueinander und bilden in ihrer<br />

Gesamtheit die Gesellschaft. Systeme werden immer dann als Funktionssysteme<br />

bezeichnet, wenn Kommunikationsprozesse nach einem spezifischen Muster<br />

ablaufen und mit einem eigenen Sinn versehen werden (vgl. Reitinger 2012,<br />

S. 27). Diese als binäre Codes bezeichneten, spezifischen Kommunikationsprozesse<br />

operieren auf einer dualen Struktur und bestimmen sowohl Möglichkeits-


14<br />

1 Analytischer Rahmen: Merkmale moderner Gesellschaften<br />

räume als auch Grenzen und somit die innere Struktur der einzelnen Funktionssysteme.<br />

Eine solche Codierung dient der Bildung und Stabilisierung von Systemdifferenzen<br />

gegenüber der Umwelt (vgl. <strong>Haas</strong> 2006, 477ff.). Funktionssysteme<br />

bestehen, weil und solange sie einen bestimmten Nutzen erfüllen. Zu den<br />

wichtigsten gesellschaftlichen Funktionssystemen zählen neben dem Recht und<br />

der Ökonomie Familie, Politik und Religion. Indem Funktionssysteme nur über<br />

eine Codierung verfügen, müssen diese wechselseitig kommunizieren, um sinnhaftes<br />

Zusammenwirken zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu erreichen<br />

(vgl. Schedler und Rüegg-Stürm 2013d, S. 34). Aufgrund dieser Vielzahl netzwerkartiger<br />

Kommunikationen in funktional differenzierten Gesellschaften sind<br />

soziale Systeme komplex. Eine Funktionale Differenzierung erfolgt dann zum<br />

Zwecke der Komplexitätsreduktion (vgl. Reitinger 2012, S. 27). Parallel zur Ausbildung<br />

gesellschaftlicher Funktionssysteme erfolgt eine Ausdifferenzierung auf<br />

organisationaler und interaktionaler Ebene. Die jeweiligen Organisationstypen<br />

sind Bestanteil der differenzierten Funktionssysteme, operieren entsprechend<br />

den jeweiligen binären Codes und stehen im Dienst des Funktionierens der gesellschaftlichen<br />

Teilsysteme (vgl. <strong>Simon</strong> 2018, S. 15). Mit ihren differierenden<br />

Codes kommt den gesellschaftlichen Funktionssystemen im Hinblick auf deren<br />

Beziehung zu ihren Organisationen und Interaktionen eine konditionierende<br />

Wirkung zu. Sie sind nicht nur zentrale Bedingung für eine Differenzierung der<br />

Organisationen, sondern entfalten auch mittelbar Wirkung auf die Mitglieder<br />

und Interaktionssysteme einer Organisation, indem sie über Rollen Erwartungen<br />

produzieren (Müller-Jentsch 2003, 32f). Auf Ebene der Organisation wird der<br />

Modus der Beziehungsgestaltung durch die Prinzipien der Arbeitsteilung und<br />

Spezialisierung bestimmt. So können Vorteile wie etwa Erhöhung der Produktivität,<br />

Steigerung des Wohlstands oder Zeitersparnis realisiert werden (vgl. Kubon-<br />

Gilke 2018, S. 47). Damit bilden Differenzierung, d.h. Aufgabenverteilung und<br />

Integration, also die Zusammenfassung von Aufgaben bedeutsame Strukturprinzipien<br />

von Organisationen (vgl. Müller-Jentsch 2003, S. 41).<br />

Aktuell lässt sich ein Prozess beobachten, bei welchem aufgrund einer zunehmenden<br />

Funktionsdifferenzierung, dem Erodieren globaler Grenzen und<br />

wachsender Arbeitsteilung und Spezialisierung die gesellschaftlichen Teilsysteme<br />

auseinanderdriften und Netzwerk- bzw. Kommunikationsstrukturen zunehmend<br />

komplexer werden (vgl. Schedler und Rüegg-Stürm 2013d, S. 34). Die Beschreibung<br />

von Beziehungsgefügen moderner Gesellschaften lässt sich dann unter<br />

dem Akronym VUKA fassen. Dahinter verbirgt sich eine Beschreibung von<br />

Beziehungsstrukturen, welche moderne Gesellschaften als von Volatilität, Unsicherheit,<br />

Komplexität und Ambiguität geprägt charakterisiert. Das bedeutet,<br />

dass soziale Systeme und auch Gesellschaften heute von zahlreichen, sprunghaften<br />

Veränderungen in kurzer Zeit, mangelnder Vorhersagbar- und Planbarkeit,<br />

einer hohen Dichte an Interaktionen, Verbindungen, Wechselwirkungen und<br />

Möglichkeiten sowie mehrdeutigen Situationen und Informationen geprägt sind<br />

(vgl. Ruth Maria Sarica und Sarica 2020, S. 18). Zusammenfassend lässt sich<br />

festhalten, dass Komplexität und funktionale Differenzierung die wesentlichen


1 Analytischer Rahmen: Merkmale moderner Gesellschaften 15<br />

Kategorien moderner Gesellschaften beschreiben. Komplexität und funktionale<br />

Differenzierung stehen dabei komplementär zueinander. Funktionale Differenzierung,<br />

d.h. das Beziehungsgeflecht von Subsystemen zur Wahrnehmung gesellschaftlicher<br />

Funktionen, wird ausgebildet, um Komplexität zu reduzieren.<br />

Zum anderen müssen funktionale Teilsysteme ihre Komplexität erhöhen, um im<br />

Verhältnis ihrer gekoppelten Teilsysteme die Notwendigkeit von Abhängigkeit<br />

und Unabhängigkeit zu realisieren (vgl. <strong>Haas</strong> 2006, S. 477).<br />

Auf den Annahmen zur funktionalen Differenzierung der Systemtheorie baut<br />

die Dritte Sektor Forschung ihr Erkenntnisinteresse der Untersuchung von Produktionsprozessen<br />

von Wohlfahrt auf und bietet einen weiteren analytischen<br />

Zugang zur Gesellschaft, der im Kontext dieser Arbeit von Relevanz ist. Als analytischer<br />

Rahmen unterscheidet die Dritte Sektor Forschung die drei gesamtgesellschaftlichen<br />

Basisinstitutionen Markt, Staat und Gemeinschaft. Diese sind als<br />

gesellschaftliche Funktionssysteme konstruiert und folgen jeweils spezifischen<br />

Logiken (vgl. Evers 2011a, S. 269). Der Sektor Staat konstituiert sich durch eine<br />

hierarchische Steuerung von Strukturen und Prozessen bei der Erbringung öffentlicher<br />

Güter und zielt unter Bezug zu Recht und legitimem Zwang auf die<br />

Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen. Der Sektor Markt hingegen<br />

folgt dem Prinzip der Konkurrenz und des Wettbewerbs, um über das Medium<br />

Geld Tauschgeschäfte zwischen Anbietern und Nachfragern zu initiieren. Als<br />

weiterer zentraler Typus folgt die Sphäre der Gemeinschaft 1 dem Steuerungstypus<br />

der Reziprozität und basiert auf der persönlichen Beziehung, um solidarische<br />

Güter zu erstellen (vgl. Kehl und Then 2012, S. 138).<br />

1<br />

Als Archetyp der Basisinstitution Gemeinschaft gilt die Sphäre der Familie (vgl. Evers<br />

und Ewert 2010, 104f.).


2 Theoretische Grundlagen<br />

2.1 Grundlagen systemtheoretischer<br />

Organisationstheorie<br />

Die systemische Organisationstheorie kann als Ansatz verstanden werden, mit<br />

dessen Hilfe Differenzierung und Strukturbildung innerhalb des Typus der Organisation<br />

analysiert und erklärt werden können (vgl. Beck und Schwarz 2018,<br />

S. 152). Die systemische Organisationstheorie fußt auf einem konstruktivistischen<br />

Ansatz 2 und begreift Organisationen als Typus sozialer Systeme, die auf<br />

der Basis von fortgesetzter Kommunikation konstruiert und entwickelt werden.<br />

Grundlage der systemischen Organisationstheorie bildet die System-Umwelt-<br />

Unterscheidung. Die Kategorie der Differenzierung bildet das zentrale Moment<br />

der Bestimmung des System-Umwelt-Verhältnisses. Hierzu entwickelt die Organisation<br />

spezifische Bezugspunkte und Mechanismen der Selektion, auf denen<br />

basierend sich die Organisation von ihrer Umwelt differenziert, Impulse wahrnimmt<br />

und verarbeitet. Daraus abgeleitet sind Systeme strukturell an ihrer Umwelt<br />

orientiert und könnten ohne diese nicht existieren. Organisationen werden<br />

mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion gebildet (vgl. Kieser 2001, S. 317). Die<br />

Differenzierung von System und Umwelt erfolgt absolutistisch anhand einer Kategorisierung<br />

von Entweder/Oder. Demnach ist etwas entweder System oder Umwelt.<br />

Alles was nicht System ist, ist Umwelt (vgl. Luhmann 2018, 244f.). Die Erhaltung<br />

und Konstruktion einer Differenzierung erfolgt unter Bezug zum jeweiligen<br />

Funktionssystem der Organisation und bildet eine Grenze zwischen System<br />

und Umwelt. Differenzierung ist somit Systemerhaltung. Grenzen sind<br />

allerdings nicht als Abbruch von Zusammenhängen zu bewerten. Aus dem Differenzierungs-<br />

und Grenzbegriff ist lediglich abzuleiten, dass Möglichkeiten und<br />

2<br />

Der Konstruktivismus als erkenntnistheoretischer Ansatz geht in radikaler bzw. sozialer<br />

Ausprägung davon aus, dass Wirklichkeit und individuelle Weltbilder durch Kommunikationen<br />

und in Interaktion geschaffener Geschichte konstruiert ist. Wirklichkeitskonstruktion<br />

ist allerdings nicht als bewusster Akt zu verstehen, sondern als unbewusster Prozess<br />

bei dem Erfahrungen und Wahrnehmung in Beziehung zueinander gesetzt werden (vgl.<br />

<strong>Simon</strong> 2017, S. 67.).


18<br />

2 Theoretische Grundlagen<br />

Operationen in Abhängigkeit der Zuordnung zu System oder Umwelt variieren<br />

(vgl. Luhmann 2018, S. 55). Die Sphäre der Umwelt ist somit durch spezifische<br />

Selektionsmechanismen des Systems selbst konstruiert und besteht aus anderen<br />

Gesellschafts-, Organisations- oder Interaktionssystemen (vgl. Reitinger 2012,<br />

17f.). Die Organisationssysteme in der Umwelt stehen ebenfalls im Dienst einer<br />

spezifischen Funktionserfüllung, operieren auf der Basis entsprechender binärer<br />

Codes und bilden eigene Differenzen zur Systemerhaltung. Das Paradigma der<br />

System-Umwelt Beziehung baut demzufolge auf einem komplexen Konglomerat<br />

aus System und Systemen in der Umwelt auf (vgl. Luhmann 2018, 36f.).<br />

Um sich gegenüber einer um ein Vielfaches komplexeren Umwelt behaupten<br />

zu können, besteht die Notwendigkeit einer Komplexitätsreduktion durch Systeme.<br />

In der Annahme der systemischen Organisationstheorie kann Komplexität<br />

nur durch die interne Erhöhung von Komplexität reduziert werden. Die komplexitätsreduzierende<br />

Wirkung wird durch eine interne Ausdifferenzierung der Organisation<br />

erreicht. Die Organisation bildet Elemente aus, die in der Lage sind,<br />

spezifische Anforderungen der Umwelten wahrzunehmen, zu verarbeiten und<br />

diesen zu antworten. In der Folge bilden sich wiederum neue Kategorien der<br />

System-Umwelt Differenz, sodass die Fortführung von Kommunikationen und<br />

die Anschlussfähigkeit von Systemen an ihre Umwelt sichergestellt wird (vgl.<br />

Luhmann 2018, 250f.).<br />

Wenn soziale Systeme also aus Kommunikationen und Kommunikationsprozessen<br />

zwischen mindestens zwei Interaktionspartnern bestehen, kommt dem<br />

organisierten Schema gekoppelter Beziehungen zwischen System und Umwelt<br />

eine besondere Bedeutung innerhalb der systemischen Organisationstheorie zu.<br />

Kommunikation als zyklischer Prozess kann nicht beobachtet, sondern ausschließlich<br />

als Handlung erschlossen werden. Um Kommunikation und deren<br />

Bestandteile analytisch fassen zu können, ist eine Unterscheidung in Sach-, Sozial-,<br />

und Zeitdimension notwendig. Diese drei Dimensionen können zwar getrennt<br />

voneinander beschrieben werden, laufen in Kommunikationsprozessen aber<br />

stets implizit und parallel ab und stehen unter einem Kombinationszwang (vgl.<br />

<strong>Simon</strong> 2017, S. 49). Die Sachdimension betrachtet den Inhaltsaspekt und beschreibt<br />

die Themen von Kommunikation in sozialen Systemen. Die Zeitdimension<br />

führt eine Differenzierung von vorher und nachher ein und kann über einen<br />

Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsaspekt gefasst werden. Indem Zukunft<br />

auf einer Gegenwart mit Vergangenheit fußt, konstruiert die Zeitdimension<br />

Geschichte. Die Sozialdimension fokussiert das Beziehungsgeschehen und untersucht<br />

dieses daraufhin, wie ein anderer dieses kommunikative Trias erlebt.<br />

Eine Analyse von Kommunikation anhand dieser Dimensionen ermöglicht einen<br />

Zugang zur Untersuchung von Strukturen und Mustern. Denn Strukturen werden<br />

in komplexen Systemen wie Organisationen immer dann gebildet, wenn<br />

Kommunikations- und Interpretationsmechanismen einem bestimmten Muster<br />

folgen (vgl. Luhmann 2018, S. 112f.). Kommunikationen bestehen aus einem<br />

dreifachen Selektionsprozess aus Information, Mitteilung und Verstehen. Jede an<br />

der Kommunikation beteiligte Person könnte die wahrgenommenen Informatio-


2.1 Grundlagen systemtheoretischer Organisationstheorie 19<br />

nen der anderen Person auch anders verstehen. Damit ist Kommunikation ein<br />

kontingenter 3 Prozess, der interpretationsbedürftig ist und stets in einem individuellen<br />

Sinnhorizont beleuchtet werden muss. Der Sachverhalt der Kontingenz<br />

entfaltet auf beiden Seiten der Kommunikationsteilnehmenden Wirkung. Sodann<br />

kann von doppelter Kontingenz gesprochen werden (vgl. <strong>Simon</strong> 2017, S. 95).<br />

Kommunikation erwächst daraufhin zu einem zyklischen Prozess von Sinnzuschreibung.<br />

Die Organisation ist gefordert, Kommunikationsmuster zu entwickeln,<br />

die von Beständigkeit geprägt sind, nach innen sinnstiftend und nach außen<br />

differenzierend wirken. Sinn ist damit eine wesentliche Kategorie der systemischen<br />

Organisationstheorie (vgl. <strong>Simon</strong> 2018, 16ff.). Denn erst durch sinngeleitetes<br />

Wahrnehmen und Verstehen von Kommunikationen werden soziale<br />

Systeme wie der Typus der Organisation über das Prinzip der Differenzierung<br />

zwischen Umwelt und System gebildet (vgl. Luhmann 2018, S. 605). Sinn ist derjenige<br />

Mechanismus, den das System selbst entwirft und der die Selektion aus<br />

einem Möglichkeitsbereich realisiert, welche das System für relevant hält. Sinn<br />

lässt keine andere Wahl als zu selektieren (vgl. Rüegg-Stürm 2005, S. 20). Vor<br />

diesem Horizont werden soziale Systeme wie der Typus der Organisation dann<br />

als autopoietische, d.h. selbsterschaffende Systeme konstruiert. Autopoietische<br />

Systeme sind durch die Prinzipien der Selbstreferenz und operationalen Schließung<br />

gekennzeichnet. Dem Prinzip der Selbstreferenz folgend, vollziehen sich<br />

Operationen in autopoietischen Systemen ausschließlich unter Verweis auf das<br />

System und dem diesem innewohnenden Möglichkeitsraum (vgl. <strong>Simon</strong> 2018,<br />

24f.). Gleichzeitig verweist die Feststellung von autopoietischen Systemen als<br />

operational geschlossen darauf, dass Bezugspunkte des Prinzips der Selbstreferenz<br />

ausschließlich auf der Innenseite des Systems liegen (vgl. Reitinger 2012,<br />

18f.). Eine Verarbeitung einer Reizung des Systems erfolgt immer gemäß den<br />

eigenen Strukturen, d.h. interne Operation reagieren stets und ausschließlich auf<br />

interne Operationen. Die Prinzipien der Selbstreferentialität und operationalen<br />

Schließung bewirken, dass die Elemente, aus welchen das System besteht, durch<br />

dieses selbst gebildet werden (vgl. <strong>Simon</strong> 2018, 24f.). Daraus lässt sich allerdings<br />

nicht ableiten, dass soziale Systeme wie Organisationen unabhängig von<br />

ihrer Umwelt agieren, sondern lediglich, dass sie individuell und unvorhersehbar<br />

auf Impulse ihrer Umwelt reagieren und sich einer Außensteuerung entziehen.<br />

Autopoietische Systeme können deshalb nicht deterministisch und kausal<br />

gesteuert, wohl aber zerstört werden (vgl. <strong>Simon</strong> 2017, S. 53).<br />

Unter Rekurs zum Kommunikationsbegriff können hieraus Rückschlüsse<br />

zur System-Umwelt Grenzbildung gezogen werden. Kommunikation als selektiver<br />

Prozess setzt die Orientierung an Differenzen voraus. Differenzierung und<br />

Selektion sind wiederum an den Operationsmodus der Autopoiesis gebunden.<br />

Durch die Modi der Selbstreferenz und operationalen Schließung wird so die Bil-<br />

3<br />

Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist. Kontingenz stellt Realität<br />

nicht in Frage, sondern bezeichnet vielmehr Gegebenes im Hinblick darauf, dass dies<br />

auch anders möglich ist (vgl.<strong>Simon</strong> 2017, S. 95.).


20<br />

2 Theoretische Grundlagen<br />

dung der System---Umwelt Grenze kontrollierbar (vgl. Luhmann 2018, S. 70).<br />

Damit bezieht sich die Idee der autopoietischen Zirkularität auf das Ziel, das organisationale<br />

Überleben in vielfältigen System-Umwelt Beziehungen zu sichern<br />

(vgl. <strong>Simon</strong> 2018, 24f.). Der Annahme folgend, dass die Umwelt eines Systems<br />

selbst aus autopoietischen Systemen besteht, deren Ziel es ist, die eigene Autopoiesis<br />

und das Überleben des eigenen Systems sicherzustellen, ist das organisationale<br />

Überleben kein triviales Unterfangen. Jedes dieser Systeme bildet eine<br />

Umwelt für das andere System. Und jedes System hat eine je individuelle Umwelt,<br />

welche ebenfalls wieder strukturell mit anderen individuellen Umwelten<br />

gekoppelt sind. Da nicht vorhersehbar ist, wer oder was überleben wird, werden<br />

dynamische Wandlungsprozesse in Organisationen notwendig. Gelingt es der<br />

Organisation, die Autopoiesis fortzuführen, überlebt das System und entwickelt<br />

sich als abgegrenzte Einheit weiter (vgl. <strong>Simon</strong> 2017, S. 81). Eine Betrachtung<br />

von Organisationen aus Perspektive der Systemtheorie muss somit stets unter<br />

Rekurs zur Dimension der System-Umwelt Unterscheidung erfolgen (vgl. <strong>Simon</strong><br />

2017, S. 95). Die Bedeutung von Sinn für selbstreferentielle Systeme liegt insbesondere<br />

darin, dass das System durch die Zuschreibung von Sinn an Informationen<br />

befähigt wird, mit Interdependenzen und Komplexität in der System-Umwelt<br />

Beziehung umzugehen (vgl. <strong>Simon</strong> 2018, S. 15). Nur aus Perspektive eines solchen<br />

Sinnhorizonts erscheint eine Außeneinwirkung auf ein selbstreferentielles<br />

System als Bestimmung zur Selbstbestimmung, ohne dass hierbei die wesenseigene<br />

Struktur des Systems bzw. Strukturgesetzlichkeit beseitigt wird. Außeneinwirkungen<br />

in der Form von Kommunikationen sind daher Informationen,<br />

welche die Verlaufsrichtung der Entscheidung zwar einschränken, die das System<br />

allerdings mit sich selbst aushandelt. Sinnhorizonte sind die Grundlage für<br />

Informationsgewinnung und -verarbeitung und bilden den Verweisungszusammenhang<br />

für Selbstreferenz und operationale Geschlossenheit. Sinnbeschreibung<br />

ist also ein Prozess zur Aufrechterhaltung der Autopoiesis, der, um das<br />

Überleben des Systems zu sichern, Selektion ermöglicht, ohne zugleich andere<br />

Inhalte auszuschließen (vgl. Luhmann 2018, S. 105).<br />

Organisationen können nur zeitüberdauernd bestehen, wenn sie immer wieder<br />

neu realisiert werden. Dies bedeutet in der letzten Konsequenz, dass ihre<br />

Kommunikation fortgeführt wird. Dabei ist die Nichtveränderung, sowie die Veränderung<br />

eine genauso selbstverständliche wie nichtselbstverständliche Beschaffenheit<br />

von Organisationen. Darüber bedarf es in Organisationen einer Entscheidung<br />

(vgl. <strong>Simon</strong> 2018, S. 15). Organisationen operieren deshalb auf der<br />

Basis von Entscheidungen. Entscheidungen sind Kommunikationen, welche auf<br />

einer Unterscheidung zwischen Entweder/Oder operieren. Eine Entscheidung für<br />

das eine bedeutet zugleich eine Entscheidung gegen das andere, die in der Einschränkung<br />

der Möglichkeiten mündet. Entscheidungen können als das bewusste<br />

Prozessieren über Selektionen verstanden werden. Entscheidungsfähigkeit<br />

beschreibt daran anknüpfend die Fähigkeit, diesen bewussten Selektionsprozess<br />

zu vollziehen. Grundlegende Voraussetzung für die organisationale Entscheidungsfähigkeit<br />

ist das Vorhandensein und die Schaffung von Handlungsalterna-


2.1 Grundlagen systemtheoretischer Organisationstheorie 21<br />

tiven. Die Notwendigkeit zur Entscheidung fußt auf Impulsen der Umwelt. Unter<br />

Verweis zum Konzept der Autopoiesis wird die Richtung der Entscheidung ausschlaggebend<br />

von dem spezifischen organisationalen Sinnhorizont getroffen.<br />

Rekurrierend auf die analytische Differenzierung von Kommunikationsprozessen<br />

in Sach-, Sozial- und Zeitdimension sind Entscheidungen in Organisationen<br />

in der Konsequenz nicht umweltabhängig, sondern Entscheidungsabhängig. Sie<br />

wirken deshalb komplexitätsreduzierend und absorbieren Unsicherheit (vgl.<br />

Dreppner und Tacke 2010, 249ff.) Zugleich ist Unsicherheit die zentrale Kategorie<br />

von Entscheidungen, denn Entscheidungen beruhen auf Wissen und Nichtwissen.<br />

Unter Bezug zur Zeitdimension wird Wissen aus der Erfahrung der Vergangenheit<br />

abgeleitet und Nichtwissen entsteht aufgrund einer Zukunft, die noch<br />

nicht erfahren wurde. Betrachtet man die Wirkung von Entscheidungen im Hinblick<br />

auf Unsicherheit aus einer ex-post Perspektive, so lässt sich feststellen,<br />

dass sich die Mitglieder einer Organisation im Anschluss an eine Entscheidung<br />

so verhalten, als wäre die Zukunft sicher. Aus einer VUKA Welt wird eine sichere<br />

Welt. Unsicherheit als Ursache von Entscheidungen wird die wichtigste Ressource<br />

von Organisationen, denn ohne Unsicherheit gibt es keine Gründe zu entscheiden.<br />

Die Organisation würde sich in einem Zustand absoluter Stagnation<br />

wiederfinden. Fortlaufende Kommunikationen würden abbrechen und in letzter<br />

Konsequenz würde die Organisation in ihrer Existenz enden. Somit besteht die<br />

Leistung und Funktion der Organisation darin, Entscheidungen und Anschlussentscheidungen<br />

zu ermöglichen und an kommunizierte Entscheidungen weitere<br />

kommunizierte Entscheidungen anknüpfen zu lassen, ohne vorherige Entscheidungen<br />

Infrage zu stellen (vgl. <strong>Simon</strong> 2018, 67ff.).<br />

Entscheidungen in Organisationen kommen allerdings nur durch die Inkorporierung<br />

von Personen vor. Da Menschen allerdings nie in ihrer Ganzheitlichkeit<br />

als Mitglieder in Organisationen integriert und zugleich immer als Umwelt<br />

einer Organisation existieren, stellt sich die Frage, wie Entscheidungen in Organisationen<br />

erwartbar werden. Zur Beantwortung dieser Frage muss in Organisationen<br />

notwendigerweise zunächst zwischen Individuum und Rolle unterschieden<br />

werden. Während der Begriff des Individuums einen Menschen in seiner<br />

ganzen, unverwechselbaren Dimension beschreibt, meint eine Rolle immer eine<br />

Funktion innerhalb einer Handlung. Eine Rolle konstruiert sich über ein Bündel<br />

an sie gestellter Verhaltenserwartungen. Die Funktion der Rolle besteht darin,<br />

die Verhaltensmöglichkeiten so einzuschränken, dass individuelles Verhalten<br />

innerhalb eines gewissen Bereichs an Abweichungen erwartbar wird (vgl. <strong>Simon</strong><br />

2018, S. 44f.). Für den Erwartungsbegriff ist die Ausbildung von Strukturen und<br />

Mustern bedeutsam. Strukturen werden hier verstanden als Bestandteile und<br />

Relationen, die in einer spezifischen Art und Weise eine Organisation bzw. ihre<br />

Einheit verwirklichen. Strukturen werden über Erwartungen gebildet, wenn diese<br />

kommuniziert und antizipiert werden. Die einmalige Erfüllung einer Erwartung<br />

kann noch nicht als Struktur bezeichnet werden. Strukturen werden nur<br />

auf der Basis von zeitüberdauernden Mustern gebildet. Unter Verweis auf die<br />

Überlegungen der Zeitdimension sind Strukturen nichts Statisches, sondern als


3 Organisation der Sozialwirtschaft.<br />

Eine Bestimmung am Beispiel der<br />

Diakonie<br />

3.1 Zur Rolle der freien Wohlfahrtspflege im<br />

Sozialstaat und der Sozialwirtschaft<br />

Um die Organisation der Sozialwirtschaft im Sozialstaat bestimmen zu können,<br />

ist es zu Beginn notwendig, den Staatstypus der Bundesrepublik Deutschland zu<br />

skizzieren. Die Bundesrepublik Deutschland ist als Sozial- und Wohlfahrtsstaat<br />

konzeptualisiert und kennzeichnet sich durch die Übernahme sozialer und sorgender<br />

Verantwortung des Staates zur Gewährleistung eines Mindestniveaus an<br />

individuellem und gesellschaftlichem Wohlergehen (vgl. Sesselmeier und<br />

Wydra-Somaggio 2012, S. 28).<br />

Wohlfahrtstaaten zeichnen sich durch ein organisiertes Gemeinwesen aus,<br />

das für von Exklusion bedrohte Gruppen (bspw. Alte, Kranke, Ewerbslose)<br />

Möglichkeitsräume zur Teilhabe und Herstellung von Gleichheit bereithält, um<br />

Benachteiligungslagen zu kompensieren. Fragen der Staatskonstruktion<br />

adressieren somit stets das Verhältnis von Indiviuum und Gesellschaft (vgl.<br />

Butterwegge 2018, S. 19). Anhand der Kriterien der Dekommodifizierung und<br />

Desratifizierung 6 lassen sich im internationalen Vergleich drei wohlfahrtsstaatliche<br />

Typen identifizieren: liberal, sozialdemokratisch und konservativ. In liberalen<br />

Wohlfahrtsstaaten ist sowohl der Grad an Dekommodifizierung als auch an Desratifizierung<br />

sehr gering. Dies ist verbunden mit hohen individuellen Risiken<br />

und Ungleichheit. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten sind durch eine starke<br />

Rolle des Staates gekennzeichnet, woraus ein hoher Grad an Dekommodifizierung<br />

und Desratifizierung entsteht. Konservative Wohlfahrtstaaten zeichnen<br />

sich hingegen durch einen hohen Grad an Dekommodifizierung und einen niedrigen<br />

Grad an Desratifizierung aus (vgl. Sesselmeier und Wydra-Somaggio 2012,<br />

6<br />

Dekommodifizierung beschreibt die Entkopplung von Risiken der Märkte von einem Individuum.<br />

In Wohlfahrtsstaaten mit einem hohen Grad an Dekommodifizierung ist ein gewisser<br />

Lebensstandard durch staatliche Institutionen gesichert. Desratifizierung meint<br />

hingegen den Grad der Durchlässigkeit der Sicherungssysteme in Bezug auf Lebenslagen<br />

und Solidarbeziehungen (vgl. Sesselmeier und Wydra-Somaggio 2012, 28f.).


36<br />

3 Organisation der Sozialwirtschaft<br />

29f.). Die Bundesrepublik Deutschland, verstanden als konservativer Wohlfahrtsstaatstypus,<br />

knüpft individuelle und kollektive Wohlfahrt an die Bedingung einer<br />

Erwerbstätigkeit und konzipiert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft<br />

als soziale Marktwirtschaft. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft gründet auf<br />

der Verpflichtung des Staates, durch die Schaffung und Gewährleistung von<br />

Rahmenbedingungen für gelingenden Wettbewerb und zugleich für sozialen<br />

Ausgleich zu sorgen (vgl. Kaufmann 2016, 253f.). Dies impliziert die Annahme<br />

einer gleichzeitigen Steigerbarkeit individueller Freiheit und kollektiver Vorsorge<br />

und knüpft an die Vorstellung der gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierung<br />

an. Das Funktionieren des Wohlfahrtsstaats ist somit eine komplexe Synthese<br />

unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionssysteme, die sich wechselseitig<br />

ergänzen und in Schranken halten (vgl. Kaufmann 2004, 29f).<br />

Die Begründung des Sozialstaates, sowie dessen inhaltliche Bestimmung ist<br />

verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 1 GG i.V.m. Art 28 Abs. 1 GG normiert. Daraus<br />

abgeleitet adressiert sich der sozialstaatliche Verfassungsauftrag auf eine<br />

Wirtschafts- und Sozialordnung, die konfliktreduzierend, notmindernd und gerechtigkeitsorientiert<br />

wirkt (vgl. Beck und Schwarz 2018, S. 47). Staatliche Sozialpolitik<br />

zielt primär darauf ab, in der modernen, arbeitsteilig organisierten und<br />

eigentumsorientierten Erwerbsgesellschaft den gesellschaftlichen Zusammenhalt<br />

zu fördern, indem in kritischen Lebensphasen Ressourcen zur Bewältigung<br />

und Absicherung dieser bereit gestellt werden (vgl. Beck und Schwarz 2018, S.<br />

41). Für die Ausgestaltung des sozialstaatlichen Arrangements zwischen Individuum<br />

und Gesellschaft sind im Allgemeinen die Strukturmaximen der Subsidiarität<br />

und Solidarität bindend. Das Subsidiaritätsprinzip wurzelt in zwei historischen<br />

Strängen und zielt im Kern seiner Bedeutung auf die Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

Aus einer liberalen Tradition wird der Vorrang einer kleineren Einheit vor dem<br />

Tätigwerden einer größeren Einheit postuliert. Daraus werden sowohl ein Recht<br />

auf Schutz vor Eingriff als auch ein Recht auf Unterstützung bei mangelnder<br />

Problemlösungskompetenz begründet. Abgeleitet aus der katholischen Soziallehre<br />

zielt das Subsidiaritätsprinzip darauf ab, dem Menschen das Menschsein zu<br />

ermöglichen. Das Solidaritätsprinzip verweist auf eine wechselseitige Verbundenheit<br />

zwischen Individuum und Gesellschaft und verpflichtet sowohl das Individuum<br />

gegenüber der Gemeinschaft, als auch die Gemeinschaft gegenüber dem<br />

Individuum (vgl. Beck und Schwarz 2018, 48f.).<br />

Unter Rekurs auf diese beiden Prinzipien ist für den Prozess der politischen<br />

Willensbildung im Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland die unter dem<br />

Begriff des Korporatismus gefasste Inkorporierung von Interessensverbänden<br />

konstitutiv. Die Annahme des Korporatismus fußt auf der Idee, den Staat quantitativ<br />

zu entlasten, die qualitative Leistungsfähigkeit unter Bezug zu den Selbstheilungskräften<br />

der Gesellschaft zu fördern und dabei die Position des Individuums<br />

in der Gemeinschaft zu stärken (vgl. Vaske 2016, 42ff.). Für die Praxis der<br />

Gesetzgebung bedeutet dies, dass die legislative Beschlussfähigkeit in ein Netzwerk<br />

aus Kooperationspartnern und Co-Akteuren eingebunden ist. Dieser Aufbau<br />

ist als Konfliktlösungsstrategie zwischen Staat und Gesellschaft zu verste-


3.1 Zur Rolle der freien Wohlfahrtspflege 37<br />

hen, der Verbände und Politik gleichermaßen in die Verantwortung für die Bildung<br />

von Gemeinwohl nimmt. Aus diesem Aufbau erwächst neben einer privilegierten<br />

Stellung der Interessensverbände auch eine als legitim anerkannte Institutionalisierung<br />

von Interessen (vgl. Beck und Schwarz 2018, S. 52). Im Bereich<br />

sozialpolitischer Willensbildung lassen sich sechs als Wohlfahrtbände bezeichnete<br />

Interessensverbände identifizieren: Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband,<br />

Paritätischer Gesamtverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie<br />

Deutschland und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (vgl.<br />

Vaske 2016, S. 108). Diese Wohlfahrtsverbände unterscheiden sich durch differierende<br />

Motive und Begründungen ihrer Hilfs- und Werttradition und leisten<br />

neben der Inkorporierung in den politischen Willensbildungsprozess in erheblichem<br />

Maß praktische soziale Arbeit. Sie verstehen sich als Gemeinwohlagenturen,<br />

die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit beitragen und Gesellschaft<br />

entsprechend eigener Überzeugungen und Wertehaltungen gestalten (vgl.<br />

Maaser 2016, 177f.). Im Allgemeinen lassen sich unterschiedliche Funktionen<br />

der freien Wohlfahrtspflege identifizieren: sozialer Dienstleister, Sozialanwalt und<br />

Werteerhalter. Als sozialer Dienstleister erbringen Organisationen der freien<br />

Wohlfahrtspflege soziale Dienstleistungen für öffentliche Einrichtungen und leisten<br />

im Feld der Sozialwirtschaft im Alltag praktische soziale Arbeit. In ihrer<br />

Funktion als Sozialanwälte treten sie in einer doppelten Rolle auf. Zum einen<br />

fungieren sie in der alltäglichen Arbeit als Anwälte des einzelnen Menschen gegenüber<br />

Behörden oder Unternehmen. Als korporatistischer Akteur vertreten sie<br />

zudem die Interessen der sozialen Gruppe gegenüber dem Staat (vgl. Ottnad et<br />

al. 2000, S. 78). Durch ihre Milieuaffinität stellen sie Wissen über Verlusterfahrungen<br />

menschlicher Würde, Elendssituationen, sowie Konstruktionsbedingungen<br />

lebensweltlicher Wirklichkeit zur Verfügung und liefern wichtige Informationen<br />

für politische Akteure. Zugleich tragen sie dadurch zu einer Verwirklichung<br />

ihrer Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft bei (vgl. Maaser 2013,<br />

32f.). Im Motiv der Sozialanwaltschaft liegt allerdings auch ein wesentlicher Kritikpunkt<br />

der Wohlfahrtsverbände begründet. Ihnen wird vorgeworfen, durch die<br />

Identifikation von Problemlagen neue Märkte für soziale Dienstleistungen zu<br />

schaffen und unmittelbar selbst von ihrem Engagement zu profitieren (vgl.<br />

Ottnad et al. 2000, S. 78). Als Werteerhalter verknüpfen sie die Vorstellung eines<br />

solidarischen Gemeinwesens mit je eigenen Werte- und Deutungskulturen. Dabei<br />

mobilisieren sie freiwillige, private Hilfs- und Opferbereitschaft, die sich zumeist<br />

in Zeit- und Geldspenden ausdrückt. Indem die freie Wohlfahrtspflege<br />

Werte vermittelt und altruistisches Verhalten praktiziert, wirkt sie der Erosion<br />

traditioneller sozialer Strukturen entgegen und fördern die Idee eines verbundenen<br />

Gemeinwesens, das soziales Kapital bildet und eine Überforderung öffentlicher<br />

Institutionen verhindert (vgl. Ottnad et al. 2000, 70ff.). Die Wohlfahrtsverbände<br />

sind in ihrem Wesen multifunktional und können nicht auf einen Aspekt<br />

reduziert werden (vgl. Evers 2018, S. 894). Durch die Ausrichtung der freien<br />

Wohlfahrtspflege auf einen gesellschaftlichen und gemeinwohlstiftenden Nutzen<br />

sind ihre unternehmerischen Formen dem Feld der Sozialwirtschaft zuzuordnen.


38<br />

3 Organisation der Sozialwirtschaft<br />

Der Handlungsrahmen und Gegenstandsbereich der Sozialwirtschaft kann<br />

institutionell und funktional bestimmt werden. Institutionell wird die Sozialwirtschaft<br />

als Feld des Wirtschaftssektors beschrieben und umfasst alle Organisationen,<br />

unabhängig von der Rechtsform, deren Zweckbestimmung auf die soziale<br />

und gesundheitliche Versorgung von Menschen ausgerichtet ist. Unter einem<br />

funktionalen Aspekt beschreibt die Sozialwirtschaft die Art und Weise des Wirtschaftens:<br />

Bewirtschaftung von Versorgung und Rekurs auf das Prinzip der Sozialität.<br />

In dieser Bestimmung ist das Sachziel einer sozialwirtschaftlichen Organisation<br />

zu sehen. Diesem kommt ein unmittelbarer Vorrang gegenüber Formalzielen<br />

zu. Sozialwirtschaftliches Handeln konstituiert sich aus einer wechselseitigen,<br />

solidarischen Verantwortung zwischen Individuum und Gesellschaft, bei<br />

welcher durch einen ökonomischen Prozess des Wirtschaftens sozialer Exklusion<br />

von Menschen entgegengewirkt wird. Die Leistungen, d.h. das Produkt der<br />

Sozialwirtschaft, kann als soziale personenbezogene Dienstleistung kategorisiert<br />

werden (vgl. Wendt 2018, S. 11). Sozialwirtschaft als Bedarfswirtschaft zur Fürsorge<br />

und Versorgung begründet die Leistung der sozialen, personenbezogen<br />

Dienstleistung über gesellschaftlich definierte und sozial konstruierte Exklusionsbedingungen<br />

und Hilfebedürftigkeit, die auf eine Herstellung wünschenswerter<br />

Zustände in der Lebensrealität oder im Verhalten der Hilfeempfänger abzielen<br />

(vgl. Dreppner und Tacke 2010, 260f.).<br />

In der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland hat sich eine<br />

spezifische Organisation sozialer personenbezogener Dienstleistungen entwickelt,<br />

die maßgeblich das Funktionieren der Sozialwirtschaft bestimmt. Konstitutiv<br />

ist eine triadische Beziehung zwischen Staat, Hilfeempfänger und Anbietern<br />

sozialer Dienstleistungen. Im Mittelpunkt steht ein/e Hilfeempfänger*in, welche/r<br />

einen Hilfs- oder Leistungsanspruch hat und diesen gegenüber dem Leistungsgewährer,<br />

dem jeweiligen öffentlichen Träger, geltend machen kann. Der<br />

öffentliche Träger gewährt die Leistung in Form von Sach- oder Dienstleistungen,<br />

die er im Regelfall nicht selbst erbringt, sondern die ein Anbieter der Sozialwirtschaft<br />

aufbringt. Zur Verwirklichung dieses triadischen Verhältnisses sind<br />

mehrere Rechtssphären notwendig. Zum einen wird in der Beziehung zwischen<br />

öffentlichem Träger und Klient die Sphäre des öffentlichen Rechts tangiert. Zwischen<br />

Klienten und Dienstleistern hingegen ist die Sphäre des privaten Rechts<br />

gegeben. In der Beziehung zwischen öffentlichem Träger und Dienstleister werden<br />

Leistungsverträge geschlossen, in denen Entgelte zur Vergütung der erbrachten<br />

Dienstleistung vereinbart und gesetzliche Qualitätsanforderungen eingefordert<br />

werden, um ein effizientes und effektives Leistungsspektrum zu gewährleisten.<br />

Neben der freien Wohlfahrtspflege können auch privatgewerbliche<br />

Anbieter soziale personenbezogene Dienstleistungen erbringen (vgl. Zimmer et<br />

al. 2018, S. 106).<br />

Im Feld der Sozialwirtschaft bedarf es daher der Unterscheidung zwischen<br />

Nonprofit- und Forprofit-Organisationen. Im Kern unterscheiden sich diese Organisationstypen<br />

im Hinblick auf den Umgang mit Gewinnen (vgl. Brink 2017, S.<br />

343). Weiter definiert die John Hopkins Universtity den Nonprofitsektor über


3.1 Zur Rolle der freien Wohlfahrtspflege 39<br />

fünf Merkmale. Zum einen sind Nonprofitorganisationen formal organisiert, weisen<br />

also einen institutionellen Aufbau vor und sind zweitens nichtstaatliche Organisationen.<br />

Eine Privatisierung findet drittens nicht statt. Als viertes Kriterium<br />

erfolgt eine autonome Steuerung, d.h. Geschäfte werden in Eigenkontrolle organisiert.<br />

Als letztes Kriterium schließt eine Nonprofitorganisation als freiwilliger<br />

Verbund eine Zwangsmitgliedschaft aus (vgl. Vaske 2016, 143ff.). Zur Ableitung<br />

von Implikationen auf die Stellung von Nonprofitorganisation im Feld der Sozialwirtschaft<br />

ist eine Betrachtung der Theorien zu deren Existenz aufschlussreich.<br />

Diese beziehen sich auf die Nachfrage- und Angebotsseite sozialer personenbezogener<br />

Dienstleistungen. Auf der Seite nachfragebezogener Existenztheorien<br />

lassen sich, neben dem Ansatz des Markt- und Staatsversagens, die Theorie<br />

des Kontraktversagens identifizieren. Die zentrale Annahme der Theorie zu<br />

Markt- und Staatsversagen liegt darin, dass soziale, personenbezogene Dienstleistungen<br />

Güter darstellen, auf welche sich die Kriterien der Ausschließbarkeit und<br />

Rivalität im Konsum nicht oder nur bedingt anwenden lassen. Aufgrund des Leitprinzips<br />

der Gewinnmaximierung der Privatwirtschaft haben diese kein Interesse<br />

an der Erbringung sozialer, personenbezogener Dienstleistungen. Der Staat<br />

orientiert sich bei der Festlegung der Inhalte hingegen an einem aus dem Demokratieprinzip<br />

abgeleiteten Median. In der Folge kommt es zu einer Über- bzw.<br />

Unterdeckung der Bedarfe. Nonprofitorganisationen ergänzen Markt und Staat<br />

bei der Leistungserstellung und richten ihr Handeln an unbefriedigten Bedürfnissen<br />

aus. Die Theorie des Kontraktversagens bezieht sich auf Informationsasymmetrien<br />

zwischen Anbieter und Nachfrager und die Annahme, dass diese<br />

zu Lasten des Auftraggebers genutzt werden. Da bei sozialen, personenbezogenen<br />

Dienstleistungen häufig die finanzierende juristische sowie die leistungsempfangende<br />

natürliche Person nicht kongruent Finanzierer und Empfänger der<br />

Leistung häufig auseinanderfallen, ist das Leistungsspektrum ex-ante sowie expost<br />

nicht vollumfänglich transparent. Die Theorie des Kontraktversagens geht<br />

davon aus, dass Informationsasymmetrien aufgrund der Sachzieldominanz, des<br />

Gewinnausschüttungsverbot und des spezifischen Werteprofils der Nonprofitorganisation<br />

abgebaut werden bzw. keine negativen Effekte entfalten. Aus Perspektive<br />

der Angebotsseite erscheinen Nonprofitorganisationen als soziale Unternehmen,<br />

die auf soziale Notlagen reagieren und ihre Mission an der Schaffung<br />

einer sozialen Wertschöpfung ausrichten. Dieser Ansatz rekurriert primär auf<br />

den Unternehmergeist der Nonprofitorganisation, mit dessen Hilfe Gemeinwohl<br />

produziert wird. Ebenfalls auf Angebotsseite lässt sich die Interdependenztheorie<br />

identifizieren. Diese geht von einer wechselseitigen, engen Verknüpfung zwischen<br />

Staat und Nonprofitorganisation aus. Der Staat profitiert von einer Entlastung<br />

durch die Nonprofitorganisation. Die Nonprofitorganisation hingegen profitiert<br />

von einer Vorrangstellung gegenüber Mitbewerbern (vgl. Then und Kehl<br />

2012, 65f.). Die Ausführungen haben gezeigt, dass zur Beschreibung der freien<br />

Wohlfahrtspflege ein komplexerer und differenzierter Zugang notwendig ist, der<br />

die mannigfaltigen Wechselwirkungen berücksichtigt und in der Konsequenz


4 Multirationalität im Kontext<br />

unternehmerischer Diakonie<br />

Die obigen Darstellungen zusammenfassend, unterliegt Diakonie als konfessioneller<br />

Partner des Sozialstaates einem spezifischen, wertegebundenen Auftrag<br />

und muss sich in ihrer unternehmerischen Form im Wettbewerb mit anderen<br />

Trägern innerhalb der Sozialwirtschaft behaupten. Unternehmerische Diakonie<br />

nutzt betriebswirtschaftliches Instrumentarium zur Verwirklichung ihres Auftrags<br />

der Unterstützung von Schutz- und Hilfebedürftigen und ist als hybride Organisation<br />

gefordert, anknüpfungsfähig an plurale Umwelten und deren Impulse<br />

zu bleiben, sich in deren Lichte zu legitimeren, zwischen verschiedenen Handlungslogiken<br />

sowie heterogenen Anforderungen zu vermitteln und in der Folge<br />

mit vielfältigen Spannungsfeldern umzugehen (vgl. Eurich 2013e, S. 259). Es gilt<br />

weiter zu klären, welche Formen der Bearbeitung und Vermittlung aus den vorgestellten<br />

Theoriesträngen abgeleitet werden können und ob sich diese für die<br />

Befähigung zur Entscheidungsfähigkeit einer multirationalen Organisation wie<br />

der Diakonie im Kontext des Konzepts des multirationalen <strong>Management</strong> fruchtbar<br />

machen lassen.<br />

4.1 Optionen multirationaler Steuerung:<br />

Neoinstitutionalistische Überlegungen<br />

Diakonische Unternehmen entspringen der Reich Gottes Vorstellung und entwerfen<br />

darauf aufbauend eine spezifische Vorstellung über eine gerechte Gesellschaft,<br />

sowie das Motiv, für Schwache und Schutzbedürftige einzutreten. Als<br />

hybride Organisationen weisen sie mannigfaltige Beziehungen zu den Sektoren<br />

Markt, Staat und Gemeinschaft auf und erbringen ihre Kernaktivitäten der Sozialanwaltschaft<br />

und konkreten Hilfe vor Ort in einem komplexen Konstrukt unterschiedlicher<br />

Rollenbilder (vgl. Eurich 2013b, 253f.). Aufgrund einer Aufwertung<br />

des marktwirtschaftlichen Ideals, die mit einer Liberalisierung der Märkte und<br />

einem Ausbau der Wettbewerbsstrukturen einhergeht, ohne dass zugleich der<br />

Steuerungsanspruch hoheitlicher Institutionen verringert wird, finden sich diakonische<br />

Unternehmen im Bereich der sozialen, personenbezogenen Dienstleis-


56<br />

4 Multirationalität im Kontext unternehmerischer Diakonie<br />

tungen in einem Zustand der Konkurrenz mit anderen Anbietern, der in einem<br />

spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Anwaltsfunktion und Anbieterstellung<br />

mündet (vgl. Ottnad et al. 2000, 165ff.). Zugespitzt wird dieses Verhältnis<br />

durch eine auf diesem Zeitgeist aufbauende Differenzierung von sozialen, personenbezogenen<br />

Dienstleistungen in marktfähig und nicht-marktfähig. Während<br />

sich marktfähige soziale personenbezogene Dienstleistungen am Kundenbegriff<br />

ausrichten und die Hilfeempfänger als selbstständig und wohlinformiert verstehen,<br />

deren Kaufkraft durch Sozialkassen hergestellt werden muss, wird in dieser<br />

Konsequenz die Konkurrenzsituation der freien Wohlfahrtspflege weiterer verschärft.<br />

Nicht-marktfähige Dienstleitungen zeichnen sich hingegen durch einen<br />

erheblichen Vorhalteaufwand und nicht-selbstständige Nachfrager aus (vgl.<br />

Maaser 2013, 29f.). Zwar spielen auch hier begrenzte Ressourcen eine bedeutende<br />

Rolle, allerdings ist die Konkurrenz zu privatgewerblichen Anbietern aufgrund<br />

einer mangelnden Möglichkeit, Gewinne in diesem Feld zu erwirtschaften,<br />

deutlich geringer (vgl. Ottnad et al. 2000, S. 174ff.). Aus dieser Perspektive bieten<br />

sich der freien Wohlfahrtspflege scheinbar zwei Optionen der organisationalen<br />

Positionierung zwischen Anwaltschaft und Anbieterstellung: sie können<br />

entweder eine Wettbewerbsstrategie oder eine Sozialwohlstrategie verfolgen.<br />

Der Ausrichtung an einer Wettbewerbsstrategie folgend geht es darum, sich<br />

im Lichte der Institutionen des Marktsektors zu legitimieren und sich dem Wettbewerb<br />

um knappe Ressourcen zu stellen. Greift man die Unterscheidung in<br />

marktfähige und nicht-marktfähige Dienstleistungen auf, so muss die freie Wohlfahrtspflege<br />

in ersterem Feld Marktanteile gegenüber anderen Leistungsanbietern<br />

gewinnen und diese verteidigen. Die Frage, welche Marktsegmente bedient<br />

werden, ist im Rahmen der Wettbewerbsstrategie für das organisationale Selbstverständnis<br />

von hoher Bedeutung. So haben Unternehmen der freien Wohlfahrtpflege<br />

bspw. die Möglichkeit, im oberen Marktsegment Gewinne zu erwirtschaften,<br />

um diese anschließend für gemeinnützige Zwecke zu verwenden. Im Feld<br />

nicht-marktfähiger Dienstleistungen muss hingegen primär mit anderen gemeinnützigen<br />

Organisationen um Geld-, Zeit und Sachspenden als ökonomische Größen<br />

konkurriert werden.<br />

Als Alternative können sich Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege auch<br />

auf eine sogenannte Sozialwohlstrategie fokussieren. Im Zentrum dieser steht die<br />

konsequente Ausrichtung auf nicht-marktfähige Dienstleistungen, um auf Leerstellen<br />

gesellschaftlich ungedeckter Bedarfe zu reagieren. Im Kern konzentriert<br />

sich die Organisation so auf ihr historisches Fundament, ihren Gemeinwohlcharakter<br />

und die gemeinschaftliche Anbindung. Bedingung hierfür ist die Generierung<br />

von Gratisressourcen in Form von Sach-, Zeit und Geldspenden, eine hohe<br />

Glaubwürdigkeit, sowie eine umfassende Transparenz, welche eine Identifikation<br />

und Unterstützung der Spender erst ermöglichen (vgl. Ottnad et al. 2000,<br />

180ff.).<br />

Reflektiert man die Optionen der Wettbewerbs- und Sozialwohlstrategie vom<br />

Standpunkt der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie, so ist zunächst<br />

festzustellen, dass diese das Überleben der Organisation als abhängig von deren


4.1 Neoinstitutionalistische Überlegungen 57<br />

Legitimität in der relevanten, institutionalisierten Organisationsumwelt entwirft.<br />

Um Legitimität zu erlangen, kommt es unter dem Phänomen des Isomorphismus<br />

zu Prozessen der Strukturgleichheit, bei welchen die Organisationen Rationalitäten,<br />

Handlungs- und Begründungsmuster der Umwelt übernehmen (vgl. Drepper<br />

2010, S. 155). In diesem Lichte erscheinen Wettbewerbs- und Sozialwohlstrategie<br />

als das Resultat von Homogenisierungsprozessen, bei denen die Organisation<br />

Anforderungen und Strukturen aus der Umwelt innerhalb der eigenen Unternehmung<br />

adoptiert, um deren Legitimität im jeweiligen institutionellen Feld zu<br />

sichern. Indem Prozessen der Strukturgleichheit erfolgkritische Relevanz<br />

zugeschrieben wird, kann der Ansatz von DiMaggio/Powell für die Erklärung<br />

vom Phänomen des Isomorphismus im Zusammenhang von Wettbewerbs- und<br />

Sozialwohlstrategie fruchtbar gemacht werden (vgl. Walgenbach 2001, 330f.).<br />

Prozesse der vertikalen und horizontalen Homogenisierung beginnen dann zu<br />

wirken, je stärker das relevante Feld in sachlicher, zeitlicher und sozialer Sicht<br />

gefestigt ist und sich als gesellschaftlicher bzw. abgegrenzter Sektor des institutionellen<br />

Lebens darstellt (vgl. Walgenbach 2001, 333f.). Der Feldbegriff konkretisiert<br />

damit im Ansatz von DiMaggio/Powell diejenige institutionelle Umwelt,<br />

die entscheidend für Prozesse der Strukturgleichheit ausschlaggebend ist. Di-<br />

Maggio/Powell weisen drei Ursachen für Phänomene der Homogenisierung aus:<br />

Isomorphismus durch Zwang entsteht, wenn kritische Ressourcen entscheidend<br />

in Abhängigkeit zur Legitimation in der Umwelt stehen. Mimetischer Isomorphismus<br />

tritt zu Tage, wenn Unsicherheiten in der Umwelt der Organisation<br />

bestehen und Organisationen als erfolgreich bewährte Arbeitsprozesse durch<br />

bspw. Benchmarking übernehmen. Als dritte Kategorie entsteht normativer Isomorphismus<br />

aufgrund von Pfadabhängigkeit, in dessen Kontext die Vergangenheit<br />

determinierend für künftige Strategieentwicklungen wirkt (vgl. Becker-<br />

Ritterspach und Becker-Ritterspach 2006a, 108f.). Aus der Perspektive der<br />

neoinstitutionalistischen Organisationstheorie formuliert, geht es also um die<br />

Legitimität der diakonischen Unternehmung im institutionalisierten Feld des<br />

Marktes als wirtschaftliche und konkurrenzfähige auf der einen und als Ausdruck<br />

einer zeitlich dauerhaften, sachlich bedeutsamen und sozial verbindlichen<br />

auf der Nächstenliebe und christlichen Tradition fußenden Organisation auf der<br />

anderen Seite (vgl. Drepper 2010, S. 155). Daraus abgeleitet ist dieser Ansatz<br />

über die Kategorie der Legitimität in der Lage, Wettbewerbs- und Sozialwohlstrategie<br />

zur Generierung von externen Unterstützungs- und Ressourcenflüssen als<br />

Option der unternehmerischen Diakonie mit ihrer christlichen Entstehungstradition<br />

und den ökonomischen Beziehungsentwürfen im Kontext dualer institutionalisierter<br />

Umweltzusammenhänge und sozialwirtschaftlicher Entwicklungsprozesse<br />

zu erklären. Als hybride Organisation des Dritten Sektors ist für das Phänomen<br />

der unternehmerischen Diakonie allerdings das Moment der Verbindung<br />

der Umweltsphären Markt, Staat und Gemeinschaft und somit die Gleichzeitigkeit<br />

von Wettbewerb und Sozialwohl konstitutiv. Für den Gegenstandsbereich multirationaler<br />

Steuerung diakonischer Unternehmen muss die Perspektive des Neoinstitutionalismus<br />

konsequenterweise durch das Hybriditätsmodell erweitert


58<br />

4 Multirationalität im Kontext unternehmerischer Diakonie<br />

werden, welches das relevante institutionelle Feld in Anlehnung an die Dritte-<br />

Sektor-Forschung durch die Gleichzeitigkeit von Markt, Staat, Gemeinschaft, sowie<br />

weiteren gesellschaftlichen Funktionssystemen, wie bspw. Religion und Profession<br />

geprägt anerkennt (vgl. Evers 2018, S. 893).<br />

Um das Konzept der Hybridität erweitert, ergeben sich auf die neoinstitutionalistische<br />

Organisationstheorie folgende Perspektiven: Hybridität als doppelter<br />

Isomorphismus; Hybridität als Ergebnis doppelter Isomorphie und organisationale<br />

Hybridität als Beschränkung der Isomorphie. Versteht man Hybridität als<br />

doppelten Isomorphismus, so bedeutet dies zunächst, dass Organisationen gleichzeitig<br />

in mehreren Umwelten operieren, von deren Legitimation ihr Überleben<br />

abhängig ist und sich in diesem Zustand Phänomene der Homogenisierung beobachten<br />

lassen. Der Annahme des Isomorphismus folgend, müssten hybride<br />

Organisationen Strukturen aus mehreren Umwelten gleichzeitig übernehmen. In<br />

diesem Phänomen liegt erhebliches Konfliktpotential begründet, da die Logiken<br />

verschiedener Umwelten nicht immer Spannungsfrei in einer Organisationsstruktur<br />

vermittelt werden können und sich die Organisation parallel in mehreren<br />

Organisationen legitimieren muss. Eine hybride Organisation ist deshalb gefordert,<br />

Abhängigkeit und Unabhängigkeit, oder anders Legitimität und Freiheit<br />

gleichzeitig zu verwirklichen und somit gewissermaßen das Unmögliche zu ermöglichen.<br />

Freiheitsgrade können beispielsweise erreicht werden, wenn Erwartungen<br />

zurückgewiesen oder ablehnt werden. Dann aber besteht die Gefahr, dass<br />

der Zugang zu wichtigen Ressourcen verwehrt bleibt und die Stabilität der Organisation<br />

gefährdet wird. In Kontrast dazu steht die konsequente Befolgung der<br />

institutionalisierten Erwartungen als Möglichkeit der Herstellung von Legitimität.<br />

In der Konsequenz würden allerdings Transaktionen bzw. Austauschprozesse<br />

mit den anderen relevanten Umwelten abbrechen. Aus Perspektive einer hybriden<br />

Organisation würde der Fortbestand der Organisation enden, da gerade die<br />

Gleichzeitigkeit für deren Existenz konstitutiv ist. Diese Optionen bilden allerdings<br />

nur Partiallösungen, die das Problem des doppelten Isomorphismus nicht<br />

lösen. Vielmehr muss das organisationale Bestreben darin liegen, den Konflikt<br />

zwischen den unterschiedlichen Umwelten im innerorganisationalen Strukturaufbau<br />

zu lösen (vgl. Walgenbach 2001, 338f).<br />

Hybridität als Ergebnis doppelter Isomorphie beschreibt Hybridisierung als<br />

Ergebnis eines Prozesses, bei dem eine Organisation in Austauschprozessen mit<br />

mehreren relevanten Umwelten steht, Strukturen dieser übernimmt und durch<br />

die Kombination einzelner Strukturelemente diese in ein neues Muster überführt<br />

(vgl. Becker-Ritterspach und Becker-Ritterspach 2006a, S. 113). Zentral für<br />

dieses Verständnis ist der Entwurf des Feldbegriffes, der Umwelt und Organisation<br />

in einem horizontalen und vertikalen Beziehungsgeflecht entwirft und Institutionalisierung<br />

bzw. Strukturbildung als Prozess wechselseitiger Beeinflussung<br />

auffasst. Strukturbildung ist dann weniger das Ergebnis makrosoziologischer<br />

Homogenisierungsprozesse, sondern vielmehr Ergebnis einer Entwicklung in<br />

Koevolution (vgl. Becker-Ritterspach und Becker-Ritterspach 2006b, 134f.). Hybridität<br />

als Ergebnis doppelter Isomorphie kann somit als von der Organisation


<strong>Simon</strong> <strong>Haas</strong>, Jahrgang 1992, Studium der Sozialen Arbeit<br />

(B.A.) an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen,<br />

Studium im Fach <strong>Management</strong>, Ethik<br />

und Innovation im Nonprofit-Bereich. Diakonische Führung<br />

und Steuerung (M.A.) am Diakoniewissenschaftlichen Institut<br />

der Universität Heidelberg. Aktuell ist er Mitarbeiter im<br />

Bereich Coaching an der Gesundheitsakademie Bodensee-<br />

Oberschwaben sowie Sachbearbeiter im Bereich Steuerungsunterstützung<br />

mit Schwerpunkt Qualitätsmanagement im<br />

Fachbereich Jugend und Familie des Landratsamtes Lindau<br />

(Bodensee).<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Satz: <strong>Simon</strong> <strong>Haas</strong>, Baienfurt<br />

Druck und Binden: docupoint GmbH, Barleben<br />

ISBN 978-3-374-07326-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07327-6<br />

www.eva-leipzig.de

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