Jürgen Belgrad D 4 Szenisches Spiel
Jürgen Belgrad D 4 Szenisches Spiel
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Nachweis: J€rgen <strong>Belgrad</strong>, 2009: <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong>. In: Michael Becker-Mrotzek (Hg.): Didaktik der<br />
m€ndlichen Kommunikation. Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Hohengehren:<br />
Schneider-Verlag, S. 295-314<br />
295<br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
D 4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
In diesem Beitrag soll die Bedeutung des szenischen <strong>Spiel</strong>s, oder<br />
allgemeiner ausgedrückt, der szenischen Kommunikation für die<br />
Entwicklung der Kommunikationskompetenz behandelt werden (vgl.<br />
Becker-Mrotzek, C 3). <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong> kann als Teil der konzeptionellen<br />
mündlichen Kommunikation begriffen werden, auch wenn Teile davon, wie<br />
z. B. Inszenierungsentwürfe oder Rollenparts, schriftlich vorliegen. Zunächst<br />
soll das szenische Kommunikationsmodell expliziert werden, um daran den<br />
<strong>Spiel</strong>- und Szenenbegriff zu erläutern (Abschn. 1 und 2). Danach werden die<br />
Dimensionen des szenischen <strong>Spiel</strong>s kategorial erfasst (Abschn. 3), die die<br />
Grundlagen der Kompetenzen und Beurteilungskriterien szenischer<br />
Kommunikation (Abschnitt 4) bilden. Anmerkungen zum Forschungsstand<br />
beschließen den Beitrag (Abschnitt 5).<br />
1 <strong>Szenisches</strong> Kommunikationsmodell<br />
Akteure der <strong>Spiel</strong>-Szene<br />
Figur/Person A Figur/Person B<br />
Abb. 1: <strong>Szenisches</strong> Kommunikationsmodell<br />
Zuschauer Z<br />
(Figur/ Person)<br />
Wenn beim szenischen <strong>Spiel</strong> idealtypisch Figur A und Figur B interagieren,<br />
handeln beide als Rollenspieler (Figuren) und als Subjekte (vgl. dazu
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
Hentschel 2007, 219ff.). Zum einen agieren die Protagonisten des <strong>Spiel</strong>s in<br />
dieser Doppelperspektive. Unter dem Schutz der Rolle werden Erprobungen<br />
von Teilen unterschiedlicher Lebensentwürfe möglich, die sonst eher<br />
unwahrscheinlich wären oder in utopische Ferne rückten. Darin steckt ein<br />
nicht zu unterschätzendes Potenzial. Aber die Beschreibung der szenischen<br />
Kommunikation griffe zu kurz, würde nicht die dritte Figur, der Zuschauer,<br />
mit einbezogen. Auch dieser teilt sich seinen Part als Rollenspieler (Figur)<br />
einer bestimmten Zuschauerhandlung, z. B. als aktiver Zuhörer eines<br />
szenischen <strong>Spiel</strong>s zu einer Textvorlage und als Subjekte (Person) dieses von<br />
ihm geschätzten Textes oder eines Improvisationsspiels. Dabei handeln die<br />
Protagonisten (Figuren/Personen) so, als ob sie für sich interagieren, in<br />
Wirklichkeit aber agieren sie für den Zuschauer (Figur/Person). Auf ihn sind<br />
alle Handlungen und Ausdrucksformen gerichtet. Die <strong>Spiel</strong>er verhalten sich<br />
so, als ob der Zuschauer nicht vorhanden wäre, achten aber peinlich genau<br />
darauf, dass sie sehr gut verstanden werden und positionieren sich so, dass<br />
sowohl ihre Sprache wie auch ihre Körpersprache die größtmöglichste<br />
Wirkung auf die Zuschauer und weniger auf den angesprochenen<br />
Interaktionspartner ausüben kann. Die Körpersprache lässt sich als<br />
„überstrukturiert“, überbetont, ja als fast artifiziell bezeichnen, weil ihre<br />
Wirkung das Sprechen verstärken soll. Sprechen, Zuhören, szenisches<br />
<strong>Spiel</strong>en in der Verklammerung von Verbal- und Körpersprache sind die<br />
maßgeblichen Konstituenten dieser mündlichen Kommunikation (vgl.<br />
<strong>Belgrad</strong> u. a., 2008, 20ff.) (vgl. Abb. 1).<br />
Die Zuschauer wiederum verhalten sich reaktiv (z. B. Beifall), hören aber<br />
aktiv zu. Nur bei Mitspielformen greifen die Zuschauer direkt in die<br />
Handlung ein (z. B. beim Forumtheater von Augusto Boal). Es ist genau die<br />
Hinzufügung des dritten Parts, der dieses Kommunikationsmodell von der<br />
Alltagskommunikation unterscheidet. In der schulischen Praxis wechseln die<br />
Parts der <strong>Spiel</strong>er ständig. Wer in der einen Szene noch Protagonist A war, ist<br />
in der nächsten vielleicht schon Zuschauer Z und umgekehrt. Auch insofern<br />
ist diese Triade konstitutiv für das szenische <strong>Spiel</strong>. In der <strong>Spiel</strong>-Szene<br />
interagieren alle Beteiligten, alle <strong>Spiel</strong>er, nicht nur die Protagonisten.<br />
2 <strong>Spiel</strong> und Szene<br />
Roger Caillois unterscheidet vier <strong>Spiel</strong>formen: 1. Wettkampfspiele, 2.<br />
Glücksspiele, 3. Verkleidungsspiele und 4. Rauschspiele (1982, 18 ff, bes.<br />
27ff.). Die Verkleidungsspiele kommen dem szenischen <strong>Spiel</strong> am nächsten;<br />
insofern wird der <strong>Spiel</strong>begriff nur unter diesem besonderen Gesichtspunkt<br />
betrachtet (Ausführlich finden sich die unterschiedlichen <strong>Spiel</strong>begriffe bei<br />
Anz, 1998, 33ff und bei Scheuerl, 1991. Zur Unmöglichkeit einer genauen<br />
<strong>Spiel</strong>definition vgl. Anz, 1998, 47 und zur Auflösung scheinbarer<br />
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<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
Oppositionen von „real-fiktiv“, „simuliert-echt“ usw. ebd. 41 und <strong>Belgrad</strong>,<br />
1992, 194).<br />
Anz fasst Caillois’ Nachahmungs- und Verwandlungsspiele so zusammen:<br />
„Caillois führt als Beispiele der ‚mimikry’ neben relativ ungeregelten<br />
Formen von Imitations-, Puppen-, Masken- oder Verkleidungsspielen<br />
(Travestien) die höherentwickelten ludischen <strong>Spiel</strong>e des Theaters und der<br />
Schaukünste an“ (1998,53). Szenische <strong>Spiel</strong>e haben Simulationscharakter,<br />
die <strong>Spiel</strong>er tun so, „als-ob“ sie diese oder jene Person wären und verwandeln<br />
sich dabei in Figuren. Dabei vermischen sich reale mit fiktiven, auch<br />
klischierten Formen und Inhalten (Anz, 1998, 41). Hier könnte der<br />
Nachahmungsbegriff als Mimesis von Aristoteles Anschluss finden<br />
(Aristoteles, 1982, 7). In der Simulation steckt immer auch eine Art<br />
Erprobung, es ist ein versuchsweises Ertasten neuer Formen tatsächlicher,<br />
zukünftiger, auch unrealistischer Lebensweltgestaltung. Dabei wissen alle<br />
Beteiligten, dass sie nur so tun, „als-ob“ sie real handeln. Protagonisten und<br />
Zuschauer halten sich an den Fiktionsvertrag, ähnlich dem zwischen Autor<br />
und Leser (vgl. Eco, 1994, 103). Die <strong>Spiel</strong>er orientieren sich an der<br />
Abmachung der Fiktion. Sie tun so, als ob sie nicht spielten, sondern als sei<br />
alles tatsächlich so, wohl wissend, dass es eine Simulation ist. Auch die<br />
Zuschauer halten sich an den Fiktionsvertrag und greifen nur durch Applaus<br />
und Zurufe in das Geschehen ein, meist die Person und nicht die Figur<br />
bestätigend oder ablehnend. Das kleine Kind hingegen, das beim Kasperl-<br />
<strong>Spiel</strong> nach vorne geht und das Krokodil empört angreift, verletzt den<br />
Fiktionsvertrag.<br />
Da sich das <strong>Spiel</strong> immer auf eine reale oder fiktionale Lebenswelt bezieht<br />
und diese darstellend inszeniert, verweist der <strong>Spiel</strong>begriff auf die Szene, ist<br />
<strong>Spiel</strong>en szenisches <strong>Spiel</strong>en. Im <strong>Spiel</strong> werden Lebenswelten erprobend<br />
gestaltet und verpönte, utopische, schablonisierte, kreative Lebensentwürfe<br />
in Szene gesetzt. Dabei bezieht sich das <strong>Spiel</strong> immer auf äußere Realitäten<br />
(Lebenswelten) und innere Realitäten (Wünsche und Fantasien)<br />
gleichermaßen, inszeniert im Vollzug sowohl fantasierte Realitäten als auch<br />
reale Fantasien. In der Szene bilden die <strong>Spiel</strong>er, d. h. die Protagonisten und<br />
die Zuschauer, ein Interaktionsgeflecht, seien es textbasierte Szenen oder<br />
improvisierte, situative Szenengestaltungen. Wenn nicht nur einzelne Szenen<br />
gespielt werden, bestimmt die Szenenabfolge den Rhythmus, wobei die<br />
Gestaltungsformen wie beim Drama von traditionell geschlossen bis offen,<br />
collagenartig frei wechseln können. Die <strong>Spiel</strong>-Szene ist gleichzeitig der<br />
Raum, in dem sich die szenische Kommunikation vollzieht, wobei die<br />
„Bühne“ in der Schule oft eine kaum abgetrennte Fläche vom<br />
„Zuschauerraum“ darstellt. Immer handelt es sich um eine zeitlich begrenzte<br />
Abfolge von Als-ob-Handlungen der Protagonisten und der Reaktionen der
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
Zuschauer, die dabei keiner alltagsweltlichen Handlungslogik, sondern einer<br />
inszenierten, dramaturgisierten folgen; inszeniert, weil die Protagonisten in<br />
der Szene etwas zeigen, zu verdeutlichen versuchen, um Verstehensprozesse<br />
zu inszenieren und/oder um auf bestimmte Gestaltungsprozesse aufmerksam<br />
zu machen. Die Kommunikation ist eine intendierte, auch wenn sie<br />
improvisiert ist; sie ist eine vorstrukturierte Kommunikation. Diese kann<br />
selbstverständlich auch Teile schriftlicher Kommunikation enthalten, sie ist<br />
aber immer konzeptionell mündlich.<br />
„<strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong>“ lässt sich demzufolge als inszeniertes Simulationsspiel<br />
zwischen den Protagonisten A und B fassen, die so tun, als ob sie<br />
ausschließlich für sich, die aber tatsächlich für den Zuschauer Z interagieren.<br />
Alle beteiligten Akteure, also alle <strong>Spiel</strong>er bilden die triadische<br />
Szenenkonstellation und halten sich im Regelfall an den Fiktionsvertrag.<br />
3 Kategorien der szenischen Kommunikation<br />
3.1 Repräsentierte und imaginierte Szene<br />
Im szenischen Kommunikationsmodell können wir dargestellte, d. h.<br />
präsentierte Szenen beobachten. Gleichzeitig machen sich Protagonisten und<br />
Zuschauer ein Bild von der Szene, in die sie eigene Vorstellungen, ihre<br />
eigenen Erfahrungen usw. projizieren, d. h. sie imaginieren wie beim<br />
Leseprozess zusätzliche Fantasien und Bilder zu den präsentierten (vgl. Iser,<br />
1994, 253ff.). Wir haben zwei Szenenkonstellationen: einmal die<br />
Präsentations-Szene, welche die Handlungen beobachtbar in der Szene zeigt<br />
und zum anderen die Imaginations-Szene, die die Handlungen mit eigenen<br />
Vorstellungsgebilden vermengt, ja im Extremfall sich sogar gänzlich von der<br />
beobachtbaren Handlung in einer Art Tagtraum davon lösen kann und eigene<br />
Fantasieprodukte schöpft (vgl. dazu Freud, 1969).<br />
Wichtig dabei ist, das hat uns die Rezeptionsästhetik gezeigt, dass wir über<br />
die rezipierte Szene nur in Annäherungen etwas sagen können (s. o.). Zudem<br />
sind die Imaginationsvorgänge nur zum Teil bewusst und nur zum Teil<br />
versprachlichbar. Aber wir könnten die Imaginationen als (veränderte)<br />
Präsentationen in der Schule szenisch spielen lassen und uns so jenen<br />
nähern. Die Imaginations-Szene ist kein Abbild der Repräsentations-Szene,<br />
sondern deren Assoziationsgrundlage. Beide Szenen decken sich nicht,<br />
korrespondieren aber miteinander. Damit verknüpft sich die Wahrnehmung<br />
des szenischen <strong>Spiel</strong>s zutiefst mit der Subjektivität. Statt von<br />
„Wahrnehmungen“ müsste man von Rezeptionsformen des präsentierten<br />
szenischen <strong>Spiel</strong>s in den Imaginations-Szenen sprechen. Geprägt sind diese<br />
subjektiven Rezeptionsformen sowohl durch individuelle als auch soziale<br />
Muster. Dabei differieren die Imaginationen der Protagonisten und die der<br />
Zuschauer, obwohl die Präsentations-Szene die gleiche ist. Die<br />
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<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
Protagonisten erleben die Szene direkter und unmittelbarer, auch leiblicher,<br />
wenn auch inszenierter. Die Zuschauer erleben die Szene distanzierter,<br />
weniger inszeniert, dafür jedoch stärker illusionsgeladen.<br />
3.2 Diskursive und präsentative Symbolisierungen<br />
Im szenischen <strong>Spiel</strong> klassifizieren wir, ebenso wie in der<br />
Alltagskommunikation, normalerweise „verbale“ und „nonverbale“<br />
Ausdrucksformen (vgl. zu den prinzipiellen Differenzen Fiehler, B 1, v. a.<br />
Abschn. 6.). Bei der Inszenierung im <strong>Spiel</strong> kommt es darüber hinaus zu einer<br />
verstärkten symbolischen Vermittlung der szenischen Kommunikation. Denn<br />
die Sprache, die Stimme, die Körperhaltungen, Gestik, Mimik usw.<br />
produzieren Sinn, haben also Bedeutungen, die entzifferbar sind. In diesem<br />
allgemeinen Sinn sind sie Symbole (vgl. Lorenzer, 1981, 30,230). Und diese<br />
Symbole lassen sich in zwei unterschiedliche Symbolsysteme differenzieren,<br />
die unterschiedliche Rezeptionen aufweisen und die in der traditionellen<br />
Unterscheidung von verbalen und nonverbalen Zeichen nicht enthalten sind.<br />
Den verbalen Zeichen korrespondieren die diskursiven Symbole, die wir<br />
nach und nach wie Wäschestücke an einer Wäscheleine, also sequentiell<br />
rezipieren (vgl. dazu und zum Folgenden Langer, 1992, 86ff, bes. 103ff.).<br />
Körpersprachliche Zeichen (Mimik, Gestik, Bewegungen, Körperfiguren)<br />
rezipieren wir gleichzeitig, also simultan. Es sind präsentative Symbole.<br />
Während diskursive Symbole durch das Nadelöhr der sequentiellen<br />
Wahrnehmung erst langsam hindurch müssen, werden die präsentativen<br />
Symbole schneller rezipiert, da sie simultan wahrgenommen werden. In<br />
dieser Zeitdifferenz des Verstehens werden auf der Folie der präsentativen<br />
Symbole die diskursiven interpretiert. Jene verstärken oder unterminieren<br />
den sprachlichen Ausdruck. Zugleich vertrauen wir den präsentativen mehr<br />
als den diskursiven, weil diese nicht so bewusst beeinflussbar und<br />
manipulierbar sind. Die Zeitdifferenz wird zu einer Gewichtungsdifferenz.<br />
Wenn Faust Gretchen im Kerker seine Liebe verbal bezeugt, reagiert<br />
Gretchen nicht auf diese diskursiven Symbolisierungen, sondern auf die<br />
präsentativen. Sie bezweifelt seine Liebe, weil er sie nicht küsst. Für das<br />
szenische <strong>Spiel</strong> ist diese Gewichtungs- und Rezeptionsdifferenz zentral, weil<br />
damit der Schwerpunkt der textlichen oder improvisierten Inszenierung sich<br />
in Richtung der präsentativen Symbolisierung verlegt. Die verkürzte<br />
Interaktionszeit im <strong>Spiel</strong> braucht schnell wahrnehmbare Indikatoren:<br />
Körpersignale werden vor Sprachsignalen wahrgenommen (vgl. dazu Bertolt<br />
Brecht, 1964, 80f: „…die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden<br />
Person folgen.“). Diese Rezeptionsdifferenzen betreffen vor allem die<br />
Zuschauer und weniger die Protagonisten, da diese den Vorgang ja nur<br />
spielen, während die Zuschauer die sequentielle und simultane Rezeption als<br />
real erleben. Die Reaktion der Zuschauer richtet sich aber nicht auf die
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
Figur, sondern auf die Person, wenn diese die Figur gut darstellt. Auch hier<br />
dominieren präsentative Symbolformen (Applaus, Buh-/Bravorufe usw.).<br />
Diskursive Symbolisierungen finden eher in anschließenden<br />
Gesprächsformen über die gesehenen Szenen oder auch in einer Art<br />
institutionalisierter Aufführungskritik statt. In der eigentümlichen Form der<br />
szenischen Kommunikation reagiert der Hauptadressat, der Zuschauer, auf<br />
der Handlungsebene zurückhaltender, auf der Erlebnisebene aber stärker.<br />
Bei den Protagonisten, den Hauptakteuren, die doch alles nur wegen der<br />
Zuschauer spielen, dreht sich dieses Verhältnis um. Die in der Präsentations-<br />
oder auch bloß in der Imaginations-Szene enthaltenen Angebote von<br />
Lebensentwürfen werden indirekt zur Diskussion gestellt. Der Zuschauer<br />
kann aus der reflexiven Distanz die Folgen des Probehandelns der<br />
Protagonisten verfolgen und damit Folgen eigener Lebensentwürfe<br />
vergleichend betrachten, diese akzeptieren, modifizieren oder ablehnen.<br />
Szenische Kommunikation erlaubt in der Verschränkung von<br />
Symbolverschachtelungen präsentativer und diskursiver Symbole<br />
Bildungsprozesse in Form von Identitätsbildungen aller Mitglieder der<br />
szenischen Triade. Hier liegen Potenziale von szenischen Lernarrangements<br />
durch eine Intensivierung präsentativer Symbolisierungen, z. B. durch eine<br />
Verstärkung körperliche <strong>Spiel</strong>anteile, eine Unterstützung mithilfe von<br />
Requisiten, sowie visueller oder akustischer Formen usw.<br />
3.3 Realitätsbereiche der szenischen Kommunikation: Erlebnisse,<br />
Handlungen, Lebenswelten<br />
In freier Annäherung an Habermas lässt sich die triadische <strong>Spiel</strong>-Szene in<br />
unterschiedliche Realitätsbereiche gliedern. In diesen werden<br />
unterschiedliche Weltbezüge thematisiert (1981, 83ff.). Zunächst kann man<br />
die Innenwelt (subjektive Welt) von der Außenwelt (soziale Welt) abgrenzen.<br />
Diese wiederum lässt sich in die intersubjektive Welt der Beziehungen und<br />
die soziale Welt der Kultur und Gesellschaft differenzieren. Dabei sind die<br />
Realitätsbezüge der Protagonisten (Figur/Person) und den Zuschauern<br />
(Figur/Person) in der Imaginations-Szene zu unterscheiden, auch wenn die<br />
Präsentations-Szene die gleiche ist.<br />
Erlebnisse (subjektive Welt der Expressionen): Die Beobachtung der<br />
Handlungen der Protagonisten lösen beim Zuschauer, aber auch bei den<br />
Protagonisten, Gefühle aus. Die Reaktion der Zuschauer, z. B. Beifall, lösen<br />
wiederum Erlebnisse bei den Protagonisten aus, z. B. eine erhöhte <strong>Spiel</strong>lust.<br />
Die Erlebnisse und die daraus wieder folgenden Handlungen aller Mitglieder<br />
der szenischen Triade befeuern die Imaginations- und die<br />
Präsentationsprozesse aller. Bei den Protagonisten entstehen während der<br />
Präsentation oft Hochgefühle, ein Erlebnis, das wahrscheinlich den Rausch-<br />
<strong>Spiel</strong>en von Caillois sehr nahe kommt (1982, 32). Diese besondere<br />
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<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
Erlebnisqualität (immer mehr bei den Protagonisten als bei den Zuschauern)<br />
macht die Faszination des szenischen <strong>Spiel</strong>ens aus, weil sie den Erlebnissen<br />
des Alltags einerseits stark gleichen, zugleich aber vielfältig darüber<br />
hinausgehen (vgl. hierzu die Katharsis-These von Aristoteles, 1982,19).<br />
Figur und Person agieren in und reagieren ebenso auf aktuelle und<br />
wiederkehrende Erlebnisformen (z. B. Erlebnisschablonen).<br />
Handlungen (intersubjektive Welt der Beziehungen): Die Protagonisten<br />
interagieren untereinander, die Zuschauer ebenfalls und sie reagieren auf die<br />
Protagonisten und diese auch mäßig auf die Zuschauer. Es sind beobachtbare<br />
Handlungen. Die Beteiligten interagieren in ihrer Intersubjektivität und<br />
bilden und verändern ihre Beziehungen (Person/Figur): Dabei entwickeln sie<br />
sowohl aktuelle Verhaltensweisen als auch bestimmte Muster von<br />
Interaktionen (z. B. Handlungsklischees). Die Zuschauer sehen die<br />
Handlung (Präsentation) und stellen sie sich gleichzeitig vor (Imagination).<br />
Die Geschichte wird in der Imagination weiter erzählt, und zwar sowohl von<br />
den Zuschauern als auch von den Protagonisten. Meist wissen diese, wie<br />
sich die Interaktion entwickeln wird. Aber auch sie erproben in ihren<br />
Imaginationen alternative Handlungs- und Beziehungsmöglichkeiten.<br />
Lebenswelten (soziale Welt der Kultur und Gesellschaft): Die Handlungen<br />
und Erlebnisse sind eingebettet in inszenierte soziale und kulturelle Milieus<br />
mit bestimmten Strukturen. Obwohl Luckmann und Schütz (vgl. 2003) den<br />
Ausdruck „Lebenswelt“ für die intersubjektive Situation der Alltagswelt<br />
benutzen, soll er hier für die inszenierte Situation einer vorgestellten<br />
Alltagswelt verwendet werden. Die Strukturen der Lebenswelt sind die<br />
Strukturen der Interaktionen und der beteiligten Subjekte. Über diese<br />
Strukturen von Erlebnissen und Handlungen hinaus können sowohl aktuelle<br />
als auch übergreifende gruppenspezifische, kulturelle oder auch<br />
gesellschaftliche Muster identifiziert werden, in deren sozialen Räumen die<br />
Subjekte handeln (z. B. verfestigte Lebensweltstrukturen). Da die Strukturen<br />
darin enthalten, aber für Protagonisten wie Zuschauer kaum sichtbar sind,<br />
z. B. andeutungsweise durch Requisiten oder Kulissen, sondern imaginiert<br />
werden müssen, agiert die „Lebenswelt“ in der prekären Zwischenstellung<br />
zwischen Alltagswelt und gesellschaftlichen Strukturen. Die Bandbreite<br />
bewegt sich zwischen alltäglichen bis hin zu besonders fiktionalen (z. B. bei<br />
Phantasy-Szenarien) Lebenswelten, von gruppenspezifischen Mustern bis<br />
hin zu gesellschaftlich überformenden Strukturen. Auch wenn diese im<br />
szenischen <strong>Spiel</strong> oft nur rudimentär präsentiert werden (können), spielen sie<br />
in der Imagination der <strong>Spiel</strong>er ein große Rolle: Die Protagonisten können<br />
nur gut spielen, wenn die Imagination ihrer Lebenswelt gut funktioniert und<br />
die Zuschauer können das Illusionsangebot der Protagonisten nur annehmen,<br />
wenn diese die Imaginationen stark anregen.
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
Die Bedeutung der Weltbezüge liegt in der Verbreiterung des expliziten<br />
Wahrnehmungspotenzials der Akteure. Während im naiven Verständnis von<br />
szenischem <strong>Spiel</strong> nur die Handlungen in den Blick gerückt werden, erweitert<br />
sich der Horizont der bewussten Wahrnehmung und Beschreibung der<br />
Szenerie durch die Differenzierung in Weltbezüge: Erlebnisse, Handlungen,<br />
Lebenswelten bilden die Realitätsbereiche einer szenischen Kommunikation<br />
ab. Da Präsentations- und Imaginations-Szene verschmelzen und eine<br />
Rezeptionsform bilden, können wir unsere Subjektivität nicht ausschalten.<br />
Anstatt sie aber zu verleugnen, können wir sie als Erkenntnismittel benutzen,<br />
um über die Subjektivität nicht bloß die beobachtbaren Handlungen zu<br />
erkennen, sondern ebenso die nur über unsere eigenen Erlebnisse<br />
zugänglichen Erlebnisse der anderen. Damit hätten wir einen<br />
Erkenntnisgewinn, der allerdings um den Anteil des bloß Subjektiven noch<br />
zu bereinigen wäre. Damit das Illusionsarrangement im szenischen <strong>Spiel</strong><br />
wirkt, müssen alle drei Weltbezüge sichtbar (gemacht) werden. Mithilfe<br />
dieser Weltbezüge lassen sich auch die Inszenierungen beurteilen: Wie und<br />
in welchem Maße werden Erlebnisse, Handlungen und Lebenswelten in die<br />
Präsentation aufgenommen? Welche präsentativen und diskursiven<br />
Symbolisierungen werden inszeniert? Wie kann dieses Geflecht von<br />
Weltbezügen und Symbolisierungen die Imaginationen anregen? In welcher<br />
Wechselwirkung bewegen sich Figur und Person in den drei Welten?<br />
3.4 Rezeptions- und Produktionsorientierung der szenischen<br />
Kommunikation: Verstehen und Gestalten<br />
Die triadisch angelegte szenische Kommunikation kann unterschiedlich<br />
rezipiert werden. Zunächst einmal versuchen die Zuschauer das Gesehene<br />
und Gehörte zu verstehen, die Erlebnisse, die Handlungen, die<br />
Lebenswelten. Welche Handlungen spielen die Protagonisten, wie werden<br />
diese erlebt und was erfährt man dabei über die Lebenswelten der Figuren?<br />
Und auch die Protagonisten versuchen sich in die Figur einzufühlen, deren<br />
Erlebnisse, Handlungen und wie diese beiden in die Lebenswelten<br />
eingebettet sind. Alle Akteure rezipieren das <strong>Spiel</strong>geschehen unter einem<br />
analytischen Aspekt des Verstehens (analytische Dimension).<br />
Gleichzeitig – und das lässt sich vom ersten Aspekt nicht trennen –<br />
beobachten die Zuschauer wie das Geschehen gestaltet ist, wie die<br />
Erlebnisse, Handlungen, Lebenswelten von den Protagonisten im <strong>Spiel</strong><br />
realisiert werden. Der Applaus hängt zum großen Teil von der Art der<br />
Gestaltung der Szenerie durch die Protagonisten ab. Und die Protagonisten<br />
bemühen sich die Weltbezüge so darzustellen, dass diese gut inszeniert und<br />
ästhetisch befriedigend gestaltet sind. Alle Akteure rezipieren das<br />
<strong>Spiel</strong>geschehen auch unter dem ästhetischen Aspekt des Gestaltens<br />
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<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
(ästhetische Dimension) (Zu den Aspekten Verstehen und Gestalten als<br />
Grundkategorien der Literaturdidaktik vgl. <strong>Belgrad</strong>, 1996).<br />
Dabei kann das Verstehen eher als rezeptionsorientiert und das Gestalten<br />
eher als produktionsorientiert beschrieben werden, wobei die Protagonisten<br />
eher produktionsorientiert und die Zuschauer eher rezeptionsorientiert<br />
handeln. Insgesamt lässt sich das gesamte triadische Szenenarrangement<br />
nach den beiden Dimensionen ‚Verstehen’ und ‚Gestalten’ beurteilen:<br />
Welche Verstehensprozesse werden durch die Arrangements der<br />
Protagonisten initiiert? (z. B. Improvisationsspiel zu prototypischen<br />
Konfliktlösungen). Und welche Gestaltungsprozesse ermöglichen das<br />
Verstehen der Erlebnisse, Handlungen und Lebenswelten in der dargestellten<br />
Szenerie? (Statuen bauen im Textspiel oder Mitspielformen durch eine Art<br />
von Zirkusbühne).<br />
3.5 Elementare <strong>Spiel</strong>formen der szenischen Kommunikation:<br />
Situationsspiele und Textspiele – Rollenspiele und darstellende<br />
<strong>Spiel</strong>e<br />
Alle <strong>Spiel</strong>formen des szenischen <strong>Spiel</strong>s erfassen zu wollen, würde einen<br />
eigenen Artikel notwendig machen. Hier sollen die basalen Unterschiede der<br />
<strong>Spiel</strong>formen gezeigt werden, anhand derer die Unterscheidung der jeweils<br />
konkret anzutreffenden <strong>Spiel</strong>form möglich wird. Gemeinhin wird eine<br />
Grobunterteilung in „Konfliktrollenspiel“ und „literarisches Rollenspiel“<br />
vorgenommen (Abraham, 2008, 81ff.). Dieses zweidimensionale Modell<br />
vermengt aber prinzipielle Differenzen. Stattdessen soll ein<br />
vierdimensionales Modell vorgeschlagen werden.<br />
Bei den KMK-Bildungsstandards wird Mündlichkeit bei „szenisch spielen“<br />
als Teil von „Sprechen und Zuhören“ in zwei Bereiche gegliedert: 1. „eigene<br />
Erlebnisse, Haltungen, Situationen szenisch darstellen“ und 2. „Texte<br />
(medial unterschiedlich vermittelt) szenisch gestalten“ (2004, 11). Für die<br />
ersten <strong>Spiel</strong>formen soll der Ausdruck Situationsspiele verwendet werden, da<br />
Erlebnisse, Handlungen und Lebenswelten situationsbasiert in Szene gesetzt<br />
werden. Hierzu zählen alle Formen, die situationsorientiert, Konflikte und<br />
Konstellationen mehr oder weniger frei improvisierend, ohne Textvorlage<br />
gespielt werden (z. B. das Improvisationstheater von Keith Johnstone). Für<br />
die zweite Form soll der Ausdruck Textspiele verwendet werden, da<br />
Erlebnisse, Handlungen und Lebenswelten textbasiert in Szene gesetzt<br />
werden. Grundlage dabei sind Textvorlagen, die unverändert bzw. mehr oder<br />
weniger stark verändert gespielt werden (z. B. Szenencollagen basierend auf<br />
literarischen oder sonstigen Textformen). Situations- und Textspiele bilden<br />
die Pole auf einer kontinuierlichen horizontalen Achse. So lassen sich<br />
Zwischenformen bestimmen, die sowohl situations- als auch textbasiert sind<br />
(z. B. die improvisierte Szenencollage zu einem literarischen Text).
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
Gleichsam vertikal dazu gelagert lassen sich <strong>Spiel</strong>formen unterscheiden, die<br />
sich entweder stärker am Aspekt Verstehen oder stärker am Aspekt<br />
Gestalten orientieren. Bei den ersten <strong>Spiel</strong>formen, den Rollenspielen, geht es<br />
wesentlich um das Verstehen von Subjekt- und Interaktionsstrukturen und<br />
weniger darum, dass sich die Protagonisten dabei gut ausdrücken, sondern<br />
dass sie verstehbar spielen. Es sollen vor allem die Erlebnisse, Handlungen<br />
und Lebenswelten verstanden werden. Hier sind eher analytische<br />
Kompetenzen gefordert. Die andere Gruppe von <strong>Spiel</strong>en, bei denen es<br />
wesentlich auf das Gestalten des Ausdrucks der Situation oder der<br />
Textvorlage ankommt, sollen darstellende <strong>Spiel</strong>e genannt werden. Hier<br />
kommt es darauf an, die Erlebnisse, Handlungen und Lebenswelten<br />
ästhetisch befriedigend und ausdrucksstark darzustellen. Die Zuschauer<br />
wollen sehen, wie gut die Protagonisten spielen und die Protagonisten haben<br />
den Anspruch möglichst interessant und ideenreich zu spielen. Hier werden<br />
eher ästhetische Kompetenzen gefordert. Beide <strong>Spiel</strong>formen sind zwar nicht<br />
trennscharf zu separieren. Bei den analytischen Kompetenzen werden auch<br />
ästhetische Kompetenzen gefordert und umgekehrt. Aber es dominiert<br />
jeweils ein Aspekt, entweder eher Verstehen oder eher Gestalten (vgl. dazu<br />
auch die Beschlüsse der KMK 2003, 20). Rollen- und gestaltende <strong>Spiel</strong>e<br />
bilden die Pole auf einer kontinuierlichen vertikalen Achse. So lassen sich<br />
auch hier Zwischenformen bestimmen, die sowohl am Rollenspiel<br />
ausrichten, aber auch darstellend orientiert sind (z. B. wird in einer<br />
Szenenfolge eine Konfliktsituation als Statuentheater realisiert).<br />
Um diese vier unterschiedlichen <strong>Spiel</strong>formen vor allem in ihrer<br />
gegenseitigen Abhängigkeit zu zeigen, lässt sich eine Matrix aus Situations-<br />
und Textspielen einerseits und aus Rollenspielen und darstellenden <strong>Spiel</strong>en<br />
andererseits aufstellen, aus der sich beliebige Kombinationen mit jeweiligen<br />
Schwerpunkten und Graden der Ausdifferenzierung herstellen lassen. Die<br />
jeweils konkrete <strong>Spiel</strong>form lässt sich damit sowohl auf der horizontalen als<br />
auch auf der vertikalen Achse zugleich verorten und bildet dort eine<br />
bestimmte Kombination aus <strong>Spiel</strong>formen. Z. B. kann eine konkrete Szene<br />
stärker rollenspiel- und textorientiert sein, eine andere wiederum eher<br />
darstellend und situationsorientiert, eine dritte weder darstellend und<br />
textorientiert oder auch eher situations- und rollenspielorientiert usw. Die<br />
<strong>Spiel</strong>formen werden beim szenischen <strong>Spiel</strong> in der Schule oft wechseln. Die<br />
Praxis zeigt, dass die häufigste Kombination von <strong>Spiel</strong>formen eher<br />
collagenartig gestaltet als einheitlich inszeniert wird.<br />
304
305<br />
Abb. 2: <strong>Spiel</strong>formen der szenischen Kommunikation<br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
4 Kompetenzen und Beurteilungskriterien der szenischen<br />
Kommunikation<br />
Im Folgenden sind die Teilkompetenzen aller vier <strong>Spiel</strong>formen enthalten,<br />
auch wenn diese noch formenspezifisch auszudifferenzieren wären. Die hier<br />
vorgeschlagenen Teilkompetenzen der szenischen Kommunikation sind<br />
zwar zunächst für die Protagonisten formuliert, werden aber für die<br />
Zuschauer gleichermaßen relevant, da die Kompetenzen der Protagonisten<br />
zugleich Beurteilungskriterien der Zuschauer sind. Gleichzeitig gibt es beim<br />
szenischen <strong>Spiel</strong> in der Schule keine dauerhafte Rollenverteilung zwischen<br />
Protagonisten und Zuschauern. Sind in der einen Szene einige die<br />
Protagonisten, sind es in der nächsten Szene schon wieder andere.<br />
Protagonisten und Zuschauer komplettieren sich als Akteure im szenischen<br />
<strong>Spiel</strong>. Es sind Zeitrollen, die im Verlauf der Szenenfolge dauernd wechseln<br />
können. Was auf der einen Seite als aktive Kompetenzen der Protagonisten<br />
formuliert wird, die diese im Verlauf des <strong>Spiel</strong>prozesses entwickeln sollen,<br />
gilt für die Zuschauer als rezeptive Komplementäreigenschaft. Die<br />
Zuschauer sehen, ob diese Kompetenzen im <strong>Spiel</strong> verwirklicht werden und<br />
müssen diese deshalb bei sich virtuell verwirklicht haben<br />
(Komplementärfunktion der Kompetenzen als Beurteilungskriterien). Und<br />
auch für die Protagonisten sind die Beurteilungskriterien der Zuschauer<br />
komplementäre Eigenschaften. Zwar beurteilen die Zuschauer die Szene<br />
nach diesen Kriterien, aber auch für die Protagonisten sind es Kriterien,<br />
inwiefern sie die entsprechenden Kompetenzen schon erreicht haben.<br />
Insofern bilden Kompetenzen und Beurteilungskriterien eine Einheit im<br />
szenischen <strong>Spiel</strong>.<br />
Hier fließen auch alle vorigen Überlegungen zu den Symbolisierungen (3.2)<br />
Weltbezügen (3.3), der Rezeptions- und Produktionsorientierung (3.4.) und
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
den prinzipiellen <strong>Spiel</strong>formen (3.5) in einer kompetenzorientierten und<br />
beurteilungsorientierten Dimension mit ein.<br />
Wenn man gewisse Vereinfachungen nicht scheut, können die Kompetenzen<br />
nach dem Ossnerschen Kompetenzmodell (2006, 10ff.) in die strukturellen<br />
Komponenten deklaratives Wissen, Problemlösungswissen, prozedurales<br />
Wissen, metakognitives Wissen ausdifferenziert werden. Daraus ergeben sich<br />
die nachfolgend beschriebenen Kompetenzbereiche, auch wenn sie sich<br />
nicht immer genau dem Ossnerschen Modell zuordnen lassen.<br />
4.1 Inszenierungs- und dramaturgische Kompetenzen<br />
(Inszenierungsideen, Raumdramaturgie)<br />
Bei der ersten Teilkompetenz muss das Augenmerk innerhalb der szenischen<br />
Kommunikation auf die prinzipiellen Inszenierungsideen und<br />
dramaturgischen Handlungen, also auf die grundlegenden Ideen der<br />
Verwirklichung innerhalb eines <strong>Spiel</strong>konzepts (Inszenierung) und auf die<br />
Gestaltung von Spannungsbögen (Dramaturgie) und der dafür notwendigen<br />
Mittel gelegt werden. Auch die Entscheidung, in welcher Kombination z. B.<br />
Text- und Situationsspiele verflochten werden, gehört hierzu. Wie könnte<br />
man die Szene realisieren? In welcher Zeit spielt die Situation? Wird der<br />
Text wortwörtlich wiedergegeben oder wird zum Inhalt improvisiert? In<br />
welche Teilsegmente wird die Szene zerlegt? In welcher Reihenfolge kann<br />
die Szenenfolge gespielt werden? Welche Raumdramaturgie sollte dafür<br />
gewählt werden?<br />
306
307<br />
Inszenierungs- und dramaturgische Kompetenzen<br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
Die <strong>Spiel</strong>er können Textvorlagen oder Improvisationsanweisungen Figuren zuordnen<br />
und diese in einer Szenenfolge planerisch so realisieren, dass die Szene anschließend<br />
auch räumlich spielbar wird.<br />
Deklaratives<br />
Wissen<br />
• Kenntnis<br />
unterschiedlicher<br />
Aufbaustrukturen<br />
dramatischer Texte,<br />
• Kenntnis von<br />
historischen<br />
Gesellschaftsstrukturen,<br />
• Kenntnis<br />
unterschiedlicher<br />
Figurenkonstellationen.<br />
Tab.1: Kompetenzen<br />
Problemlösungswissen<br />
• Durchspielen der<br />
Figuren auf<br />
passende<br />
Interaktionsstrukturen,<br />
• inszenatorische<br />
Ideengenerierung<br />
durch Veränderung<br />
bereits genutzter<br />
Ideen,<br />
• planerischmentales<br />
Durchspielen der<br />
Szenenfolge<br />
(Übungsmethoden<br />
dazu).<br />
Prozedurales<br />
Wissen<br />
• Mögliche<br />
Einstiege in die<br />
Szene (Was geht<br />
voraus?),<br />
• Abschluss der<br />
Szene;<br />
trainierte<br />
<strong>Spiel</strong>fähigkeit von<br />
Szenen.<br />
Metakognitives<br />
Wissen<br />
• Umstellungen bei<br />
ungenügender<br />
Szenenreihenfolge<br />
(z. B. durch<br />
Nachschlagen in<br />
der Lektüre),<br />
• Benutzung von<br />
Sekundärliteratur,<br />
• Ansetzen von<br />
Übungseinheiten<br />
zum Trainieren von<br />
Szenenabläufen.<br />
4.2 Sprecherische Kompetenzen (Lautstärke, präzise Artikulation,<br />
Stimmführung)<br />
Die zweite Teilkompetenz liegt im Zentrum der mündlichen<br />
Kommunikation: Sprechen. Die Inszenierung aller Sprechhandlungen im<br />
weitesten Sinne, d. h. auch die diskursiven Symbolisierungen, sind<br />
wesentlich für diese Kompetenzbeschreibung. Zunächst geht es um das<br />
Verstehen des Gesprochenen, also um präzise Artikulation und um die<br />
richtige Lautstärke, besser um die resonanzreiche Stimmkraft. In zweiter<br />
Linie geht es um charakteristische Merkmale der Figuren-Stimmen und um<br />
den reibungslosen Wechsel der Figurenrede: Wie werden die einzelnen<br />
Stimmen intoniert? Wie muss gesprochen werden, damit auch die Zuhörer in<br />
der letzten Reihe den Text verstehen? Durch welche stimmlichen<br />
Veränderungen (Stimmlage, sprachliche Kennzeichen wie Lispeln) können<br />
die Figuren charakterisiert werden?
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
Sprecherische<br />
Stimmführung)<br />
Kompetenzen (Lautstärke, präzise Artikulation,<br />
Die <strong>Spiel</strong>er können anhand der Textvorlage oder anhand der<br />
Improvisationsanweisungen die Figuren mit unterschiedlichen Lautstärken, deutlicher<br />
Aussprache, verschiedenen Stimmlagen und sprachlichen Besonderheiten spielen.<br />
Deklaratives<br />
Wissen<br />
• Kenntnis der<br />
unterschiedlichen<br />
Stimmlagen,<br />
• Verknüpfung<br />
von<br />
Charaktermerkmalen<br />
der<br />
Figuren,<br />
Lautstärken und<br />
Stimmlagen.<br />
Problemlösungswissen<br />
• Allgemeine<br />
Übungen zum<br />
Stimmtraining,<br />
• Kenntnis von<br />
Übungen zur<br />
Lautstärkeregulierung<br />
und<br />
differenziertem<br />
Figurensprechen,<br />
• Realisierung<br />
unterschiedlicher<br />
Satzmelodien,<br />
• Improvisieren<br />
fehlender<br />
Figurenrede.<br />
Tab. 2: Sprecherische Kompetenzen<br />
Prozedurales<br />
Wissen<br />
• Unterschiedliche<br />
Charaktere<br />
artikulatorisch<br />
realisieren<br />
können,<br />
• Improvisieren<br />
von<br />
Textrealisierungen,<br />
• Fließende<br />
Übergänge<br />
zwischen den<br />
Figurenreden.<br />
308<br />
Metakognitives<br />
Wissen<br />
• Bei stockenden<br />
Figurenreden<br />
Hilfsmittel<br />
verwenden<br />
(Souffleur, Textblatt,<br />
Improvisieren) oder<br />
Textlernen<br />
verbessern,<br />
• Stimmtrainingsmethode<br />
bei<br />
unzureichender<br />
Stimmgestaltung<br />
(Deutlichkeit,<br />
Flüssigkeit,<br />
Lautstärke)<br />
verwenden,<br />
• Stärkere Charakterdifferenzierung<br />
der<br />
Figurenrede.<br />
4.3 Körperliche Kompetenzen (Raumgestaltung, <strong>Spiel</strong>öffnung,<br />
Körperhaltung, Gestik, Mimik)<br />
Die körperlichen Kompetenzen (präsentative Symbolisierungen) ergänzen<br />
die sprecherischen (diskursive Symbolisierungen). Wegen der Zeit- und<br />
Gewichtungsdifferenz (s. 3.2) sind sie das Fundament des szenischen <strong>Spiel</strong>s.<br />
Wenn die Teilkompetenzen gewichtet werden müssten, stünden diese im<br />
Vordergrund.<br />
Raumgestaltung als Positionierung der Figuren auf der Bühne und ihrer<br />
deutlichen <strong>Spiel</strong>abstände voneinander ist die Voraussetzung für das <strong>Spiel</strong>.<br />
Die <strong>Spiel</strong>öffnungen, d. h. die Hinwendung zum Publikum beim <strong>Spiel</strong>en –<br />
trotz der Interaktion mit den anderen Figuren – erlaubt erst, dass die<br />
Präsentation der Körper gesehen und die Sprache der Figuren gehört werden<br />
können. Die einzelne Figur muss eine charakteristische Körperhaltung,<br />
Gestik und Mimik entwickeln. Diese soll die sprecherische Kompetenz
309<br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
unterstützen, ja die Körpersignale sollen vor der Rede sichtbar werden,<br />
damit die unbewusste Wahrnehmung die sprachliche Rezeption erleichtert.<br />
Dabei müssen alle Körpersignale überdeutlich sein, damit Mimik, Gestik<br />
und Körperhaltung über die Entfernung hinweg von allen Zuschauern<br />
wahrgenommen werden können.<br />
Körperliche Kompetenz (Raumgestaltung, <strong>Spiel</strong>öffnung, Körperhaltung,<br />
Gestik, Mimik)<br />
Die <strong>Spiel</strong>er können hinsichtlich der Raumgestaltung, der <strong>Spiel</strong>öffnung, der<br />
überdeutlichen Körperhaltung, Gestik und Mimik die sprachliche Präsentation<br />
unterstützen, ergänzen oder auch konterkarieren.<br />
Deklaratives<br />
Wissen<br />
• Wissen um<br />
Bedeutung von<br />
Raumgestaltung,<br />
<strong>Spiel</strong>öffnung,<br />
überdeutlicher<br />
Körperhaltung,<br />
Gestik und<br />
Mimik,<br />
• Wissen um<br />
Bedeutung<br />
„Bewegung vor<br />
Sprache“.<br />
Problemlösungswissen Prozedurales<br />
Wissen<br />
• Übungen zur Verstärkung<br />
der überdeutlichen<br />
Körperhaltung, Gestik und<br />
Mimik einsetzen,<br />
• Methoden zur<br />
Verbesserung der<br />
Raumgestaltung und<br />
Figurenverteilungs-übungen<br />
kennen,<br />
• Übungen zur verstärkten<br />
Körperpräsenz einsetzen<br />
können,<br />
• nonverbale Verständigung<br />
mit den Mitspielern, damit<br />
die Handlungsabfolge im<br />
Fluss bleibt,<br />
• bei intendierten<br />
Differenzen zwischen<br />
Sprechen und Gefühl muss<br />
die Körperhaltung dies<br />
zeigen.<br />
Tab. 3: Körperliche Kompetenzen<br />
• Körperpräsenz<br />
zeigen und<br />
charakteristische<br />
Körperhaltung<br />
entwickeln,<br />
• zur Figur<br />
sprechen und<br />
trotzdem<br />
<strong>Spiel</strong>öffnung<br />
beibehalten,<br />
• auch als passiver<br />
Akteur immer<br />
mitspielen (nicht<br />
der sprechenden<br />
Figur bloß<br />
zuschauen),<br />
• Reaktion auf<br />
Textfehler<br />
improvisierend<br />
überspielen.<br />
Metakognitives<br />
Wissen<br />
•Raumgestaltung,<br />
überdeutliche<br />
Körperhaltung,<br />
Gestik und<br />
Mimik steuernd<br />
kontrollieren<br />
(Selbst- oder<br />
Fremdbeobachtung),<br />
• bei<br />
mangelnder<br />
Bühneninteraktion<br />
kontrollieren, ob<br />
dies zur Rolle<br />
gehört.<br />
4.4 Mediale Kompetenzen (Requisiten, Kostüme, Licht, Ton,<br />
audiovisuelle Elemente, Bühne)<br />
Dabei lassen sich die medial-technischen von den medial-ästhetischen<br />
Kompetenzen unterscheiden. Die medial-technischen Kompetenzen<br />
beschreiben die richtige Handhabung und adäquate, sachgerechte Verfügung<br />
der Medien. Die medial-ästhetischen Kompetenzen beschreiben die
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
ästhetische Angemessenheit und Ausdrucksstärke, aber auch Verfremdung,<br />
Kontrapunktion bis hin zu Provokationen beim Einsatz der Medien.<br />
Die medialen Kompetenzen haben vor allem spielunterstützende Funktion<br />
und sind nach der Wichtigkeit (in aufsteigender Reihenfolge) genannt. Je<br />
nachdem, ob im Unterricht gespielt oder für eine Theateraufführung geprobt<br />
wird, steigt der Bedarf an medialen Kompetenzen. Dabei kommt den<br />
charakteristischen Requisiten eine Schlüsselstellung zu. Sie sind am besten<br />
geeignet, die Rollenfindung zu unterstützen. Dies gilt auch für Kostüme, die<br />
aber z. T. sehr aufwändig in die <strong>Spiel</strong>handlung einzubringen sind. Sie<br />
unterstützen nochmals die Requisiten in ihrer Funktion zur Rollenfindung.<br />
Durch Licht wird eine Szene erst aufführungsreif. Der Ton hat eher<br />
unterstützende Wirkung, die audiovisuellen Elemente (Film, Bilder) ebenso.<br />
Eine noch aufwändigere Form findet sich in verschiebbaren oder stapelbaren<br />
Bühnenelementen (Kulissen). Einfache Formen von Bühnenteilen können<br />
mit einer Overheadfolie projiziert werden.<br />
310
311<br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
Mediale Kompetenzen (Requisiten, Kostüme, Licht, Ton, audiovisuelle<br />
Elemente, Bühne)<br />
Die <strong>Spiel</strong>er können mit charakteristischen Requisiten, Kostümen, Licht, Ton und<br />
Bühnenelementen ihre Szene wirksamer gestalten.<br />
Deklaratives<br />
Wissen<br />
• Kenntnis der<br />
Wirksamkeit von<br />
Requisiten,<br />
Kostümen, Licht,<br />
Ton und<br />
Bühnenelementen,<br />
• Charakter der<br />
Rolle kann mit<br />
Requisiten und<br />
Kostümen betont<br />
werden,<br />
• Licht erzeugt<br />
Grundstimmungen<br />
einer Szene,<br />
• Raumtiefe und<br />
-illusion wird mit<br />
Bühnenelementen<br />
erzeugt.<br />
Tab. 4: Mediale Kompetenzen<br />
Problemlösungswissen<br />
• Requisiten<br />
selbstständig<br />
herstellen und<br />
verändern, um den<br />
Charakter der Rolle<br />
zu verstärken,<br />
• Stimmung der<br />
Szene mit<br />
unterschiedlichen<br />
Lichtintensitäten<br />
verstärken,<br />
• Szenenübergänge<br />
mit Licht<br />
regulieren.<br />
Prozedurales<br />
Wissen<br />
• Üben des<br />
Zusammenspiels<br />
von Sprech- und<br />
Körperausdruck<br />
mit medialen<br />
Mitteln,<br />
• Darstellung des<br />
Figurencharakters<br />
mit Requisiten und<br />
Kostümen,<br />
• Szenenbeginn mit<br />
Licht regulieren,<br />
• Einbeziehung von<br />
Bühnenelementen<br />
ins <strong>Spiel</strong>.<br />
Metakognitives<br />
Wissen<br />
• Rückmeldungen<br />
(über <strong>Spiel</strong>leiter<br />
oder<br />
Selbstwahrnehmun<br />
g über Grad des<br />
Gelingens von<br />
Personenspiel mit<br />
medialer<br />
Unterstützung;<br />
• Steigerung der<br />
Charakteristik der<br />
Figur durch<br />
Überbetonung<br />
eines Requisitenoder<br />
Kostümteils,<br />
• Reduktion der<br />
Bühnenteile auf<br />
aussagekräftigste<br />
Elemente.<br />
5 Forschung im Bereich der szenischen Kommunikation<br />
Das szenische <strong>Spiel</strong> scheint in den deutschen Schulen fest verankert zu sein.<br />
Nimmt man die empirische Studie „Theater und Schule in Hessen“ als<br />
Orientierung, dann zeigt sich, dass an knapp 80 % der Schulen das szenische<br />
<strong>Spiel</strong> im Unterricht verwendet wird (Deutsch, Religion,<br />
Fremdsprachenunterricht). Theaterbesuch und -spiel praktizieren 95 % der<br />
Gymnasien. Die Grundschulen haben 89 % Aktivitäten im Bereich des<br />
Theaterspiels (davon 50 % Theater-AGs). 80 % der Lehrkräfte setzen das<br />
szenische <strong>Spiel</strong> als Unterrichtsmethode ein (ASSITEJ, 2007). Zwischen der<br />
Akzeptanz des szenischen <strong>Spiel</strong>s, die überall sehr hoch zu sein scheint und<br />
der Untersuchung der Wirksamkeit klafft eine Differenz, wie sie größer<br />
nicht sein könnte. „In den Fächern des ästhetischen Lernbereichs besteht ein<br />
Mangel an empirisch gesicherten Wirkungsaussagen, die `Versprechungen<br />
des Ästhetischen’ sind legendär“ fasst Ulrike Hentschel die<br />
Forschungssituation zusammen (Hentschel, 2008,12). Im Bereich des
D4 <strong>Szenisches</strong> <strong>Spiel</strong><br />
szenischen <strong>Spiel</strong>s innerhalb der Literatur- oder Sprachdidaktik finden sich<br />
kaum empirische Untersuchungen zum „Rollenspiel“, allenfalls im Bereich<br />
der Fremdsprachenentwicklung, in der Sozialpädagogik und der Psychiatrie.<br />
Beispielhaft kann an der Untersuchung Eugen <strong>Jürgen</strong> Müllers gezeigt<br />
werden, dass sich Rollenspiele zur gezielten Förderung der Sprechfertigkeit<br />
eignen; im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung steigern sie das<br />
Selbstbewusstsein (2006, 99-110). Oder die qualitative Studie von Romi<br />
Domkowsky, die resümierend feststellt, dass Theaterspielen nachhaltigen<br />
Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit in ihren verschiedensten<br />
Bereichen zeigt (2008, 68). Hinzu kommen Studien wie z. B. die von Anne<br />
Bamford (2006), die die positiven Auswirkungen einer anspruchsvollen<br />
künstlerischen Förderung feststellt. Die Studie von Keuchel / Wiesand<br />
(2006) wiederum gewährt einen Einblick in die künstlerischen Interessen<br />
von Jugendlichen. Diese eher allgemeinen und unscharf formulierten<br />
Ergebnisse haben ihren Ursprung darin, dass die Messbarkeit in diesem<br />
Bereich an ihre Grenzen stößt. Hentschel formuliert die Problematik sehr<br />
zugespitzt: „Zwar beziehen sich künstlerische Fächer einerseits auf<br />
praktische Fähigkeiten, auf ein handwerkliches Können, das durchaus<br />
messbar ist. […] Anders als beim Rad fahren oder Schwimmen ist dabei<br />
einmal Gekonntes nicht unbedingt immer abrufbar, es muss neu evoziert<br />
werden, wird womöglich nur ein einziges Mal in einer bestimmten Qualität<br />
erreicht und entzieht sich der Verfügbarkeit“ (2007, 12). Die Gefahr der<br />
Reduktion auf das Messbare ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Ob die<br />
Einführung von Mindest(Bildungs)standards das Problem aus der Welt<br />
schafft, scheint mehr als fraglich, solange der Bereich nicht genügend<br />
erforscht ist.<br />
Wünschenswert wären sowohl quantitative Studien zu den praktizierten<br />
Formen szenischen <strong>Spiel</strong>s und evtl. Interventionsstudien, die den<br />
herkömmlichen Deutschunterricht mit einem stark auf szenischen Formen<br />
basierenden vergleichen. Wünschenswert wären auch qualitative Studien,<br />
die über bloße Explorationen zu Verhaltensänderungen im Bereich<br />
mündlicher Kommunikation hinausgehen (z. B. Fallanalysen mit<br />
videografierten Untersuchungen). Oder Untersuchungen, die der Frage<br />
nachgehen, wie Gestaltungs- und Verstehenskompetenzen der Protagonisten<br />
und Zuschauer zustande kommen und wie sie zu fördern wären. Auch neuere<br />
Forschungsmethoden im Bereich des Ästhetischen, wie das von Ledger<br />
(2006) vorgeschlagene „artistic research“ kämen vielleicht in Frage. Als<br />
allgemeine Forschungsperspektive schlägt Hentschel vor, die Bereiche der<br />
Vermittlung des (Theater)<strong>Spiel</strong>ens in ihrer gegenseitigen Vernetzung und<br />
Abstützung zu untersuchen (2006, 14).<br />
312
313<br />
<strong>Jürgen</strong> <strong>Belgrad</strong><br />
Zusammenfassend formuliert: Die Forschungen haben bislang eher den<br />
Status von perspektivischen Überlegungen erreicht und weniger den von<br />
konkreten Projekten.<br />
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314