Irene Dingel: Die Reformation in Gestaltungen und Wirkungen (Leseprobe)

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74 Die Reformation im Bild Residenzstadt Wittenberg zu einem Bildersturm. 5 Karlstadt und die etwa zeitgleich auftretenden sogenannten Zwickauer Propheten waren der Meinung, die Reformation, die bisher vorwiegend auf das Wort, d. h. auf die Verkündigung des Evangeliums gesetzt hatte, sei auf halbem Wege stecken geblieben. Nun, so meinten sie, müssten Taten folgen, die die reformatorische Lehre in die Praxis umsetzten, vor allem durch die Abschaffung der alten kirchlichen Ordnungen und Zeremonien und die Einführung neuer, der reformatorischen Lehre adäquaterGebräuche. Dies betraf in erster Linie den Zölibat der Geistlichen, sodann den Messgottesdienst, aber auch die Bilderverehrung. In der angeheizten Atmosphäre Anfang 1522 kam es zu regelrecht tumultuarischen Ausschreitungen in Wittenberg. Seitenaltäre in den Kirchen wurden abgebrochen, Bilder, Heiligenstatuen und Marienfiguren von den Wänden bzw. Podesten heruntergeholt, zerschlagen und verbrannt. 6 Oft waren die einstigen Bilderstifter die heftigsten Bilderstürmer. Erhard Schön hat dies auf einem proreformatorischen Flugblatt dargestellt – ein Bild gegen die Bilder und deren Verehrung (Abb. 1). Damit begann das Nachdenken über den Stellenwert der Bilder imevangelischen Bereich. Diese Entwicklung, die später sogar in innerprotestantisch konfessionell unterschiedliche Positionierungen mündete, 7 wäre es wert, an anderer Stelle weiterverfolgt zu werden. Hier ist lediglich festzuhalten, dass die Reformation Heiligen- und Bilderverehrung dezidiert ablehnte. Zugleich aber nutzte sie das Bild, d. h. Holzschnitte und Kupferstiche, zur Illustration von Texten oder auch als selbstständige Gebrauchskunst. Gemälde und bildhauerischeReliefs dientenals Andachtsbilder oder Epitaphien, und damit war die Reformation gar nicht so weit von dem altgläubigen Erbe im Umgang mit Bildern entfernt. Nicht zuletzt aber setzte die Reformation Bilder als effektives Kommunikationsmedium zur Verbreitung und Darstellung der reformatorischen Lehre ein. Dieses Phänomen, nämlich die Indienstnahme des Bildes für Anliegen der Reformation, wird in einem Dreischritt genauer betrachtet. Zunächst kommen die 5 Zu Karlstadt vgl. Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, 2Bde., Leipzig 1905, Nachdr. Nieuwkoop 1968. Zur Wittenberger Bewegung vgl. Nikolaus Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522. Die Vorgänge in und um Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthalt. Briefe, Akten u. dgl. und Personalien, Leipzig h1911; Natalie Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533), SMHR 74, Tübingen 2014. Vgl. darüber hinaus die derzeit erscheinende Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Andreas Bodensteins von Karlstadt, hrsg. v. Thomas Kaufmann, Bd. 1ff., QFRG 90 ff., Gütersloh 2017 ff. 6 Vgl. Margarete Stirm, Die Bilderfrage in der Reformation, QFRG 45, Gütersloh 1977. 7 Vgl. dazu Irene Dingel, »Daß wir Gott in keiner Weise verbilden.« Die Bilderfrage zwischen Calvinismus und Luthertum, in: Andreas Wagner/Volker Hörner/Günter Geisthardt (Hrsg.), Gott im Wort – Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bedingung des Monotheismus?, Neukirchen-Vluyn 2005, h2008, 97–111.
Bilder als Medium reformatorischer Propaganda 75 Bilder als Medium der reformatorischen Propaganda zur Sprache, anschließend ihre Funktion als Predigt- und Frömmigkeitsbilderund schließlich ihr Einsatz im Dienste fürstlicher Repräsentation. Abb. 1: Erhard Schön, Klagrede der armen verfolgten Götzen und Tempelbilder (ca. 1530) Standort: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg Inventarnummer: H7404, Foto: Monika Runge Bilder als Medium reformatorischer Propaganda Nachdem Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts die Buchdruckerkunst mit seiner Erfindung beweglicher Lettern technisch auf ein neues Fundament gestellt hatte, waren Druckerzeugnisse einfacher, schneller und billiger zuproduzieren. Die Reformation kannte keine Berührungsängste mit diesem Medium und setzte es gezielt zur Verbreitung ihrer Inhalte ein. 8 Zu den reformatorischen Druckerzeugnissen gehörten u. a. illustrierte Flugblätter, die seit 1519 den Markt regelrecht überschwemmten. Flugschriften und illustrierte Flugblätter waren dazu da, evangelisches Gedankengut auf wenigen Seiten an das einfache Volk zu vermitteln, Anhänger zu gewinnen und Gegner in satirischer Weise bloßzustellen. Dazu mussten die texthaltigen Erzeugnisse allerdings vorgelesen werden, da die Lesefähigkeit der Bevölkerung relativ gering war. Dass dies eine durchaus gängige Praxis war, wird aus folgender, eigentlich paradoxen Aufforderung deutlich, mit der eine reformatorische Flugschrift aus dem Jahre 1524 begann: »Lieber Leser, kanst Dunit lesen, so such Dir einen jungen Mann, der Dir die- 8 Vgl. dazu Marcel Nieden, Die Wittenberger Reformation als Medienereignis, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2012–04–23, URL: http://www.ieg-ego.eu/niedenm-2012-de, URN: urn:nbn:de:0159- 2012042305 (26.06.2022).
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