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In diesem Erzählband erinnert sich Pietro De Marchi an<br />
Gesichter, Orte und Begegnungen. Er reflektiert über die<br />
Geschichte seiner Familie in den Wirren und Ver heerungen<br />
des letzten Jahrhunderts, über Freundschaft, Liebe<br />
und Literatur. Ihn interessieren nicht die großen Schlachten,<br />
ihn interessieren die kleinen Geschichten, die vermeintlich<br />
banalen; die Bilder, die seine Kindheit und<br />
Jugend in Mailand prägten, die Farben, Stimmen, Ge <br />
rüche, mal nach Weihrauch, mal nach Formalin.<br />
Durch Reisen und in der Imagination stellt sich De<br />
Marchi der Vergangenheit. Er folgt dem Großvater, der<br />
als Zweiundzwanzigjähriger nach Amerika aufbrach, vertieft<br />
sich in die Kriegs tagebücher seiner Vorväter und in<br />
Zeitungsartikel, aber er misstraut dem Faktischen.<br />
In allem sucht der Autor nach dem, was im Schatten<br />
geblieben ist oder außerhalb der Sichtweite, und er findet<br />
es in den Splittern der Wahrnehmung, in den «Falten der<br />
Zeit».<br />
De Marchi lässt die Dinge sprechen und fügt sie zu<br />
einem lyrischen Kosmos. Wo die Grenze zum wirklich<br />
Erlebten verläuft, bleibt auf faszinierende Weise ungreifbar,<br />
es ist gelebte Poesie.
Pietro De Marchi<br />
Denk<br />
an die age<br />
und<br />
Nächte<br />
Erzählungen<br />
Aus dem Italienischen von Barbara Sauser,<br />
Christoph Ferber und Julia Dengg<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
I<br />
8 «Ich weiß nicht, welcher ich bin, wir<br />
sind so viele»<br />
46 Centerville, Iowa<br />
51 Flüchtige, zähe Erinnerungen<br />
60 Das Jahr der Mondlandung<br />
71 Trittsteine<br />
83 Es war ein Föhntag<br />
92 Sizilianisches Capriccio<br />
100 «Raisin d’Italie»<br />
116 Unverfälschtes Selbstbildnis<br />
II<br />
138 Ein Eis auf den «Zattere»<br />
III<br />
142 Die Flugboote und Gaddas Adalgisa<br />
150 Mit dem Blatt auf den Knien<br />
178 Die Bücher meines Vaters<br />
IV<br />
192 Schönheit
I
«Ich weiß nicht, welcher ich<br />
bin, wir sind so viele»<br />
Jeden Sommer rechnete ich damit, ihn wiederzufinden,<br />
den graugrünen Mantel, mit dem sich der Großvater,<br />
zumindest in meiner Vorstellung, viele Jahre zuvor als<br />
Soldat auf dem Mittagskofel vor Kälte und Wind ge <br />
schützt hatte und der an einem hölzernen Kleiderbügel<br />
hinter der Tür des Dachzimmers hing, in dem man uns<br />
schlafen legte. Abends vor dem Lichterlöschen warf ich<br />
manchmal einen letzten Blick darauf, und schon begann<br />
ich von eiskalter, durch jede Ritze eindringender Zugluft<br />
zu fantasieren, von stürmischen Schneeböen, die<br />
an den Läden des kleinen, nach Norden, auf den Wald<br />
von San Giovanni gehenden Fensters rütteln. Ich war<br />
noch zu klein, um ihn anziehen zu können, und sicherlich<br />
hätte der raue Wollstoff an Armen und Beinen ge <br />
juckt. Doch der Mantel war immer an seinem Ort, und<br />
mehr brauchte es nicht. Bis ich ihn, als wir eines Sommers<br />
ankamen, nicht mehr vorfand.<br />
Bei der gleichen Gelegenheit wahrscheinlich, einem<br />
Frühjahrsputz, war auch die ChinottoFlasche mit dem<br />
verblassten Etikett verschwunden, die viele Jahre un <br />
behelligt hinter der Scheibe des Küchenschranks ge <br />
standen hatte. Sie war eine Art Reliquie: Angeblich hatte<br />
Padre Arcangelo, Opas Bruder, daraus einen Schluck<br />
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getrunken, als er wegen einer sich letztlich als nutzlos<br />
erwiesenen Operation im Krankenhaus lag. Er war<br />
Kapuzinermönch gewesen und stand, wie man auf<br />
einem Andachtsbildchen von ihm lesen konnte, bei seinem<br />
Tod im Geruche der Heiligkeit. Was Heiligkeit war,<br />
glaubte ich zu wissen, jeder hatte einen Namenstag, und<br />
der war immer von einem Heiligen begleitet, oder, wie<br />
in meinem Fall, auch von zwei. Schleierhaft blieb mir<br />
hingegen die Bedeutung von «im Geruche». Man er <br />
klärte mir, dem Großonkel und Ordensbruder habe bei<br />
seinem Tod der Ruf angehaftet, ein Heiliger zu sein, und<br />
so fühlte ich mich ein bisschen wichtig, nicht alle meine<br />
Freunde besaßen einen solchen Verwandten in der engsten<br />
Familie.<br />
«Wohin gehst du, wenn du groß bist, zu den Gebirgsjägern<br />
oder ins Kloster?», bestürmte ich meinen Bruder<br />
Antonio, als hätte es gar keine anderen Möglichkeiten<br />
gegeben, die man in Betracht ziehen konnte. Er wollte<br />
zu den Gebirgsjägern, was er später tatsächlich machte,<br />
während ich mir mit der Begründung, jünger zu sein,<br />
noch Zeit ließ. Es war jedenfalls noch zu früh für eine<br />
Karriere als Ministrant im schwarzen, nach Pfarrhaus<br />
riechenden Talar mit der Knopfreihe vom Hals bis zu<br />
den Füßen. Hingegen fühlten wir uns schon reif für das<br />
Metier der Spielzeugwaffen, spielten auf den Wiesen<br />
und hinter dem Haus im Wald Krieg und Indianer, vermischten<br />
unbekümmert Epochen und Geografien, be <br />
nutzten abwechselnd einen Revolver, in dem man mit<br />
9
etwas gutem Willen einen 45KaliberColt aus dem<br />
19. Jahr hun dert erkennen konnte, des Weiteren einen<br />
rudimentären, aus einem grünen Holunderzweig und<br />
dicker Paketschnur gebastelten Pfeilbogen und nicht<br />
zuletzt ein kleines Gewehr, das eine perfekte Nachbildung<br />
der Muskete Modell 91 war, mitsamt Drehriegelverschluss,<br />
aber ohne das Bajonett. Natürlich kannten<br />
wir das Scherzlied, zu dem man paarweise mit gekreuzten<br />
Armen und Händen losmarschierte, um sich, sobald<br />
am Strophenende die Schüsse kamen, auf einen Schlag<br />
umzudrehen und lauthals singend in die entge gen gesetz<br />
te Richtung zu laufen: «Wir ziehen in den Krieg,<br />
kämpfen uns zum Sieg, die Flinten in der Hand, pim pum<br />
pam!»<br />
Wenn die Ältesten unter den Erwachsenen vom Ersten<br />
Weltkrieg und dem Jahr des Hungers unter österreichischer<br />
Besatzung sprachen, im Nachgang auf die Schlacht<br />
von Caporetto, klang es noch so, als hätten sich diese<br />
Dinge gerade erst ereignet und müsste man ihrer ergriffen<br />
gedenken, sodass zu den Pflichtausflügen – vor de <br />
nen einen keine Ausreden zu bewahren vermochten,<br />
weder plötzlich aufgetretene Bauchschmerzen noch<br />
drohende Übelkeit wegen der Kurven und Kehren –<br />
insbe sondere das Denkmal auf dem Monte Grappa<br />
gehörte, wo unvermeidlich das MonteGrappaLied<br />
erklang, «Tu sei la mia Patria, sei la stella che addita il<br />
cammino» – «Du bist meine Heimat, bist der Stern, der<br />
mir weist den Weg», und dann auch die viel näher gele<br />
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genen Überreste der Festungsanlage auf der Cima Campo,<br />
die auch zu Fuß erreichbar gewesen wäre, wenn man<br />
sich an eine leicht anstrengendere Bergwanderung als<br />
gewöhnlich hätte wagen wollen.<br />
Es war wenig ratsam beziehungsweise verboten, durch<br />
die feuchten Gänge und über die geländerlosen Treppen<br />
im Innern des Forte di Campo zu laufen, da sich niemand<br />
darum gekümmert hatte, die in der Endphase des<br />
Kriegs beschädigte Festung instand zu setzen oder zu<br />
sichern. Papa hatte sich viele Jahre zuvor zusammen mit<br />
einem Cousin hineingewagt und hätte sich damals beinahe<br />
den Hals gebrochen, wie er sagte, doch glücklicherweise<br />
trug er letztlich nur eine große Beule und<br />
eine Wundnaht davon. Wir durften also nicht ins Innere<br />
der Festung, und so blieben wir draußen, verfolgten<br />
einander auf der weitläufigen grünen Fläche vor den<br />
Kasematten, im Zickzack vorbei an den frischen, breitgelaufenenen<br />
Fladen, die die Kühe der nahe gelegenen<br />
Alp hinterlassen hatten, oder pirschten uns die Laufgräben<br />
hoch und kletterten auf die Überreste der Betonkuppeln,<br />
unter denen ursprünglich die Panzerbatterien<br />
mit den 149erKanonen stationiert gewesen waren. Von<br />
dort aus beobachteten wir durch das Fernglas die umliegenden<br />
Gipfel, kleine Generäle nach dem Vorbild des<br />
General Giardino, der am Viale von Bassano mit bronzenem<br />
Blick stolz von der großen Straße aus zum Monte<br />
Grappa hochschaute, doch unsere Gipfel waren der<br />
Monte Ortigara, der Adamello und die Palagruppe. Die<br />
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Ausflüge klangen mit einem friedlichen Picknick aus,<br />
auch wenn wir vorsichtshalber noch eine Binsenmatte<br />
oder eine Decke auf das frisch gemähte Gras legten,<br />
damit es nicht piekste.<br />
Mir fällt ein Foto ein, das mir, als ich Jahre später in einer<br />
Schachtel mit Familienfotos stöberte, besonders gut<br />
gefiel, mein Vater hatte es noch vor der Geburt von uns<br />
Kindern gemacht, es zeigte einen Heuhaufen im Innenhof<br />
des Forte Leone, einen ortstypischen Heuschober,<br />
bestehend aus einem langen Pfahl, der durch ein knapp<br />
über dem Boden angebrachtes, quadratisches Holzbrett<br />
mit einem Loch in der Mitte in den Boden getrieben<br />
wurde, und einem Sattel oder Walmdach aus Blech,<br />
unter dem das Heu aufgeschichtet wurde, damit es trocknen<br />
konnte, ohne zu faulen. Der Kommentar, den mein<br />
Vater mit Bleistift auf die Rückseite des Fotos geschrieben<br />
hatte, klang wie ein Bildtitel: Krieg und Frieden.<br />
Genau, ein Heuschober in einer Festung ist wie Krieg<br />
und Frieden.<br />
All die Geschichten über die Jahre des Ersten Weltkrieges<br />
weckten unsere Neugier wie eine Art Heldenepos,<br />
auch wenn wir uns natürlich nicht auf diese Weise ausgedrückt<br />
hätten, da wir noch im Grundschulalter waren.<br />
Am allermeisten beeindruckte mich, was die Großmutter<br />
von den Freiluftlatrinen der todéschi, der Deutschen,<br />
in den Monaten der Besatzung erzählte – sie war im Dorf<br />
geblieben, der Großvater war im Militärdienst: Diese<br />
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Latrinen befanden sich direkt unterhalb der Häuser<br />
unseres Weilers, sodass es zu jeder Tageszeit passieren<br />
konnte, dass eine junge Ehefrau sich über das Geländer<br />
des Südbalkons beugte, etwa um einen zuvor Blatt für<br />
Blatt gewaschenen und danach in ein rotweiß kariertes<br />
Geschirrtuch gewickelten Salat auszuklopfen, und ihren<br />
verschämten Blick unversehens auf eine Reihe bleicher<br />
Bosnierhintern gerichtet sah, die sich an der frischen<br />
Luft der epischen Anstrengung hingaben. Zu gern hätte<br />
ich dieses Schauspiel selber erlebt, viel lieber als eine<br />
der heldenhaften oder blutigen Unternehmungen in der<br />
Art des Angriffs der Meraner Schützen auf das Forte di<br />
Campo, der Kapitulation des Leutnants Olmi und seiner<br />
dreihundert Alpini oder des offziellen Besuchs des<br />
frischgebackenen Kaisers Karl, dem Nachfolger von<br />
Cecco Beppe beziehungsweise Franz Josef, nachdem der<br />
Gipfel erobert worden war. Ich hätte mein Blasrohr ge <br />
nommen und es diesen Nacktärschen gezeigt, oder es<br />
sie, besser gesagt, spüren lassen, ich, ein kleiner Saboteur<br />
österreichischungarischer Sitzungen!<br />
Was das Blutvergießen betraf, reichte mir schon mein<br />
eigenes, das Bluten aus der Nase, da meine dünnen<br />
Kapillaren bei jedem pollenbedingten Niesen platzten,<br />
und vor allem aus den Knien: Die Straße vor unserem<br />
Haus war noch nicht asphaltiert, und so konnte es leicht<br />
passieren, dass man beim Abwärtsrennen über einen<br />
Stein stolperte, wie ein Tolpatsch hinknallte und sich<br />
wundraspelte, ich höre diese Worte noch, höre noch<br />
13
die bekümmerte Stimme meiner Mutter. Nicht zufällig<br />
vielleicht gehört es zu meinen ersten Sommerferienerinnerungen<br />
an Erwachsene, wie Onkel Franco auf<br />
mein Weinen hin herbeieilt, mich unter den Achseln<br />
fasst und rasch in die Küche trägt, um mich auf den<br />
steinernen Spültrog zu stellen und mitfühlend meine<br />
Knie von dem widerwärtigen Gemisch aus Blut und Erde<br />
zu säubern.<br />
Alles geht vorbei: Das kindliche Nasenbluten ging vorbei,<br />
die Dorfstraßen wurden asphaltiert, und wir begannen<br />
lange Hosen zu tragen, ein ideales Mittel gegen<br />
Bremsenstiche und natürlich gegen aufgeschürfte Knie.<br />
Ein Wimpernschlag, und schon erlosch auch unsere<br />
Passion für Gewehre und Pistolen, für Waldhütten und<br />
Scharmützel unter Kinderbanden, so schnell, wie der<br />
Faden einer Lampe verglüht. Stattdessen standen wir<br />
nun im Bann des Gottes Fußball: Vormittags strenge<br />
Trainingseinheiten und Wettkämpfe im Elfmeterschießen<br />
auf der Piazza vor der Kirche, wo uns die zufällig in<br />
regelkonformer Distanz angeordneten Stämme altehrwürdiger<br />
Robinien als Torpfosten dienten, nachmittags<br />
endlose, erschöpfende Fußballspiele auf dem Campo<br />
dei Masni, der von niederprasselnden Augustgewittern<br />
wieder in das verwandelt wurde, was er einst gewesen<br />
war, nämlich in einen kleinen See, für dessen Überquerung<br />
man ein Boot gebraucht hätte, und dann kehrten<br />
wir so verdreckt nach Hause zurück, als kämen wir di rekt<br />
von einem Winterfeldzug.<br />
14
Nach und nach wurden die traditionellen Ausflüge auf<br />
den Monte Grappa also doch geschwänzt, zunächst von<br />
den Größeren, die es sich unmöglich leisten konnten,<br />
einen Trainingstag zu verpassen, bis sie aufgrund des<br />
allgemein schwindenden Interesses ganz aufgegeben<br />
wurden, ohne dass unsere Widerspenstigkeit bei den<br />
Erwachsenen noch Protest ausgelöst hätte. Zum Forte<br />
di Campo kehrten wir später allein zurück, beziehungsweise<br />
in Gesellschaft gleichaltriger Mädchen, die ihre<br />
im Juli am Meer erlangte Bräune bewahren wollten und<br />
sich auf 1500 Metern im Badeanzug in die Sonne legten,<br />
unter den gleichgültigen Blicken der Kühe und den neugierigen<br />
der Sennen, die Komplimente in ihre Richtung<br />
nuschelten.<br />
Meine Allergie gegen Uniformen und alles, was mit Waffen<br />
und Militär zu tun hat, kam erst später zum Tragen,<br />
sie brach, falls sich jemand für Einzelheiten interessiert,<br />
nach langer Inkubationszeit an Bord eines Stadtbusses<br />
aus. Das ist kein Märchen – die Linie 42 der ATM, die die<br />
Endhaltestelle in der Via Val di Ledro, Ecke Via Hermada,<br />
wo wir wohnten, mit dem Hauptbahnhof verband,<br />
führte entlang der Umfriedungsmauer der Bersaglieri<br />
Kaserne, bevor sie rechts in den Viale Suzzani abzweigte.<br />
Abends um sechs und dann wieder vor dem mitternächtlichen<br />
Zapfenstreich, aber auch sonntags zu unterschiedlichen<br />
Tageszeiten, verwandelte sich die Linie 42<br />
buchstäblich in einen Truppentransport. An der Haltestelle<br />
in der Via Gregorovius stiegen Scharen wenig<br />
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strammer Bersaglieri ein oder aus, zunächst in Uniform<br />
und kurzgeschoren, den roten Fes mit der Quaste unter<br />
die Schulterklappe gesteckt, später auch nicht mehr<br />
ganz so kurz geschoren und in Zivilkleidung, aber dennoch<br />
sofort erkennbar am Kasernengeruch. Ich betrachtete<br />
sie auf dem Weg vom oder ins Zentrum und verspürte<br />
unendliches Erbarmen und Mitgefühl. Sie sprachen<br />
einzig und allein über Urlaube und Genehmigungen, die<br />
ihnen möglicherweise einen Blitzbesuch zu Hause er <br />
möglichen würden, drei plus zwei, drei Tage Urlaub und<br />
zwei Tage Reise, Hunderte von Kilometer bis nach Pe <br />
schiera oder Pescara, Gioia Tauro oder Gioia del Colle.<br />
Sie bestätigten meine Annahme, dass das bevorstehende<br />
und wegen des Studiums immer wieder auf später<br />
verschobene Militärdienstjahr reine Zeitverschwendung<br />
war, und da ich diesbezüglich ohnehin schon ein<br />
Fachmann war, hatte ich beileibe keine zusätzliche Er <br />
munterung zur Kultivierung dieser Neigung nötig. Als<br />
die Sache unausweichlich wurde, schrieben ich und ein<br />
Freund, der zwei Haltestellen von der Kaserne entfernt<br />
wohnte, am bereits erwähnten Viale Suzzani, auf seiner<br />
Olivetti zwei identische Briefe, in denen wir uns zu<br />
Dienstverweigerern erklärten, und schickten sie per<br />
Einschreiben an den Militärbezirk Baggio. Nun war es<br />
mehr als nur eine Allergie gegen das Soldatenleben, den<br />
Sieg, den hohen Waffenruhm.<br />
«Schlechtes Essen in der Kindheit ist kein Grund, sich später<br />
nicht danach zu sehnen.» Als ich neulich auf diesen<br />
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Satz stieß, den ein nur zehn Jahre älterer englischer Historiker<br />
geschrieben hat, Autor eines großartigen Buches<br />
über die Nachkriegszeit in Europa, musste ich an einen<br />
lange zurückliegenden Nachmittag denken. Wir waren<br />
zu Hause in Mailand, es war irgendwann in der Mitte<br />
der Siebzigerjahre, Papa stand auf der Schwelle unseres<br />
Jugendzimmers; was ihn dazu veranlasst hatte, weiß ich<br />
nicht mehr genau, ein Zeitungsartikel vielleicht oder<br />
eine ironische Bemerkung von uns über die Königinnen<br />
und Könige, die es in Europa immer noch gab. Er sagte:<br />
«Man kann niemandem verbieten, sich nach seiner Ju <br />
gend zu sehnen, nur weil diese beispielsweise in die Zeit<br />
des Monarchismus oder des Faschismus fiel.» Er drückte<br />
es vielleicht nicht exakt so aus, aber es lief jedenfalls<br />
darauf hinaus, dass sich keiner aussuchen kann, wann<br />
und auch wo er oder sie geboren wird, und dass diejenigen,<br />
die in einer weniger glücklosen Zeit oder an einem<br />
vom Glück verwöhnteren Ort zur Welt kommen, nicht<br />
das Gefühl haben sollten, Urteile fällen zu dürfen, ohne<br />
sich zuvor gut über das Wie und Warum informiert zu<br />
haben.<br />
Wir sind nicht dabei gewesen, niemand kann wissen,<br />
wie wir uns damals verhalten hätten. Unsere Situation<br />
war einfacher, man hatte uns schon das Terrain bereitet,<br />
hatte zu diesem Zweck vielleicht sogar im Knast gesessen,<br />
um nicht Verrat an seinen Ideen zu begehen, die erst<br />
später auch zu den unseren wurden. Wenn man überzeugt<br />
war, brauchte man bloß einen Antrag zu schicken<br />
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und eine mit allerlei Fangfragen gespickte Gewissensprüfung<br />
bei den Carabinieri hinter sich zu bringen,<br />
zu dem musste man die Unterstellung, man sei opportunistisch,<br />
hartnäckig zurückweisen, und schon ermöglichten<br />
es einem die Gesetze der auf Arbeit gründenden<br />
Republik, statt Militärdienst Zivildienst zu leisten, vielleicht<br />
sogar irgendwo in der Nähe. Aber damals? Gerade<br />
einmal eine oder zwei Generationen früher, zu Zeiten<br />
des Königs und des Marschalls Cadorna beziehungsweise<br />
des Königs (desselben) und der Marschälle Badoglio<br />
und Graziano war alles so verflixt viel komplizierter.<br />
«[…] im November 1943 erreichte uns eine Einberufung.<br />
Natürlich leistete ihr kaum jemand Folge, man war weder<br />
bereit, sie ernst zu nehmen, noch dieser zweifelhaften, von<br />
deutschen Panzern gestützten Republik Legitimität zuzugestehen.<br />
Man nannte uns ‹Dienstverweigerer›, und bald<br />
schon ging es los mit den Säuberungsaktionen der Schwarzen<br />
Brigaden, die manchmal direkt und erbarmungslos<br />
feuerten. Schließlich wurde per Dekret die sofortige Er schießung<br />
aller beschlossen, die man gefasst hatte (das war An <br />
fang Januar 1944, glaube ich), in den Radionachrichten<br />
kamen Berichte über die Erschießungen, die da und dort<br />
stattgefunden hatten. Die Angst war so groß, dass sich die<br />
Männer in Scharen bei den Bezirken meldeten, wo ihnen<br />
die vorherige Verweigerung verziehen wurde und man sie<br />
einzog. Sicher, andere flohen in die Berge und schlossen sich<br />
Partisanengruppen an, aber wo hätten sich jene verstecken<br />
sollen, die kein Gebirge in der Nähe hatten?»<br />
18
Diese Zeilen habe ich aus einem am 23. April 1990 in<br />
einer Tageszeitung publizierten Brief an den Chefredakteur<br />
abgeschrieben. Unterzeichnet war er von einem<br />
gewissen Ubaldo Terzano aus Buccinasco. Geboren war<br />
er, wie er im Brief erwähnte, 1925, er war also zwei Jahre<br />
jünger als mein Vater. Aber mein Vater schnitt diesen<br />
Brief bestimmt deswegen aus und legte ihn in seinen<br />
Taschenkalender von 1945, in dem er Kriegstagebuch<br />
führte, weil er ihn auch selber hätte schreiben können,<br />
wortwörtlich. Auf der Seite neben dem Titelblatt seines<br />
Kalenders lese ich: «Valentino De Marchi, Sohn des Bortolo<br />
Giovanni und der Conte Maria, geboren am 16. (offziell<br />
18.) 7. ’23 in Arsiè (Belluno), wohnhaft in Mailand – via<br />
Fortiguerra 6 – Literaturstudent, Soldat wider Willen.»<br />
Am 6. März 1944 meldete auch er sich in der nächstgelegenen<br />
Kaserne, der Caserma Adriatico im Stadtteil<br />
Bicocca, man verzieh auch ihm und zog ihn ein. Wie er<br />
mir erzählte, befand er sich Anfang Juli – also wenige<br />
Tage vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag – in<br />
Piazzola sul Brenta in der Provinz Padua, als Soldat<br />
der Luftwaffe, zuständig für die Flakartillerie. Man hatte<br />
gehört, dass ein Teil ihrer Kompanie in Bälde einer<br />
deutschen Batterie angegliedert und vermutlich nach<br />
Deutschland verlegt würde, weil die Alliierten in der<br />
Normandie gelandet waren und man Verstärkung am<br />
Rhein und in den Ardennen brauchte. Wer sich in der<br />
Umgebung auskannte, versuchte, sich aus dem Staub<br />
zu machen. Natürlich mussten davor die Risiken eines<br />
19
Fluchtversuchs abgewogen werden, einige waren dabei<br />
erwischt und als Deserteure verurteilt und exekutiert<br />
worden.<br />
Mein Vater und die anderen mussten sich hinter die<br />
Balustraden des typisch palladianischen Saals im Erdgeschoss<br />
der Villa Contarini stellen – wo man in der Dogenzeit<br />
zu Musik getanzt hatte, die aus einem gitarrenförmigen,<br />
mit von unten nicht sichtbaren musizierenden<br />
Putten geschmückten Zimmer im dritten Stock herunterschallte<br />
– und dort dem Prozess gegen eine Gruppe<br />
von Kameraden beiwohnen, die zu fliehen versucht hatten,<br />
im flachen Umland jedoch gefasst worden waren.<br />
Sie wurden allesamt zum Tode verurteilt und nach Verona<br />
geschafft, wo sie erschossen werden sollten – alle,<br />
auch jener äußerst einfältig wirkende Gefährte, der sich<br />
immerhin besser als die anderen zu verteidigen gewusst<br />
hatte. Trotz dieser abschreckenden Beispiele steckte<br />
eines Tages ein weiterer Kamerad meinem Vater einen<br />
Abschiedsbrief zu, den er behielt und den ich hier wiedergebe,<br />
er stammte von einem gewissen Erminio Vallese<br />
aus Rovigo: «Ich fliehe. Wenn ich es schaffe, mich genügend<br />
lange in Luft aufzulösen: sehr gut. Erwischen sie mich,<br />
werde ich erschossen. Und ich werde es so gewollt haben,<br />
in der Absicht mit meinem Willen jenen der anderen (das<br />
Schicksal) herauszufordern.»<br />
Das Schicksal, genau. Ich erinnere mich, wie wir einmal<br />
im Auto zum Bettin hochfuhren, dem Rifugio auf der<br />
<strong>20</strong>