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wina juni 22, online fertig

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Juni 20<strong>22</strong><br />

Siwan 5782<br />

#6. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

06<br />

„Rothschild war ein<br />

Naturromantiker und<br />

hat eine Naturschutzgroßtat<br />

vollbracht.“<br />

Christoph Leditznig<br />

9 120001 135738<br />

ROTHSCHILDS URWALD<br />

Ein unberührter Urwaldrest im<br />

Mostviertel zeugt von der Weitsicht des<br />

Naturromantikers Albert Rothschild<br />

DIRIGENT, DEMOKRAT, PESSIMIST<br />

Chefdirigent Ádám Fischer über Musik,<br />

politische Wertvorstellungen und seine<br />

Sorgen über die Zukunft Ungarns<br />

ERINNERUNGEN IM SALON<br />

Sind bombastische Gedenkzeremonien<br />

noch zeitgemäß? Wer und wie wird die<br />

Erinnerung an die Shoah weitertragen?<br />

LUST AUF PROVOKATION hat der<br />

deutsch-israelische Autor Rafael Seligmann<br />

immer noch – sein neuer Roman<br />

heißt Rafi, Judenbub<br />

EXPERIMENT, FARBE, ATMOSPHÄRE<br />

Helen Frankenthaler – eine Wiederentdeckung<br />

der großen amerikanischen<br />

Malerin in der Kunsthalle Krems<br />

cover_06<strong>22</strong>_korrAH_X.indd 54 07.06.<strong>22</strong> 14:08


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cover_06<strong>22</strong>_korrAH_X.indd 55 07.06.<strong>22</strong> 14:08


Editorial<br />

Julia Kaldori<br />

Albert Rothschild beschloss 1875, ein Stück Urwald<br />

in Niederösterreich zu erwerben und als<br />

unberührten Primärwald für die Nachwelt zu erhalten<br />

(Geschichte dazu auf S. 33 f.): ein visionärer Gedanke<br />

in einer Zeit, in der der Mensch noch mit aller<br />

Kraft versucht hat, seine Umwelt zu beherrschen,<br />

und sie damit wohl auch nachhaltig kaputt gewirtschaftet<br />

hat.<br />

Was kaputt ist, muss repariert werden: Tikkun Olam.<br />

Die Reparatur und Verbesserung der Welt gehören zu<br />

den höchsten ethischen Prinzipien des Judentums<br />

und sind Impuls für viele, sich ihrer Umwelt stets bewusst<br />

zu sein – und hoffentlich auch in ihrem Sinne<br />

zu handeln.<br />

Der Rothwald – ein Stück unberührter Urwald in<br />

Niederösterreich.<br />

Doch es gibt noch weitere Prinzipien, die uns zu<br />

einem verantwortungsvollen Umgang mit unserer<br />

(Um-)Welt verpflichten. Eines der 613 Gebote heißt<br />

Bal Taschchit: Lo taschchit! Vernichte nicht! und kann als<br />

Verbot, die Welt mutwillig zu zerstören, gedeutet werden.<br />

In seiner ursprünglichen Form verbot es die Zerstörung<br />

von Obstbäumen. Auch in Kriegszeiten.<br />

Früchte erhalten das Leben, und wir schätzen das<br />

Leben über alles andere. Nicht nur das eigene. Ein<br />

Obstbaum trägt die Früchte für seine eigene Fortpflanzung.<br />

Darüber hinaus bietet er aber auch Nahrung für<br />

andere Lebewesen und dient als vielseitiger Rohstoff.<br />

Unser Nutzen ist jedoch nicht der Hauptzweck der<br />

Früchte, sondern die Schaffung einer neuen Generation.<br />

Und so besteht auch unsere Welt nicht, um sie<br />

leer zu konsumieren, sondern um so in ihr zu leben,<br />

dass eine neue Generation in ihr entstehen kann, die<br />

hoffentlich gesünder und glücklicher ist.<br />

Überfischung, Abholzung, Kohlendioxidemission,<br />

Treibhauseffekt, Artensterben sind nur einige<br />

von vielen Ursachen für die Zerstörung der Erde. Der<br />

Mensch hat zu lange nicht erkannt, dass der Hauptzweck<br />

des Lebens darin besteht, sich in all seinen Formen<br />

zu erhalten und weiterzuentwickeln.<br />

Es gibt (noch) genug Ressourcen auf dem Planeten<br />

für uns alle, wenn wir endlich gemeinsam nach besseren<br />

Lösungen als dem reinen Konsum und Vergnügen<br />

für unsere eigenen Zwecke suchen. Wir müssen<br />

uns bewusst machen, dass wir die Hüter der uns zur<br />

Verfügung stehenden Ressourcen sind und im Umgang<br />

mit diesen Verantwortung für die folgenden Generationen<br />

tragen.<br />

Ein weiteres Konzept stammt aus Levitikus 19:16.<br />

Darin wird uns befohlen, nicht zu verleumden und<br />

dem Blutvergießen unserer Nächsten nicht tatenlos<br />

zuzusehen, und das heißt, nicht zuzulassen,<br />

dass jemand bzw. etwas geschädigt wird,<br />

wenn wir es verhindern können. Es ist jenes Leitprinzip,<br />

das sich – wie ich vor kurzem gelesen<br />

habe – auch Rabbiner Abraham Joshua Heschel<br />

zur Grundlage seiner Friedensarbeit während<br />

des Vietnamkriegs machte: „Und so beschloss<br />

ich, meine Lebensweise zu ändern und mich für<br />

den Frieden in Vietnam zu engagieren.“ Heschel<br />

macht damit deutlich, worin der Schlüssel zum<br />

Wandel liegt: im persönlichen Entschluss, sich<br />

zu ändern – nicht zum Eigenzweck, sondern für<br />

die Gemeinschaft.<br />

Wenn wir alle unser Verhalten nur ein wenig<br />

ändern – ein Ding mehr recyceln, eine Flugreise<br />

weniger unternehmen, einmal mehr den öffentlichen<br />

Nahverkehr statt das Auto nutzen, statt Golfrasen<br />

ein wenig Wildwuchs für Insekte im Garten stehen<br />

lassen und statt ein neues Paar Schuhe ein altes,<br />

liebgewonnenes reparieren lassen –, können wir die<br />

Welt für die kommenden Generationen vielleicht doch<br />

so hinterlassen, dass sie die Möglichkeit erhalten, es<br />

noch besser zu machen, anstatt sich darum zu kümmern,<br />

die Hitzewellen, den Wasser- und Rohstoffmangel<br />

und die daraus resultierenden kriegerischen Konflikte<br />

zu überstehen.<br />

Und so heißt es im Midrasch: „In der Stunde der<br />

Schöpfung, als G’tt den ersten Menschen schuf, nahm<br />

er ihn und zeigte ihm alle Bäume im Garten Eden, im<br />

Paradies. Er sagte dem Menschen: Siehe wie schön<br />

und angenehm meine Schöpfung ist. Und alles, was<br />

ich erschaffen habe, habe ich für dich getan. Denk<br />

daran, meine Welt nicht zu verderben und zu zerstören.<br />

Wenn du es aber tust, wird es keinen geben, der<br />

sie nach dir reparieren kann.“ Albert Rothschild hat<br />

mit seiner visionären Idee ein Stück seines Gartens<br />

Eden für die Nachwelt bewahrt.<br />

„„Sei du selbst<br />

die Veränderung,<br />

die du dir<br />

für diese Welt<br />

wünschst.“<br />

Mahatma Gandhi<br />

© Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

edi06<strong>22</strong>_GR_korrAH_X.indd 1 08.06.<strong>22</strong> 12:31


S.16<br />

Viviane Shklarek erkrankte an Long<br />

Covid. Schritt für Schritt bemüht sie<br />

sich, gesund zu werden – und möchte<br />

mit ihrem positiven Elan dabei auch<br />

andere motivieren.<br />

INHALT<br />

„Aber es war<br />

ein bisschen so,<br />

wie wenn<br />

man das Leben<br />

durch einen<br />

Schleier<br />

sieht.<br />

Viviane Shklarek<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

2 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Musik inszenieren<br />

Ádám Fischer dirigiert an der Staatsoper<br />

Haydns Jahreszeiten. Mit WINA<br />

spricht er über die Modernisierung<br />

der Oper und ungarische Politik.<br />

12 Erinnerungen im Salon<br />

Sind bombastische Zeremonien am<br />

Gedenktag an die Opfer der Shoah<br />

noch zeitgemäß? Das Projekt Zikaron<br />

BaSalon zeigt eine Alternative auf.<br />

14 Das unrühmliche Ende<br />

Nun hat auch das Metropolitan Museum<br />

den Namen der prominenten<br />

Spenderfamilie Sackler verschwinden<br />

lassen.<br />

16 Ausgebremst<br />

Viviane Shklarek erkrankte an Long<br />

Covid. Schritt für Schritt bemüht sie<br />

sich, gesund zu werden – und möchte<br />

dabei auch andere motivieren.<br />

20 „Zweimal gestorben“<br />

Im WINA-Interview erzählt Maya Kupferberg<br />

über die vier Leben ihres Vaters,<br />

des österreichisch-israelischen<br />

Historikers Walter Grab.<br />

<strong>22</strong> Frau, Linke, Jüdin<br />

Tilly Spiegel war eine mutige Frau,<br />

die in grausamen historischen Zeiten<br />

für den Kommunismus und gegen<br />

die Nationalsozialisten kämpfte.<br />

26 Exil in Portugal<br />

Das Buch Portugal. Zuflucht am<br />

Rande Europas. 1933–1945 widmet<br />

sich der Situation des weniger bekannten<br />

Zufluchtslandes.<br />

28 Tor des Vergessens<br />

Mythos, Gedächtnis, Ausgrenzung<br />

und Zukunft: Ein neuer Band mit Aufsätzen<br />

über Venedig und dessen<br />

Ghetto beschreibt es als konkreten<br />

Ort und als globale Metapher.<br />

30 Villen erzählen<br />

Die Ausstellung Sehnsucht nach Baden.<br />

Jüdische Häuser erzählen dokumentiert<br />

das Stadtbild mit den teils<br />

verschwundenen Villen der einst jüdischen<br />

Bewohner:innen.<br />

33 Rothschilds Urwald<br />

In Niederösterreich befindet sich der<br />

letzte Urwald Österreichs: der Rothwald.<br />

Möglich machte das eine Verfügung<br />

Albert Rothschilds.<br />

36 Deutsch lernen, …<br />

… daran führt kein Weg vorbei.<br />

Im JBBZ haben bereits 89 Männer<br />

und Frauen aus der Ukraine einen<br />

Deutschkurse begonnen.<br />

„Die Verfolgung und Ermordung<br />

von Juden, ihre Vertreibung,<br />

der Raub an ihrem<br />

Eigentum zogen sich als Konstante<br />

durch die europäische<br />

Geschichte als Teil<br />

des Selbstverständnisses<br />

des<br />

Christentums.“<br />

Anetta Kahane<br />

S.43<br />

S.19<br />

Frischluft-Gaudi<br />

Im Juni feiert die IKG ihr jährliches Sommerhighlight:<br />

das jüdische Straßenfest! WINA hat eine kleine Grundausstattung<br />

für Open-Air-Events zusammengestellt!<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 2 07.06.<strong>22</strong> 13:51


-<br />

s-<br />

l<br />

KULTUR<br />

38 Disco-Queen<br />

Im Mai starb Régine Zylberberg.<br />

Die Holocaust-Überlebende hatte<br />

einige der elegantesten Nachtclubs<br />

in Europa und den USA gegründet.<br />

40 Opern- & Filmkomponist<br />

Der Schwerpunkt der Festwochen<br />

Gmunden ist dem 125. Geburtstag von<br />

Erich Wolfgang Korngold, dem musikalischen<br />

Wunderkind aus Brünn und<br />

Wien, gewidmet.<br />

43 Zur Seite geschoben<br />

Die Nähe des traditionellen christlichen<br />

Judenhasses zum modernen<br />

eliminatorischen Antisemitismus wird<br />

immer noch verschleiert.<br />

44 Das beste Bild<br />

Der ungarisch-jüdische Fotograf<br />

Robert Capa erlangte Weltruhm als<br />

Kriegsberichterstatter. Eine Ausstellung<br />

widmet sich jetzt seinen humoristisch-humanistischen<br />

Fotografien.<br />

46 Lust an Provokation<br />

Die Aufzeichnungen seines Vaters<br />

waren für Autor Rafael Seligmann<br />

die Initialzündung für seinen autobiografischen<br />

Roman Rafi, Judenbub.<br />

49 Farbe und Atmosphäre<br />

Die Kunsthalle Krems zeigt Arbeiten<br />

von Helen Frankenthaler, einer der<br />

wichtigsten Repräsentantinnen des<br />

amerikanischen abstrakten Expressionismus.<br />

Coverfoto: © Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

In Israel deutet gerade wenig auf<br />

Entspannung hin. Von Gisela Dachs<br />

19 WINA_Lebensart<br />

Eine kleine Grundausstattung für Open-<br />

Air-Events des Sommers<br />

24 Matok & Maror<br />

Nahe der großen Synagoge in Rom<br />

finde sich das Restaurant Ba’Ghetto<br />

25 WINA_kocht<br />

Ist denn Mus ein Muss? Und was<br />

gibt es Feines mit und ohne Holler?<br />

52 WINA_Werkstädte<br />

Der goldene Hochzeitsring<br />

aus dem Schatz von Colmar<br />

53 Urban Legends<br />

Rastlos taumelnd durch gegenwärtige<br />

Ambivalenzen und Unsicherheiten<br />

sieht uns Paul Divjak<br />

54 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den Juni<br />

56 Das letzte Mal<br />

Sängerin und Schauspielerin Lea<br />

Kalisch über ihre Shtetl-Seele und<br />

die Kraft des Schtreimel-Tragens.<br />

„… Ungarn<br />

ein ähnlich<br />

demokratisches<br />

Land werden<br />

könnte<br />

wie die Schweiz oder<br />

Schweden.“<br />

Ádám Fischer<br />

S.06<br />

Ádám Fischer dirigert an<br />

der Staatsoper Josef Haydns<br />

Jahreszeiten. Im WINA-Interview<br />

spricht er über die Moderniserung<br />

der Oper, ungarische<br />

Politik und anderes mehr.<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 3 07.06.<strong>22</strong> 13:51


HIGHLIGHTS | 01<br />

BESTANDSAUFNAHME<br />

Judenfeindlichkeit ist hierzulande nach wie vor präsent. Offene Feindseligkeit<br />

ist dabei bisweilen unterschwelligen Anfeindungen gewichen, latent und abrufbar<br />

bleibt Antisemitismus dennoch auf vielen Ebenen. Christina Hainzl<br />

und Marc Grimm nehmen in dem von ihnen nun herausgegebenen Band<br />

Antisemitismus in Österreich nach 1945 eine Bestandsaufnahme vor.<br />

Der Sammelband vereint die Expertise<br />

von altbekannten Forschern und Forscherinnen<br />

sowie Publizisten und Publizistinnen<br />

auf diesem Gebiet: Barbara Serloth<br />

etwa gibt einen Überblick über den demokratisch<br />

legitimierten legislativen Antisemitismus<br />

der Zweiten Republik, Margit Reiter widmet<br />

sich der Judenfeindlichkeit in der FPÖ<br />

nach 1945. Helga Embacher formuliert, was<br />

es mit der Parteinahme der FPÖ für Israel auf<br />

sich hat, Bernhard Weidinger analysiert den<br />

Antisemitismus in Studentenverbindungen.<br />

Stephan Grigat widmet sich der radikalen<br />

Linken und dem israelbezogenen Antisemitismus,<br />

Mouhanad Khorchide dem Antisemitismus<br />

unter Muslimen und Musliminnen,<br />

Matthias Falter dem katholischen Antisemitismus.<br />

Judenfeindlichkeit unter Jugendlichen<br />

hat Bernadette Edtmaier im Visier,<br />

Florian Markl Judenfeindliches im Medienbetrieb.<br />

Klaus Davidowicz beleuchtet<br />

den Nachkriegsfilm, Ben Dagan das<br />

Problem von Antisemitismus in sozialen<br />

Medien.<br />

Ausgangspunkt für den Band<br />

war ein Interviewprojekt von Co-<br />

Herausgeberin Hainzl zum Thema<br />

Jüdisches Leben in Österreich an der<br />

Donau-Universität Krems. In mehr<br />

als 30 Interviews hat sie dabei auch das<br />

Thema Antisemitismus angesprochen und<br />

lässt in dem nun erschienenen Buch Interviewte<br />

dazu anonymisiert zu Wort kommen.<br />

In ihren Aussagen spiegeln sie jene Erfahrungen<br />

wider, die wohl vielen bekannt sind: Den<br />

Stammtisch-Antisemitismus gibt es nach wie<br />

vor, und offener Antisemitismus trifft vor allem<br />

jene, die auch als jüdisch sichtbar auf<br />

die Straße gehen. „In den Gesprächen wird<br />

klar, dass das Tragen von religiösen Symbolen<br />

häufig vermieden wird, um nicht erkannt<br />

zu werden“, so die Autorin.<br />

Hainzl wagt allerdings trotz allem einen<br />

ermutigenden Ausblick. „Es verändert<br />

sich aber auch etwas: Gerade junge<br />

Gesprächspartner:innen berichten davon,<br />

dass Stereotype bei jüngeren Generationen<br />

ihre Aussagekraft verlieren: Die jüdische Kultur<br />

und das jüdische Leben haben in den<br />

letzten Jahren, insbesondere in<br />

Wien, einen enormen Auftrieb<br />

erhalten.“ wea<br />

Christina Hainzl,<br />

Marc Grimm (Hg.):<br />

Antisemitismus in<br />

Österreich nach 1945.<br />

Hentrich & Hentrich,<br />

326 S., € 25,95<br />

100<br />

Städte, vorwiegend in Europa,<br />

wurden von der Europäischen Union<br />

ausgesucht, um sie im Rahmen des Programms<br />

Klimaneutrale & intelligente Städte<br />

darin zu unterstützen, ihre Emissionen um<br />

55 Prozent zu senken und ihren Bürgern<br />

sauberere Luft, sichereren Verkehr und<br />

weniger Staus und Lärm zu bieten. In<br />

weiterer Folge sollen diese Städte als Innovationszentren<br />

für die Erreichung der Klimaneutralität<br />

Europas bis 2050 fungieren.<br />

Unter den 100 Städten, die aus den über<br />

300 Einreichungen ausgesucht wurde, ist<br />

auch die israelische Küstenstadt Eilat.<br />

netzerocities.eu<br />

„Der Holocaust ist beispiellos.<br />

Aber das hier<br />

ist ein Genozid.“ Maksym<br />

Rabinovych, Geschäftsführer des<br />

Babyn-Jar-Holocaust-Memorial-<br />

Zentrums in Kiew, über den Krieg<br />

Russlands gegen die Ukraine<br />

© Pazit Polak from Basel, Switzerland, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons<br />

© Daniel Leal / AFP / picturedesk.com; Bulent Leal / AFP / picturedesk.com; Dmytro<br />

'Orest' Kozatskyi / AFP / picturedesk.com; Tomer Neuberg / flash 90<br />

© Xxx<br />

4 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

DIE JÜDISCHEN<br />

SIEBEN-GEMEINDEN UNTER<br />

DEN FÜRSTEN ESTERHÁZY<br />

(1612 – 1848)<br />

3. JUNI - 2. OKTOBER<br />

SCHLOSS ESTERHÁZY<br />

EISENSTADT<br />

AUSSTELLUNG<br />

esterhazy.at<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 4 07.06.<strong>22</strong> 13:51


100 TAGE KRIEG GEGEN DIE UKRAINE<br />

© Pazit Polak from Basel, Switzerland, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons<br />

© Daniel Leal / AFP / picturedesk.com; Bulent Leal / AFP / picturedesk.com; Dmytro<br />

'Orest' Kozatskyi / AFP / picturedesk.com; Tomer Neuberg / flash 90<br />

„Wo Liebe wächst, gedeiht<br />

Leben – wo Hass<br />

aufkommt, droht Untergang.“<br />

Mahatma Gandhi<br />

Ankunft einer Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine in Israel (o.). Mutter und Kind in der U-Bahn-Station in Kiew; Abschied auf dem Bahnhof in<br />

Odessa; verletzter Soldat im Asov-Stahlwerk in Mariupol (v. l. n. r.).<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 5 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Oper Modernisieren<br />

INTERVIEW MIT ÁDÁM FISCHER<br />

„Oper als Actionfilm zu inszenieren,<br />

macht die Musik kaputt“<br />

Der international erfolgreiche Dirigent Ádám Fischer kehrt immer<br />

wieder in seine Geburtsstadt Budapest zurück. Dennoch kritisiert<br />

er wortgewaltig die Politik des ungarischen Regierungschefs im<br />

Gespräch mit Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />

„Die jungen<br />

Mitglieder der<br />

Aristokratie in<br />

Mailand<br />

waren nur<br />

mäßig an der<br />

Musik interessiert,<br />

daher<br />

hielten sie in<br />

dieser Zeit ein<br />

Schäferstündchen<br />

mit den<br />

Ballettmädchen<br />

im Hinterzimmer<br />

ab.“<br />

WINA: Gleich nach unserem Gespräch dirigieren Sie hier<br />

an der Wiener Staatsoper Josef Haydns Jahreszeiten – aber<br />

nicht konzertant, wie man annehmen könnte, sondern für<br />

die Choreografie von Martin Schläpfer. Seit wann dirigieren<br />

Sie Ballettaufführungen?<br />

Ádám Fischer: Jetzt zum ersten Mal, denn ich bin für<br />

Giovanni Antonini, der leider erkrankte, nur fünf<br />

Tage vor der Premiere eingesprungen. Da die Ballettabende<br />

noch dazu parallel mit meinen geplanten Il<br />

Nozze di Figaro-Dirigaten liefen, musste ich doppelt so<br />

viel machen, als geplant war. Ich versuchte dem Direktor<br />

die Idee auszureden, denn Ballett ist eine ganz<br />

neue Sache für mich, das habe ich nie gemacht. Aber<br />

während der Arbeit habe ich wirklich neue und interessante<br />

Erkenntnisse gewonnen, umso mehr,<br />

wenn man so kurz vor einer <strong>fertig</strong>en Produktion hinein<br />

kommt. Denn da gibt es ganz konkrete Vorgaben,<br />

die Tänzer proben seit Monaten jeden ihrer Schritte,<br />

die Tempi stehen fest, man kann mit der Musik nicht<br />

flexibel sein, das Tempo nicht verändern.<br />

Wie haben Sie diese spontane Herausforderung geschafft?<br />

I Vielleicht, indem ich mich offen darauf eingelassen<br />

habe. Trotzdem muss man bedenken, dass wir Dirigenten<br />

sehr verwöhnt sind: Seit vielen Jahren können<br />

wir eigentlich machen, was wir wollen. Im Gegensatz<br />

dazu bekommt jeder Orchestermusiker auch Vorgaben<br />

vom Stimm- und Konzertmeister. Ich stand aber<br />

plötzlich vor der Aufgabe, das Tempo beschleunigen<br />

oder verlangsamen zu wollen, um Jubel und Freude<br />

auszudrücken, aber das ging in diesem Fall nicht. Daraufhin<br />

entdeckte ich andere Methoden, andere Akzente,<br />

um Dynamik und Jubel auszudrücken, als ich<br />

das gewohnt war. So habe ich neue Erkenntnisse über<br />

das Werk gesammelt. denn sicherlich hätte ich die Jahreszeiten<br />

in einem Konzert nicht so dirigiert wie heute<br />

Abend das Ballett an der Wiener Staatsoper.<br />

Wie schwer oder leicht ist es, die Musik dem Tanz anzupassen?<br />

I Für mich war das Problem, dass ich ja nichts vom<br />

Tanzen verstehe. Bei den Sängerinnen und Sängern<br />

weiß ich genau, wann er oder sie mehr Luft haben<br />

müssen, dann ziehe ich es etwas in die Länge, damit<br />

er oder sie die Phrase zu Ende singen kann. Oder ich<br />

nehme Rücksicht darauf, wenn zum Beispiel Künstler<br />

bei Fremdsprachen für die Konsonanten länger<br />

brauchen. Das ist unsere Aufgabe, denn wenn der Dirigent<br />

richtig dirigiert, singt der Sänger besser. Bei<br />

den Tänzern weiß ich das nicht, das habe ich mit dem<br />

Ballettdirektor auch besprochen, er meinte aber, das<br />

sei kein Problem.<br />

Werden Sie diese Sparte auch weiter verfolgen?<br />

I Ich glaube nicht, weil ich eben von der Technik des<br />

Balletts nichts verstehe. Aber ich verstehe viel von<br />

Stimmen, daher finde ich es unanständig, Ballett zu<br />

dirigieren, wenn man von den Bewegungen nicht so<br />

viel versteht, Denn ich finde ja auch einen Operndirigenten<br />

schlecht, der nichts von Stimmen versteht,<br />

deshalb mache ich das nicht.<br />

Sie dirigierten zuletzt sechs Abende von Le Nozze di Figaro<br />

in einer Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle aus dem Jahr<br />

1977. Regietheater war Ponnelles Sache nicht – trotzdem<br />

funktionieren seine Arbeiten heute genauso wie etwa Mar-<br />

6 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 6 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Theater & Konzert<br />

ÁDÁM FISCHER wurde 1949 in Budapest geboren und<br />

studierte bei Hans Swarowsky in Wien. Seinen internationalen<br />

Durchbruch feierte er 1978 an der Bayerischen Staatsoper mit<br />

einem Fidelio-Dirigat, das er von Karl Böhm übernommen hatte.<br />

An der Wiener Staatsoper debütierte er 1980 mit Otello, an<br />

der Pariser Oper 1984, an der Mailänder Scala 1986, am Royal<br />

Opera House Covent Garden 1989 und an der Metropolitan<br />

Opera in New York 1994. Er war u. a. Generalmusikdirektor<br />

in Freiburg, Kassel, Mannheim und Budapest und feierte mit<br />

den Wiener und Berliner Philharmonikern ebenso wie mit dem<br />

Chicago Symphony Orchestra große Erfolge auf internationalen<br />

Konzertbühnen. 1987 gründete Ádám Fischer die<br />

Österreichisch-Ungarische Haydn-Philharmonie als Zeichen der<br />

Völkerverständigung und spielte seither mit dem Ensemble u. a.<br />

die 104 Symphonien Haydns ein. Seit 1998 ist er Chefdirigent des<br />

Danish Chamber Orchestra, seit 2015 Principal Conductor der<br />

Düsseldorfer Symphoniker.<br />

garethe Wallmanns Tosca. Wie stehen Sie zum Regietheater<br />

und den diversen Adaptionen von Opern?<br />

I Es ist sicher so, dass ich ein Bild von der Oper habe,<br />

wie sie sein sollte – aber es hängt jeweils auch vom<br />

Stück selbst ab. Im Augenblick bin ich in der Produktion<br />

einer Opera seria, bei der ich denke, dass der Weg<br />

falsch ist, wie es jetzt gespielt wird. Nehmen wir etwa<br />

La clemenza di Tito von Mozart oder Werke von Christoph<br />

Willibald Gluck und Alessandro Scarlatti. Das ist<br />

eine Gattung, die mit der ersten Oper von Claudio<br />

Monteverdi 1607 entstanden ist, eigentlich ein Zwitterwesen,<br />

das ist kein Theater. Die Recitativos* sind<br />

dazu da, dass die Handlung weitergeht, dazu kommen<br />

dann die Arien, das sind reine Konzertnummern,<br />

bei denen nichts passiert. Das war auch so konzipiert:<br />

Jene, die Theater sehen wollten und die Musik<br />

fad fanden, gingen hinaus und umgekehrt.<br />

Ádám Fischer. „Ich<br />

hätte jedenfalls nicht gedacht,<br />

dass ich so etwas<br />

[Krieg in der Ukraine]<br />

noch erlebe.“<br />

* Das Rezitativ (von italienisch recitare,<br />

„vortragen“) ist ein dem Sprechen<br />

angenäherter Gesang in Oper, Kantate,<br />

Messe oder Oratorium und existiert<br />

in verschiedenen Ausprägungen seit<br />

ca. 1600. Während des Rezitativs<br />

hat der Sänger die Freiheit, den Text<br />

rhythmisch frei zu deklamieren.<br />

Und das hat auch funktioniert?<br />

I Ja, ich habe da ein Lieblingsbeispiel: Bei Mozart<br />

durften die Arien nie kürzer als 5,5 Minuten sein,<br />

denn die jungen Mitglieder der Aristokratie in Mailand<br />

waren nur mäßig an der Musik interessiert. Daher<br />

hielten sie in dieser Zeit ein Schäferstündchen<br />

mit den Ballettmädchen im Hinterzimmer ab. Da sie<br />

aber nichts versäumen wollten, mussten sie sich auf<br />

die 5,5 Minuten verlassen können. Das eröffnet natürlich<br />

ganz neue soziologische Perspektiven über die<br />

damalige Zeit (lacht).<br />

Das heutige Regietheater kümmert sich wenig um den<br />

musikalischen Ablauf?<br />

I Daher müssen wir einen Weg finden, um zu zeigen,<br />

dass die Aufführung manchmal ein Theater und<br />

manchmal ein Konzert ist. Es gibt sehr wenige Regisseure,<br />

die das können. Wenn sie eine Oper wie einen<br />

Action-Film inszenieren, ist das ungerecht der Musik<br />

gegenüber und macht sie kaputt. Immer nur mehr<br />

„Action“ ist keine Lösung, daher führt uns diese Art<br />

der Modernisierung nicht weiter.<br />

Wo sehen Sie Ansätze zu einer Lösung?<br />

I Die Regisseure sind offensichtlich zu dieser großen<br />

Machtfülle gekommen, weil keine neuen Opern entstehen.<br />

Das Genre der populären Oper gibt es heute<br />

nicht. Unter populär verstehe ich, wenn das Publikum<br />

nach dem Opernbesuch eine Arie nachpfeift. Die<br />

letzte dieser Art war für mich Nessun dorma aus Puccinis<br />

Turandot – und die ist fast 100 Jahre alt. Das heißt,<br />

wir müssen immer wieder die gleichen Stücke spielen,<br />

und wenn man versucht, mit einer ausgefallenen<br />

Inszenierung ein neues Stück aus dem Original<br />

zu machen, gelingt das sehr selten.<br />

Aber wenn wir nur die Ponnelle-Inszenierungen<br />

zeigen würden, kämen die Jungen vielleicht nicht<br />

mehr oder die Besucherzahlen gingen zurück, dann<br />

wäre wahrscheinlich dieser ganze Opernbetrieb mit<br />

den 100 Opernhäusern in Europa nicht mehr zu hal-<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 7 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Ungarische Traditionen<br />

In der Staatsoper.<br />

Ádám Fischer mit<br />

WINA-Autorin Marta<br />

S. Halpert.<br />

„Leider muss<br />

ich meinem<br />

Vater Recht<br />

geben, der<br />

nach der Wende<br />

gesagt hat,<br />

es wäre eine<br />

Illusion zu<br />

glauben, dass<br />

Ungarn ein<br />

ähnlich demokratisches<br />

Land werden<br />

könnte wie die<br />

Schweiz oder<br />

Schweden.“<br />

ten. Das ist ganz klar, aber ich will die Oper dirigieren<br />

und erleben, deshalb bin ich sehr kritisch.<br />

Haben Sie schon Dirigate zurückgelegt, weil Sie mit der Regie<br />

nicht leben konnten?<br />

I Ich versuche das nicht zu machen. Aber es ist schon<br />

passiert, dass der Regisseur die Produktion mit mir<br />

aufgegeben hat.<br />

Zwischen 9. und 19. Juni 20<strong>22</strong> finden in Budapest die von<br />

Ihnen 2006 gegründeten Wagner-Tage statt. Unter Ihrer<br />

künstlerischen Leitung erlangte dieses Festival internationales<br />

Ansehen. Die Wagner-Tage wurden von der New York<br />

Times sogar als „Bayreuth an der Donau“ bezeichnet. Was<br />

steht dieses Jahr auf dem Programm?<br />

I Wir spielen zweimal den Nibelungen-Ring, denn wir<br />

müssen einiges nachholen, was wir in den letzten beiden<br />

Pandemie-Jahren nicht machen konnten.<br />

Sie sind seit 2010 ein verlässlicher Kritiker Viktor Orbáns,<br />

äußern immer wieder Ihre Sorge über die Entwicklungen in<br />

Ungarn. Bereits 2018 forderten Sie in einem Gastbeitrag EU-<br />

Sanktionen gegen das Land, in dem Sie geboren wurden.<br />

Orbán hat jüngst seinen vierten Wahlerfolg in Serie eingefahren<br />

– und wird seine zynische, menschenverachtende<br />

Machtpolitik nicht nur weiterführen, sondern noch ausbauen<br />

können. Sie führen als Wohnorte Hamburg, Berlin, aber<br />

auch Budapest an. Warum?<br />

I Nun gut, dort ist nicht nur meine Muttersprache<br />

beheimatet, viele meiner Freunde leben noch in<br />

Budapest, und ich habe auch ein Haus dort. Komischerweise<br />

kann ich ihnen sagen, das Fehlen der Muttersprache<br />

ist nicht so schlimm wie das Fehlen der<br />

Küche!<br />

Die fette Halászlé, die Fischsuppe,<br />

gibt es die nur dort?<br />

I Vielleicht. Ich fühle mich dort<br />

heimisch, die nächste Generation<br />

unserer Familie G-tt sei<br />

Dank nicht mehr. Wir haben<br />

derzeit sechs verschiedene<br />

Sprachen in unserer Familie,<br />

unter anderem einen russischen<br />

Schwiegersohn und<br />

eine halbjapanisch-halbfranzösische<br />

Schwiegertochter.<br />

Aber im Ernst: Die Gefahr<br />

Orbán wird immer größer, weil<br />

das System dem russischen<br />

sehr ähnelt. Putin kann auch<br />

mit 80 Prozent Zustimmung<br />

der Bevölkerung rechnen. Hinter<br />

beiden stehen die Bewohner<br />

der ländlichen Gebiete.<br />

Auch der Kampf gegen die Eliten,<br />

das sind wir, die Gebildeten,<br />

hat den gleichen Stil. Das hat ein Donald Trump<br />

auch gemacht, aber er hatte nicht diese Möglichkeiten<br />

wie Orbán und Putin. Was man gar nicht sagen darf,<br />

aber für viele Russen existiert die Ukraine gar nicht,<br />

denn sie halten alle für Russen. Ungarn benimmt sich<br />

angesichts der ungarischen Minderheiten in den umliegenden<br />

Ländern ähnlich. Das einzige Glück ist, dass<br />

Orbán militärisch unterlegen ist und keine Atomwaffen<br />

besitzt – aber das System ist ähnlich.<br />

Hat es Sie überrascht, dass es Orbán wieder geschafft hat?<br />

I Nein, weil Orbán den Krieg in der Ukraine sehr geschickt<br />

für sich ausgenutzt hat: Mit dem Motto der<br />

Nichteinmischung in den Konflikt hat er die Stimmung<br />

im Land richtig gedeutet, er weiß einfach, was<br />

die Leute hören wollen. Leider muss ich meinem Vater<br />

Recht geben, der nach der Wende gesagt hat, es<br />

wäre eine Illusion zu glauben, dass Ungarn ein ähnlich<br />

demokratisches Land werden könnte wie die<br />

Schweiz oder Schweden. Die ungarischen Traditionen<br />

sind andere; im Gegensatz zu Tschechien gab es<br />

keine demokratische Erfahrung.<br />

Mein Vater war überzeugt, dass auch nach 1989<br />

ein rechter Diktator kommen werde, der wüsste, was<br />

die Ungarn brauchten. Das Land hatte immer solche<br />

Landesväter, Diktatoren wie Admiral Miklós Horthy,<br />

den Stalinisten Mátyás Rákosi oder auch János Kádár.<br />

Der junge Orbán war zu Beginn seiner Karriere liberal,<br />

aber als kluger Politiker hat er früh erkannt, was<br />

die Ungarn wollen und brauchen und hat sich darauf<br />

eingestellt. Orbán hat die Marktlücke entdeckt.<br />

Viktor Orbán ist es gelungen die jüdische Bevölkerung<br />

Ungarns zu spalten, in dem er die „guten Juden“ – also<br />

jene, die ihn nicht kritisieren –, finanziell belohnt und die<br />

8 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 8 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Gemeinsames Feindbild<br />

„bösen Juden“ nach Bedarf bestraft, in dem er sie – meist<br />

von seinen Abhängigen in Partei und Medien – öffentlich<br />

attackieren lässt oder die jüdische Leidensgeschichte revisionistisch<br />

relativiert. Ist Orbán ein Antisemit?<br />

I Die Spaltung der jüdischen Gemeinde ist insofern<br />

normal, als es immer den Gegensatz zwischen den<br />

Liberalen und den Rechten gegeben hat. Orbán hat<br />

eben entdeckt, dass er mit den konservativen und orthodoxen<br />

Juden ein gemeinsames Feindbild hat. Ich<br />

glaube nicht, dass er ein Antisemit ist. Aber als politischer<br />

Profi nutzt er stillschweigend die antisemitischen<br />

Gefühle, die vorhanden sind. Er bedient auch<br />

diesen Teil der Wählerschaft.<br />

Fast dreißig Jahre sind Sie aktives Mitglied des Helsinki-Komitees<br />

für Menschenrechte. Seit deren Gründung im Jahr<br />

1976 haben Sie sich für die Verteidigung der Menschenrechte<br />

auf der ganzen Welt eingesetzt. Gilt Ihr Motto, „die<br />

Welt braucht Dirigenten zur Koordination“, noch? Welche<br />

Chancen sehen Sie, den brutalen Angriffskrieg Russlands<br />

gegen die Ukraine zu beenden?<br />

I Ich bin Pessimist, weil es eben diesen Dirigenten<br />

nicht gibt. Jeder kann sich sein Narrativ basteln: Die<br />

Russen werden, solange sie Putin abkaufen, dass es<br />

um die Ehre des Vaterlandes geht, alles mitmachen.<br />

Solange sie glauben, dass sie den Krieg gegen die Ukraine<br />

gewinnen müssen, bedeutet das die totale Vernichtung<br />

der anderen Seite. Ich hätte jedenfalls nicht<br />

gedacht, dass ich so etwas noch erlebe.<br />

Wie sollte man sich Ihrer Meinung nach jetzt gegenüber<br />

jenen Künstlern und Künstlerinnen verhalten, die aus ihrer<br />

Nähe zu Putin nie ein Geheimnis gemacht und teilweise<br />

auch von ihm profitiert haben?<br />

I Gut, ich habe da ein bisschen mehr Verständnis,<br />

denn ich kann das von hier aus nicht beurteilen. Ich<br />

kann nicht einschätzen, wie viel Vorteile sie davon zu<br />

Hause gehabt oder wie viele Nachteile sie dadurch<br />

erlitten haben. Aber ich kann mich noch gut an die<br />

kommunistische Zeit erinnern, als ich im Ausland<br />

aufgetreten bin: Hätte ich irgendetwas gegen mein<br />

Land gesagt, wo meine Eltern und meine Familie lebten,<br />

dann wäre vieles sicher schwieriger gewesen, als<br />

man sich das heute vorstellt. Ich sage nicht, dass ich<br />

alles verzeihe, doch ich habe etwas mehr Verständnis.<br />

Ich arbeite laufend mit russischen Künstlerinnen<br />

und Musikern, die zu ihren Familien nach Hause<br />

fahren und nicht über Politik sprechen wollen. Da ich<br />

nicht beurteilen kann, was sie sich leisten können<br />

oder nicht, muss man ein bisschen vorsichtig sein.<br />

Sie wurden weltweit mit Auszeichnungen und Ehrungen<br />

überhäuft, unter anderen erhielten Sie die Gold Medal<br />

in the Arts des Kennedy Center Washington. Für Ihren<br />

Einsatz für die Menschenrechte erhielten Sie auch den<br />

renommierten Wolff-Prize der gleichnamigen Stiftung in<br />

Jerusalem. Sie sind damit nach Claudio Abbado und Zu-<br />

bin Mehta der dritte Hans-Swarowsky-Schüler aus Wien,<br />

der mit diesem Preis geehrt wurde. Haben Sie je in Israel<br />

gearbeitet?<br />

I Ein einziges Mal, und das ist sehr lange her: 1988<br />

habe ich ein Konzert mit dem Israel Philharmonic<br />

Orchestra dirigiert, dann haben sie mich wieder<br />

eingeladen, nur hat das Engagement wegen des Ersten<br />

Golfkriegs nicht stattgefunden. Ich würde sehr<br />

gerne wieder in Israel auftreten, aber darum muss<br />

sich meine Agentur kümmern.<br />

Waren sie privat in Israel? Haben Sie Familie dort?<br />

I Ja, ich glaube drei Mal als Tourist. Mein Schwiegersohn<br />

hat seine Familie in Israel. Unsere Familienmitglieder<br />

sind sogenannte „Angeheiratete“ – Hitler hat<br />

dazu „Sippschaft“ gesagt.<br />

Bei der Recherche habe ich gelesen, dass Ihre Großeltern<br />

in der Shoah ermordet wurden. Aber wie haben Ihre Eltern<br />

überlebt?<br />

I Meine Mutter hatte zwar falsche Papiere, musste<br />

sich aber trotzdem verstecken. Sie war im 4. Stock<br />

in der Deák Ferenc utca und durfte bei den Bombardements<br />

nicht in den Keller, sonst wäre sie aufgeflogen.<br />

Nur dieses Haus blieb stehen, rundherum war<br />

alles zerstört. Mein Vater hatte schon seit 1943 eine<br />

falsche Identität und musste auf der Straße sehr vorsichtig<br />

sein, damit ihn niemand von früher erkennt.<br />

Was war er von Beruf?<br />

I Er war auch Musiker, Komponist, Dirigent und musikalischer<br />

Leiter im Vígszínház, dem zentralen Lustspielhaus<br />

in Budapest. Er hat auch wunderbar Klavier<br />

gespielt und als Opernübersetzer gearbeitet:<br />

Seine Übersetzungen der Zauberflöte und von Don Pasquale<br />

werden noch heute gespielt.<br />

Wann hören und sehen wir Sie wieder in Wien, im Konzert<br />

oder in der Oper?<br />

I Das weiß auch meine Agentur besser als ich. Etwas<br />

weiß ich, und darauf freue ich mich schon sehr: Im<br />

Januar 2023 gebe ich ein Gastspiel im Theater an der<br />

Wien mit dem Dänischen Kammerorchester, dessen<br />

Chef ich seit 25 Jahren bin. Leider werden wir die<br />

beste Oper, die Haydn je geschrieben hat, L’anima del<br />

filosofo, nur konzertant machen können, weil das Theater<br />

renoviert wird und die Produktion in der Ausweichhalle<br />

nicht realisiert werden kann.<br />

Sie haben sehr viele Werke von Joseph Haydn eingespielt.<br />

I Ja, aber nur, was er für Eisenstadt geschrieben hat.<br />

Für London hat er auch eine Choroper komponiert. In<br />

Eisenstadt haben wir zufällig etwas Lustiges entdeckt:<br />

Die Kellner, Jäger und Lakaien, die bei den Fürsten Esterházy<br />

dienten, hatten in ihrem Arbeitsvertrag die<br />

Verpflichtung, im Opernchor mitzusingen. Können<br />

Sie sich vorstellen, wie das geklungen hat?<br />

„Ich glaube<br />

nicht, dass er<br />

[Orbán] ein<br />

Antisemit ist.<br />

Aber als politischer<br />

Profi<br />

nutzt er stillschweigend<br />

die antisemitischen<br />

Gefühle,<br />

die vorhanden<br />

sind.“<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 9 07.06.<strong>22</strong> 13:51


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Nichts für Leute mit<br />

schwachem Blutdruck<br />

Aufregende Zeiten prägen in Israel den<br />

Alltag, manchmal mehr und manchmal<br />

weniger. Gerade war es das Erstere.<br />

Kürzlich hat jemand in Europa den Satz gepostet,<br />

er müsse nach den Abendnachrichten<br />

zur Beruhigung erst einmal einen<br />

Thriller schauen. Das war natürlich auf die<br />

Ukraine gemünzt. Ein bisschen so geht es einem gerade<br />

in Israel. Dabei ist man ja durchaus an so einiges<br />

gewöhnt. Hier deshalb ein kurzes Aperçu der jüngsten<br />

Geschehen, wenn auch nicht unbedingt in chronologischer<br />

Reihenfolge und ohne jeden Vollständigkeitsanspruch.<br />

Und damit der Blutdruck nicht sofort nach oben<br />

schießt, zunächst einige der guten Nachrichten. Corona<br />

ist passé. Zumindest aus Sicht der Experten, die<br />

für die Aufhebung des obligatorischen Tests bei der<br />

Einreise am Flughafen plädiert haben. Die zuständige<br />

Abteilung ist aufgelöst worden. Das bringt wieder<br />

mehr Touristen ins Land, die jetzt keine Angst mehr<br />

haben müssen, bei einem positiven Ergebnis ihren Urlaub<br />

in Quarantäne verbringen zu müssen. Offenbar<br />

lassen sie sich auch weniger als früher von einer Terrorwelle<br />

abschrecken, vielleicht aber dominiert ja der<br />

Ukraine-Krieg die ausländischen Medien so sehr, dass<br />

der Nahe Osten in den Hintergrund gerückt ist. Jedenfalls<br />

stellt sich der Flughafen Ben Gurion auf 4,3 Millionen<br />

Reisende für Juli und August ein. Weil aber<br />

alle Fluggesellschaften an Personal sparen, sind<br />

die Warteschlangen unendlich lang geworden.<br />

Manche kommen deshalb mittlerweile schon<br />

fünf bis sechs Stunden vor Abflug zum Check-in.<br />

Von Gisela Dachs<br />

Der Unabhängigkeitstag wurde erstmals<br />

nicht mehr überall mit knallenden Feuerwerken<br />

gefeiert. Das geschah aus Rücksicht<br />

gegenüber Leidenden an posttraumatischen<br />

Belastungsstörungen.<br />

Bis zum Sommer sollen in den Regalen der Supermarktkette<br />

Yeinot Bitan bereits die ersten Produkte<br />

von Carrefour liegen. Nach einem Abkommen mit<br />

dem französischen Riesen werden deren 150 Filialen<br />

dann allmählich in Carrefour-Märkte umgewandelt.<br />

Patrick Lasfargues, Präsident der internationalen Abteilung<br />

des Großhändlers, gibt sich optimistisch, dass<br />

dies „die lokale Kauferfahrung“ verbessern und die<br />

„Kaufkraft der Konsumenten“ stärken werde, die bessere<br />

Produkte zu erschwinglicheren Preisen bekämen.<br />

Das könnte die Konkurrenz dann ja vielleicht auch beeinflussen.<br />

Auf den Lehrplänen steht ab Herbst das Thema Klimakrise.<br />

Vielleicht dämmt das dann ja die zum Teil immer<br />

noch ungebrochene Plastikflut im Land.<br />

Der Unabhängigkeitstag wurde erstmals nicht mehr<br />

überall mit knallenden Feuerwerken gefeiert. Das geschah<br />

aus Rücksicht gegenüber Leidenden an posttraumatischen<br />

Belastungsstörungen, darunter vor allem<br />

ehemalige Soldaten, für die der Lärm schlimme<br />

Erinnerungen zurückbringt. Geblieben sind natürlich<br />

die Alarmsirenen. Um zu überprüfen, ob sie intakt<br />

sind, müssen regelmäßig Tests gemacht werden.<br />

Mitte Mai gab es an einem Tag vier. Kurz danach fand<br />

dann noch eine außergewöhnliche Militärübung statt,<br />

bei der ein Angriff auf den Iran simuliert wurde. Das<br />

war eindeutig nichts für Herzschwache. Eingeordnet<br />

wurde dies dann aber schnell als Botschaft an die amerikanischen<br />

Verhandlungsführer mit Teheran, nicht<br />

als Zeichen einer höheren Alarmstufe. Inzwischen soll<br />

man aber von Reisen in die Türkei absehen, aus Sorge<br />

vor einer iranischen „Antwort“ auf die Ermordung eines<br />

hochrangigen Offiziers der Islamischen Revolutionären<br />

Garden.<br />

Bis zur Niederschrift dieser Kolumne waren bei<br />

der jüngsten Terrorwelle insgesamt neunzehn Menschen<br />

ums Leben gekommen. Viele der palästinensischen<br />

Attentäter kamen aus Jenin. Bei einer militärischen<br />

Inkursion kam die Al Jazeera-Journalistin<br />

© Flash 90/Yonatan Sindel<br />

10 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 10 07.06.<strong>22</strong> 13:51


© Flash 90/Yonatan Sindel<br />

Shireen Abu Akleh durch einen Schuss ums Leben. Unklar<br />

blieb, ob die Kugel aus einem israelischen oder palästinensischen<br />

Gewehrlauf gekommen war. Bei der<br />

Schuldzuweisung spielte das aber schon bald keine<br />

Rolle mehr. Drei Tage lange fuhr der Sarg durch palästinensische<br />

Dörfer und Städte, und die prominente<br />

51-jährige Korrespondentin wurde als Märtyrerin gefeiert,<br />

gefallen im Kampf gegen die Besatzung. Die Bilder<br />

ihrer Beerdigung in Jerusalem gingen dann aber<br />

aus einem anderen Grund um die Welt: Israelische Polizisten<br />

attackierten die Träger des Sargs, weil der mit<br />

einer palästinensischen Flagge drapiert war. Der zuständige<br />

Einsatzleiter befand sich zu dieser Zeit auf einer<br />

Dienstreise im Ausland.<br />

Es waren aber noch zwei weitere Kugeln, die Schlagzeilen<br />

machten. Sie steckten in handschriftlich adressierten<br />

Briefumschlägen, die deren Empfänger – und<br />

nicht nur sie – in Schockstarre versetzten: die Ehefrau<br />

und den 15-jährigen Sohn von Regierungschef Naftali<br />

Bennett. Bei der mutmaßlichen Täterin handelt es sich<br />

um eine 65-jährige Frau aus Aschkelon. Sie hatte sich<br />

auf Facebook als rechte politische Aktivistin und glühende<br />

Netanjahu-Anhängerin bereits einen Namen<br />

gemacht.<br />

Naftali Bennett aber hat gerade noch andere Sorgen.<br />

Seine Acht-Parteien-Koalition wackelt und bröckelt<br />

weiter. Hatte Anfang April zunächst Idit Silman<br />

von Bennetts Yamina-Partei das Handtuch geworfen,<br />

so war es dann kurzzeitig die arabische Meretz-Abgeordnete<br />

Rinawie Zoabie, die nicht mehr wollte. Erstere<br />

beklagte sich über eine zu linke Regierung, für<br />

die Letztere ist sie zu rechts. Am Ende ließ sich Zoabie<br />

aber doch wieder beruhigen. Jetzt hangelt sich die Regierung<br />

erst einmal weiter durch.<br />

Um seine rechte Front zu beruhigen, fand die traditionelle<br />

Flaggenparade am Jerusalem-Tag wie geplant<br />

statt. Bis zum Schluss war das alles andere als<br />

klar. Denn beim letzten Mal hatte die Hamas genau<br />

da ihre erste Rakete in Richtung Hauptstadt abgefeu-<br />

Naftali Bennett. Der<br />

israelische Premierminister<br />

bei einer Zeremonie<br />

zum Holocaust-Gedenktag<br />

in der Knesset, dem<br />

israelischen Parlament<br />

in Jerusalem, am 28.<br />

April 20<strong>22</strong>.<br />

Bis zur Niederschrift dieser Kolumne sind bei<br />

der jüngsten Terrorwelle insgesamt neunzehn<br />

Menschen ums Leben gekommen. Zunehmend<br />

populär als Tatwaffe ist dabei die Axt.<br />

ert und den Startschuss zum jüngsten Gazakrieg gegeben.<br />

Diesmal machten sich jüdische Fanatiker einen<br />

Namen. Als die Teilnehmer durch das muslimische<br />

Viertel der Altstadt kamen, konnten es sich einige nicht<br />

nehmen lassen, Anwohner zu attackieren.<br />

Wenige Tage später ging dann der Jerusalem March<br />

for Pride and Tolerance über die Bühne. An der Spitze<br />

mitgegangen war der Knesset-Sprecher Micky Levy. In<br />

seiner damaligen Funktion als Polizeichef hatte er einen<br />

solchen Umzug erstmals vor zwanzig Jahren in der<br />

Hauptstadt zugelassen. Die Stimmung im Vorfeld war<br />

aufgeheizt, denn was in Tel Aviv dazugehört, ist in Jerusalem<br />

auch nach so langer Zeit immer noch nicht etabliert.<br />

Am Ende nahmen Tausende am Umzug teil, nur<br />

ein kleines Grüppchen demonstrierte dagegen. Auch<br />

in Netivot hätte gerade eine solche LGBTQ+ Veranstaltung<br />

zum ersten Mal stattfinden sollen, sie wurde jedoch<br />

nach Todesdrohungen abgesagt.<br />

Wer sich also nach den Nachrichten am Abend zur<br />

Beruhigung einen Thriller anschauen möchte, der<br />

kann dabei auch auf neue heimische Fernsehserien<br />

zurückgreifen. Da ist die zweite und diesmal wirklich<br />

exzellente Staffel von Teheran, die gerade angelaufen<br />

ist. Weltstar Glenn Close gehört mit zum Cast, sie spielt<br />

eine britische Psychologin im Iran, die gemeinsam mit<br />

Agenten des israelischen Geheimdiensts das dortige<br />

Regime sabotiert. Alternativ gibt es auch die neue Serie<br />

Jerusalem, die in der Altstadt spielt, wo sich die drei<br />

großen Weltreligionen und deren Feiertage ballen und<br />

israelische Polizisten versuchen, Unruhen am Tempelberg<br />

unter Kontrolle zu bringen. Ähnlichkeiten mit<br />

real existierenden Personen sind rein zufällig.<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 11 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Überlebende erzählen<br />

Erinnerungen<br />

im Salon<br />

Mit jedem Gedenktag an die Opfer der<br />

Shoah werden in Israel die Fragen eindringlicher:<br />

Sind die bombastischen Zeremonien<br />

noch zeitgemäß? Wer wird die<br />

Erinnerung weitertragen, wenn auch die<br />

letzten Überlebenden nicht mehr unter<br />

uns sind? Wie wird ein Holocaust-Gedenktag<br />

in zehn Jahren aussehen? Das<br />

Projekt Zikaron BaSalon zeigt eine alternative<br />

Art des Erinnerns auf.<br />

Von Daniela Segenreich-Horsky<br />

ten zu Hause mit Freunden bei einem guten<br />

Film verbracht, anstatt ihre Mutter zu<br />

irgendwelchen für sie schalen Zeremonien<br />

zu begleiten.<br />

Das brachte sie schließlich auf die Idee<br />

für einen völlig neuen Zugang: „Vielleicht<br />

ist ja das Problem die Antwort“, dachte sie<br />

sich, als sie eines Abends nach so einer Zeremonie<br />

am Weg nach Hause zu den vielen<br />

beleuchteten Wohnzimmerfenstern jener<br />

Israelis hinaufschaute, die zu Hause<br />

geblieben waren. „Vielleicht brauche ich<br />

keine Zeremonie, sondern nur ein Wohnzimmer<br />

– wenn ich den Abend bei einem<br />

intimen Zusammenkommen verbracht<br />

hätte, anstatt mich bei der Zeremonie zu<br />

langweilen, wenn ich, statt der sechs Millionen<br />

zu gedenken, nur eine einzige Geschichte<br />

gehört hätte, und wenn es dann zu<br />

einem Dialog gekommen wäre – vielleicht<br />

hätte ich dann meine persönliche Erinnerung<br />

und Verbindung gefunden.“<br />

Im Jahr darauf luden Altshuler und<br />

ihr Partner zehn ihrer Freunde zu einem<br />

Abend, den sie Living Room Memories, „Erinnerung<br />

im Wohnzimmer“, betitelten.<br />

Statt zehn kamen 50 Leute, viele von ihnen<br />

den Gastgebern völlig unbekannt. In<br />

Das erste Mal, dass ich männlicher<br />

Nacktheit ausgesetzt war,<br />

war durch Fotos von Massengräbern<br />

aus dem Holocaust,<br />

die bei einer Zeremonie anlässlich<br />

des Jom haScho’a, dem Gedenktag an die<br />

Shoah, in der Schule gezeigt wurden. Danach<br />

versuchte ich, mich möglichst von<br />

dem Thema fernzuhalten, von den traditionellen<br />

Zeremonien ebenso wie von den<br />

Übertragungen und Dokumentarfilmen<br />

im Fernsehen“, schreibt Adi Altshuler in<br />

einem israelischen Magazin.<br />

Die heute 36-Jährige hat schon mit<br />

sechzehn ihr erstes großes Projekt für Kinder<br />

und Jugendliche mit Behinderungen<br />

gegründet und ist heute eine in Israel vielfach<br />

ausgezeichnete „soziale Unternehmerin“.<br />

Sie beschreibt, wie sie sich nach diesem<br />

ersten tieferen Encounter mit den<br />

Gräueln des Holocaust schon als Jugendliche<br />

immer weiter von den Gefühlen und<br />

Erinnerungen rund um den Jom haScho’a<br />

abgrenzte. Damit wurde ihre Verbindung<br />

zu dem Thema mit der Zeit immer schwächer<br />

und der Holocaust selbst für sie ein<br />

weit entferntes geschichtliches Ereignis.<br />

Den Gedenktag selbst hätte sie am liebseinem<br />

privaten Moment gestand die als<br />

Zeitzeugin eingeladene ältere Dame, wie<br />

erleichtert sie darüber wäre, nicht auf einer<br />

großen Bühne sprechen zu müssen.<br />

Ihre Erzählung war mitreißend und authentisch.<br />

Zwei Freunde hatten zur Auflockerung<br />

einige Songs auf der Gitarre<br />

vorbereit, es gab zahlreiche Fragen an die<br />

Erzählerin, und die Gastgeber leiteten eine<br />

Diskussion, die mit der Frage begann: Warum<br />

ist es wichtig zu gedenken?<br />

Mit dieser vor etwa zehn Jahren gestarteten<br />

Initiative Living Room Memories, auf<br />

Hebräisch Zikaron BaSalon, scheint die Unternehmerin<br />

einen Nerv der Zeit getroffen<br />

zu haben. Im folgenden Jahr öffneten<br />

viele von Altshulers Gästen ihre eigenen<br />

Wohnzimmer für ähnliche Zusammenkünfte.<br />

Erinnerungen im Wohnzimmer wurde<br />

zu einem Projekt des gemeinsamen Erinnerns<br />

in privatem Rahmen, das mittlerweile<br />

jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag<br />

im In- und Ausland in hunderttausenden<br />

Wohnzimmern, Parks oder städtischen<br />

Kulturzentren sowie auch virtuell abgehalten<br />

wird. 2018 gab es insgesamt über<br />

750.000 solcher „Salons“ in Israel und in<br />

weiteren 50 Ländern. Dabei geht es der Initiatorin<br />

um die persönlichen Geschichten<br />

von Überlebenden und um den Dialog,<br />

der im Anschluss an deren Erzählung<br />

entsteht. Und es geht auch darum, dass jeder<br />

selbst die Verantwortung für das Erinnern<br />

übernehmen kann und sozusagen die<br />

Fackel weiterträgt.<br />

Dieses Jahr fanden die Zusammenkünfte<br />

erstmals nach den Corona-Beschränkungen<br />

wieder live statt und in größerem<br />

Umfang als je zuvor. Da leider die<br />

Zeitzeugen immer weniger werden, geben<br />

mittlerweile auch Betroffene der sogenannten<br />

„Zweiten Generation“ weiter,<br />

was sie von der Geschichte ihrer Eltern<br />

und ihrer Familie wissen. Das Event kann<br />

aber auch rund um eine Videoaufnahme<br />

oder einen Film geführt werden. Unter vielen<br />

anderen lud diesmal auch Präsident<br />

Herzog in den Salon der Residenz. Dort erzählte<br />

die ursprünglich aus Thessaloniki<br />

stammende Zeitzeugin Ines Nissim von<br />

ihrer einst idyllischen Heimatgemeinde,<br />

die vor dem Holocaust ein kulturelles jüdisches<br />

Zentrum gewesen war. Sie berichtete<br />

von den Schrecknissen nach der Invasion<br />

der Nazis und davon, wie sie selbst<br />

doch noch gerettet wurde.<br />

Zikaron BaSalon ist ein Begriff geworden<br />

– jeder dieser Salons hat seine Story,<br />

© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/<br />

12 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 12 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Wohnzimmer der Erinnerungen<br />

© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/<br />

Living Room Memories<br />

wurden zu einem Projekt des<br />

gemeinsamen Erinnerns, das<br />

mittlerweile jedes Jahr am<br />

Holocaust-Gedenktag in hunderttausenden<br />

Wohnzimmern<br />

abgehalten wird.<br />

„Jetzt sind wir<br />

möglicherweise<br />

in einer neuen<br />

Phase des<br />

Erinnerns angekommen.“<br />

Adi Altshuler<br />

manchmal auch eine, die nicht dem gängigen<br />

Holocaust-Narrativ entspricht, wie<br />

etwa die Schicksale der Überlebenden aus<br />

der Sowjetunion oder aus Nordafrika. Da<br />

gibt es Erzählungen von Menschen, die<br />

als Babys oder Kleinkinder überlebt haben,<br />

und es ist auch Platz für die übernommenen<br />

Erinnerungen und Gefühle<br />

der zweiten und dritten Generation. Jeder,<br />

der zu so einem Salon lädt, bekommt<br />

Unterstützung und Anleitung von den Organisatoren,<br />

die meist auch die Verbindung<br />

zu einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen<br />

herstellen.<br />

Altshuler verweist darauf, wie sich<br />

in Israel die Einstellung zum Holocaust<br />

im Laufe der Jahrzehnte verändert hat.<br />

Ganz am Anfang gab es da nur ein großes<br />

Schweigen. Erst mit dem Eichmann-<br />

Prozess in den 1950er-Jahren entstand<br />

eine Kultur des Nachforschens und Erinnerns.<br />

Yad Vashem, Israels offizielle<br />

Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust,<br />

wurde gegründet und der nationale<br />

Gedenktag etabliert. Man begann in<br />

Israel die Wichtigkeit der Aufarbeitung<br />

und Weitergabe der Geschichte dieser<br />

schrecklichen Epoche zu verstehen. Seit<br />

damals wird die Shoah oft schon in den<br />

Kindergärten erklärt und in den Schulen<br />

unterrichtet. Und auch die Reisen der<br />

Schüler nach Polen sind zur fixen Tradition<br />

geworden. In den 1980er-Jahren kam<br />

dann auch die „Second Generation“ immer<br />

mehr zu Wort, und es entstand mehr<br />

Wissen darüber, wie sehr Traumata unbewusst<br />

über Generationen<br />

weitergeleitet<br />

werden.<br />

Jetzt sind wir, wie<br />

Altshuler meint,<br />

möglicherweise in<br />

einer neuen Phase<br />

des Erinnerns angekommen.<br />

Sie<br />

wünscht sich, dass<br />

Zikaron BaSalon ein<br />

Teil des nächsten<br />

Abschnitts dieser<br />

Evolution wird:<br />

„Dann werden die Geschichten des Holocaust<br />

weitergegeben werden wie die der<br />

Haggada zu Pessach. Und dann kann jeder<br />

von uns am Jom haSikaron die Straße<br />

entlang gehen und einfach in einen Salon<br />

eintreten für ein alternatives, persönliches<br />

und anregendes Zusammentreffen.“<br />

Dann also bis zum nächsten Jahr in unserem<br />

Salon!<br />

wına-magazin.at<br />

13<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 13 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Blutgeld<br />

Das unrühmliche<br />

Ende der Sponsoren<br />

Nach einer Reihe anderer internationaler Museen hat zuletzt das<br />

Metropolitan Museum den Namen der prominenten Spenderfamilie<br />

Sackler verschwinden lassen.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Schmerzmittel mit Suchtpotenzial. Arthur,<br />

Mortimer und Raymond Sackler waren<br />

die Söhne von osteuropäischen jüdischen<br />

Einwanderern und wuchsen in den<br />

1930er-Jahren in Brooklyn auf. Wegen an-<br />

Nun also auch das Met.<br />

Im Dezember gab das<br />

Metropolitan Museum<br />

of Art bekannt, dass es<br />

künftig keinen „Sackler Wing“<br />

mehr geben werde. Der Name<br />

der bekannten amerikanischen<br />

Sponsorenfamilie<br />

werde nicht mehr aufscheinen.<br />

Schon seit zwei Jahren<br />

hatte das Museum von dieser<br />

keine zusätzlichen Gelder<br />

mehr angenommen. „Das Met<br />

wurde aufgebaut mit Hilfe der<br />

Unterstützung von Generationen<br />

von Spendern – und die Sacklers haben<br />

immer zu den großzügigsten Spendern<br />

gehört“, so der Geschäftsführer des Museums,<br />

Dan Weiss. Aber nun gehe das nicht<br />

mehr. Von Seiten der Familie hieß es zur<br />

Trennung resignativ in einer Presseaussendung:<br />

„Wir glauben, dass dies im besten<br />

Interesse des Museums und seiner Aufgabe<br />

ist.“<br />

Vor dem Met hatten sich schon andere<br />

internationale Institutionen von den Sacklers<br />

distanziert, die Zusammenarbeit eingestellt,<br />

teilweise ebenfalls deren Namen<br />

von Sammlungen oder Ausstellungsräumen<br />

entfernt. Darunter waren etwa der<br />

Pariser Louvre oder die Tate Modern Galerie<br />

in London.<br />

Wie kommt es, dass Museumsdirektoren,<br />

die sonst stets ihre Wohltäter umschmeicheln,<br />

einigen auf einmal die kalte<br />

Schulter zeigen? Der Grund liegt in der so<br />

Künstlerin Nan Goldin und die<br />

Gruppe P.A.I.N. bei einer Protestaktion<br />

gegen die Familie Sackler im<br />

Guggenheim Museum in New York.<br />

Goldin gibt der Familie auch die<br />

Schuld an ihrer eigenen schweren<br />

Schmerzmittelabhängigkeit.<br />

Die Pharmaunternehmer Sackler werden<br />

für die Opioid-Krise in den USA<br />

mitverantwortlich gemacht, weil sie am<br />

opiathaltigen Schmerzmittel OxyContin<br />

verdient, doch dessen Suchtpotenzial<br />

bewusst verharmlost haben sollen.<br />

genannten Opioid-Krise in den USA. Diese<br />

beschäftigt seit mehr als einem Jahrzehnt<br />

die Gesundheitsbehörden, die Gerichte<br />

und auch die Öffentlichkeit. Dabei geht es<br />

um das Vermarkten von Schmerzmitteln,<br />

die abhängig machen,<br />

die auch<br />

viele ihrer Nutzer<br />

direkt zum Umstieg<br />

auf harte<br />

Drogen brachten.<br />

Inmitten dieser<br />

Opioid-Krise befindet<br />

sich eben<br />

jene Familie des<br />

Kunstmäzenen Sackler mit ihrer Pharmafirma<br />

Purdue und dem Schmerzmittel<br />

OxyContin.<br />

tijüdischer Quoten mussten<br />

sie zum Medizinstudium nach<br />

England ausweichen. Später<br />

arbeiteten sie erfolgreich als<br />

Psychiater, aber auch im Marketing<br />

für Pharmazeutika, unter<br />

anderem von Valium. Anfang<br />

der 1950er-Jahre kauften<br />

sie eine kleine Pharmafirma,<br />

Purdue, diese wurde dann<br />

später der Erzeuger und äußerst<br />

profitable Vermarkter<br />

von OxyContin, einem Mittel<br />

zur Schmerzbekämpfung,<br />

über dessen Suchtpotenzial es<br />

allerdings schon medizinisches Wissen gegeben<br />

hatte.<br />

Dennoch drückten die Sacklers Oxy-<br />

Contin mit einer Kampagne, die sich direkt<br />

an die verschreibenden Ärzte richtete,<br />

rücksichtslos in den Markt. Es galt<br />

eine Zeit lang als eines der umsatzstärksten<br />

Medikamente der Welt. Die Besitzer<br />

machten damit ein Vermögen, was ihnen<br />

das viele Millionen umfassende Sponsoring<br />

von Museen, Spitälern und akademischen<br />

Institutionen ermöglichte. Eine<br />

kleine Auswahl: das Guggenheim Museum<br />

in New York, die Harvard University,<br />

die University of Oxford, die Medizinische<br />

Fakultät der Tel Aviv University<br />

oder ein pulmologisches Institut am Londoner<br />

King’s College.<br />

Doch der Höhenflug hielt nicht an.<br />

Mehrere investigative Journalisten, etwa<br />

der New York Times und des Magazins New<br />

Yorker, befassten sich genauer mit der Medikamentensucht<br />

– die Sacklers verweigerten<br />

stets die Kooperation. Dann begannen<br />

die Klagen betroffener Patienten,<br />

mittlerweile gibt es Tausende von Verfahren.<br />

Purdue Pharma ist inzwischen insolvent,<br />

aber die Klagen richten sich längst<br />

auch gegen die Besitzerfamilie. Und die<br />

einst strahlenden Profiteure der großzügigen<br />

Spender wenden sich sukzessive ab.<br />

© Yana Paskova / Eyevine / picturedesk.com<br />

14 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 14 07.06.<strong>22</strong> 13:51


HIGHLIGHTS | 02<br />

Die Filmpioniere aus Galizien<br />

Die beiden Kaufleute Isaak Isidor Fett und Karl Wiesel standen 1912<br />

an der Wiege der später einflussreichen Bavaria Film in München.<br />

Isidor Fett war Ende des 19. Jahrhunderts<br />

aus dem galizischen Debica,<br />

das heute in Polen liegt, über Wien<br />

nach München zugezogen. Dort<br />

hatte er dann ein eigenes Konfektionshaus<br />

gegründet, sah aber über<br />

die Mode hinaus eine neue, interessante<br />

Branche entstehen: den Film.<br />

Dafür fand er einen Partner, ebenfalls<br />

aus Galizien. Karl Wiesel war aus<br />

Zurawno unweit von Lemberg nach<br />

München gekommen und betrieb<br />

eine so genannte Partiewaren-Halle<br />

mit der „Specialität Schuhwaren“. Im<br />

Jahr 1910 gründeten die beiden ein<br />

Filmatelier in Geiselgasteig im Süden<br />

von München. Zwei Jahre später<br />

nutzten sie dann einen Saal in Bekleidungsgeschäft<br />

von Fett dazu, ihr<br />

eigenes Kino einzurichten, die Lichtspiele<br />

am Max-Weber-Platz. Es hatte<br />

etwa 150 Sitzplätze.<br />

Jahre intensiver Produktion der<br />

Bayerischen Filmgesellschaft Fett<br />

& Wiesel folgten. Diese avancierte<br />

„binnen kürzester Zeit zu einer der<br />

stadtweit einflussreichsten Firmen<br />

in der Branche“, so die Süddeutsche<br />

Zeitung (SZ). Fett & Wiesel brachten<br />

über 50 Stummfilme auf den<br />

Markt, eher leichte Unterhaltung, arbeiteten<br />

aber bereits mit dem damaligen<br />

Stummfilmstar Harry Piel<br />

zusammen, der unter anderem einen<br />

„Elektromenschen“ spielte, einen<br />

frühen Roboter. Isidor Fett war<br />

zeitweise auch Geschäftsführer der<br />

Harry Piel Film Company GmbH.<br />

Fett und Wiesel zählten laut SZ<br />

seinerzeit zu den „Big Playern in der<br />

Münchner Filmszene“. Ihre Firma gehörte<br />

dann auch zu jenen sieben<br />

süddeutschen Unternehmen, die<br />

sich gegen die große Ufa in Berlin<br />

stemmten und sich 1920 zur Emelka<br />

zusammenschlossen. „Ihr Name leitet<br />

sich von der Abkürzung MLK ab,<br />

was für Münchener Lichtspielkunst<br />

steht“, so die SZ. Die Emelka war europaweit<br />

tätig, betrieb 100 Kinos in<br />

Süddeutschland, die Filmateliers in<br />

Geiselgasteig von Fett & Wiesel sollten<br />

eine der Keimzellen der Bavaria<br />

Filmstudios werden.<br />

Doch schon ein Jahr nach der Fusion<br />

gingen Fett und Wiesel jeweils<br />

eigene Wege. Von 1921 bis 1926 war<br />

Fett noch im Namen der Münchner<br />

Lichtspiele AG am Wiener Filmverleih<br />

Hugo Engel beteiligt. 1923, als er<br />

nach Jahrzehnten in München um<br />

die bayerische Staatsbürgerschaft<br />

ansuchte, wollte man ihn sogar aus<br />

dem Freistaat ausweisen. Als Grund<br />

galt „schnelle Bereicherung“. Fett<br />

übersiedelte später nach Berlin und<br />

starb 1933 überraschend in einem<br />

Münchner Hotel. Seine Witwe wurde<br />

nach Theresienstadt deportiert und<br />

gilt offiziell als „in Riga verschollen“.<br />

Wiesel durfte als Jude unter den Nazis<br />

nicht in der Filmbranche arbeiten<br />

und emigrierte 1938 in die Schweiz.<br />

Er starb 1941 auf der Überfahrt Richtung<br />

Kuba an Typhus. RE<br />

film.tipp<br />

Erinnerung und Geschichte<br />

Die Filmreihe Beckermann und das<br />

Begleitbuch zur Reihe sind die studentische<br />

Hommage an Ruth Beckermanns<br />

Œuvre, organisiert vom Filmclub<br />

Tacheles. Ziel ist, den Diskurs um<br />

Judentum, Erinnerungskultur und Antisemitismus<br />

an der Universität Wien<br />

anzuregen. Aus diesem Anlass spricht<br />

Moderatorin Avia Seeliger in ihrer<br />

Podcastreihe Chuzpe mit Ruth<br />

Beckermann und den Organisatoren.<br />

Filmreihe: filmclubtacheles.com<br />

Podcast: anchor.fm/chuzpe<br />

Waldheims Walzer erzählt<br />

den Bruch des Opfermythos in Österreich, 2018.<br />

DIE LICHTSPIELE AM MAX-WEBER-PLATZ<br />

und die Filmgesellschaft „Fett & Wiesel“<br />

bis 31. Juni 20<strong>22</strong><br />

Haidhausen-Museum<br />

Kirchenstraße 24, München-Haidhausen<br />

(Nähe Max-Weber-Platz)<br />

Öffnungszeiten:<br />

So., 14–17 Uhr; Mo.–Mi., 17–19 Uhr<br />

© Haidhausen-Museum; Lukas Beck/Filmproduktion Ruth Beckermann<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 15 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Long Covid<br />

AUSGEBREMST<br />

Das Energiebündel“: So lautete der<br />

Titel eines WINA-Porträts der Marketingexpertin<br />

Viviane Shklarek,<br />

das 2015 erschien. Ihr Leben bewegte<br />

sich damals zwischen 60-Stunden-<br />

Woche als Marketing-Chefin in einer<br />

Agentur, viel Sport, gesundem Essen<br />

und Partymachen. 20<strong>22</strong> sieht alles<br />

anders aus: Nach einer Covid-19-<br />

Infektion im Herbst 2020 erkrankte<br />

die inzwischen 40-Jährige an Long<br />

Covid. Schritt für Schritt bemüht sie<br />

sich nun, gesund zu werden – und<br />

möchte mit ihrem positiven Elan<br />

dabei auch andere motivieren,<br />

es ihr gleich zu tun: Auf Social Media<br />

dokumentiert sie ihren Heilungsprozess<br />

mit Hashtags wie<br />

#liveeverymoment, #longcovidrecovery<br />

und #projectrecovery.<br />

Von Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked<br />

16 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 16 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Langer Weg zurück<br />

Mit Covid-19 infiziert<br />

hat sich Viviane<br />

Shklarek „im<br />

Fitnesscenter – also<br />

einer meiner Leidenschaften“. Es<br />

war ein Zirkeltraining, die Teilnehmer<br />

trainierten ohne Maske.<br />

„Ein paar Tage später habe ich ein E-Mail<br />

bekommen, dass einer der Trainer positiv<br />

getestet wurde.“ Am nächsten Tag in der<br />

Früh spürte sie bereits selbst Symptome:<br />

„Ich hatte 39 Grad Fieber und fühlte mich<br />

schlapp.“ Fieber und dieses Schwächegefühl<br />

sollten sie noch rund eine Woche begleiten.<br />

Husten habe sie keinen gehabt.<br />

Dann schien das Virus überstanden. Sie<br />

begann wieder zu arbeiten, ließ sich sogar<br />

von einer Internistin durchuntersuchen,<br />

um beruhigt wieder mit Sport beginnen<br />

zu können. „Sie hat mich durchgetestet,<br />

EKG gemacht, sich die Lungenfunktion<br />

angesehen und gesagt, es ist alles okay.“<br />

Etwa sechs Wochen später merkte sie,<br />

dass ihr Körper das etwas anders sah. Immer<br />

wieder hatte sie Temperatur, und es<br />

traten verschiedenste „Wehwehchen“ auf,<br />

wie Shklarek sagt: Blaseninfekte, Bauchschmerzen,<br />

Schleim im Hals, ein Heißgefühl,<br />

dann wieder Gänsehaut und Schüttelfrost.<br />

„Long Covid war damals noch<br />

kein Begriff. Ich bin von einem Arzt zum<br />

anderen gelaufen, aber jeder sagte, ich<br />

bin gesund.“<br />

„Aber es war<br />

ein bisschen<br />

so, wie wenn<br />

man das Leben<br />

durch<br />

einen Schleier<br />

sieht. Es geht<br />

schon, aber<br />

der Körper<br />

macht komische<br />

Sachen.“<br />

Viviane Shklarek<br />

Sie arbeitete weiter, nahm, wenn es gar<br />

nicht anders ging, dazwischen einen Krankenstandstag.<br />

Ende 2020 dachte sie sich,<br />

vielleicht sei ihr auch nur einfach alles<br />

zu viel und ein Urlaub könnte helfen. Sie<br />

buchte einen Flug mach Dubai, doch am<br />

Tag des Abflugs bekam sie wieder Temperatur.<br />

Eine Woche später flog sie doch, genoss<br />

den Urlaub, machte sogar etwas Sport.<br />

„Aber es war ein bisschen so, wie wenn<br />

man das Leben durch einen Schleier sieht.<br />

Es geht schon, aber der Körper macht komische<br />

Sachen.“<br />

Nach ihrer Rückkehr nach Wien arbeitete<br />

sie noch ein paar Wochen, doch irgendwann<br />

merkte sie, dass sie zwar im<br />

Home-Office vor ihrem<br />

Computer saß,<br />

aber nicht denken<br />

konnte. Und dann<br />

an einem Montag<br />

war es so weit:<br />

Sie ließ sich krankschreiben.<br />

Es ging<br />

nicht mehr. Eine<br />

Freundin lud sie<br />

ein, eine Woche zu<br />

ihr zu ziehen. Sie<br />

war es auch, die sie<br />

auf die Möglichkeit<br />

von Long Covid aufmerksam<br />

machte.<br />

Durch Glück ergatterte<br />

sie rasch einen<br />

Termin beim Neurologen Michael<br />

Stingl, der bereits seit Jahren Patienten<br />

mit dem Chronic-Fatigue-Syndrom behandelt<br />

und einer der Ersten war, der sich<br />

mit der neuen Erkrankung auseinandersetzte.<br />

Stingl bestätigte den Verdacht. Und<br />

dann war sie also auf dem Tisch, die Diagnose:<br />

Long Covid.<br />

„Die Diagnose hat mich so getroffen. Es<br />

hat mich so mitgenommen, dass es mir danach<br />

schlechter ging. So eine Diagnose ist<br />

wie ein Stempel, ich hatte das Gefühl, jetzt<br />

gibt es keine Heilung.“ Sie sei dann nur<br />

mehr zu Hause gewesen, habe sich mit<br />

Dingen wie Meditation beschäftigt. „Und<br />

wer mich vorher kannte, weiß: Eine Minute<br />

ohne Fernseher oder irgendeine Beschäftigung<br />

ist nicht meines. Ich musste mir<br />

das erst angewöhnen.“ Bis April 2021 ging<br />

es bergab, bis Juni wieder bergauf. Sie bekam<br />

die erste und zweite Covid-Impfung,<br />

hochdosierte Vitamine und Mineralstoffe<br />

und übte sich in dem von Stingl empfohlenen<br />

Pacing, was bedeutet, sich in langsamem<br />

Tempo an das heranzutasten, was<br />

der Körper zu leisten vermag.<br />

Das wichtigste Werkzeug dazu ist die<br />

Pulsuhr, die Shklarek bis heute Tag und<br />

Nacht trägt. Mehr als 110 sollte sie zunächst<br />

nicht anzeigen. Doch dieser Wert<br />

war schnell erreicht – manchmal sogar<br />

schon im Stehen. Das ist dann ein Zeichen,<br />

eine Pause zu machen – und jede Tätigkeit<br />

noch langsamer auszuführen. Das<br />

ließ sich zunächst ganz gut an, im Juni 2021<br />

war es ihr dann schon möglich, mit dem<br />

Auto von ihrer Wohnung in Wien-Döbling<br />

in die Innenstadt zu fahren und gemeinsam<br />

mit einer Freundin in einem Lokal<br />

mittagzuessen. Doch dann hörte sie von einer<br />

Erfolg versprechenden Therapie – einer<br />

Apherese, also einer Blutreinigung, die<br />

bei Long Covid helfen sollte. Gemeinsam<br />

mit ihrem Vater fuhr sie dafür zwei Wochen<br />

nach Bayern. „Das war jedoch leider zu viel<br />

für mich.“<br />

Bei Long Covid sei es auch so, dass von einem<br />

Tag auf den anderen jederzeit ein Crash kommen<br />

könne. Dann gehe gar nichts mehr.<br />

„Das ist ein Zustand, in dem du nicht mehr<br />

nachdenken kannst, dich nicht mehr bewegen<br />

kannst, in dem du nur mehr denkst, ich<br />

will sterben.“ Die Reise, die Behandlung,<br />

das alles habe sie zu sehr mitgenommen.<br />

„Von September bis Dezember war ich bettlägerig.<br />

Das war der Tiefpunkt“, erinnert<br />

sie sich heute. Sie habe sich nicht einmal<br />

mehr selbst etwas zu essen zubereiten können.<br />

Wenn sie Medikamente brauchte oder<br />

Hilfe beim Wäsche waschen, schrieb sie in<br />

ihre WhatsApp-Gruppe „Vivi’s Angels“, und<br />

ihr Vater und seine Partnerin oder Freundinnen<br />

kamen und halfen ihr. Dafür sei sie<br />

sowohl ihrer Familie wie auch ihren Freundinnen<br />

sehr dankbar, betont sie.<br />

An manchen Tagen habe sie in der Früh<br />

sogar überlegt, ob sie genügend Energie<br />

habe, das Gesicht einzucremen oder auf<br />

dem WC das Licht einzuschalten. „Das waren<br />

die schlimmsten Tage. Und man kann<br />

ja auch nicht die ganze Zeit schlafen. Also<br />

vegetiert man so vor sich hin. Man vegetiert<br />

und hofft.“ In dieser Zeit habe sie irgendwann<br />

auch nur mehr 40 Kilo gewogen.<br />

Zuvor sei sie sportlich gewesen, habe<br />

Muskeln gehabt. Doch durch das Liegen<br />

habe sie massiv Muskeln abgebaut.<br />

Die Hoffnung hat Viviane Shklarek<br />

aber nie aufgegeben. Mit Erfolg. Diesen<br />

Juni kann sie nun wieder anfangen, Teilzeit<br />

zu arbeiten. Ein langsames Tempo ist<br />

auch hier das Mittel der Wahl. Doch was<br />

ist zwischen der Bettlägerigkeit am Jahresende<br />

bis heute passiert? „Ich habe viele<br />

Dinge ausprobiert“, erzählt die Long-Co-<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 17 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Awareness lernen<br />

Die Gewissheit,<br />

„selbst wenn<br />

jeder Moment<br />

Scheiße ist, wird<br />

es wieder einen<br />

Moment geben,<br />

der es wert<br />

macht, das Leben<br />

zu leben“.<br />

Viviane Shklarek<br />

Neues Leben. „In so einem Jahr denkt man<br />

viel nach. Und rückwirkend bin ich eben auch<br />

froh, was mir die Krankheit gegeben hat.“<br />

den pro Woche sind es anfangs, langsam<br />

will Shklarek das steigern, dabei aber immer<br />

auf ihren Körper hören. Bei diesem<br />

Modell zahlt der Arbeitgeber für die Teilzeitarbeit,<br />

die Kasse schießt dann noch etwas<br />

zu.<br />

Dass sie stets finanziell abgesichert war,<br />

weiß Shklarek zu schätzen. Aus einer Online-Selbsthilfegruppe<br />

weiß sie, dass andere<br />

mit Existenzsorgen zu kämpfen haben.<br />

Stichwort Selbsthilfegruppe: Die<br />

Long-Covid-Austria-Gruppe leiste großartige<br />

Arbeit, was das Bekanntmachen<br />

der Krankheit und den Austausch mit<br />

dem Gesundheitsministerium und Ärzten<br />

und Ärztinnen betreffe. Rasch erkannte<br />

sie allerdings auch, dass ihr dieser<br />

ständige Austausch nicht gut tat, sondern<br />

sie eher herunterzog. Insgesamt legte sie<br />

nach der Diagnose Long Covid zunächst<br />

vid-Patientin. Geholfen hätten ihr vor allem<br />

drei Dinge. Erstens „loszulassen und<br />

nicht krampfhaft zu versuchen, gesund<br />

zu werden. Einfach sein lassen und Vertrauen<br />

haben.“ Erlernt habe sie das mittels<br />

der Grinberg-Therapie, einem Konzept des<br />

Israeli Avi Grinberg, das auf Körperarbeit<br />

basiert. „Es geht darum zu erkennen, wo<br />

im Körper es Anspannung gibt und diese<br />

zu lösen. Der Körper ist dazu gemacht, sich<br />

selbst zu heilen. Das macht man durch Körperachtsamkeitsübungen.“<br />

Zwei weitere Elemente haben Shklarek<br />

zudem vorangebracht: Physiotherapie<br />

und die Einnahme eines Antidepressivums,<br />

das auch stark entzündungshemmend<br />

ist. Das Medikament<br />

hilft einerseits, die Angst vor<br />

einem nächsten Crash in Zaum<br />

zu halten. Und da Long Covid<br />

eine Entzündung des Nervensystems<br />

sei, helfe die Medikation<br />

auch, diese Entzündung<br />

in den Griff zu bekommen.<br />

Das Antidepressivum habe<br />

zwar Nebenwirkungen wie<br />

abenteuerliche Träume, starkes<br />

Schwitzen in der Nacht und<br />

hohe Koffeinsensibilität, „aber<br />

das nehme ich in Kauf“. Inzwischen<br />

gehe es ihr von Woche zu<br />

Woche besser. Und nach mehr<br />

als einem Jahr im Krankenstand<br />

begann sie im Juni vorerst<br />

einmal zwölf Stunden in<br />

der Woche zu arbeiten.<br />

Dankbar ist Shklarek dabei<br />

auch ihrem derzeitigen Arbeitgeber Philip<br />

Morris. Niemals stand eine Kündigung<br />

im Raum, immer wurde ihr signalisiert, sie<br />

solle sich alle Zeit, die sie brauche, nehmen,<br />

um gesund zu werden. Nach dem Krankenstand<br />

beantragte sie Krankengeld, das<br />

wurde von der Krankenkasse für ein Jahr<br />

gewährt und betrug etwa die Hälfte ihres<br />

zuvor bezogenen Einkommens. „So bin ich<br />

gut über die Runden gekommen. Die Fixkosten<br />

waren gedeckt, und die Therapien<br />

habe ich mit meinen Ersparnissen bezahlt.“<br />

Danach kann man – wenn Aussicht auf<br />

Heilung besteht – für ein weiteres halbes<br />

Jahr Krankengeld beantragen. Das lehnte<br />

die Kasse zunächst ab. Doch mit Hilfe<br />

der Arbeiterkammer erhob Shklarek Einspruch<br />

– und bekam Recht. Dank des Programms<br />

Fit2Work zur Wiedereingliederung<br />

von Menschen in den Arbeitsmarkt,<br />

die eine lange Krankheit durchlitten haben,<br />

soll nun die Rückkehr an den Arbeitsplatz<br />

eben langsam erfolgen. Zwölf Stuneine<br />

Social-Media-Pause ein. Doch seit<br />

es wieder bergauf geht, möchte sie eben<br />

auch anderen Mut machen. Und dabei<br />

auch teilen, was sie die Krankheit gelehrt<br />

hat: die Gewissheit, „selbst wenn jeder<br />

Moment Scheiße ist, wird es wieder<br />

einen Moment geben, der es wert macht,<br />

das Leben zu leben“.<br />

Viel habe sie zudem durch die Krankheit<br />

gelernt, sagt Shklarek. Seit ihre Mutter<br />

an Brustkrebs starb, engagiert sie sich in<br />

der Charity Think Pink! für die Brustkrebshilfe.<br />

„Lebe jeden Moment“, sei schon seit<br />

damals ihr Motto. Doch heute weiß sie: „Offenbar<br />

habe ich das falsch interpretiert. Jeder<br />

Moment war für mich, jeden Moment<br />

mit etwas gefüllt haben. Nun<br />

weiß ich, jeder Moment muss<br />

nicht gefüllt sein, sondern<br />

ein Moment mit mir ist auch<br />

genug.“ Ja, das sei schon fast<br />

philosophisch. „Aber in so<br />

einem Jahr denkt man viel<br />

nach. Und rückwirkend bin<br />

ich eben auch froh, was mir<br />

die Krankheit gegeben hat.“<br />

Arbeit sei ihr Leben, habe<br />

sie früher gedacht. Heute<br />

wisse sie: Arbeit werde weiterhin<br />

ein wichtiger Bestandteil<br />

ihres Leben, aber<br />

eben nicht mehr ihr Leben<br />

sein. „Langsam“ sei allerdings<br />

nicht ihres, sobald<br />

dies möglich sei, werde sie<br />

wieder „ein schnelleres Leben<br />

führen“. Erkannt habe<br />

sie zudem, dass es ihr bei der Arbeit vor allem<br />

um die Zusammenarbeit mit anderen<br />

Menschen gehe, und das fehlte ihr zunehmend<br />

in den vergangenen Monaten.<br />

Was sie in Zukunft aber anders machen<br />

werde: „Mehr priorisieren, Dinge<br />

entspannter angehen, mich nicht mehr<br />

selbst stressen.“ Zeit für Freunde und Familie<br />

werde nun immer sein. Sport werde<br />

ebenfalls wichtig sein, aber nicht um jeden<br />

Preis. Wenn ihr Körper ihr in der Früh sage,<br />

dass er Ruhe brauche, dann werde der Tag<br />

eben nicht mit Laufen, auf dem Heimtrainer<br />

oder mit Pilates beginnen. „Ich habe<br />

nun einfach insgesamt mehr Awareness.“<br />

Nicht wichtig sei nun auch zu wissen,<br />

wann sie wieder ganz gesund werde. „Theoretisch<br />

kann es auch sein, dass ich nie ganz<br />

gesund werde. Aber daran denke ich gar<br />

nicht. Ich habe in den letzten Monaten so<br />

viel geschafft, dass ich weiß, dass ich irgendwann<br />

wieder ganz gesund werde –<br />

ohne Druck, ohne Zeitlimit.“<br />

18 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 18 07.06.<strong>22</strong> 13:51


LEBENS ART<br />

DAS SOMMERFEST-PROGRAMM<br />

Neben den über 40 Organisationen und Institutionen, die sich<br />

hier präsentieren, zeigen auch junge jüdische Designer:innen<br />

ihre Arbeiten. Außerdem gibt es ein Kinderprogramm, koschere<br />

Kulinarik und natürlich viel Live-Musik. Auf der<br />

Bühne werden der Wiener Jüdische Chor, Roman Grinberg<br />

(Foto) in Begleitung des Klezmer Swingtett sowie<br />

Special Guest Lea Kalisch (siehe auch Seite 48) performen.<br />

So., 12. Juni, 14:30–19 Uhr, Judenplatz<br />

Frischluft-Gaudi<br />

Im Juni feiert die IKG ihr jährliches Sommerhighlight: das<br />

jüdische Straßenfest! WINA hat deshalb eine kleine Grundausstattung<br />

für die Open-Air-Events in diesem Sommer zusammengestellt.<br />

EIN ECHTER LUFTIKUS<br />

Frische Prise gefällig? Der Kueatily-Handventilator<br />

ist Handschmeichler und Augenschmaus<br />

zugleich. Dank reduzierter Geräuschentwicklung<br />

ist er absolut konzerttauglich und mit<br />

einer Belüftungszeit von bis zu zehn Stunden<br />

sogar einsatzbereit für Festivals. Zum Aufladen<br />

einfach das beiliegende USB-Kabel mit Laptop,<br />

Power Bank oder Ähnlichem verbinden.<br />

Z. B. über otto.de<br />

HAT WAS<br />

Drin ist, was drauf steht: Die Wiener Manufaktur<br />

Mühlbauer hat vorsichtshalber<br />

HAT auf ihre Sommerkollektion<br />

gestickt. Wir hätten das Exponat<br />

vielleicht auch ohne den dezenten Hinweis<br />

erkannt. Der knautschige „Fisher Sepp“ ist aus leichtem Parasisolstroh,<br />

das aus der Agave gewonnen wird und aus<br />

dem südost-asiatischen Raum kommt.<br />

muehlbauer.at<br />

TOLL FÜR DEN RÜCKEN<br />

Eine Kraxe war früher ursprünglich aus<br />

Holz und wurde u. a. für den Transport<br />

von Lebensmitteln genutzt. Das gleichnamig<br />

Wiener Label hat jetzt ein etwas<br />

benutzerfreundlicheres Material eingesetzt<br />

und ihre in Europa hergestellte Tasche<br />

„Azoren“ aus Canvas und Leder ge<strong>fertig</strong>t.<br />

Was darin befördert wird? Siehe<br />

restliche Seite. kraxe-wien.com<br />

SCHÖN IM SCHAUER<br />

Es gibt kein schlechtes Wetter – es<br />

gibt nur die falsche Kleidung. Wer<br />

auf Nummer sicher gehen will,<br />

packt also den Glockenschirm<br />

„Happy Rain“ ein, der genau das<br />

macht, was sein Name verspricht:<br />

glücklich trotz Niederschlag. Für jeden,<br />

der dem grauen Regenalltag<br />

etwas entgegensetzen und dabei<br />

den Durchblick bewahren möchte.<br />

u. a. über amazon.de<br />

MEERBLICK INKLUSIVE<br />

Der wellenförmig facettierte Rand dieser<br />

Sonnenbrille erinnert direkt an die seichten<br />

Wogen des Coral Beachs. Wer lieber durch eine<br />

rosarote Brille statt durch diese hellblaue von<br />

Chloé schauen möchte, kann sich übrigens<br />

auch durch das riesige Sortiment von<br />

Optikprofi Mister Spex graben.<br />

misterspex.at<br />

GEHT VOLL GUT!<br />

Wer eine flotte Sohle aufs Parkett legen oder<br />

einfach auch nur einen schlanken Fuß machen<br />

möchte, sollte sich beim israelischen Designduo<br />

Norman&Bella umschauen. Aus feinstem<br />

Leder <strong>fertig</strong>en sie ihre schicken Exemplare per<br />

Hand an, etwa „Viola“ mit Gurtdetail.<br />

normanandbella.com<br />

ADE, SCHMETTERLINGE<br />

Weil Kinderschminke so ziemlich das einzige<br />

ist, was nicht mit einem Taschentuch und<br />

Spucke aus dem Gesicht der Kleinen verschwindet,<br />

empfehlen wir den Eye-Makeup-Remover<br />

der israelischen Beauty-Brand<br />

Ahava. Rückt dem Make-up-Schmetterling<br />

mit kraftvollen Mineralien aus dem Toten<br />

Meer, Aloe Vera und Kamille auf die Pelle.<br />

ahava.com<br />

Fotos: Hersteller; S.Gansriegler<br />

19 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 19 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Wiener Wurzeln<br />

INTERVIEW MIT MAYA KUPFERBERG<br />

„Ich habe keine Angst vor dem Tod,<br />

denn ich bin schon zweimal gestorben“<br />

Über die vier Leben ihres Vaters, des österreichisch-israelischen<br />

Historikers Walter Grab, sprach seine Tochter Maya<br />

Kupferberg mit Anita Pollak.<br />

Maya Kupferberg über<br />

Wien: „Ich gehe durch die<br />

Stadt und versuche sie mit<br />

den Augen meines Vaters<br />

zu sehen.“<br />

Für mich war ja der Einmarsch der Nazis<br />

in Österreich ungefähr so, wie wenn man<br />

heute irgendwo in einer Zeitung liest:<br />

Alle Brillenträger werden umgebracht.<br />

Ich bin Brillenträger. Ich kann nichts dafür, dass ich<br />

Brillenträger bin, so ist es nun mal, ich werde umgebracht.<br />

Also, wohin, was? Darunter steht eine ganz<br />

kleine Notiz: Die Hottentotten retten dich. Dann<br />

geht der Brillenträger zu den Hottentotten. So ging<br />

ich nach Palästina.“<br />

Diese Sätze stammen aus einem Interview<br />

mit Walter Grab. 1919 in Wien geboren,<br />

führte er in Israel zunächst den Lederhandel<br />

seiner Eltern weiter, bevor er als Spätberufener<br />

in Tel Aviv eine beachtliche akademische<br />

Karriere starten konnte. Als Historiker ist<br />

er vor allem im deutschen Sprachraum berühmt<br />

geworden. 2000 starb er in Israel.<br />

Seine Tochter Maya Kupferberg war nun<br />

beim Besuchsprogramm des Jewish Welcome<br />

Service, das nach zweijähriger Pause erstmals<br />

wieder im größeren Rahmen stattfinden<br />

konnte, in Wien zu Gast.<br />

„Die Fernsehserie<br />

Rex<br />

liebte er, weil<br />

das auf Wienerisch<br />

war.“<br />

WINA: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie im Wiener Rathaus eingeladen<br />

sind?<br />

Maya Kupferberg: Ich gehe durch die Stadt und versuche<br />

sie mit den Augen meines Vaters zu sehen. Er<br />

fühlte sich zu Wien sehr hingezogen, war aber andererseits<br />

extrem gekränkt und traurig. Das Trauma<br />

von seinem Rausschmiss hatte ihn sein ganzes Leben<br />

begleitet, abgesehen vom Verlust verschiedener Familienmitglieder.<br />

Ich verstehe auch die Tragik seines<br />

Lebens, denn er sagte immer, ich gehöre nicht hierher,<br />

und meinte damit Israel. Ich bin ein Europäer,<br />

aber Österreich hat mich rausgeworfen.<br />

Walter Grab hat hier 1994 eine Ehrenmedaille der Stadt erhalten.<br />

Wie war das für ihn?<br />

I Es war eine gewisse Gutmachung, aber in seinem<br />

Herzen war er bis zu seinem Tod sehr verbittert und<br />

verletzt. Vor dem Krieg hat er mit seinen Eltern auf<br />

dem Bauernfeldplatz 4 gewohnt, und als er 1946 das<br />

erste Mal nach Wien kam, hat er an der Wohnungstür<br />

angeklopft. Dort wohnte der Hausmeister. Und<br />

als dessen Frau ihm aufmachte, hat sie geschrien,<br />

© PID/ Walther Schaub-Walzer<br />

20 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 20 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Leben in Tel Aviv<br />

„Der Jud ist wieder da!“ Vater hat gesagt, er wolle gar<br />

nichts, nur den Ort sehen, nach dem er sich so gesehnt<br />

hat, aber sie hat ihm die Tür zugeknallt. Er kam<br />

völlig <strong>fertig</strong> nach Israel zurück und sagte: „Es hat sich<br />

nichts verändert.“ Vielleicht spielte er mit dem Gedanken<br />

zurückzukehren. Aber meine Mutter, die Berlinerin<br />

war, hätte das nie mitgemacht.<br />

Er hat zu Israel immer ein sehr ambivalentes Verhältnis gehabt<br />

und in Tel Aviv in einem Zirkel deutscher Kultur gelebt,<br />

Heine, Goethe, Schiller, Büchner waren seine Hausgötter. Wie<br />

haben Sie das erlebt bzw. wie wurden Sie erzogen?<br />

I Die Eltern haben miteinander Deutsch gesprochen,<br />

aber mit uns nur Hebräisch, was sie sehr gut gelernt<br />

hatten. Zuhause hat mein Vater gern Kreisler gehört<br />

und Qualtinger und später im Fernsehen österreichische<br />

Sender empfangen, die Fernsehserie Rex<br />

liebte er, weil das auf Wienerisch war. Er fühlte sich<br />

in der Sprache und in der Kultur zuhause. Wir, seine<br />

Kinder, haben von der deutschen Kultur nichts mitbekommen.<br />

Aber meine beiden Töchter hat er sehr<br />

beeinflusst. Eine ist Journalistin und die andere Professorin<br />

für deutsch-jüdische Literatur an der TU<br />

Berlin. Sie hat über Heine dissertiert, das konnte er<br />

leider nicht mehr erleben. Meine Tochter Shelly Kupferberg<br />

hat jetzt ein Buch über den Onkel meines Vaters<br />

geschrieben – Isidor: Ein jüdisches Leben – und wird<br />

es auch in Wien präsentieren. Sie kennt alle Einzelheiten<br />

der Familiengeschichte.<br />

„Das<br />

Trauma<br />

von seinem<br />

Rausschmiss<br />

hatte ihn<br />

sein ganzes<br />

Leben<br />

begleitet.“<br />

I Ja, er war immer ein Linker, ging auf jede Demonstration<br />

mit, bei jedem 1. Mai, und wurde da immer mit<br />

Tomaten beworfen. Er war bei Peace Now sehr aktiv<br />

und hat immer alle Aufrufe unterschrieben. Die kommunistische<br />

Partei war lange sein Zuhause, aber die<br />

wurde damals in Israel sehr missachtet. Kommunist<br />

war ein Schimpfwort. Vor seinem Tod hat er mir gesagt:<br />

„Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn ich bin<br />

schon zweimal gestorben. Einmal, als die Wiener mich<br />

rausgeschmissen haben, und einmal, als die Kommunisten<br />

mich rausgeschmissen haben.“ Denn nachdem<br />

1956 bekannt wurde, was Stalin gemacht hatte, hat er<br />

der Partei gegenüber gemeint, das wäre ja schrecklich.<br />

Da haben sie gesagt, wenn du kapitalistische Zeitungen<br />

liest, dann raus mit dir.<br />

© PID/ Walther Schaub-Walzer<br />

Walter Grabs Autobiografie trägt den Titel Meine vier Leben.<br />

Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat.<br />

Allein sein Wikipedia-Eintrag zeigt aber, dass er noch<br />

mehr Leben gehabt haben muss.<br />

I Ja, Kindheit in Wien, dann Kaufmann in Israel, später<br />

Universitätsprofessor und schließlich Rentner.<br />

Ich sehe meinen Vater immer in seinem Arbeitszimmer,<br />

umgeben von tausenden Büchern und ab 7 Uhr<br />

früh auf der Schreibmaschine tippen. Er war enorm<br />

fleißig, denn er musste ja 20 Jahre aufholen, in denen<br />

er Kaufmann gewesen war, was er hasste, aber<br />

er musste die Familie erhalten. Daneben ging er als<br />

Abendstudent an die Uni in Tel Aviv und dann für drei<br />

Jahre nach Hamburg, für meine Mutter war das sehr<br />

schwer. Nach seiner Rückkehr hat er den Lehrstuhl<br />

an der Uni Tel Aviv bekommen und dort 1971 das Institut<br />

für Deutsche Geschichte gegründet, gegen sehr<br />

viel Widerstand, denn man wollte damals so etwas<br />

noch nicht. Um dafür Mittel zu bekommen, war er<br />

bei Kreisky, aber es war die Begin-Zeit, und Kreisky<br />

sagte, für eine rechte Regierung gebe ich nichts.<br />

Schließlich hat dann die Volkswagen-Stiftung fünf<br />

Millionen DM dafür gespendet.<br />

Bekannt ist Grab in akademischen Kreisen vor allem für seine<br />

historischen Arbeiten über revolutionäre Bewegungen wie<br />

die Jakobiner. Er dürfte selbst auch ein revolutionärer Freigeist<br />

gewesen sein.<br />

Ihr Bruder ist in den USA auch Historiker. Welchen Berufsweg<br />

haben Sie eingeschlagen?<br />

I Mein Bruder ist Napoleon-Forscher. Mein Vater<br />

war Spezialist für die Französische Revolution und<br />

hat sich immer für demokratische Strömungen interessiert.<br />

Die beiden haben stundenlang miteinander<br />

diskutiert. Ich war an der Jüdischen Grundschule<br />

in Berlin Lehrerin für Hebräisch. Nach dem Yom-<br />

Kippur-Krieg, von dem mein Mann sehr depressiv<br />

nach Hause kam, wollten wir vorerst für einige<br />

Jahre nach Deutschland gehen und sind nun schon<br />

47 Jahre dort. Israelin bin ich geblieben, aber ich bin<br />

in einem linken Haus aufgewachsen und habe einige<br />

Vorbehalte gegen die Politik in Israel.<br />

Ihre Großeltern hatten eine große Lederwarenerzeugung in<br />

Wien. Wurden ihre Eltern entschädigt?<br />

I Nach Vaters Tod habe ich Drucksorten von Emil Grab<br />

und Söhne, so hieß die Fabrik, gefunden und ging damit<br />

zum Rechtsanwalt für Restitutionen. Wir bekamen<br />

ungefähr 5000 Euro, was natürlich nichts ist.<br />

Wie bekannt ist Walter Grab heute als Wissenschaftler in<br />

Israel?<br />

I Gar nicht. Er war in Israel nur auf der Universität<br />

bekannt, sonst wenig. In Deutschland war er bei<br />

den Linken und vor allem als Jakobiner-Forscher angesehen.<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 21 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Prägender Einfluss<br />

Tilly Spiegel –<br />

Widerstandskämpferin,<br />

Frau, Linke, Jüdin<br />

Vor zwei Jahren schrieb Ina Markova<br />

vom Institut für Zeitgeschichte<br />

und vom österreichischen<br />

Volkshochschularchiv eine<br />

Biografie über Tilly Spiegel, die „in der Ersten<br />

Republik diejenige war, die die gesamte<br />

Basisarbeit der kommunistischen Partei<br />

machte“. Ottilie „Tilly“ Sali Spiegel wurde<br />

am 10. Dezember 1906 in Nowosielitza, Buko<strong>wina</strong>,<br />

geboren. Zu dieser Zeit regierte in<br />

den USA Theodore Roosevelt und in Russland<br />

Zar Nikolaus II. Die Buko<strong>wina</strong> gehörte<br />

zur österreichisch-ungarischen Monarchie<br />

und wurde von Wien aus regiert. In der Buko<strong>wina</strong><br />

lebte damals eine multikulturelle,<br />

auch jüdische Bevölkerung im friedlichen<br />

Nebeneinander. Nowosielitza hatte 1910<br />

etwa 2.176 Einwohner, die sich religiös in<br />

zwei Gruppen teilten: Anhänger des orthodoxen<br />

Christentums und Menschen<br />

jüdischen Glaubens. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />

sprach Deutsch, gefolgt von Rumänisch.<br />

Das Klima der kleinen Stadt war<br />

miserabel, unangenehme Feuchtigkeit und<br />

langanhaltender Nebel ergänzten die ärmlichen<br />

Lebensbedingungen. Vater Spiegel<br />

ernährte seine Frau und die fünf Kinder,<br />

Tilly war die Älteste, mit kleinen Handelstätigkeiten.<br />

Die kriegerischen Auseinandersetzungen<br />

zwischen<br />

der zaristischen mit<br />

der k.u.k. Armee des Ersten<br />

Weltkriegs bedeutete ab 1915<br />

für die Familie Spiegel Vertreibung<br />

und Flucht aus ihrem<br />

Heimatdorf mit vielen<br />

Umwegen, die sie dann nach<br />

Wien brachte.<br />

Wann sich Tilly Spiegel<br />

der Kommunistischen Partei<br />

in Wien anschloss, ist<br />

nicht ausreichend belegt. Es<br />

muss Ende der 1920er-Jahre<br />

gewesen sein, als sie dem<br />

Kommunistischen Jugendverband<br />

in Wien beitrat.<br />

„Bis Tilly 20 war“, beschreibt<br />

Ina Markova das Leben der<br />

… verdankt die<br />

österreichische<br />

Geschichtsforschung<br />

Tilly<br />

Spiegel „die<br />

Auseinandersetzung<br />

mit wichtigen<br />

Aspekten der<br />

Geschichte<br />

der Ersten und<br />

Zweiten<br />

Republik“.<br />

Ina Markova<br />

Tilly Spiegel war eine mutige Frau, die in grausamen<br />

historischen Zeiten für den Kommunismus und gegen<br />

die Nationalsozialisten kämpfte. Sie war eine der<br />

ersten Mitarbeiterinnen des Dokumentationsarchivs<br />

des Österreichischen Widerstandes und half, die Verbrechen<br />

der NS Zeit aufzuarbeiten.<br />

Von Viola Heilman<br />

Familie Spiegel in Wien, „hat die Familie<br />

im 16. Bezirk auf sehr beengtem Raum zusammengelebt.<br />

Sie waren zu acht in einer<br />

Wohnung in der Friedmanngasse. Tilly ist<br />

dann mit einem jungen Mann zusammengekommen<br />

und hat mit ihm in wilder Ehe<br />

gelebt. Ihr Vater hat das furchtbar gefunden,<br />

weil er konservative Ansichten hatte,<br />

andererseits war er froh, dass einer weniger<br />

in der Wohnung wohnt.“<br />

Nachdem die Kommunistische Partei<br />

1933 verboten wurde, übernahm<br />

Tilly Spiegel immer<br />

höhere Kaderfunktionen<br />

und wurde Kreisleiterin.<br />

Wegen illegaler Parteitätigkeit<br />

wurde sie aber verhaftet<br />

und zu einer zweijährigen<br />

Haftstrafe verurteilt.<br />

Wieder in Freiheit, ging<br />

Tilly Spiegel 1937 in die<br />

Schweiz und organisierte<br />

dort den Grenzübertritt<br />

von Spanienkämpfern aus<br />

Österreich. „Sie hielt sich<br />

wahrscheinlich in dieser<br />

Zeit in der Nähe von St. Gallen<br />

auf und wurde wegen<br />

dieser illegalen Tätigkeit<br />

wieder inhaftiert. Diesmal<br />

von den Schweizern. Sie<br />

hatte damit sehr großes Glück, denn genau<br />

in diese Zeit fällt der Anschluss und sie<br />

hätte eine Inhaftierung in Österreich nicht<br />

überlebt“, sagt Ina Markova. Im Mai 1938,<br />

nach ihrer Entlassung, wurde sie aus der<br />

Schweiz ausgewiesen und emigrierte daraufhin<br />

nach Paris.<br />

Bei den französischen Feierlichkeiten<br />

zum 14. Juli 1939 lernt Tilly Spiegel ihren<br />

späteren Ehemann Franz Marek kennen.<br />

Auch er floh um 1920 aus Galizien nach<br />

Wien und trat der Kommunistischen Partei<br />

1935 bei, zu diesem Zeitpunkt war Tilly<br />

bereits im Gefängnis. Sein Geburtsname<br />

war Ephraim Feuerlicht. Den Kampfnamen<br />

Franz Marek nahm er nach Eintritt in<br />

die Partei an, für die er im Untergrund die<br />

Agitation leitete. Als 1938 der „Anschluss“<br />

Österreichs erfolgte, floh Franz Marek nach<br />

Paris und baute die Leitung der KPÖ im Exil<br />

auf. Tilly Spiegel gründete im selben Jahr<br />

den Cercle Culturel Autrichien und engagierte<br />

sich in der Flüchtlingshilfe. Ihren Lebensunterhalt<br />

finanzierte sie als Turnlehrerin.<br />

Wie Marek schloss auch sie sich nach<br />

der Besetzung Frankreichs durch das NS-<br />

Regime dem kommunistischen Flügel der<br />

Résistance an.<br />

Frauen im Widerstand. Von 1941 bis 1943 war<br />

Tilly Spiegel Gebietsverantwortliche des<br />

© nap Verlag<br />

<strong>22</strong> wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb <strong>22</strong> 07.06.<strong>22</strong> 13:51


Gestalten im Hintergrund<br />

© nap Verlag<br />

Travail Anti-Allemand (TA) in Nancy. Das<br />

Ziel des Travail Anti-Allemand war, durch<br />

antifaschistische Aufklärung die faschistische<br />

Ideologie der Soldaten des NS-Regimes<br />

zu bekämpfen und zu unterwandern.<br />

1944 wurde sie von der Gestapo in<br />

Paris verhaftet und war bis zur Befreiung<br />

im Gefängnis in Fresnes. Wieder in Freiheit,<br />

kehrte sie 1945 nach Wien zurück und<br />

wurde Bezirksleiterin der KPÖ in Wien,<br />

was sie bis 1968 blieb. „Es ist schwierig zu<br />

beantworten, wie sie sich in einer konservativen<br />

Gesellschaft als Frau behauptet<br />

hat, wenn man sich ihren Werdegang<br />

in der Zweiten Republik anschaut. Trotz<br />

ihrer Meriten, die sie sich innerhalb der<br />

Partei erworben hatte, blieb sie immer im<br />

Schatten ihres Ehemanns und finanziell<br />

von ihm abhängig. Sie konnte sich zwar<br />

behaupten, aber sich so richtig durchzusetzen<br />

gelang ihr nur in den Jahren,<br />

in denen Männer in Lagerhaft interniert<br />

waren“, beschreibt Ina<br />

Markova die Karrieremöglichkeiten<br />

von Tilly<br />

dienen. 1974 wurde ihre Ehe mit Franz Marek<br />

geschieden.<br />

Als der Prager Frühling durch Truppen<br />

des Warschauer Paktes niedergeschlagen<br />

wurde, war das Ideologieverständnis<br />

durch die zunehmende Einflussnahme<br />

der sowjetischen politischen Führung zu<br />

groß geworden und Tilly Spiegel brach<br />

nach 40 Jahren kämpferischer Verteidigung<br />

der kommunistischen Leitlinie mit<br />

der Partei. „Ich finde die Nachkriegsgeschichte<br />

der KPÖ in ihrer ganzen Tragik<br />

sehr interessant, vor allem der Aspekt, wie<br />

lange bleibt man bei einer Partei, mit der<br />

man offenbar schon länger hadert. Wann<br />

kommt der Punkt, an dem man nicht mehr<br />

mitkann, besonders vor dem Hintergrund<br />

der Ersten und Zweiten Republik in Österreich“,<br />

sagt Markova.<br />

Bereits in den 1960er-Jahren zählte Tilly<br />

Spiegel zu den ersten NS-Forscherinnen<br />

Österreichs. Ihr Forschungsschwerpunkt<br />

Tilly Spiegel:<br />

Eine<br />

politische<br />

Biografie.<br />

nap, <strong>22</strong>8 S.,<br />

€ 19,80<br />

M. Graf, S. Knoll,<br />

I. Markova, K.<br />

Ruzicic-Kessler:<br />

Franz Marek.<br />

Ein europäischer<br />

Marxist.<br />

Mandelbaum,<br />

316 S., € 25<br />

Spiegel. Tilly Spiegel arbeitete<br />

als Turnlehrerin<br />

und Übersetzerin,<br />

um sich einen spärlichen<br />

Unterhalt zu verwar<br />

die Rolle von Frauen und Mädchen im<br />

Widerstand, worüber 1967 auch ein Buch<br />

unter demselben Titel erschien. An den Beginn<br />

des Buches stellte sie die Zeilen des<br />

türkischen Dichters Nâzim Hikmet:<br />

Wenn ich nicht brenne,<br />

Wenn du nicht brennst,<br />

Wenn wir nicht brennen,<br />

Wie soll die Finsternis erleuchtet werden?<br />

Tilly Spiegel brannte. Sie blieb aber immer<br />

in der zweiten Reihe, und obwohl so<br />

wenig über sie bekannt ist, „hat sie das<br />

letzte Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt“,<br />

beschreibt Ina Markova ihre Bedeutung.<br />

Nicht zuletzt verdankt die österreichische<br />

Geschichtsforschung Tilly<br />

Spiegel „die Auseinandersetzung mit<br />

wichtigen Aspekten der Geschichte der<br />

Ersten und Zweiten<br />

Republik“. Tilly Spiegel<br />

war eine der ersten<br />

ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen,<br />

die eine<br />

wichtige Rolle bei der<br />

Gründung und dem<br />

Aufbau des Dokumentationsarchivs<br />

des österreichischen Widerstandes<br />

ausübte.<br />

Leider gibt es sehr wenig historisch verwertbare<br />

Dokumente über das Leben von<br />

Tilly Spiegel. „Und trotzdem liegt jetzt ein<br />

Buch über sie vor – stellvertretend für alle<br />

diejenigen Frauen, die das letzte Jahrhundert<br />

mitgeprägt haben, nur um nachher<br />

aus vielerlei Gründen aus der Geschichte<br />

herausgeschrieben zu werden. Eine genaue<br />

biografische Untersuchung von Spiegels<br />

Vita ermöglicht über die bloße Würdigung<br />

des Lebens einer kämpferischen Frau<br />

hinaus die Auseinandersetzung mit wichtigen<br />

Aspekten der Geschichte der Ersten<br />

und Zweiten Republik.“<br />

1975 erhielt Tilly Spiegel das Goldene<br />

Ehrenzeichen der Republik Österreich.<br />

Bis zu ihrem Tod im Jahre 1988 setzte sie<br />

ihr Engagement im DÖW fort. Bis heute<br />

war es nicht möglich herauszufinden, wo<br />

diese mutige und bedeutende Frau begraben<br />

ist.<br />

B. Perz, V. Pawlowsky,<br />

I. Markova:<br />

Inbesitznahmen.<br />

Das Parlamentsgebäude<br />

in Wien<br />

1933–1956.<br />

Residenz,<br />

448 S., € 28<br />

DR. INA MARKOVA<br />

Senior Research Fellow am<br />

Institut für Zeitgeschichte,<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

des österreichischen<br />

Volkshochschularchivs.<br />

I. Markova:<br />

Die NS-Zeit im<br />

Bildgedächtnis<br />

der Zweiten<br />

Republik.<br />

Studienverlag,<br />

325 S., € 39,90<br />

wına-magazin.at<br />

23<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 23 07.06.<strong>22</strong> 13:51


MATOK & MAROR<br />

as müsst ihr alles essen, es schmeckt<br />

„D wie Chips.“ Ilan, der Patron des koscheren<br />

römischen Restaurants Ba’Ghetto,<br />

lässt bei den Touristen keine Zweifel aufkommen,<br />

was sein Signature Dish angeht: die Carciofo<br />

alla Giudia, die Artischocke auf jüdische<br />

Art. Da liegt sie jetzt in einem Alu-Reindl, präsentiert<br />

auf Papier, das einer Zeitung mit hebräischer<br />

Schrift nachempfunden ist. Ein wenig<br />

ähnelt sie einer alpinen Distel, scheinbar<br />

stachelig und goldbraun. Doch der Restaurantchef<br />

hat Recht: Die kross frittierten Blätter<br />

lassen sich leicht herunterbrechen und<br />

knacken zwischen den Zähnen wie selbstgemachte<br />

Kartoffelchips – mit einem feinen Zusatzgeschmack.<br />

Wer sich bis ans Herz der Artischocke<br />

durchgearbeitet hat, findet dort das<br />

gewohnte blassgrüne, zarte Fruchtfleisch. Es<br />

sind eigentlich zwei Gerichte in einem, simpel<br />

und raffiniert zugleich.<br />

Das Ba’Ghetto liegt in der Via del Portico<br />

d’Ottavia, einen Block vom Ostufer des Tiber<br />

und der großen Synagoge entfernt, mitten in<br />

der Jewish Food Alley von Rom. Hier wurlt es<br />

fast den ganzen Tag, hier stößt ein koscheres<br />

Lokal an das nächste, etwa das BellaCarne,<br />

bei dem schon im Namen sein fleischiger<br />

Charakter unübersehbar ist; dann die<br />

ebenfalls fleischigen Renato al Ghetto<br />

oder Su Ghetto sowie eine Reihe milchiger<br />

Konditoreien, Eisgeschäfte oder<br />

Bäckereien, etwa das fleischlose Schwesterchen<br />

von Ba’Ghetto, das Milky. Ba’Ghetto hat<br />

übrigens auch weitere Verwandte in Mailand<br />

oder Florenz.<br />

Zurück an den koscheren Tisch in Rom.<br />

Die Vorspeisenkarte beginnt eben mit der<br />

Carciofo alla Giudia (5 Euro), aber man<br />

kann auch um denselben Preis die traditionelle<br />

römische (gekochte) Variante kosten.<br />

Mit frittierten Zucciniblüten folgt noch eine<br />

weitere lokale Spezialität (3 Euro pro Stück),<br />

dann wird es schnell orientalisch-mediterran:<br />

jemenitische Focaccia mit scharfer<br />

Sauce (4 Euro), am gemischten mediterranen<br />

Teller (12 Euro) ist neben Falafel, Tabulé<br />

und Humus eine ganze Ecke für die grellrote<br />

Harissa reserviert, die tunesischen Buriks<br />

werden entweder mit Ei oder mit Kartoffel<br />

gefüllt (5 Euro). Polpettine BaGhetto<br />

Koscher in Rom<br />

Nur einen Block von der großen Synagoge entfernt, bietet<br />

sich jüdisch-mediterran-italienische Küchenkunst geballt an.<br />

Mitten drin das Restaurant Ba’Ghetto.<br />

Chef oder Kellner<br />

kommen vorbei<br />

und führen Schmäh<br />

auf Iwrit oder im<br />

weichen römischen<br />

Italienisch.<br />

Carciofo alla Giudia,<br />

die jüdische Artischocke<br />

– das Signature Dish im<br />

römischen Ba’Ghetto.<br />

WINA-TIPP<br />

BA’GHETTO<br />

Via del Portico d’Ottavia 57, I-00186 Roma<br />

Tel.: +39 (0)668 89 28 68<br />

baghetto.com<br />

aus fein faschiertem Kalbfleisch in<br />

Tomatensauce leiten dann schon zu<br />

den Hauptspeisen über (10 Euro).<br />

Wer davor noch einen Primo-<br />

Gang schafft, muss schon viele Besucher-Kilometer<br />

in den Sneakers<br />

haben –oder tagelange Entbehrungen<br />

hinter sich. Zur Wahl stehen<br />

etwa koschere Spaghetti Carbonara<br />

(12 Euro), Fettucine all ragú di agnello,<br />

Bandnudeln mit Lammsauce<br />

(12 Euro) oder klassischer Couscous<br />

mit Kichererbsen, Fleisch und Gemüse<br />

(14 Euro).<br />

Die Hauptspeisen bieten dann zwar auch<br />

einen Baccala alla Giudia, einen jüdischen<br />

Stockfisch (18 Euro), aber der Schwerpunkt<br />

liegt eindeutig auf Fleisch, geschmort oder<br />

gegrillt. In erstere Kategorie fällt das Gulasch<br />

BaGhetto (18 Euro), in der zweiten drängen<br />

sich Rindstournedos (24 Euro), köstliches<br />

Shish Kebab vom Rind mit Tahina (16 Euro)<br />

oder das ganz große italienische Steak, das<br />

florentinische, hier in der koscheren Variante.<br />

Dieses wird nach Gewicht berechnet<br />

und hat mindestens ein halbes Kilo.<br />

Die kulinarischen Highlights unterstützt<br />

das Ba’Ghetto mit einer vernünftig kalkulierte<br />

Weinkarte aus italienischen Regionen<br />

und aus Israel. Die einzelnen Weißen und Roten<br />

zeigen eine genaue Kennzeichnung, ob<br />

sie mevushal (abgekocht) wurden oder nicht,<br />

koscher sind sie alle.<br />

Dazu kommt dann noch der Unterhaltungs-aspekt.<br />

Zwar finden sich an der Mehrzahl<br />

der kleinen Tische zwischen Hauswand<br />

und Straße friedliche, hungrige und genießerische<br />

Touristenpärchen. Doch immer<br />

wieder kommen Haverim vom Chef oder den<br />

Kellnern vorbei, führen Schmäh auf Iwrit<br />

oder im weichen römischen Italienisch. Und<br />

natürlich gibt es dazwischen die langen Familientische,<br />

an denen die Sprachen durcheinander<br />

purzeln und die Bestellungen einmal<br />

passen und dann wieder lautstark reklamiert<br />

und geändert werden. Ob es Streit ist<br />

oder bloß Lust am lauten Diskurs, wird nicht<br />

ganz klar. Wer die Gruppe ist, kann der Kellner<br />

berichten: „Die kommen öfter, sie sind<br />

aus Panama.“ <br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel<br />

24 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 24 07.06.<strong>22</strong> 13:52


WINAKOCHT<br />

Ist denn Mus ein Muss, …<br />

… und was gibt es Feines mit/ohne Holler? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher Rätsel,<br />

die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />

Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion,<br />

seit meiner Kindheit verbinde ich Schawuot mit<br />

dem Duft von Holunder, der zu dieser Zeit blüht<br />

und mit dem mein Elternhaus geschmückt war.<br />

Habt ihr eine kulinarische Anregung für mich,<br />

was ich – außer sie auszubacken oder zu Sirup zu<br />

verarbeiten – noch mit den hübschen Dolden anstellen<br />

könnte? Mirja W.<br />

Wenn Sie Schawuot und Holunderblüten<br />

schon olfaktorisch positiv<br />

verbinden, warum dann nicht auch kulinarisch?<br />

Unser milchiges Puddingrezept<br />

passt jedenfalls gut zum Erntedank.<br />

Aber natürlich schmeckt er auch vor und<br />

nach den Festtagen. Und keine Angst: Die<br />

schweißtreibende Wirkung, die man in<br />

der Volksheilkunde an den Blüten bei Erkältungen<br />

und grippalen Infekten schätzt,<br />

entfalten die Dolden im Pudding nicht. Insofern<br />

ist die Süßspeise absolut sommertauglich,<br />

da erzählen wir Ihnen keinen<br />

Holler vom Holler.<br />

Als Fans der weißen Dolden möchten<br />

wir Ihnen neben unserem Rezept auch<br />

noch die Lektüre von Wilhelm Raabes<br />

(1831–1910) Novelle Holunderblüte ans<br />

Herz legen. Der Autor verarbeitet darin<br />

die Erlebnisse, die er als junger Student<br />

während eines Pragaufenthaltes<br />

gemacht hat: Ein Arzt und Herzspezialist<br />

wird durch den Holunderblütenkranz einer<br />

verstorbenen Patientin an eine Begegnung<br />

in seiner Studienzeit erinnert. Auf<br />

dem alten jüdischen Friedhof traf er das<br />

Mädchen Jemima Löw, das ihm von den<br />

Bestatteten und den Legenden ihres Volkes<br />

berichtet. Mehr des Inhalts wollen wir<br />

hier nicht spoilern. Nur so viel noch: Wilhelm<br />

Raabe scheint dem Holunderblütenduft<br />

ebenfalls verfallen gewesen zu sein,<br />

wie dieser kurze Textauszug zeigt:<br />

HOLUNDERBLÜTEN-<br />

PUDDING<br />

ZUTATEN<br />

15 Holunderblüten-Dolden<br />

500 ml Schlagobers<br />

8 TL Speisestärke<br />

3 EL Zucker<br />

Mark einer Vanilleschote<br />

ZUBEREITUNG<br />

Am besten schneiden Sie die Dolden<br />

an trockenen Tagen um die Mittagszeit.<br />

Die Dolden vor der Verarbeitung leicht<br />

ausklopfen, um eventuell vorhandene<br />

Insekten zu entfernen. Nicht waschen,<br />

weil sie sonst ihr Aroma verlieren! Dolden<br />

in einem Topf mit dem Obers übergießen<br />

und über Nacht im Kühlschrank<br />

durchziehen lassen. Am nächsten Tag<br />

Obers samt Blüten kurz aufkochen und<br />

dann abseihen. Von der Holundersahne<br />

100 ml abnehmen und mit Speisestärke<br />

und Zucker verrühren. Danach zurück in<br />

die restliche Holundersahne geben, Vanillemark<br />

beifügen, verrühren und noch<br />

einmal kurz aufkochen. Die Mischung<br />

in Dessertschalen füllen und im Kühlschrank<br />

durchkühlen lassen. Vor dem<br />

Servieren mit Holunderblüten garnieren.<br />

„Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten Steintafeln<br />

und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste<br />

drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte in den engen<br />

Gängen und sah die Krüge von<br />

Levi, die Hände Aarons und die Tauben<br />

Israels. Zum Zeichen meiner<br />

Achtung legte ich, wie die anderen,<br />

ein Steinchen auf das Grab des Hohen<br />

Rabbi Löw bar Bezalel. […] Die Sonne<br />

schien wohl, und es war Frühling, und<br />

von Zeit zu Zeit bewegte ein frischer<br />

Windhauch die Holunderzweige und<br />

-blüten, dass sie leise über den Gräbern<br />

rauschten und die Luft mit süßem<br />

Duft füllten.“<br />

Werte Kulinarik-ExpertInnen,<br />

in meinem Garten wuchert der Rhabarber derart,<br />

dass ich so viel Mus gar nicht einkochen, geschweige<br />

denn essen mag. Habt ihr eine Idee,<br />

was man mit den sauren Stangen noch anfangen<br />

kann, um länger etwas von ihnen zu haben?<br />

Thomas M.<br />

Zum Glück kommt Rhabarber nicht als<br />

Kompott auf die Welt. In die Welt von<br />

morgen können Sie es auch als eingelegtes<br />

Gemüse bringen. Ja, Rhabarber ist ein<br />

Gemüse und gepickelt schmeckt er hervorragend<br />

zu grünem Spargel oder Fisch.<br />

Dafür werden die Stangen geschält<br />

und in grobe Stücke geschnitten – nicht<br />

zu klein, sonst wird es wieder Mus, und<br />

davon haben Sie ja schon genug. Stücke<br />

in ein Bügelglas geben. Für 400 g geschälten<br />

Rhabarber kochen Sie einen Sud aus<br />

drei Teilen Wasser (300 ml), einem Teil<br />

Reisessig (100 ml) und einem Teil Zucker<br />

(100 g) auf. Den kochenden Sud über die<br />

Rhabarberstücke gießen, Bügelglas verschließen,<br />

abkühlen lassen, <strong>fertig</strong>. Im<br />

Kühlschrank hält sich der Rhabarber ein<br />

paar Wochen.<br />

Sie möchten lieber ein bissfestes, süßsaures Chutney? Dann<br />

erhöhen Sie einfach den Zuckeranteil leicht. Und wenn Sie noch<br />

Pfefferkörner, Sternanis oder Kardamom dazugeben, erhalten<br />

Sie ein schönes Dressing für Salat.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at 25<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 25 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Freundliches Transistland<br />

Exil in Portugal<br />

Portugal fällt vielen nicht als Erstes ein, wenn man an Zufluchtsorte für Juden und<br />

Jüdinnen auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Terrorregime denkt. Das Land<br />

bot allerdings zehntausenden Menschen vorübergehend oder dauerhaft Sicherheit:<br />

vorübergehend, da für viele Portugal vor allem ein Transitland war. Von hier aus konnten<br />

Schiffe in die westliche Hemisphäre starten. Das Buch Portugal. Zuflucht am Rande<br />

Europas. 1933–1945 widmet sich nun dem Alltag der dorthin Geflüchteten, aber auch dem<br />

Spannungsfeld, hier in einer anderen Form der Diktatur gelandet zu sein.<br />

Text & Foto: Alexia Weiss<br />

Eine persönliche Vorbemerkung<br />

zu Beginn: Seitdem ich in der<br />

Vorschau des Verlags Hentrich<br />

& Hentrich vom bevorstehenden<br />

Erscheinen dieses Buches gelesen<br />

habe, freue ich mich auf dessen Lektüre.<br />

Warum? Meine Großeltern emigrierten<br />

zunächst 1938 von Wien nach Paris und<br />

mussten dann erneut flüchten. In Portugal<br />

fanden sie einen sicheren Hafen, sie<br />

blieben schließlich auch nach Kriegsende<br />

in Lissabon. Was mich an dem Buch von<br />

Irene Flunser Pimentel und Christa Heinrich<br />

daher vor allem interessierte: Wie war<br />

das Leben für jüdische Geflüchtete bis 1945<br />

in Portugal? Wie waren die Rahmenbedingungen,<br />

wie sah der Alltag aus?<br />

Dazu haben die beiden Autorinnen<br />

viele Zeitzeugenberichte zusammengetragen.<br />

Der rote Faden, der sich hier durch<br />

die Erinnerungen durchzieht: Das Regime<br />

von Diktator Anónio de Oiveira Salazar war<br />

nicht antisemitisch. Judenfeindlichkeit<br />

war nicht spürbar. Dennoch war es nicht<br />

so, dass Portugal allen seine Türen öffnete.<br />

Ab Oktober 1938 verlangte das Land von<br />

Flüchtenden, deren Pässe ein „J.“ eingetragen<br />

hatten, ein Touristenvisum. Dieses berechtigte<br />

zu einem einmonatigen Aufenthalt.<br />

Nach und nach verstand sich Portugal<br />

nur als Transitland.<br />

Das bedeutete einen mühsamen<br />

Wettlauf zwischen Behörden, Botschaften,<br />

Schifffahrtsgesellschaften, denn es<br />

brauchte ein Visum, um weiterreisen zu<br />

können, ein (oft kostspieliges) Ticket für<br />

die Überfahrt und dazwischen immer wieder<br />

eine Verlängerung des Aufenthalts in<br />

Portugal. Erschwert wurde dies durch die<br />

Etablierung der residências fixas. Diese lagen<br />

meist in Ferienorten am Meer, und<br />

für die Fahrt nach Lissabon für Behördenwege<br />

musste wiederum eine Erlaubnis<br />

angesucht werden. Wer ohne diese in die<br />

Hauptstadt aufbrach und erwischt wurde,<br />

riskierte eine Verhaftung – allerdings ohne<br />

massive Konsequenzen. Portugal schickte<br />

niemanden nach NS-Deutschland zurück.<br />

Nicht allen Geflüchteten gelang es allerdings,<br />

eine Weiterreise zu organisieren.<br />

Visa waren immer schwerer zu ergattern,<br />

die Schiffspassage war teuer. Die residências<br />

fixas wurden für sie zum langfristigen<br />

Aufenthaltsort. Man darf sich darunter allerdings<br />

keine Lager oder Massenunterkünfte<br />

vorstellen. Residências fixas, das bedeutete<br />

vor allem, in einem Ort bleiben zu<br />

müssen und nicht im Land reisen zu dürfen.<br />

Untergebracht waren die Geflüchteten<br />

in Pensionen, Hotels, Privatunterkünften.<br />

Oft stellten portugiesische Haushalte<br />

auch ein Zimmer in ihren Wohnungen<br />

oder Häusern zur Verfügung.<br />

Irene Flunser Pimentel & Christa Heinrich:<br />

Portugal. Zuflucht am Rande Europas<br />

1933–1945.<br />

Hentrich & Hentrich 20<strong>22</strong>,<br />

262 S., € 30,95<br />

Insgesamt wurden die Geflüchteten von<br />

der Bevölkerung sehr freundlich empfangen.<br />

Und das, obwohl sie sich nicht so benahmen,<br />

wie dies den Gepflogenheiten<br />

der Zeit in Portugal entsprach. Das betraf<br />

vor allem Frauen. Der Arzt Carlos Tavares<br />

aus Figueira da Foz war viel mit Flüchtlingen<br />

in Kontakt, sie kamen etwa zu ihm,<br />

weil sie ein Gesundheitszeugnis für ein<br />

Visum benötigten. „Alles, was die Flüchtlinge<br />

machten, war anders, wurde aber<br />

nicht abgelehnt“, erzählte er. Die Gäste<br />

sollten schließlich insgesamt das soziale<br />

Leben im Ort verändern.<br />

Als anders sei eben vor allem das Verhalten<br />

der ausländischen Frauen wahrgenommen.<br />

Eine Lokalzeitung berichtete<br />

etwa, dass sie Hosen trugen, rauchten,<br />

tranken, spielten, Fahrrad fuhren, Autos<br />

lenkten. Rauchende Frauen seien bis dahin<br />

ein Skandal gewesen, wird die portugiesische<br />

Zeitzeugin Rosa Amélia Faria<br />

e Silva zitiert. Als Frau allein ins Café<br />

zu gehen, galt als „unanständig“. Die geflüchteten<br />

Frauen gingen aber nicht nur<br />

ins Café, sie unterhielten sich dort auch<br />

mit portugiesischen Männern und gin-<br />

26 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 26 07.06.<strong>22</strong> 13:52


esidências fixas<br />

bedingungen waren<br />

1940 bereits erschwert, er durfte nicht einfach<br />

nach Lissabon fahren, um seinen Visaantrag<br />

unter Dach und Fach zu bekommen.<br />

Trotz der massiven Schwierigkeiten<br />

am Ende seines Aufenthalts „sei nochmals<br />

und dankbar festgehalten“, schrieb<br />

er rückblickend, dass sich Portugal „uns<br />

Emigranten gegenüber freundlicher und<br />

verständnisvoller als irgendein anderes<br />

unserer vorangegangenen Zufluchtsländer“<br />

zeigte. Er verließ Europa schließlich<br />

am 9. Oktober 1940 an Bord des amerikanischen<br />

Schiffes „S.S. Exeter“ gemeinsam<br />

mit dem deutschen Schriftsteller Leonhard<br />

Frank.<br />

Andere fanden in Portugal ihre neue<br />

Heimat. Erich Brodheim war 1939 im Algen<br />

mit diesen spazieren. Die Konsequenz<br />

war allerdings eben keine Feindseligkeit.<br />

Es begannen vielmehr die portugiesischen<br />

Frauen, es den Geflüchteten gleich zu tun:<br />

Junge Portugiesinnen gingen nun auch<br />

ohne männliche Begleitung aus.<br />

Kosmopolitisches Zentrum. Es gibt keine<br />

genauen Zahlen, wie viele Juden und Jüdinnen<br />

sich in der NS-Zeit kürzer oder<br />

länger in Portugal aufhielten. Forschungen<br />

gehen heute von 50.000 bis 80.000<br />

Flüchtenden aus, die in dem damals neutral<br />

agierenden Land eine kurz- oder langfristige<br />

Zuflucht fanden. Salazar erlaubte<br />

auch internationalen jüdischen und nichtjüdischen<br />

Organisationen 1940, ihre europäischen<br />

Hauptsitze nach Lissabon zu<br />

verlegen. Insgesamt verwandelte sich die<br />

Stadt damals in ein kosmopolitisches Zentrum.<br />

Nicht nur Geflüchtete waren nun in<br />

Lissabon präsent, auch Spione und Diplomaten<br />

waren von hier aus aktiv. Portugal<br />

wurde, wie es die Buchautorinnen formulieren,<br />

zu „einer internationalen Drehscheibe<br />

für Menschen, Güter, Informationen“.<br />

Während des Krieges waren auch<br />

Das Straßenschild in Wien<br />

erinnert an den portugisieschen<br />

Dipolmaten, der vielen Juden – auch<br />

unerlaubterweise – Visa ausstellte.<br />

etwa 40 Nachrichtenagenturen<br />

in Portugal<br />

präsent.<br />

Einer, der Europa<br />

schließlich über Portugal<br />

verlassen konnte,<br />

war Friedrich Torberg.<br />

Er war in Estoril untergebracht,<br />

die Rahmen-<br />

… dass sich<br />

Portugal „uns<br />

Emigranten<br />

gegenüber<br />

freundlicher<br />

und verständnisvoller<br />

als<br />

irgendein anderes<br />

unserer<br />

vorangegangenen<br />

Zufluchtsländer“<br />

zeigte.<br />

Friedrich Torberg<br />

ter von 18 Jahren allein, ohne Familie und<br />

ohne Geld aus Wien nach Portugal gekommen.<br />

Seinen Eltern und seiner Schwester<br />

gelang es nicht mehr nachzukommen,<br />

sie wurden schließlich in Polen ermordet.<br />

In Portugal erhielt Brodheim Unterstützung<br />

von Hilfsorganisationen, aber er<br />

versuchte Verschiedenstes, um weiterzukommen,<br />

wie die Buchautorinnen schreiben.<br />

Er habe „zum Beispiel Ausländern in<br />

Lissabon salzlose Butter und Schwarzbrot<br />

an der Tür verkauft und mit Kurzwaren<br />

gehandelt“. Nach dem Krieg bot ihm<br />

ein Bekannter, der in Amerika lebte, verschiedene<br />

Waren an. So verkaufte er mit<br />

seiner Frau Miriam „die ersten Nylonstrümpfe“<br />

aus Amerika, später auch Reißverschlüsse.<br />

„O rei dos fechos“ – König der<br />

Reißverschlüsse – habe man ihn genannt.<br />

Das Ehepaar gründete einen Großhandel<br />

für verschiedenste Modelabels. Das Unternehmen<br />

gibt es bis heute (www.brodheim.pt)<br />

und wird von Ronald Brodheim<br />

geführt. Ein Deutsch klingender<br />

Name ist heute also aus<br />

der portugiesischen Modewelt<br />

nicht mehr wegzudenken.<br />

Auf einen portugiesischen<br />

Namen stößt man dagegen in<br />

Wien, auf dem Weg von der<br />

U1-Station Kaisermühlen zum<br />

Austria Center. „Aristides-de-<br />

Sousa-Mendes-Promenade“<br />

heißt es da auf einem Straßenschild.<br />

Darunter gibt es<br />

eine erläuternde Zusatztafel:<br />

„Aristides de Sousa Mendes<br />

(1885–1954). Portugiesischer<br />

Diplomat, rettete tausenden<br />

Flüchtlingen durch Ausstellung<br />

von Visa das Leben.“<br />

Er tat dies auch noch zu einem<br />

Zeitpunkt, als ihm das<br />

das portugiesische Außenministerium<br />

untersagte. Er musste schließlich nach<br />

Portugal zurückkehren, und es wurde<br />

ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet.<br />

Die Konsequenz war eine Beurlaubung<br />

bei halben Bezügen für ein Jahr<br />

und danach die vorzeitige Versetzung in<br />

den Ruhestand. Er verarmte und wurde<br />

zeitweilig von jüdischen Hilfsorganisationen<br />

unterstützt. Sie ermöglichten zudem<br />

einigen seiner 14 Kinder eine Ausbildung<br />

in den USA. Sousa Mendes verstarb 1954<br />

und wurde erst im April 1974 in Portugal<br />

rehabilitiert. Yad Vashem zeichnete ihn als<br />

„Gerechten unter den Völkern“ aus. Auch<br />

in Lissabon ist eine Straße nach ihm benannt.<br />

wına-magazin.at<br />

27<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 27 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Exakter Raum<br />

Tor des Vergessens,<br />

Portal der Erinnerung<br />

Ein neuer Band mit Aufsätzen über Venedig und das Ghetto: als<br />

konkreter Ort, als globale Metapher. Über Mythos, Gedächtnis,<br />

Ausgrenzung und Zukunft.<br />

Von Alexander Kluy<br />

Chiara Camarda,<br />

Amanda K. Sharick,<br />

Katharina G. Trostel (Hg.):<br />

The Venice Ghetto.<br />

A Memory Space that Travels.<br />

University of Massachusetts<br />

Press, 260 S., € 29<br />

Es war, „als treffe man in der Provinz<br />

ein, an irgendeinem unbekannten,<br />

unbedeutenden Ort<br />

– möglicherweise dem eigenen<br />

Geburtsort, nach Jahren der Abwesenheit.<br />

Diese Empfindung war nicht zuletzt<br />

auf meine eigene Anonymität zurückzuführen,<br />

auf die Ungereimtheit einer einsamen<br />

Gestalt auf den Stufen des Bahnhofs:<br />

ein leichtes Ziel für das Vergessen.<br />

Und ich erinnerte mich an die erste Zeile<br />

eines Gedichts von Umberto Saba, die ich<br />

vor langer Zeit, in einer früheren Inkarnation,<br />

ins Russische übersetzt hatte: ‚In<br />

den Tiefen der wilden Adria […].‘“<br />

Da stand er also, er, Iossif Alexandrowitsch<br />

Brodski. Zum wiederholten Mal<br />

war er in Venedig. Wie immer kam er im<br />

Dezember. Immer wieder. Er schrieb. Er<br />

machte sich Notizen. Er schrieb. Nach 17<br />

inverni in Venezia, Venedig-Winteraufenthalten,<br />

erschien 1989 sein Venedig-<br />

Buch Watermark; die deutsche Übersetzung,<br />

die zwei Jahre später erschien, war<br />

Ufer der Verlorenen betitelt.<br />

In diesem langen Essay über die wintergraue,<br />

winterneblige Lagunenstadt<br />

beschrieb der jüdisch-russische Poet,<br />

der 1972 brüsk wie brutal seiner Heimat<br />

und Heimatstadt, der Sowjetunion und<br />

Leningrad, heute wieder St. Petersburg,<br />

verwiesen worden war, kurz in Wien Halt<br />

machte, um dann weiterzureisen und sich<br />

in New York niederzulassen – dort fand er<br />

Dozenturen, erhielt Preise, 1987 auch den<br />

Nobelpreis für Literatur –, ein sehr persönliches<br />

lyrisches Venedig. Abseits und<br />

fern des Massentourismus.<br />

Im März 2020 erlebte Shaul Bassi Venedig<br />

ebenfalls anders. Ohne jeden Massentourismus.<br />

Der Professor für Englische Literatur<br />

an Venedigs Università Ca‘ Foscari,<br />

untergebracht im Palazzo Foscari im Bezirk<br />

Dorsoduro, ist Gründer von Beit Venezia,<br />

der Casa della cultura ebraica. Die<br />

Corona-Pandemie hatte eingesetzt, die<br />

Stadt war im Lockdown. Er machte einen<br />

Einkauf, er wollte Matze für Pessach kaufen.<br />

Und ging dafür ins Ghetto. Und blieb<br />

verdutzt, ja verblüfft stehen. Auf dem<br />

Campo del Ghetto Nuovo waren – er und<br />

ein gelangweilter Carabiniere. Sonst: niemand.<br />

Der sonst so beliebte, ja überfüllte<br />

Platz: leer. Ein Sinnbild. Ein Symbol. Eine<br />

Metapher.<br />

Und das mitten in einer anderen Metapher,<br />

die sich lange vor der ökonomischen<br />

Globalisierung global verbreitet<br />

hatte – dem Ghetto.<br />

Ghetto. Und „Ghetto“. In Venedig mit seinen<br />

sechs Synagogen, unter anderem<br />

Verbindungsbrücke –<br />

zwischen altem und neuem<br />

Ghetto. Im ersten sogenannten<br />

Ghetto mussten<br />

ab 1516 alle Juden Venedigs<br />

Zwangsquartier nehmen.<br />

„[…] das Ghetto<br />

zu Venedig<br />

ist ,ein Tor zu<br />

dem, was gut<br />

ist, und zu dem,<br />

was böse ist, zu<br />

dem, was erinnert<br />

wird und<br />

was oft vergessen<br />

wird‘.“<br />

Marjorie Agosin<br />

© Naftali Hilger / laif / picturedesk.com<br />

28 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 28 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Fluides Erinnerungspanorama<br />

© Naftali Hilger / laif / picturedesk.com<br />

der Scola Grande Tedesca, der prachtvollen<br />

Scola Canton, der noch prächtigeren<br />

Scola Spagnola im Ghetto Vecchio, wurde<br />

dieser Ausdruck geprägt, der mittlerweile<br />

für viele abgelöst ist vom Ursprungs- und<br />

Ausgangsort. Elvis Presley sang 1969 „In<br />

the ghetto“; und Ghettoisierung ist zum<br />

freischwebenden urbanistischen Schlagwort<br />

geworden.<br />

Am 29. März 1516 hatte inmitten wieder<br />

einmal aufbrandender antijüdischer<br />

Stimmung der Senat der Stadt ein einschneidendes<br />

Dekret verkündet. Demzufolge<br />

mussten alle jüdischen Bewohner<br />

der Stadt Zwangsquartier in einem eingegrenzten,<br />

dezidiert abgesonderten und<br />

winzigen Gebiet nehmen, einer recht jämmerlichen<br />

Insel im Norden von Cannaregio.<br />

Dessen lokaler Name leitete sich von<br />

einer nahen Gießerei ab, von „geto“, auf<br />

Deutsch „Guss“.<br />

Auch wenn es da schon separierte Judenviertel,<br />

besser: Gassen, in Speyer<br />

gab, seit etwa dem 11. Jahrhundert, und<br />

in Frankfurt am Main seit dem 15. Jahrhundert,<br />

der italienische Name setzte<br />

sich durch. Weltweit. Als Bezeichnung. Als<br />

Brandmarkung. 1797 erst wurde Venedigs<br />

Ghetto geöffnet. Bis heute ist es Kristallisations-<br />

und Kernpunkt jüdischer Identität<br />

und jüdischen Lebens – inklusive des<br />

für viele kulinarisch Interessierte obligatorischen<br />

Besuchs des koscheren Restaurants<br />

Gam Gam.<br />

The Venice Ghetto, ein Band mit klugen<br />

Aufsätzen, der zurückgeht auf ein internationales<br />

Symposion von Wissenschaftlerinnen<br />

und Wissenschaftler anno 2016, dem<br />

500. Jahrestag, beugt sich nun anregend,<br />

gelehrt und klug über unterschiedliche<br />

Aspekte, von den sozialen und wirtschaftlichen<br />

Dimensionen jüdischen öffentlichen<br />

Lebens (und Zusammenlebens mit<br />

der christlichen Stadtrepublik mit ihren<br />

Entfaltungshöhepunkten wie dem im 18.<br />

Jahrhundert einsetzenden Dämmer) zu<br />

Archiven und dem Ghetto als Archiv per<br />

se, hebräischen Büchern und den Archetypen,<br />

die sich über 500 Jahre perpetuiert<br />

haben. Es geht auch um Shakespeare – und<br />

die sehr oft und viel zu leicht ignorierte<br />

Basisfrage: Wieso eigentlich spielt dessen<br />

Kaufmann von Venedig überhaupt in Venedig?<br />

– und um Primo Levi. Es geht um die<br />

Zukunft der Erinnerung wie um den sechzehnminütigen<br />

Film El Hara von Margaux<br />

Fitoussi und Mo Scarpelli, der um Segregation,<br />

Festungswohnen und das einstige<br />

jüdische Ghetto von Tunis kreist, in dem<br />

der jüdische Intellektuelle und Soziologe<br />

Albert Memmi zur Welt kam.<br />

Memoria, Mythos, Parabel, Metapher.<br />

Geografisch exakt bestimmbarer Raum<br />

und fluides Erinnerungspanorama. Oder<br />

wie es die Dichterin Marjorie Agosin ausdrückte,<br />

das Ghetto zu Venedig ist „ein Tor<br />

zu dem, was gut ist, und zu dem, was böse<br />

ist, zu dem, was erinnert wird und was<br />

oft vergessen wird. Ein Portal der Auslöschung<br />

und des In-sich-Behaltens.“ Nicht<br />

nur ein Tor oder Portal. Auch und recht ein<br />

Spiegel, der Verwerfungen zeigt, Entwicklung<br />

und Verstörung, Verachtung und,<br />

auch das, Klugheit und Bildung reflektiert.<br />

Der Historiker James E. Young schreibt<br />

in seinem Einleitungsessay schön: „Die<br />

Wasserkante ist auch die Stadtkante, aber<br />

natürlich ist diese ‚Kante‘ keine fixierte,<br />

unverrückbare Linie, es ist auch nicht<br />

die faktische Begrenzung von Land hier<br />

oder Wasser dort, sondern die permanent<br />

schwappend schmirgelnde, wogende, sich<br />

zurückziehende und daher vergängliche<br />

Linie zwischen ihnen.“<br />

wına-magazin.at<br />

29<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 29 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Verschwundene Welt<br />

WAS VILLEN ERZÄHLEN<br />

Vor wenigen Wochen wurde<br />

die aktuelle Schau im Kaiserhaus<br />

Baden, Sehnsucht nach Baden.<br />

Jüdische Häuser erzählen<br />

Geschichte(n), eröffnet. Die von<br />

Marie-Theres Arnbom kuratierte<br />

Ausstellung liefert dokumenten-<br />

und facettenreich<br />

vielfach bislang unbekannte<br />

Einblicke in die zum Teil bis<br />

heute noch bestehenden, zum<br />

Teil auch zerstörten und aus<br />

dem Stadtbild verschwundenen<br />

Villen der einst jüdischen<br />

Bewohner:innen. WINA hat die<br />

Ausstellung besucht und im<br />

Vorfeld mit der Kuratorin<br />

gesprochen.<br />

Von Angela Heide<br />

Villa Epstein. 1867 von Gustav Epstein<br />

in Auftrag gegeben und vom damals<br />

25-jährigen Otto Wagner geplant, erzählt<br />

Kuratorin Marie-Theres Arnbom.<br />

Kuratorin Marie-Theres Arnbom,<br />

seit diesem Jahr neue<br />

wissenschaftliche Direktorin<br />

des Wiener Theatermuseums,<br />

arbeitet aktuell auch an einem Begleitband<br />

ihrer erfolgreichen Reihe Häuser<br />

mit Geschichte(n), in dem sie eine weit größere<br />

Zahl an Badener Villen und Lebensgeschichten<br />

vorstellen wird. Für die vor wenigen<br />

Wochen eröffnete Ausstellung hat<br />

sich die renommierte Theater- und Musikhistorikerin<br />

auf zehn Villen konzentriert,<br />

jene der Familien Epstein (Rainerweg<br />

1), Heller (Marchetgasse 76), Benbassat<br />

(Christalniggasse 7), Jellinek-Mercedes<br />

(Wienerstraße 41-45), Gallia (Weilburgstraße<br />

20), Gutmann (Helenenstraße 72),<br />

Klinger (Schlossgasse 31), Hahn (Weilburgstraße<br />

81-85) sowie der befreundeten Familien<br />

Bienenfeld (Radetzkystraße 4) und<br />

Rothberger (Radetzkystraße 10).<br />

Viele der Villen sind bis heute erhalten,<br />

manche auch gänzlich zerstört worden.<br />

Sie erzählen von ihren Besitzer:innen<br />

und Erbauer:innen, von Aufstieg und Verfolgung,<br />

von gewachsenen Imperien, die<br />

weit über die niederösterreichische Kaiserstadt<br />

hinausführten, Emigration und<br />

das oft dramatische Ende schillernder Dynastien.<br />

„Mir ist immer wichtig zu erzählen,<br />

was die Menschen geleistet haben, was<br />

sie auch beigetragen haben für eine Stadt,<br />

für die Gesellschaft“, betont Arnbom dabei<br />

ihren Ansatz, immer wieder auch<br />

anekdotenreich über ihre Forschungen zu<br />

erzählen, auch wenn sie hinzufügt: „Das<br />

schreckliche Ende muss man sehr wohl<br />

auch erzählen, aber ich will diese Familien<br />

nicht darauf reduzieren, sondern zeigen,<br />

was wir ihnen verdanken.“<br />

Dokumentenbasiertes Konzept. Anhand des<br />

vorhandenen Materials hat Arnbom eine<br />

zwischen Originalen und Reproduktionen<br />

fein dosierte Schau gestaltet. Im ersten<br />

Raum wird etwa die stadträumliche<br />

Aufteilung der vorgestellten Villen mit einem<br />

schlichten Plan vorgestellt, während<br />

auf den geschlossenen Fenstern aller Ausstellungsräume<br />

des Badener Kaiserhauses<br />

Videostills zur aktuellen Situation der<br />

Orte zu sehen sind. Die Ausstellung fokussiert<br />

auf die einstigen Bewohner der<br />

jeweiligen Villen, die in kurzen Biografien<br />

vorgestellt werden. Gezeigt werden<br />

Familienporträts, Pläne und Fotografien,<br />

die versammelten Originale weisen eine<br />

große Bandbreite auf und reichen von einem<br />

verzierten Bösendorfer-Klavier, das<br />

sich einst in Besitz der Familie Gutmann<br />

befand, bis zu historischen Zuckerl-Prospekten<br />

und -dosen der Familie Heller.<br />

Die älteste Villa, die in der Schau vorgestellt<br />

wird, wird 1867 von Gustav Epstein<br />

in Auftrag gegeben und vom damals<br />

25-jährigen Otto Wagner geplant.<br />

Bereits 1873 verliert der Wiener Bankier<br />

im Zuge des Börsenkrachs sein Vermögen<br />

© Cedrick Kollerics; Rollettmuseum Baden; Rollettmuseum Baden/ Thomas Magyar; Stadtarchiv Baden; Rollettmuseum Baden<br />

Villa Gutmann. Bleistiftzeichnung von<br />

Gustav Schwartz von Mohrenstern, um 1885.<br />

Villa Gutmann um 1885<br />

(unbekannter Künstler).<br />

30 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 30 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Reiche Materialsammlung<br />

© Cedrick Kollerics; Rollettmuseum Baden; Rollettmuseum Baden/ Thomas Magyar; Stadtarchiv Baden; Rollettmuseum Baden<br />

steigerung entdeckt wurde<br />

und nun wieder zurück<br />

nach Baden gefunden hat.<br />

Und auch das wiedergefundene<br />

Klavier, das zuletzt in<br />

einem Wiener Wintergarten<br />

nahezu vergessen wurde,<br />

gehört zu ihren wunderbaren<br />

Funden, freut sich die<br />

Historikerin: „Es hat gerufen,<br />

bitte nimm mich mit<br />

und bring mich dahin, wo<br />

ich hingehöre.“<br />

Zu den weiteren Entdeckungen<br />

gehört ein Versteigerungskatalog<br />

aus dem<br />

Jahr 1937, dessen umfangreiches<br />

Fotomaterial Einblicke<br />

in das damalige Interieur<br />

der Villa der Familie Benbassat bietet.<br />

Im Falle dieser Villa zeigt die Schau auch<br />

Grund- und Aufrisse sowie Familienfotos,<br />

die ein Nachkomme der Familie erstmals<br />

zur Verfügung stellt.<br />

Letzte Spuren. 1884 kauft Heinrich Klinger<br />

(1832–1905), damals einflussreicher Präsident<br />

der israelitischen Kultusgemeinde<br />

in Wien, gemeinsam mit seiner Frau Charlotte<br />

eine bereits bestehende ältere Villa in<br />

Baden, die die Familie auch über den Tod<br />

Heinrichs hinaus für die Sommerfrische<br />

nutzt. Heinrichs Sohn Norbert, der die<br />

Schwester des Komponisten Oscar Straus’,<br />

Seraphine, heiratet, stirbt 1941 in jenem<br />

Wiener israelitischen Spital, das sein Vater<br />

einst wesentlich unterstützt hat, Seraphine<br />

1943 im KZ Theresienstadt. Heute<br />

„Mir ist immer<br />

wichtig zu erzählen,<br />

was<br />

die Menschen<br />

geleistet haben,<br />

was sie auch<br />

beigetragen<br />

haben für eine<br />

Stadt, für die<br />

Gesellschaft.“<br />

Marie-Theres Arnbom<br />

und muss seine Villa an Erzherzog Rainer<br />

verkaufen.<br />

Wilhelm Gutmann, der als „Kohlen-<br />

Gutmann“ ein Vertriebssystem in Wien<br />

aufbaut, das, erzählt Arnbom, „den Energiemarkt<br />

revolutioniert“, gehört gemeinsam<br />

mit seinem Bruder David neben Epstein<br />

zu den wichtigsten Industriellen<br />

und Mäzenen im Wien der Gründerzeit.<br />

Die Brüder Gutmann lassen die Poliklinik<br />

erbauen sowie Häuser für Arbeiter:innen<br />

und Angestellte und unterstützen jüdische<br />

Wohlfahrtseinrichtungen. 1882–<br />

1884 lässt Wilhelm für seine Frau Ida in<br />

Baden eine Villa vom prominenten Architekten<br />

Alexander Wielemans planen.<br />

Bald darauf kauft auch David eine – heute<br />

ebenfalls nicht mehr erhaltene – Villa in<br />

der Nähe seines Bruders. Wilhelms „Villa<br />

Ida“, einer der spektakulärsten späthistoristischen<br />

Bauten der Stadt, ist eine weitläufige<br />

Anlage, zu der ein zeittypisches „Salettl“,<br />

aber auch eine Kegelbahn gehören.<br />

Wilhelm stirbt 1895, Ida 1924 und hinterlässt<br />

die Villa ihrem Enkel Rudolf. Dieser<br />

kann zwar vor der Verfolgung durch das<br />

NS-Regime fliehen, das Gebäude wird jedoch<br />

von der „Gauselbstverwaltung des<br />

Reichsgaus Niederdonau“ „arisiert“. 1948<br />

erhält Rudolf das Haus zurück, wie viele<br />

andere Überlebende verkauft aber auch er<br />

den Besitz Mitte der 1950er-Jahre. In der<br />

Ausstellung ist ein Gemälde zu sehen, das<br />

durch Zufall bei einer internationalen Verfinden<br />

sich an der Stelle<br />

der einstigen Badener Villa<br />

Garagen. „Ich bin unzählige<br />

Male hierhergekommen<br />

und habe die Villa gesucht“,<br />

verrät Arnbom, bis<br />

sie endlich an den „völlig<br />

verschandelten“ Resten<br />

des ehemaligen Gebäudes,<br />

die in den Bau der Garagen<br />

intergiert wurden, dessen<br />

Spuren erkennen konnte.<br />

Die Geschichte des Hauses<br />

konnte erst in den letzten<br />

zwei Jahren sowohl von<br />

der Stadt Baden selbst wie<br />

nun mit wichtigen neuen<br />

Erkenntnissen von Arnbom<br />

aufgearbeitet und<br />

dokumentiert werden. „Diese Villa ist ein<br />

gutes Beispiel, wie unterschiedliche Forschungsvorhaben<br />

produktiv zusammengeführt<br />

werden können“, freut sich Arnbom<br />

über das nun zusammengetragene<br />

Material zur Geschichte dieses aus dem<br />

Stadtbild verschwundenen Hauses.<br />

Ebenfalls ab 1884 ist auch Emil Jellinek-<br />

Mercedes, der es als Handels- und Versicherungsvertreter<br />

in Algerien zu beachtlichem<br />

Wohlstand bringt, in seiner neuen<br />

Badener Villa zuhause, die er Jahr um Jahr<br />

vergrößert, bis sie zu einem Anwesen mit<br />

50 Räumen angewachsen ist. Jellinek vertreibt<br />

in Österreich Daimler-Fahrzeuge<br />

und lässt später ein Fahrzeug konstruieren,<br />

das es nach seiner 1889 in Baden geborenen<br />

Tochter benennt: Mercedes. Emil<br />

Jellinek stirbt 1918, sein Sohn Raoul, nur<br />

Villen in der Marchetstraße<br />

(früher Bergstraße), um 1850.<br />

Villa Jellinek-Mercedes,<br />

Wienerstraße 41–43, nach 1945.<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 31 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Einprägsame Familienporträts<br />

ein Jahr älter als seine Schwester, nimmt<br />

sich Anfang 1939 nach einem Verhör durch<br />

die Gestapo in der Badener Familienvilla<br />

das Leben. 1945 geht diese beim Einmarsch<br />

der russischen Truppen „in Flammen<br />

auf“, schließt Arnbom die Geschichte<br />

zu einer der einst imposantesten Villen der<br />

Stadt. „Das Einzige, was erhalten ist, sowohl<br />

in Baden wie von der anderen Villa<br />

der Familie in Nizza, sind die Garagen – ein<br />

sonderbarer Zufall für eine Familie, die vor<br />

allem für ihre Nähe zur Autoindustrie in<br />

die Geschichte eingegangen ist.“ Eine weitere<br />

besondere Freude: Die umfangreiche<br />

Partiturensammlung Raouls, die vor Kurzem<br />

in Essen entdeckt wurde, kam im Zuge<br />

der Ausstellungsvorbereitung wieder zurück<br />

nach Österreich.<br />

Auch Adolf Gallia, einer der damals<br />

bekanntesten Patentanwälte Wiens, kauft<br />

um die Jahrhundertwende eine Villa in Baden,<br />

die er vom vor allem für seine Synagogenbauten<br />

bekannten Architekten Jakob<br />

Gartner gestalten lässt. Nach dem Tod<br />

Adolfs 1925 und wenige Jahre später seiner<br />

Frau wird das erbenlose Haus an den<br />

Weingroßhändler Hugo Glattauer und dessen<br />

Frau Elsa verkauft. Das Paar muss aufgrund<br />

seiner jüdischen Herkunft 1938 fliehen,<br />

kann jedoch aus dem australischen<br />

Exil die Villa 1945 zurückerhalten. 1954<br />

verkauft Glattauer seine Badener Villa –<br />

sie wird abgerissen und durch eine Wohnhausanlage<br />

ersetzt. Die Wiener und Badener<br />

Möbel der Familie hatten es jedoch<br />

auf schier unglaubliche Weise ebenfalls<br />

nach Australien geschafft.<br />

Andere Besitzer, wie das Ehepaar Weintraub,<br />

das 1927 die Villa Bienenfeld ersteht,<br />

werden 1944 in Buchenwald (Josef) und Ravensbrück<br />

(Jana Weintraub) ermordet; deren<br />

überlebende Tochter verkauft den Familiensitz<br />

Ende der Fünfzigerjahre. Auch<br />

Rudolf Bienenfelds enger Freund Moriz<br />

Rothberger verliert 1939 seine Badener<br />

Villa, er stirbt 1944 im jüdischen Altersheim<br />

in der Malzgasse; seine Erbin erhält<br />

den Familiensitz zwar nach Kriegsende zurück,<br />

verkauft ihn aber ebenfalls später.<br />

Die von Otto Wagner errichtete Badener<br />

Villa des Bankiers Samuel Ritter von Hahn<br />

INFOKASTEN<br />

Sehnsucht nach Baden – Jüdische<br />

Häuser erzählen Geschichte(n)<br />

bis 6. November 20<strong>22</strong><br />

Kaiserhaus Baden, Hauptplatz 17, 2500 Baden<br />

Di.–So. u. an Feiertagen, 10–18 Uhr<br />

kaiserhaus-baden.at<br />

kann 1938 hingegen von Hahns Tochter<br />

Margarethe vor der „Arisierung“ gerettet<br />

werden, indem sie das Anwesen ihrem<br />

nicht-jüdischen Mann Paul Aulegk überträgt.<br />

Nur Teile sind heute noch erhalten.<br />

Arnbom gelingt es, anhand kurzer, informativer<br />

Familienporträts die Geschichten<br />

der vorgestellten Villen von ihrer Erbauung<br />

bis 1938 vorzustellen; in wenigen<br />

ausgewählten Fällen erzählt sie auch in einem<br />

abschließenden Raum die Nachgeschichten<br />

der Häuser bis in deren jüngste<br />

Vergangenheit. So kaufte 1938 der Komponist<br />

Heinrich Strecker den Familiensitz<br />

der Familie Heller. Der Vergleich, den es<br />

gegeben haben mag, ist heute ebenso verschwunden<br />

wie Teile des Arisierungsaktes,<br />

berichtet Arnbom. „Es wäre eine wichtige<br />

Aufgabe, diesen Fall zu dokumentieren“, ist<br />

sich die Kulturhistorikerin sicher.<br />

Architektonisch führen die Villen von<br />

Gründerzeit und Historismus bis zu Jugendstil<br />

und frühe Moderne. Die dank akribischer<br />

Recherchen und vor allem des<br />

großen gewachsenen Netzwerks von Marie-Theres<br />

Arnbom zusammengestellten<br />

Daten und Objekte geben einen weiteren<br />

faszinierenden Einblick in die verschwundene<br />

jüdische Welt des Wiener Großbürgertums<br />

vor 1938.<br />

Sie haben<br />

Fragen an das<br />

Bundeskanzleramt?<br />

service@bka.gv.at<br />

0800 <strong>22</strong>2 666<br />

Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />

(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />

+43 1 531 15 -204274<br />

Bundeskanzleramt<br />

Ballhausplatz 1<br />

1010 Wien<br />

ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />

32 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />

auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />

bundeskanzleramt.gv.at<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 32 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Thema<br />

ROTHSCHILDS URWALD<br />

In Niederösterreich befindet sich im Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal<br />

der letzte nennenswerte Urwaldrest Österreichs:<br />

der Rothwald. In das rund 400 Hektar große Waldareal<br />

wurde seit der letzten Eiszeit nicht vom Menschen eingegriffen.<br />

Zu verdanken ist dieses einmalige heutige Forschungsobjekt<br />

vor allem Albert Rothschild (1844–1911), der den Wald<br />

(und auch umliegende Areale, die im Gegensatz bereits zur<br />

Holzgewinnung genutzt wurden) 1875 kaufte und verfügte,<br />

dass er nicht angetastet wird.<br />

Von Alexia Weiss<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 33 07.06.<strong>22</strong> 13:52


UNESCO-Weltnaturerbe<br />

Das Urwaldareal bietet der Forschung<br />

vielfältige Chancen, das Potenzial von<br />

Wäldern zur Bekämpfung des Klimawandels<br />

oder als CO 2<br />

-Speicher zu untersuchen.<br />

Der Rothwald hieß übrigens schon<br />

Rothwald, bevor Albert Rothschild<br />

ihn erwarb. Hier handelt es sich<br />

also bloß um eine Namenskoinzidenz. Dass<br />

Rothschild entschied, dass der Wald so unberührt<br />

bleiben sollte, wie er ihn vorfand,<br />

war dagegen ganz und gar kein Zufall. „Albert<br />

Rothschild war aber kein Naturschützer,<br />

so wie wir uns das heute vorstellen“,<br />

sagt Christoph Leditznig, Geschäftsführer<br />

der Schutzgebietsverwaltung Wildnisgebiet<br />

Dürrenstein-Lassingtal, im Gespräch<br />

mit WINA. „Er hat das Gebiet zwar jagdlich<br />

genutzt. Aber er war ein Naturromantiker<br />

und hat erkannt, dass dieser Wald etwas<br />

Besonderes ist. Er hat daher seinen Forstleuten<br />

verboten, den Wald zu nutzen. Da-<br />

mit hat er eine Naturschutzgroßtat vollbracht.“<br />

Rothschild stieß dabei bei seinen Zeitgenossen<br />

– Forscher und seine eigenen<br />

Forstleute inkludiert – auf Unverständnis.<br />

Ein Professor der Forstakademie Marienbrunn,<br />

der Vorläuferinstitution der Universität<br />

für Bodenkultur, hielt dazu anlässlich<br />

einer Exkursion mit Studenten in<br />

das Waldstück fest: „[...] nicht ungezügelte<br />

Üppigkeit in ungeschwächter Urkraft, eingehüllt<br />

in rauschende Duftfülle, romantischer<br />

Gestaltenreichtum und Lebensfrische,<br />

sondern Leichenhof, gebrochene<br />

Kraft, Verfall und Modergeruch, Verkommenheit,<br />

wie überall dort, wo die ordnende<br />

Hand des Menschen nicht hinkommt.“<br />

Der Zeitgeist tickte anders als Rothschild:<br />

Der Mensch sollte sich die Erde<br />

untertan machen, ordnend eingreifen,<br />

vor allem aber die massiven Holzmengen<br />

nutzen. Naturwälder galten als unzivilisiert.<br />

Der Wald hatte die Jahrhunderte<br />

zuvor trotz wechselnder Besitzer vor allem<br />

deshalb unbeschadet überstanden,<br />

da es auf Grund der Geländemorphologie<br />

schwierig war, das Holz aus dem Wald hinauszutransportieren.<br />

Doch in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre dies<br />

kein unüberwindbares Problem mehr gewesen<br />

– man sei da schon entsprechend<br />

technisch gerüstet gewesen und hätte das<br />

Holz mittels Pferdeeisenbahn aus dem Gebiet<br />

abtransportieren können. „Dass man<br />

diese Möglichkeit nicht nutzte, war für die<br />

Forstleute einfach unverständlich“, erläutert<br />

Leditznig.<br />

Dafür bietet das Urwaldareal heute der<br />

Forschung vielfältige Chancen, das Potenzial<br />

von Wäldern zur Bekämpfung des<br />

Klimawandels oder als CO 2<br />

-Speicher zu<br />

untersuchen. In herkömmlichen Forstgebieten<br />

werden die gesetzten Bäume nach<br />

80 bis 120 Jahren geschlägert. Sie liefern<br />

dann einen Festmeter Holz. Die Buchen,<br />

Tannen, Fichten des Rothwalds werden<br />

600 bis 700 Jahre, manche sogar bis zu<br />

1.000 Jahre alt und teils über 60 Meter<br />

hoch. Würde man sie dann zur Holzgewinnung<br />

nutzen, brächten speziell Tannen 30<br />

bis 40 Festmeter Holz pro Baum.<br />

© Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />

34 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 34 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Thema<br />

© Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />

Wenn so ein Baum absterbe,<br />

könne er noch an<br />

die 100 Jahre stehen, irgendwann<br />

komme er zum<br />

Liegen: Im scheinbar toten<br />

Holz nisten sich Tiere ein,<br />

zum Beispiel große Käferarten<br />

wie der Alpenbock oder<br />

der Scharlachrote Plattkäfer.<br />

Gleichzeitig siedeln sich<br />

Pilze an wie der Duftende<br />

Feuerschwamm. Das Totholz<br />

hat mehrere wichtige Eigenschaften: Einerseits<br />

bindet es CO 2<br />

, andererseits wirkt<br />

es bei Niederschlägen wie ein Schwamm<br />

und beugt so auch Überschwemmungen<br />

vor, erklärt Leditznig. Durch die Tiere, die<br />

sich auf ihm einnisten, wird es in einem<br />

Zeitraum von rund 300 Jahren nach und<br />

nach zersetzt, bis es in Humus umgewandelt<br />

wurde, der Teil des Waldbodens ist<br />

und auf dem neue Bäume wachsen können.<br />

Aber auch dieser gesunde Waldboden<br />

könne viel CO 2<br />

speichern.<br />

Verwildern lassen. Klimarelevant könnte es<br />

daher sein, mehr Waldareale nicht mehr<br />

für die Holzgewinnung zu nutzen, sondern<br />

sich selbst zu überlassen, also verwildern<br />

zu lassen. Wobei Leditznig zu bedenken<br />

gibt, dass es auch im Fall der Holznutzung<br />

bessere und schlechtere Verwertungsmöglichkeiten<br />

gibt. Werden etwa Häuser<br />

aus Holz ge<strong>fertig</strong>t, bindet auch dieses Holz<br />

„Aber er [Albert<br />

Rothschild]<br />

war ein<br />

Naturromantiker<br />

und hat<br />

erkannt, dass<br />

dieser Wald<br />

etwas Besonderes<br />

ist. […]<br />

Damit hat er<br />

eine Naturschutzgroßtat<br />

vollbracht.“<br />

Christoph Leditznig<br />

CO 2<br />

. Wird allerdings Karton<br />

oder Papier produziert,<br />

werde das CO 2<br />

nach<br />

kurzer Zeit wieder freigesetzt.<br />

Ratsam wäre daher<br />

eine Mischung: einerseits<br />

Wälder der Wildnis<br />

zu überlassen, andererseits<br />

Holz sinnvoll zu verarbeiten.<br />

Leditznig erzählt allerdings<br />

auch von weiteren<br />

interessanten Beobachtungen, etwa, dass<br />

Bäume – im Rothwald sind dies vor allem<br />

Buchen, Fichten und Tannen – miteinander<br />

kommunizieren. Wird ein Baum etwa<br />

vom Borkenkäfer befallen, sendet er über<br />

die Luft Terpene, also Botenstoffe, die Bestandteil<br />

ätherischer Öle sind, aus. Bringt<br />

der Wind die Botenstoffe zu anderen Bäumen,<br />

produzieren diese mehr Harz, in<br />

diesem ersticken die sich in die Rinde einbohrenden<br />

Borkenkäfer dann.<br />

Kommunizieren könnten Bäume aber<br />

auch über die Pilze, die sich mit den<br />

Baumwurzeln verbinden würden. Sie<br />

helfen auch den jüngeren und kleineren<br />

Bäumen, mit Nährstoffen versorgt zu werden.<br />

Photosynthese funktioniere nämlich<br />

für die kleineren Bäumen mangels Licht<br />

im dichten Wald nicht in ausreichendem<br />

Maße. Über die großen Bäume würden<br />

sie aber ausreichend mit Zucker versorgt.<br />

Sterbe ein großer Baum neben einem klei-<br />

neren ab, schaffe es der kleinere nach und<br />

nach, sich über Licht und Photosynthese<br />

selbst zu ernähren. „Wir sind hier erst am<br />

Anfang zu erkennen, was sich da wirklich<br />

abspielt. Manche in der Fachwelt zweifeln<br />

noch heute.“<br />

Worum man sich ebenfalls bemühe:<br />

die Biodiversität im Rothwald – darunter<br />

Tierarten, vor allem Insektenarten, die<br />

nirgends sonst mehr vorkommen –, zu<br />

dokumentieren, aber auch zu erhalten.<br />

In 99,99 Prozent des europäischen Waldes<br />

habe der Mensch in der Vergangenheit<br />

eingegriffen, weiß Leditznig. Auch<br />

das macht nachvollziehbar, um welche<br />

Kostbarkeit es sich beim Rothwald handelt.<br />

Buchenwälder gibt es übrigens nur<br />

in Europa – der Urwald in Niederösterreich<br />

habe daher auch diesbezüglich Seltenheitswert.<br />

Die Familie Rothschild blieb übrigens<br />

bis vor wenigen Jahren Eigentümerin des<br />

Urwaldfleckchens in den Alpen. Im Nationalsozialismus<br />

wurde der Besitz „arisiert“<br />

und 1942 offiziell unter Naturschutz gestellt,<br />

nach 1945 dann aber wieder restituiert.<br />

2017 wurde der Rothwald gemeinsam<br />

mit Teilen des Nationalparks Kalkalpen<br />

zum UNESCO-Weltnaturerbe erhoben.<br />

Inzwischen gehört der Rothwald zur<br />

Prinzhorn Group. Sie darf wegen der Unter-Schutz-Stellung<br />

den Wald allerdings<br />

nicht nutzen, dafür gab es eine Entschädigung<br />

durch die öffentliche Hand.<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 35 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Sprachliche Qualifikation<br />

Das JBBZ hat den neu Angekommenen aus der Ukraine<br />

angeboten, einen Fragebogen zu ihren Qualifikationen<br />

und ihrer Berufserfahrung auszufüllen.<br />

Am Deutschlernen<br />

führt kein Weg vorbei<br />

Geflüchteten aus der Ukraine<br />

steht mit der blauen<br />

Karte zwar der Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt offen.<br />

Ohne Deutschkenntnisse<br />

ist es aber schwierig, einen<br />

Job zu finden. Im Jüdischen<br />

Beruflichen Bildungszentrum<br />

(JBBZ)<br />

haben an den beiden<br />

Standorten in der Adalbert-Stifter-Straße<br />

und in<br />

der Gredlerstraße bereits<br />

89 Männer und Frauen einen<br />

der inzwischen sechs<br />

angebotenen Deutschkurse<br />

begonnen.<br />

Text: Alexia Weiss,<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

Ein Vormittag in der zweiten Maiwoche<br />

am JBBZ in Wien-Brigittenau:<br />

„Woher kommen Sie?“, fragt<br />

Yilmaz Duman eine Kursteilnehmerin.<br />

„Ich bin Ukrainerin“, antwortet<br />

sie. „Ich spreche Ukrainisch und Russisch.“<br />

Eine andere Frau sagt: „Ich spreche<br />

Ukrainisch, Russisch, Englisch und klein<br />

Schwedisch.“ „Ein wenig Schwedisch“,<br />

korrigiert sie der Deutschtrainer.<br />

Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er in<br />

dem Beruf, erzählt er WINA, er hat Tschetschenen<br />

unterrichtet, Afghanen, Syrer,<br />

Somalis. Nun ist er positiv überrascht.<br />

Die Gruppe ist erst in ihrer zweiten Lernwoche.<br />

„Sie sind kognitiv gut unterwegs.<br />

Sie sind gebildet und lernen schnell. Man<br />

merkt, dass das gut qualifizierte Leute<br />

sind.“ Yilmaz freut besonders, dass es<br />

mit dieser Gruppe bisher zu keinen Konfliktsituationen<br />

kam. „Sie sind respektvoll,<br />

aufnahmefähig und motiviert. Sie<br />

machen die Übungen, fragen nach, arbeiten<br />

mit.“<br />

JBBZ-Geschäftsführer Markus Meyer<br />

betont, man habe versucht, die schnellstmögliche<br />

Kursvariante anzubieten. Der Österreichische<br />

Integrationsfonds, der seine<br />

Kurse an verschiedensten Standorten abhalte,<br />

biete hier verschiedene Kursdesigns<br />

an. Am JBBZ wird nun ein Sprachniveau gemäß<br />

des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens<br />

für Sprachen – am Anfang ist<br />

es das Level A1 – innerhalb von zwei Monaten<br />

in insgesamt 96 Stunden unterrichtet.<br />

Halten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen<br />

das rasche Lerntempo durch, könnten<br />

sie bereits im Winter 2023 das Sprachlevel<br />

B2 erreichen. Das entspreche einer fortgeschrittenen,<br />

selbstständigen Sprachverwendung.<br />

Das sei ein ambitionierter Plan. Ein Plan<br />

allerdings, an dem kein Weg vorbeigeht:<br />

Das JBBZ hat den Neuangekommenen aus<br />

der Ukraine angeboten, einen Fragebogen<br />

zu ihren Qualifikationen und ihrer Berufserfahrung<br />

auszufüllen. Wer über entsprechende<br />

Dokumente verfügt, kann diese<br />

ebenfalls vorlegen, um so zu überprüfen,<br />

was für eine Nostrifizierung nötig ist. 272<br />

Personen haben bis Mitte Mai von diesem<br />

Angebot Gebrauch gemacht, davon waren<br />

241 über 18 Jahre alt, 80 Männer. Frauen<br />

sind also klar in der Mehrheit, viele von<br />

36 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 36 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Chancen am Arbeitsmarkt<br />

Nachweise über bereits<br />

absolvierte Ausbildungen<br />

an. Gut 70 Prozent der Personen,<br />

die den Fragebogen<br />

des JBBZ ausfüllten, können<br />

übrigens keine Dokumente,<br />

die ihre Ausbildung belegen, vorweisen.<br />

Wer flüchtet, hat, wie auch frühere<br />

Fluchtbewegungen zeigen, oft keine Möglichkeit<br />

mehr, solche Belege mitzunehmen.<br />

Und selbst wenn jemand zum Beispiel<br />

ein Medizinstudium nachweisen kann,<br />

ist es ein langer Weg, hier auch in diesem<br />

Beruf arbeiten zu können, wie Janker betont.<br />

Hier seien exzellente Deutschkenntnisse<br />

unabdingbar, und auch der Nostrifizierungsprozess<br />

nehme einige Zeit in<br />

Anspruch.<br />

Yaacov Frenkel, der den Standort Gredlerstraße<br />

leitet, wo aktuell zwei der sechs<br />

Deutschkurse abgehalten werden, die sich<br />

an jene Geflüchteten richten, die traditionell<br />

leben, erzählt von einem Urologen und<br />

einer Pharmazeutin. Für beide wünscht er<br />

sich, dass sie möglichst rasch auch in Österreich<br />

in ihrem Beruf arbeiten können.<br />

Dafür gilt es aber, das Deutschniveau C1 zu<br />

erreichen.<br />

Mögliche Tätigkeitsfelder seien jedoch<br />

eher jeweils in Hilfsberufen zu finden, erläutert<br />

Janker. Für einen Koch oder eine<br />

Köchin beispielsweise sei eine Anstellung<br />

als Küchenhilfskraft auch mit geringeren<br />

Deutschkenntnissen möglich. Allerdings<br />

sei eine solche Tätigkeit dann auch immer<br />

mit wesentlich weniger Einkommen verbunden,<br />

gibt sie zu bedenken.<br />

Meyer unterstreicht daher auch die<br />

Wichtigkeit einer guten sprachlichen Quaihnen<br />

haben kleine Kinder und damit Betreuungspflichten.<br />

Einige wenige konnten bereits auf<br />

Grund ihrer Qualifikationen am Arbeitsmarkt<br />

Fuß fassen, erzählt Rebecca Janker,<br />

die pädagogische Leiterin des JBBZ. Dazu<br />

gehören Lehrerinnen, die als muttersprachliche<br />

Lehrkraft arbeiten, sowie ein<br />

Geiger, der bereits auf freiberuflicher Basis<br />

Engagements ergattern konnte. Ärzte,<br />

Ärztinnen sowie Pflegekräfte befinden sich<br />

noch im Bewerbungsprozess, ebenso ein<br />

Ingenieur. Eine Finanzfachkraft habe in einem<br />

internationalen Bereich einer großen<br />

Bank einen Job ergattert. Hier sei es ausreichend,<br />

Englisch zu sprechen. Eine erfolgreiche<br />

Vermittlung scheitere aber eben<br />

meist an den fehlenden Deutschkenntnissen,<br />

weiß Janker.<br />

Das JBBZ sei jedenfalls bei der Betreuung<br />

von ukrainischen Menschen in engem Austausch<br />

mit dem Arbeitsmarktservice (AMS)<br />

Wien, betont Meyer. Von diesem wurden<br />

so genannte Beratungs- und Betreuungseinrichtungen<br />

damit beauftragt, bei der<br />

Vermittlung in Dienstverhältnisse am ersten<br />

Arbeitsmarkt zu unterstützen. Die zumeist<br />

sehr gut qualifizierten Menschen aus<br />

der Ukraine benötigen als formale Voraussetzungen<br />

für die erfolgreiche Vermittlung<br />

die blaue Karte, die Geflüchtete nach ihrer<br />

Registrierung erhalten, sowie eine Sozialversicherungsnummer<br />

(E-Card oder Ersatzbeleg)<br />

und die Beschäftigungsbewilligung,<br />

um die der zukünftige Arbeitgeber<br />

beim AMS ansuchen muss.<br />

Mögliche Tätigkeitsfelder. Am JBBZ sieht man<br />

sich die erworbenen Qualifikationen und<br />

„Sie sind respektvoll,<br />

aufnahmefähig<br />

und motiviert.<br />

Sie machen<br />

die Übungen,<br />

fragen nach,<br />

arbeiten mit.“<br />

Yilmaz Duman,<br />

Deutschtrainer<br />

lifikation. Das Gros der nun hier Arbeitssuchenden<br />

seien Frauen mit Kindern. Meist<br />

sei da nur Teilzeitarbeit möglich. Mit Teilzeitarbeit<br />

in einer Hilfstätigkeit komme<br />

man aber kaum auf mehr Geld, als es nun<br />

an staatlichen Unterstützungsleistungen<br />

für die Geflüchteten gibt. Das Verpflegungsgeld<br />

beträgt für eine<br />

erwachsene Person 215 Euro<br />

und für ein Kind 100 Euro<br />

pro Monat plus 300 Euro an<br />

Wohnzuschuss (pro Familie,<br />

nicht pro Person). Die Zuverdienstgrenze<br />

beträgt 110 Euro<br />

(plus 80 Euro für jedes weitere<br />

Familienmitglied). „700<br />

bis 800 Euro muss ich aber<br />

erst einmal verdienen als alleinerziehende<br />

Frau mit einer<br />

Hilfstätigkeit als Teilzeitjob.“<br />

Auch Dezoni Dawaraschwili,<br />

Obmann des JBBZ<br />

und Vizepräsident der IKG<br />

Wien, betont: „Zuerst ist es<br />

einmal wichtig, Deutsch zu<br />

lernen. Ohne Deutsch ist<br />

keine Integration möglich.“<br />

Noch wisse man nicht, ob alle jüdischen<br />

Geflüchteten aus der Ukraine am Ende<br />

auch in Wien bleiben würden. Die Gemeinde<br />

bemühe sich aber, alles zu tun, um<br />

ihnen zu ermöglichen, sich hier eine neue<br />

Existenz aufzubauen.<br />

Die Männer und Frauen verschiedensten<br />

Alters, die am JBBZ Deutsch lernen,<br />

können inzwischen einfache Dialoge führen.<br />

Dadurch, dass sie nicht in Flüchtlingssammelunterkünften,<br />

sondern großteils<br />

bereits in Wohnungen untergebracht<br />

sind, lernen sie auch im Alltag Tag für Tag<br />

ein bisschen mehr Deutsch.<br />

Eine der Kursteilnehmerinnen macht<br />

sich nach Kursende mit der Straßenbahn<br />

auf nach Wien-Floridsdorf, wo sie inzwischen<br />

mit ihren Kindern und ihrer Mutter<br />

wohnt. Auf dem Handy hat sie den Routenplaner<br />

der Wiener Linien eingeschalten,<br />

Station für Station verfolgt sie den Namen<br />

des nächsten Halts, um ja nicht zu spät auszusteigen.<br />

Learning by doing, Tag für Tag.<br />

Was Janker allerdings auch zu bedenken<br />

gibt: Die einen hätten bereits die<br />

Kraft, nun mit dem Lernen zu starten.<br />

Andere seien zu sehr mit der Betreuung<br />

sehr kleiner Kinder oder der Aufarbeitung<br />

von Traumata beschäftigt. Worum<br />

man sich als JBBZ jedenfalls bemühe: allen,<br />

die dies möchten, Sprachunterricht<br />

zu ermöglichen und so die Chancen am<br />

Arbeitsmarkt zu erhöhen.<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 37 07.06.<strong>22</strong> 13:52


WINAERINNERT<br />

Abschied von<br />

der Disco Queen<br />

Anfang Mai starb Régine Zylberberg 92-jährig in der Nähe von<br />

Paris. Die polnische Holocaust-Überlebende hatte einige der elegantesten<br />

Nachtclubs in Europa und den USA gegründet.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Hier galten harte Bekleidungsvorschriften.<br />

Sogar Mick Jagger<br />

wurde in der noblen New<br />

Yorker Diskothek Regine’s am Eingang<br />

abgewiesen, Turnschuhe und fehlende<br />

Krawatte gingen gar nicht. In<br />

den 1970er-Jahren war der Nachtclub<br />

auf der Park Avenue an der 59. Straße der<br />

Ort für die Reichen und Schönen des Big<br />

Apple: Liza Minelli traf man dort und Jack Nicholson,<br />

Peter Falk oder Warren Beatty, das Supermodel<br />

Imam sowie den ehemaligen Außenminister<br />

Henry Kissinger.<br />

Zusammengebracht hatte sie alle Régine Zylberberg. Sie war<br />

als Tochter jüdisch-polnischer Emigranten 1929 in Belgien geboren<br />

worden. Ihre Mutter hatte sie und ihren Vater früh verlassen,<br />

die beiden überlebten die Nazi-Zeit versteckt in einem<br />

französischen Konvent. Nach dem Krieg verkaufte sie Wäsche<br />

als fliegende Händlerin, ihr Vater eröffnete in Paris ein Café.<br />

Eigentlich wollte sie Sängerin werden, aber die Karriere hob<br />

nach einigen Anfangserfolgen nicht wirklich ab. Später sollte<br />

sie sie dann eine einzige Schallplatte herausbringen, eine Cover-Version<br />

von I will survive von Gloria Gaynor.<br />

1957 eröffnete sie in Paris im Quartier Latin ihr erstes Lokal,<br />

Chez Régine. Es war bald beliebt unter Literaten und Prominenten,<br />

gesehen wurden dort etwa Brigitte Bardot, Rudolf Nureyev<br />

oder der Herzog von Windsor, der ehemalige englische<br />

König. Der Erfolg des neuen Modells Disco Style – Platten von<br />

einem DJ aufgelegt statt von einer Live-Band gespielt – ließ sie<br />

bald expandieren: Régine eröffnete weitere Clubs in London,<br />

Monte Carlo oder Los Angeles, es sollten mehr als 20 werden.<br />

„Ich bin diejenige, die die Stadt<br />

vor der Pleite gerettet hat. Ich<br />

habe sie wieder glücklich gemacht.“<br />

Régine Zylberberg<br />

Anfang der 1970er-Jahre übersiedelte<br />

Régine nach New York und wohnte<br />

dauerhaft im Hotel Delmonico. Im selben<br />

Gebäude etablierte sie dann den<br />

Nachtclub, für das Kulinarische war<br />

der Starkoch Michel Guérard verantwortlich.<br />

Später entwarf sie sogar eine<br />

eigene Disco-Bekleidungskollektion, die<br />

bei Bloomingdale’s verkauft wurde. Ein<br />

weiteres elegantes Restaurant in Paris folgte,<br />

schließlich übersiedelte sie mit ihrem zweiten<br />

Ehemann nach Saint-Tropez.<br />

Die New Yorker Edel-Disco bekam allerdings zunehmend<br />

harte Konkurrenz, vor allem das legendäre Studio 54 zog bald<br />

die Reichen und Schönen ab. Andy Warhol gehörte zu denjenigen,<br />

die Regine’s noch länger treu blieben. Anfang der Neunzigerjahre<br />

musste sie endgültig schließen. Doch Régine resümierte<br />

ihre erfolgreichen New Yorker Nächte durchaus<br />

selbstbewusst. In einem Interview mit dem New York Magazine<br />

sagte sie, sie habe „Mund-zu-Mund-Beatmung“ geleistet und<br />

sei „diejenige, die die Stadt vor der Pleite gerettet hat. Ich habe<br />

sie wieder glücklich gemacht.“ Régine starb am 1. Mai 92-jährig<br />

in einem Vorort von Paris.<br />

© Regis Duvignau / Reuters / picturedesk.com<br />

38 wına | März 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 38 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Zeichnen ist Welt<br />

Eine Stéphane-Mandelbaum-Schau<br />

in Frankfurt am Main<br />

Nur 25 Jahre wurde der Belgier Stéphane Mandelbaum.<br />

Er starb 1986. In den zehn Jahren vor seinem<br />

Tod schuf er Hunderte von Porträtzeichnungen.<br />

Und man ist, wie vor einigen Jahren bei einer großen<br />

Retrospektive Jean-Michel Basquiats in der Frankfurter<br />

Schirn Kunsthalle, jetzt im Frankfurter Museum Moderner<br />

Kunst, diesem tortenstückgleichen Haus, wieder mitten<br />

in den Achtzigerjahren, bei Punk, Pop und Subkultur,<br />

die so plötzlich und schnell Mainstream wurden. Mandelbaums<br />

Zeichnungen mit Kugelschreiber, Filzstift und<br />

Bleistift wimmeln, sind übervoll,<br />

schier vollgepresst mit Ein- und<br />

Überfällen, mit Details, Andeutungen<br />

und Gedankenstiftstürmen.<br />

Und von Stéphanes, dem<br />

Sohn eines Künstlers und einer Illustratorin,<br />

vergötterten Genies,<br />

von Rimbaud bis Pasolini. Und<br />

abscheutief gehassten „Persönlichkeiten“:<br />

Er zeichnete auch Nazis<br />

und koppelte dies mit Pornografie.<br />

Aufschlussreich ist auch<br />

die Information, dass Mandelbaum<br />

Legastheniker war. Mühsamer<br />

als andere musste er sich die<br />

Welt zusammenbuchstabieren.<br />

Dafür wurde sie ihm Zeichen, Ornament,<br />

Element. Diese wichtige<br />

Schau ist erst die dritte Ausstellung<br />

seit seinem Tod. A.K.<br />

STÉPHANE MANDELBAUM<br />

Museum für Moderne Kunst<br />

Frankfurt am Main<br />

bis 30. Oktober 20<strong>22</strong><br />

mmk.art./de<br />

Stéphane Mandelbaum:<br />

Bacon et frise (1982), Sammlung<br />

Paula Hauser, Brüssel.<br />

Eine Leuchtreklame des<br />

Capitel Jewish Museum, Washington,<br />

dient als Titelsujet<br />

zu Ausgestopfte Juden? in<br />

Hohenems.<br />

Ausgestopfte Juden?<br />

Geschichte, Gegenwart<br />

und Zukunft jüdischer<br />

Museen<br />

Als der damalige Vorsitzende<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde,<br />

Paul Grosz, vor vielen<br />

Jahren gefragt wurde, was er<br />

von der Gründung eines Jüdischen<br />

Museums halte, stellte er<br />

eine bittere Gegenfrage: Ob Jüdinnen<br />

und Juden dort „wie ausgestopfte<br />

Indianer“ bestaunt<br />

werden sollten?<br />

Die über 120 jüdischen Museen<br />

weltweit haben keine einheitliche<br />

Antwort auf die Frage, was ein jüdisches Museum<br />

sei, gefunden: Den einen gilt die Institution selbst<br />

als eine jüdische, für die anderen ist ihr Gegenstand<br />

das Judentum. Für die einen ist das Adjektiv „jüdisch“<br />

eindeutig, für die anderen ist es nicht nur mehrdeutig,<br />

sondern steckt gar voller Widersprüche. Und so unterschiedlich<br />

die Frage nach der Definition ist, so unterschiedlich<br />

sind auch die musealen Inhalte und Praktiken.<br />

Ab Ende Juni geht die von den Kuratoren Felicitas<br />

Heimann-Jelinek und Hannes Sulzenbacher kuratierte<br />

Ausstellung Ausgestopfte Juden? Diesen Fragen nach,<br />

beleuchtet Geschichte und Gegenwart der Institution<br />

Jüdisches Museum, ihre Sammlungen und ihren Kanon<br />

– und reflektiert damit die drängende Frage nach ihrer<br />

gesellschaftlichen Rolle in der Zukunft. Der Katalog zur<br />

Ausstellung erscheint im Wallenstein Verlag.<br />

AUSGESTOPFTE JUDEN<br />

Geschichte, Gegenwart und Zukunft<br />

jüdischer Museen<br />

Jüdisches Museum Hohenems<br />

ab 26. Juni 20<strong>22</strong><br />

jm-hohenems.at<br />

MUSIKTIPPS<br />

ARGERICH – PACINI<br />

Über die Pianistin Martha Argerich<br />

zu schwärmen, ist so einfach wie auf<br />

der Hand liegend. Es ist jüngst vieles von ihr greifbar<br />

gemacht worden, Früh Eingespieltes, reif Eingespieltes.<br />

Meisterhaftes. Nun gibt es auf Blu-ray<br />

New Year’s Impressions from Vienna (Arthaus),<br />

ihr Silvesterkonzert 2020 mit Mozarts D-Dur-Sonate<br />

und Liszts Reminiscences de Don Juan de Mozart<br />

für 2 Klaviere. Das Konzert selbst – ohne Publikum<br />

im Wiener Konzerthaus! – bestritt sie mit<br />

der jungen Sophie Pacini aus München.<br />

MENDELSSOHN-HENSEL<br />

Bis heute steht Fanny Mendelssohn-<br />

Hensel (1805–1847) im Schatten ihres<br />

Bruders Felix. Die Sopranistin Chen Reiss hat nun<br />

auf Fanny Hensel & Felix Mendelssohn Bartholdy<br />

(Onyx) eine kluge und subtile Auswahl ihrer Lieder<br />

mit dem Jewish Chamber Orchestra unter Da-<br />

niel Grossmann aufgenommen, Bekannteres wie<br />

das Gondellied, , aber auch schöne Entdeckungen.<br />

Einstieg ist das rare Infelice! von Felix mit der Geige-<br />

rin Arabella Steinbacher, Ausklang die ebenso rare<br />

Erstfassung seiner Hebriden-Ouvertüre.<br />

MEHLDAU<br />

Der amerikanische Jazzpianist Brad<br />

Mehldau ist ein hochintellektueller,<br />

viel zu kluger und zu vielseitig interessierter Zeitgenosse,<br />

um sich nur aufs Tastendrücken für Standards<br />

zu beschränken. Das bestätigt er neuerlich<br />

mit Jacob’s Ladder (Nonesuch), auf dem er Progrock<br />

der 1970er-Jahre mit Religiosität verbindet, Dynamik<br />

mit Ekstaseanklängen, Komplexes mit Luftigem<br />

und dann wieder klanglich Extraausgefallenem.<br />

12 Tracks für all jene, die beim Musikhören<br />

nicht aufs (Mit)Denken vergessen. A.K.<br />

© Kunsthalle Krems; Museum für Moderne Kunst; Verlage<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 39 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Opern- & Filmkomponist<br />

Vom Höselberg nach Hollywood<br />

Musikalischer Schwerpunkt der Festwochen Gmunden<br />

zum 125. Geburtstag von Erich Wolfgang Korngold,<br />

dem Wunderkind aus Brünn und Wien.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Sommerfrische.<br />

Erich Wolfgang<br />

Korngold mit<br />

seiner Ehefrau<br />

beim Flanieren in<br />

Alt-Aussee, 1924.<br />

„W<br />

ir glaubten immer noch –<br />

mehr mit dem Herzen als<br />

mit dem Verstand – , daß<br />

wir eine Heimat hatten, in<br />

die wir zurückkehren konnten, die wir nicht<br />

verlassen wollten“, erinnert sich Luzi Korngold.<br />

„Es war Selbstbetrug, eine holde Täuschung: das<br />

naiv-zuversichtliche ‚Uns-kann-nichts-Geschehen‘<br />

glücklicher Menschen. So träumten wir im<br />

Winter bei strahlender kalifornischer Sonne von<br />

unseren regenfeuchten Wiesen daheim.“*<br />

Dieses melancholisch, sehnsuchtsvolle<br />

Zitat gleicht so vielen, die wir von<br />

jüdischen Menschen kennen, die 1938<br />

aus Österreich vertrieben wurden. Aber<br />

in diesem Fall handelt es sich um das<br />

Künstlerehepaar Luzi und Erich Wolfgang<br />

Korngold, das glücklicherweise bereits<br />

ab 1934 wenigstens ein Standbein in den<br />

USA, konkret in Hollywood, hatte. Das realistische<br />

bis verklärte Bild der Sängerin,<br />

Schauspielerin, Pianistin und Schriftstellerin<br />

Luzi Korngold beschreibt als<br />

Heimat das Gut Höselberg in Gschwandt<br />

bei Gmunden, wo die 1900 in Wien geborene<br />

Luise von Sonnenthal, Enkelin<br />

des berühmten Schauspielers und Theaterdirektors<br />

Adolf Ritter von Sonnenthal,<br />

unvergessliche fünf Sommer verbrachte.<br />

1924 heiratet Luise Sonnenthal jenen<br />

Mann, der sich ab 1933 den Ankauf dieses<br />

Hauses leisten kann: Erich Wolfgang<br />

Korngold, geboren am 29. Mai 1897 in<br />

Brünn, aufgewachsen in Wien, konnte<br />

mit 36 Jahren bereits auf eine höchst erfolgreiche<br />

Karriere als angesehener und<br />

erfolgreicher Komponist und Dirigent<br />

zurückschauen. Heuer jährt sich der 125.<br />

Geburtstag von Erich Wolfgang, Sohn des<br />

„Am 4. Februar 1938<br />

erreichen die Korngolds<br />

Amerika –<br />

nicht wissend, aber<br />

ahnend, dass dies<br />

die Rettung ist.“<br />

Marie-Theres Arnbom in<br />

Die Villen vom Traunsee<br />

jüdischen Musikkritikers Julius Korngold,<br />

der für die Neue Freie Presse schrieb.<br />

Dieser Geburtstag wird in der Nähe der<br />

ehemaligen Sommerresidenz des Ehepaars<br />

Luzi und Erich Wolfgang Korngold<br />

gebührend und würdig gefeiert: „Den<br />

Salzkammergut Festwochen Gmunden ist<br />

es ein großes Anliegen, Komponisten mit<br />

Bezug zur Region besondere Aufmerksamkeit<br />

zu schenken. Das geschieht am<br />

besten, in dem wir ihre Werke aufführen“,<br />

lacht Christian Hieke, seit 2019 künstlerischer<br />

Leiter der Festwochen Gmunden.<br />

Der Facharzt für Orthopädie und ortho-<br />

© ullstein bild - Ludwig Boedecker / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

40 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 40 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Zweifahcher Oscargewinner<br />

© ullstein bild - Ludwig Boedecker / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />

pädische Chirurgie mit Praxis in Wien<br />

wuchs in einer stark kultur- und musikaffinen<br />

Familie auf: Seine Mutter und<br />

Schwester führen die Kunstgalerie Hieke<br />

in der Grünangergasse. „Die Eltern haben<br />

uns seit Jugendtagen ins Theater und<br />

in die Oper mitgenommen. Auch neben<br />

meinem Studium galt mein größtes persönliches<br />

Interesse der Kultur, aber vor<br />

allem der Oper als unübertroffenes Gesamtkunstwerk.“<br />

Die Verbundenheit zum<br />

Salzkammergut entstand sowohl in den<br />

sommerlichen Ferien wie auch durch die<br />

Ehe mit einer Gmundnerin, deren Vater<br />

sogar zu den Gründungsmitgliedern der<br />

Festwochen vor 35 Jahren zählt.<br />

„Viele Details über die illustre Vergangenheit<br />

des Traunsees habe ich erst von<br />

der Historikerin Marie-Theres Arnbom<br />

erfahren. Auch über Erich Wolfgang<br />

Korngold hat sie Neues entdeckt und in<br />

ihrem 2019 erschienen Buch Die Villen vom<br />

Traunsee - Wenn Häuser Geschichten erzählen**<br />

festgehalten und so dem Vergessen entrissen“,<br />

freut sich Hieke. Der Vater von<br />

vier Kindern leistet sich – nach eigenen<br />

Angaben – einen rund 20-Stunden-Job<br />

zusätzlich zur Arztpraxis für die künstlerische<br />

Gestaltung der Festwochen. „Es ist<br />

gleichzeitig faszinierend und berührend<br />

zu wissen, dass Korngold 1937 seine letzte<br />

Oper Die Kathrin in seiner Sommerfrische<br />

in Gschwandt, im Schloss Höselberg komponiert<br />

hat.“ Die Oper sollte im März 1938<br />

an der Wiener Staatsoper uraufgeführt<br />

werden. Doch nach dem „Anschluss“ Österreichs<br />

an Hitler-Deutschland war das<br />

nicht mehr möglich. „Erst am 7. Oktober<br />

1939 ist das Werk erstmals zu hören, und<br />

zwar an der königlichen Oper in Stockholm<br />

unter der Leitung von Fritz Busch“,<br />

schreibt Arnbom. Zur österreichischen<br />

Erstaufführung in Wien gelangte Korngolds<br />

Die Kathrin erst am 19. Oktober 1950.<br />

Korngold galt in Wien nicht zu Unrecht<br />

als Wunderkind: Mit elf Jahren macht er<br />

bereits auf sich aufmerksam, seine Komposition<br />

des pantomimischen Balletts Der<br />

Schneemann wird 1910 an der Wiener Hofoper<br />

uraufgeführt. Zu seinen Lehrern<br />

zählten neben anderen Alexander von<br />

Zemlinsky und Hermann Grädener. Mit<br />

dreizehn Jahren schreibt er Klaviersonaten;<br />

es folgen eine Schauspiel-Ouvertüre<br />

und eine Sinfonietta. Die Aufführungen<br />

seiner Jugendwerke erfolgen häufig<br />

durch prominente Musiker des frühen<br />

20. Jahrhunderts, wie Bruno Walter, Artur<br />

Schnabel, Arthur Nikisch, Wilhelm<br />

Furtwängler, Felix Weingartner oder Richard<br />

Strauss.<br />

Korngolds Opernkompositionen Der<br />

Ring des Polykrates und Violanta (beide<br />

1916), Die tote Stadt (1920) und Das Wunder<br />

der Heliane (1927) hatten zu seiner<br />

Zeit großen Erfolg und ließen ihn – neben<br />

Richard Strauss – zum meistgespielten<br />

Opernkomponisten Österreichs und<br />

Deutschlands werden. Sein wohl bedeutendster<br />

Erfolg war die Oper Die tote Stadt.<br />

Obwohl er sich als ein Vertreter der Moderne<br />

empfand, verließ er nie die Tonalität.<br />

Seine G-Dur-Violinsonate op. 6 wurde<br />

dennoch im März 1919 in Schönbergs Verein<br />

für musikalische Privataufführungen<br />

gespielt.<br />

Julius Korngold war äußerst dominant,<br />

und sein Sohn litt nicht wenig darunter.<br />

Trotzdem übernahm Erich in den<br />

1920er-Jahren zusehends die Ansichten<br />

seines Vaters, der ein ausgesprochener<br />

Gegner der musikalischen Moderne war.<br />

1931 komponierte er die Vier kleinen Karikaturen<br />

für Kinder op. 19, in denen er die<br />

Musikstile Schönbergs, Igor Strawinskys,<br />

Béla Bartóks und Paul Hindemiths karikierte.<br />

Max Reinhardt – der Retter aus Hollywood.<br />

1934 folgt Korngold der Einladung Max<br />

Reinhardts nach Hollywood, um für dessen<br />

Film A Midsummer Night’s Dream (Ein<br />

Sommernachtstraum) die Filmmusik anhand<br />

Mendelssohns Schauspielmusik zu<br />

arrangieren. Korngold und Reinhardt<br />

waren bereits in Europa durch die Bearbeitung<br />

der Operetten Die Fledermaus<br />

und La Belle Hélène miteinander befreundet.<br />

Mit der Arbeit am Sommernachtstraum<br />

setzte Korngold neue Maßstäbe in<br />

der noch jungen Geschichte der Filmmusik:<br />

Er vergrößert das Orchester von<br />

Tanzbandstärke auf Symphonieorchestergröße.<br />

Er griff teilweise in die Regie ein,<br />

um die Sprache der Schauspieler an den<br />

Rhythmus der Musik anzupassen. Und<br />

er passte Mendelssohns Musik an Reinhardts<br />

Dramaturgie an und fügte sogar<br />

eigene Dialoge hinzu. Während der Film<br />

Reinhardts von der Kritik zerrissen wird,<br />

erntet Korngolds Musik viel Lob.<br />

In den nächsten Jahren verbringt der<br />

ideenreiche Musiker die Winter in Kalifornien<br />

als Filmkomponist der Warner<br />

Brothers. Korngold wird zweimal<br />

mit dem Oscar ausgezeichnet: Einen bekommt<br />

er für den 1936 entstandenen<br />

Film Anthony Adverse, den zweiten 1938<br />

für The Adventures of Robin Hood. Diese und<br />

seine anderen Werke sollten für die gesamte<br />

Branche prägend werden, sie beeinflussten<br />

noch Jahrzehnte später die<br />

Musik von Hans Zimmer und John Williams<br />

zu Star Wars. In der Zeit von 1935 bis<br />

1946 entsteht die Musik für 19 Filme.<br />

„Im Jänner 1938 erreicht Korngold in<br />

Wien ein Telegramm mit der dringlichen<br />

Frage, ob er innerhalb von zehn Tagen in<br />

Hollywood sein könne, um die Musik zu<br />

Robin Hood zu komponieren“, schreibt Marie-Theres<br />

Arnbom. „Er sagt zu und reist<br />

mit Frau und Sohn nach Le Havre, von<br />

wo ihn das Schiff ,Normandie‘ nach New<br />

York bringt. An Bord befindet sich auch<br />

der große Sängerstar Jan Kiepura, der<br />

eigentlich in der Uraufführung von Die<br />

Kathrin singen sollte. Am 4. Februar 1938<br />

erreichen die Korngolds Amerika – nicht<br />

wissend, aber ahnend, dass dies die Rettung<br />

ist.“<br />

Ab 1946 beendet Korngold die Arbeit<br />

beim Film und wendet sich wieder der<br />

klassischen Orchestermusik zu. Es entstehen<br />

das Cellokonzert op. 37 und das Violinkonzert<br />

D-Dur. Zwischen 1949 und 1951<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 41 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Renaissance in Gmunden<br />

Ankunft in New York.<br />

1934 reist Erich mit seiner<br />

Frau Luise in die USA,<br />

um die Musik für Max<br />

Reinhardts Sommernachtstraum-Film<br />

zu<br />

komponieren.<br />

hält er sich in Österreich auf, wo er vom<br />

Publikum, aber nicht von der Musikkritik<br />

positiv empfangen wird. In dieser<br />

Zeit werden die Symphonische Serenade B-<br />

Dur op. 39 von den Wiener Philharmonikern<br />

unter Wilhelm Furtwängler sowie<br />

die Stumme Serenade op. 36 in Wien uraufgeführt.<br />

Während einer zweiten Europareise<br />

1954/1955 kommt es zur Premiere<br />

seiner einzigen Symphonie in Fis-Dur<br />

op. 40. Der Versuch, nach 1946 zur klassischen<br />

Musik zurückzufinden, beschert<br />

keine großen Erfolge. Die Kompositionen<br />

Korngolds geraten zunehmend in Vergessenheit.<br />

Erst die Neuauflage seiner Werke<br />

in den USA ab 1972 führt zu einer internationalen<br />

Renaissance.<br />

Klaus Maria Brandauer zu Korngolds Leben.<br />

„Obwohl Korngolds wunderbare Oper Die<br />

tote Stadt in meiner Jugend selten gespielt<br />

wurde, hat sie mich gleich fasziniert, sodass<br />

ich mich schon damals auf die Musik<br />

dieser Epoche, also auf Alexander Zemlinsky<br />

und Viktor Ullmann gestürzt habe“,<br />

erzählt Christian Hieke, der mit einem<br />

kleinen Team die Gmundner Festwochen<br />

heuer von Anfang Juli bis 21. August 20<strong>22</strong><br />

veranstaltet. Bereits am 8. Juli kann man<br />

Orchestermusik des Jubilars Korngold<br />

hören: Das Bruckner Orchester Linz mit<br />

Markus Poschner als Dirigent und Startenor<br />

Pjotr Beczala werden ein Open-<br />

air-Konzert geben. „Im<br />

Toscanapark Gmunden<br />

haben wir eine Tribüne<br />

mit 1.600 Sitzplätzen errichtet,<br />

ganz ähnlich der<br />

in Schönbrunn“, freut<br />

sich Hieke. „Da wird an<br />

vier Abenden musiziert.“<br />

Korngolds Werke<br />

beeinflussten<br />

noch Jahrzehnte<br />

später die Musik<br />

von Hans Zimmer<br />

und John<br />

Williams zu<br />

Star Wars.<br />

Dem Geburtstagskind<br />

Korngold wird<br />

nicht nur auf musikalischem<br />

Wege gratuliert:<br />

„Ich freue mich sehr,<br />

dass Korngold jetzt auf<br />

so vielfältige Art wieder<br />

das Interesse weckt“, sagt Marie-Theres<br />

Arnbom, die auch mit den Nachkommen<br />

des jüdischen Musikers in Kontakt<br />

ist. „Die freuen sich sehr darüber. Es entsteht<br />

gerade auch ein Korngoldbuch, ich<br />

werde dazu einen Vortrag in Gmunden<br />

halten. Außerdem darf ich die Dramaturgie<br />

für einen Leseabend mit Klaus Maria<br />

Brandauer machen“, so die Historikerin<br />

und Autorin. Unter dem Titel Alles nur ein<br />

böser Traum? Erich Korngold – Von Brünn über<br />

Wien und Gmunden nach Hollywood gibt der<br />

Schauspieler am 13. August 20<strong>22</strong> anhand<br />

bekannter und unbekannter Quellen<br />

Einblicke in diese faszinierende Künstlerpersönlichkeit.<br />

* Luzi Korngold: Erich Wolfgang Korngold. Ein Lebensbild. Wien: Lafite 1967.<br />

** Marie-Theres Arnbom: Die Villen vom Traunsee. Wien: Amalthea 2019.<br />

Das junge siebenköpfige Festwochenteam<br />

hat seit 2020 mit großem Engagement<br />

eine neue Programmierung und Positionierung<br />

erarbeitet, deren Ziel es ist,<br />

verstärkt Jung und Alt in den Genres Klassik,<br />

Literatur, Crossover und Jazz, Bühne,<br />

Architektur und bildende Künste einzubinden.<br />

„Im Spannungsfeld zwischen<br />

Tradition und Innovation bemühen wir<br />

uns um künstlerische Vielfalt, achten<br />

aber trotzdem darauf, dass die Qualität<br />

die Quantität bestimmt“, erklärt Hieke,<br />

dem die kaufmännische Geschäftsführerin<br />

Johanna Mitterbauer tatkräftig zur<br />

Seite steht. „Es ist uns eine große Freude,<br />

dass wir Karin Bergmann, die ehemalige<br />

Burgtheater-Direktorin für Gmunden gewinnen<br />

konnten. Sie wird bereits heuer<br />

das Literatur- und Theaterprogramm<br />

verantworten.“<br />

Am 12. April 1941 wurde in Los Angeles<br />

unter der Leitung Korngolds sein Passover<br />

Psalm op. 30 Come, let us hail Him (Lasset<br />

uns preisen) als Auftragswerk<br />

von Jacob Sonderling<br />

uraufgeführt. Der Text<br />

stammt aus der Pessach-<br />

Haggada, die Komposition<br />

ist ein Chorwerk für<br />

Sopran, gemischten Chor,<br />

Orgel und Orchester. Auftraggeber<br />

Korngolds war<br />

niemand Geringerer als der<br />

deutsch-amerikanische<br />

Rabbiner Sonderling: Er<br />

war der väterliche Freund<br />

der deutschsprachigen<br />

Migrantenszene in Los Angeles,<br />

wo er Komponisten<br />

zu Aufträgen für Musikstücke<br />

verhalf, zu denen er<br />

großteils die Texte schrieb.<br />

Am 18. April 1941 wird im Gau Oberdonau<br />

das Gut Höselberg bei Gmunden<br />

dem „Deutschen Reich – Reichsarbeitsdienst“<br />

einverleibt. Von der Gestapo beschlagnahmt<br />

wurde der Besitz des Ehepaares<br />

Korngold schon kurz davor. Dazu<br />

recherchierte Arnbom akribisch: „Die<br />

Rückstellung des Besitzes erfolgt mit Beschluss<br />

vom 12. Mai 1949 – doch verbringen<br />

die Korngolds keinen Sommer mehr<br />

in ihrem einstmals so schönen Besitz,<br />

sondern kommen nur noch ein einziges<br />

Mal nach Gmunden.“ Darüber schreibt<br />

Luzi Korngold: „Erich hätte Europa nicht<br />

verlassen, ohne von seinem Höselberg<br />

Abschied zu nehmen.“<br />

© AP / picturedesk.com<br />

42 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 42 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Der Antisemitismus,<br />

der gerne zur Seite geschoben wird<br />

Die Nähe des traditionellen<br />

christlichen Judenhasses<br />

zum modernen<br />

eliminatorischen<br />

Antisemitismus werde<br />

in der deutschen Antisemitismus-Debatte<br />

immer<br />

noch verschleiert,<br />

meint der deutsche Jurist<br />

Tilman Tarach. Sein<br />

Befund ist auf Österreich<br />

wohl ebenso umzulegen.<br />

Mit Teuflische<br />

Allmacht hat er nun ein<br />

Buch zu dem Thema<br />

vorgelegt.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Der Vater der Juden ist der Teufel.<br />

Jesus Christus. NSDAP Eschenbach“,<br />

steht auf einer Tafel, deren<br />

Foto das Cover von Tarachs Buch ziert.<br />

Aufgenommen wurde es im Juli 1935 am<br />

Ortseingang von Eschenbach in Bayern, es<br />

befindet sich heute im Stadtarchiv Nürnberg.<br />

Damit vermittelt der Autor bereits<br />

die Botschaft, die sich wie der sprichwörtliche<br />

rote Faden durch das Buch zieht: Erst<br />

auf Basis des christlichen Judenhasses, genährt<br />

von Jahrhundert zu Jahrhundert,<br />

konnte der Vernichtungsantisemitismus<br />

der Nationalsozialisten entstehen. Damit<br />

ist es aber auch bis heute schwer, den Judenhass<br />

wirklich nachhaltig zu überwinden,<br />

denn die Gesellschaft sei bis heute<br />

von diesen tief sitzenden christlichen<br />

Mustern geprägt.<br />

Tarach führt ein ums andere historische<br />

Beispiel an, das von der Ablehnung<br />

von Juden und Jüdinnen zeugte, der Höhepunkt<br />

dabei natürlich die Shoah, doch<br />

davor eine lange Kette von Vorwürfen, die<br />

schließlich in unliebsame Vorkommnisse<br />

und Verfolgung mündeten. Da ist etwa<br />

das Bild des „Christusmörders“, das auch<br />

Adolf Hitler immer wieder in Reden bemühte,<br />

wie Tarach nachzeichnet. Da<br />

ist aber auch das Gerücht des „Kindermordes“.<br />

Christliche Kinder würden<br />

von Juden getötet und deren Blut<br />

dann für die Zubereitung ritueller<br />

Speisen verwendet. Die erste solche<br />

Erzählung geht auf das Jahr 415 zurück<br />

und stammt aus der Region Antiochia,<br />

Hochkonjunktur hatte sie<br />

seit dem Hochmittelalter. Von „Ritualmordlegenden“<br />

spricht die Wissenschaft<br />

heute, und – surprise, surprise<br />

– auch Der Stürmer der Nazis, der grundsätzlich<br />

antiklerikal ausgerichtet war, bediente<br />

diesen Topos. Antiklerikal: ja. Antichristlich:<br />

nein.<br />

„Die Verfolgung und Ermordung von Juden,<br />

ihre Vertreibung, der Raub an ihrem<br />

Eigentum zogen sich als Konstante durch<br />

die europäische Geschichte als Teil des<br />

Selbstverständnisses des Christentums“,<br />

schreibt Anetta Kahane im Geleitwort zum<br />

Buch. Es habe zwar Phasen ohne Grausamkeiten<br />

gegeben, „doch die Drohung, die Erinnerung,<br />

das Muster, nachdem sich Juden<br />

niemals sicher sein dürfen, sich nicht willkürlich<br />

dem nächsten Pogrom ausgesetzt zu<br />

sehen, gehörten zur Kulturtechnik Europas<br />

und sind tief eingegraben.“<br />

Tarach macht seinerseits gleich zu Beginn<br />

seines Buches klar: Es sei keines<br />

über die „Verbrechen der Kirchen“. Es<br />

gehe eben vielmehr um die Frage, in welchem<br />

Verhältnis die Gründungsmythen<br />

„Die Verfolgung und Ermordung von Juden, ihre<br />

Vertreibung, der Raub an ihrem Eigentum zogen sich<br />

als Konstante durch die europäische Geschichte als Teil<br />

des Selbstverständnisses des Christentums.“ Anetta Kahane<br />

Tilman Tarach:<br />

Teuflische Allmacht.<br />

Über die verleugneten<br />

christlichen Wurzeln<br />

des modernen Antisemitismus<br />

und Antizionismus.<br />

Edition Telok, <strong>22</strong>4 S., € 15,95<br />

und Leitideen der christlichen Lehre als<br />

solche zum Antisemitismus stehen. Das<br />

betreffe den nationalsozialistischen Antisemitismus<br />

ebenso wie den heutigen israelbezogenen.<br />

Eine seiner spannenden<br />

Schlussfolgerungen: In Ländern ohne größeren<br />

christlichen Bevölkerungsanteil wie<br />

Indien, Thailand, Vietnam oder China sei<br />

das Ressentiment gegen die Juden nie gesellschaftlich<br />

relevant geworden. Anders<br />

sehe es in der islamischen Welt aus. Dort<br />

habe sich der Antisemitismus im letzten<br />

Jahrhundert – und damit schon vor und<br />

unabhängig von der Gründung Israels –<br />

verschärft. Eine erhellende und ernüchternde<br />

Lektüre.<br />

wına-magazin.at<br />

43<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 43 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Fotograf des Kriegs<br />

Gerda Tarot und Robert Capa in<br />

Paris. Fotografiert von Fred Stein.<br />

„Die Wahrheit<br />

ist das beste Bild“<br />

Der ungarisch-jüdische Fotograf Robert Capa<br />

erlangte Weltruhm als Kriegsberichterstatter.<br />

Aber er widmete sich auch humoristisch-humanistischen<br />

Fotografien jenseits des Krieges.<br />

Ruhig, dezent und architektonisch<br />

balanciert wirkt die Villa<br />

Bassi Rathgeb auf jene, die sich<br />

ihr nähern. Das städtische Museum<br />

(Museo Civico) des beschaulichen<br />

norditalienischen Kurorts Abano Terme<br />

ist hier untergebracht. Zum bevorstehenden<br />

110. Geburtstag und 68. Todestag war<br />

hier bis vor Kurzem eine Ausstellung jenem<br />

Mann gewidmet, der alles andere als<br />

ruhig und ausgeglichen war: Robert Capa,<br />

geboren 1913 in Budapest als André Ernö<br />

Friedmann, zählt zu den besten Fotoreportern<br />

des 20. Jahrhunderts – und zwar<br />

als Kriegsberichterstatter. Seine große Bekanntheit<br />

verdankt er seinen Aufnahmen<br />

von Menschen im Krieg, kämpfend oder<br />

leidend. Viele seiner Fotografien sind im<br />

öffentlichen Bewusstsein eingraviert und<br />

Von Marta S. Halpert<br />

können, ohne zu übertreiben, als Ikonen<br />

des kollektiven Bildgedächtnisses<br />

bezeichnet werden: Einzelne seiner Aufnahmen<br />

stehen als Synonym für den Spanischen<br />

Bürgerkrieg (1936–1939), die Landung<br />

der Alliierten am 6. Juni 1944 oder<br />

die Geburt des jüdischen Staates, dessen<br />

Entwicklung Capa von 1948 bis 1950<br />

in mehreren Reisen dokumentierte.* Bis<br />

er selbst Opfer eines Krieges wurde: Im<br />

Auftrag des Life Magazins soll er am 25. Mai<br />

1954 die Evakuierung verwundeter Soldaten<br />

aus Dien Bien Phu in Vietnam fotografieren.<br />

Dabei tritt er auf eine Antipersonenmine<br />

und stirbt mit 40 Jahren. Seine<br />

letzten Fotografien zeigen einen Minensuchtrupp<br />

bei der Arbeit sowie jenen Wall,<br />

auf dem Capa kurz nach der Aufnahme<br />

auf die tödliche Mine tritt.<br />

Doch es gab auch den humorvollen,<br />

scharfsinnigen Capa, der seine Kamera<br />

auf ganz andere Situationen des Lebens<br />

richtete. Vornehmlich diesem Aspekt widmete<br />

sich die Ausstellung Robert Capa – Fotografie<br />

oltre la guerra (Fotografien jenseits des<br />

Krieges). Im derzeitigen Alltag – angesichts<br />

des grausamen Krieges mitten in Europa<br />

– beherrschen einen zwei Gedanken: Man<br />

freut sich zwar über die Ablenkung und<br />

die schönen Seiten in Capas Leben. Doch<br />

plötzlich zuckt man in der Erkenntnis zusammen,<br />

in welcher Lebensgefahr Reporter<br />

und Fotografen in früheren und gegenwärtigen<br />

Kriegen arbeiten.<br />

Robert Capa, als zweiter von drei Söhnen,<br />

in eine jüdische Schneiderfamilie geboren,<br />

entwickelt schon sehr früh ein politisches<br />

Gewissen und engagiert sich im<br />

linken Spektrum. Bereits mit 18 Jahren<br />

muss er ins Gefängnis, weil er gegen den<br />

ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy<br />

demonstriert hat. Nach kurzer Haft wird er<br />

1931 vor die Wahl gestellt, Ungarn zu verlassen<br />

oder vor Gericht gestellt zu werden.<br />

Capa emigriert nach Berlin und beginnt ein<br />

Studium der Journalistik an der Deutschen<br />

Hochschule für Politik. Nebenbei jobbt er<br />

als Fotolaborant beim Ullstein Verlag.<br />

Sein Talent für Fotografie entdeckten<br />

zwei Persönlichkeiten, die in der Folge auch<br />

zu Capas eifrigen Förderern zählten: Die<br />

ungarisch-jüdische Fotografin Éva Besnyö<br />

lebte im selben Budapester Haus wie die Familie<br />

Friedmann. Sie motivierte ihn, beim<br />

Deutschen Photodienst (Dephot) als Assistent<br />

anzuheuern. Diese Fotoagentur gründete<br />

und leitete der Wiener Simon Guttmann,<br />

der 1933 nach Frankreich und später<br />

nach London emigrierte, wo er eine eigene<br />

Pressefotoagentur betrieb. Bereits 1932<br />

sorgte Guttmann dafür, dass Capa seine<br />

ersten Fotos im Berliner Weltspiegel, veröffentlichte:<br />

Diese zeigen Leo Trotzki bei einer<br />

Rede in Kopenhagen.<br />

Mit der Machtübernahme der Nazis in<br />

Berlin floh Robert Capa zuerst nach Wien<br />

und schließlich nach Paris. Dort begannen<br />

sich im Herbst 1934 die privaten und professionellen<br />

Verbindungen zu verflechten.<br />

Die Stuttgarter Sozialistin und Jüdin Gerta<br />

Pohorylle war ebenfalls nach Paris geflohen,<br />

wo sie bald darauf Capas Schülerin und Lebensgefährtin<br />

wurde.<br />

Sie hatte auch die Idee zur Namensänderung,<br />

um sich für die künstlerische Karriere<br />

interessanter zu machen. Robert nahm<br />

den Namen seines Bruders Cornell Capa<br />

© Fred Stein / dpa Picture Alliance / picturedesk.com<br />

© Wikipedia/GerdaTaro<br />

44 wına | Mai 20<strong>22</strong><br />

* Aus urheberrechtlichen Gründen können wir leider keine Fotos von Robert Capa hier veröffentlichen.<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 44 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Ikone des Bildgedächtnisses<br />

Robert Capa im Mai 1937. Fotografiert<br />

von Gerda Tarot, die kurz danach<br />

von einem Panzer getötet wird.<br />

© Fred Stein / dpa Picture Alliance / picturedesk.com<br />

© Wikipedia/GerdaTaro<br />

an – und aus Gerta Pohorylle wurde Gerda<br />

Taro. In Paris freundeten sich die beiden<br />

mit den bereits arrivierteren Fotografen-<br />

Kollegen André Kertész, David „Chim“ Seymour<br />

und Henri Cartier-Bresson an.<br />

Bereits 1935, also ein Jahr vor dem Militärputsch<br />

in Spanien, entsandte Fotoagent<br />

Simon Guttmann das junge Paar gemeinsam<br />

mit Chim Seymour auf eine Fotoreportage<br />

nach Spanien. Mit Ausbruch der<br />

Kämpfe 1936 kehrten sie als politisierte<br />

Menschen in das geplagte Land zurück.<br />

In den folgenden Monaten fotografierten<br />

Taro und Capa die Gräuel des Spanischen<br />

Bürgerkrieges für verschiedene internationale<br />

Zeitungen. Taro war damit die erste<br />

Frau, die an einer Kriegsfront fotografierte.<br />

Am 25. Juli 1937 wurde sie während<br />

eines Angriffs der deutschen Legion Condor<br />

von einem Panzer überrollt, als sie aus<br />

der Kampfregion flüchten wollte. Ihr Trauerzug<br />

in Paris wurde von Pablo Neruda und<br />

Louis Aragon angeführt und artete in eine<br />

Protestkundgebung gegen den Faschismus<br />

aus. Niemand Geringerer als Alberto Giacometti<br />

gestaltete ihren Grabstein.<br />

Capas Aufnahmen aus Spanien begründeten<br />

seinen weltweiten Ruhm; insbesondere<br />

die Fotografie eines fallenden republikanischen<br />

Soldaten im Augenblick seines<br />

Todes. Dieses bekannteste Einzelbild des<br />

Bürgerkrieges avancierte zu einer fotografischen<br />

Ikone des 20. Jahrhunderts. Nach<br />

dem tragischen Tod Taros reiste Capa 1938<br />

nach China und berichtete über den chinesischen<br />

Widerstand gegen die japanische<br />

Besatzung. Im Sommer 1939, kurz<br />

vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, fand<br />

noch die Tour de France statt – und im Auftrag<br />

von Paris Match fotografierte Capa diese<br />

Rumpfveranstaltung mit lediglich 79 Teilnehmern.<br />

„Ungewöhnlich für die damalige Zeit<br />

entschied sich Capa, mit einer kleinen<br />

35-mm-Contax-Kamera zu arbeiten, die<br />

ihm sowohl die Möglichkeit gab, viel mehr<br />

Bilder zu schießen wie auch schneller und<br />

flexibler zu sein“, erzählt uns der Ausstellungstext,<br />

der damit auch Capas Credo untermauert:<br />

„Wenn deine Bilder nicht gut genug<br />

sind, warst du nicht nah genug dran!“<br />

Ingrid Bergman und Hollywood. Als es in Europa<br />

brenzlig wird, übersiedelt Capa 1939<br />

in die USA, wo er für die Zeitschriften Time,<br />

Life und Collier’s unter anderem in Nordafrika,<br />

in Sizilien sowie am Omaha Beach<br />

bei der ersten Landung alliierter Soldaten<br />

in der Normandie am 6. Juni 1944 fotografiert<br />

und dokumentiert. Nach dem Krieg<br />

erhält er die amerikanische Staatsbürgerschaft,<br />

kehrt aber immer wieder nach Europa<br />

zurück. Im Juni 1945 trifft er in Paris<br />

Ingrid Bergman, die zur Unterhaltung<br />

der alliierten Truppen auf Europa-Tournee<br />

ist. Eine große und intensive Liebesgeschichte<br />

entsteht und bringt Capa unversehens<br />

nach Hollywood, wo Bergman u. a.<br />

Filme mit Alfred Hitchcock dreht. In dieser<br />

Zeit entstehen nicht nur atemberaubende<br />

Aufnahmen des verliebten Capa von<br />

der Schauspielerin, sondern auch die witzigsten<br />

Fotos von diversen Hollywood-Größen.<br />

„Hollywood ist die größte Scheiße, in<br />

die ich je getreten bin.“ (Dieses Robert Capa<br />

zugeschriebene Zitat stammt aus dem Dokumentarfilm<br />

In Love and War.)<br />

1947 zerbricht die Liebesbeziehung,<br />

Capa kehrt nach Paris zurück. Gemeinsam<br />

mit Henri Cartier-Bresson, David Seymour<br />

und George Rodger gründet er Magnum,<br />

die renommierteste Fotoagentur der Welt.<br />

Als Genossenschaft organisiert, ist sie im<br />

Besitz ihrer Mitglieder. Es war ein Zusammenschluss<br />

von humanistisch gesinnten<br />

Menschen, die sowohl die Rechte der Fotografen<br />

wie auch den Respekt und das Verantwortungsgefühl<br />

gegenüber der Öffentlichkeit<br />

zum Ziel hatten. Bis heute haben<br />

108 Fotografen die Geschichte dieser Agentur<br />

geschrieben, u. a. auch die Österreicher<br />

Ernst Haas, Erich Lessing und Inge Morath.<br />

Capa fotografiert weiter, vermeidet jedoch<br />

zunehmend die Kriegsberichterstattung.<br />

Er reist mit dem amerikanischen<br />

Schriftsteller John Steinbeck im Auftrag<br />

der New York Herald Tribune einen Monat lang<br />

durch die Sowjetunion, um das Leben des<br />

einfachen Volkes nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

zu dokumentieren. Sie besuchen<br />

Moskau, Stalingrad, Georgien, die Ukraine.<br />

„Wenn deine Bilder<br />

nicht gut genug<br />

sind, warst du nicht<br />

nah genug dran!“<br />

Robert Capa<br />

Im Mai und Juni 1948 und erneut 1949<br />

und 1950 begleitet er die Gründung des<br />

Staates Israel mit seiner Kamera und wird<br />

Augenzeuge der ersten kriegerischen Auseinandersetzungen.<br />

Er fotografiert zusammen<br />

mit dem israelischen Kollegen<br />

Rudi Weissenstein die israelische Unabhängigkeitserklärung<br />

in Tel Aviv durch<br />

David Ben-Gurion. Unvergesslich sind<br />

seine Fotos von der Ankunft jüdischer<br />

Flüchtlinge im Hafen von Haifa. Das Foto<br />

einer jungen Frau im weißen Kleid, die<br />

einen Koffer schultert, während sich ein<br />

kleiner Junge an ihrem Rockzipfel festhält,<br />

wurde zur Ikone des zionistischen Narrativs.<br />

Auf Drängen des Life Magazins kehrt<br />

Capa zur gefährlichen Kriegsberichterstattung<br />

zurück: 1954 im Ersten Indochinakrieg<br />

braucht die Redaktion dringend<br />

einen Fotojournalisten – bei diesem Einsatz<br />

kommt er ums Leben.<br />

Ihm zu Ehren stiftete der Overseas Press<br />

Club of America 1955 die Robert Capa Gold<br />

Medal, mit der jährlich die beste Fotoreportage<br />

ausgezeichnet wird, die ungewöhnliche<br />

Einsatzbereitschaft und besonderen<br />

Mut erfordert.<br />

Um das fotografische Erbe von Robert<br />

Capa – rund 70.000 Negative – wie auch anderer<br />

Fotografen zu bewahren, gründete<br />

sein Bruder Cornell Capa 1966 den International<br />

Fund for Concerned Photography.<br />

Für diese Sammlung richtete er 1974<br />

das International Center of Photography in<br />

New York ein. In seinem Nachlass befinden<br />

sich seit 2008 auch über 3.000 lange verschollen<br />

geglaubte Negative von Capa, Taro<br />

und Seymour aus dem Spanischen Bürgerkrieg,<br />

die nach dem Krieg von einem General<br />

nach Mexiko in Sicherheit gebracht<br />

worden waren. Zum Glück, denn Robert<br />

Capas Motto bleibt gültig: „Die Wahrheit<br />

ist das beste Bild.“<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 45 07.06.<strong>22</strong> 13:52


INTERVIEW MIT RAFAEL SELIGMANN <br />

„Die Lust an<br />

der Provokation<br />

ist nach wie vor da“<br />

Die Aufzeichnungen seines früh verstorbenen Vaters<br />

waren für Rafael Seligmann die Initialzündung<br />

für seinen autobiografischen Roman Rafi, Judenbub, erzählt<br />

der Autor anlässlich der Buchpräsentation<br />

im Wiener Jüdischen Museum. Interview:<br />

Anita Pollak<br />

© HORSTMANN,KAI / Action Press / picturedesk.com<br />

46 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 46 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Tikkun Olam<br />

Rafael Seligmann, geboren 1947 in Jaffa, Israel,<br />

ist Schriftsteller, Historiker, Publizist und Politologe.<br />

Sein Roman Rubinsteins Verstei gerung gehörte 1988<br />

zu den ersten einer Reihe jüngerer deutsch-jüdischer<br />

Gegenwarts romane. Es folgten zahlreiche weitere<br />

literarische Werke. Darüber hinaus ist er Sachbuchautor<br />

und Gründer und Herausgeber der Jewish<br />

Voice from Germany.<br />

© HORSTMANN,KAI / Action Press / picturedesk.com<br />

Als „Landjude“ in einem deutschen<br />

Kaff gehörte Vater Ludwig vor dem<br />

Krieg einer heute ausgestorbenen,<br />

besser gesagt vernichteten Spezies an. Auch<br />

um daran zu erinnern, was diese Generation<br />

für das deutsche Judentum geleistet hat und<br />

diese Geschichte für die nächste Generation<br />

zu bewahren, habe er seine Familientrilogie<br />

geschrieben, erklärte Seligmann in einem Gespräch<br />

mit seinem Sohn Jonathan.<br />

WINA: Wie ist das für Sie, wenn Sie Ihr Sohn moderiert?<br />

Rafael Seligmann: Toll! Er lebt ja in Wien<br />

und ist meinem Herzen besonders nah. Ich<br />

hab aber drei Kinder, meine Tochter lebt in<br />

Israel, mein Sohn Jehuda Ludwig, benannt<br />

nach meinem Vater, in der Schweiz.<br />

Sie haben bereits 2010 Ihre Autobiografie Deutschland<br />

wird dir gefallen vorgelegt und jetzt nochmals<br />

Ihre Kindheitserfahrungen als dritten Teil der<br />

Familientrilogie erzählt. Betrachten Sie Ihr eigenes<br />

Leben in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte<br />

als beispielhaft?<br />

I Natürlich bin ich deutscher Jude und ein Teil<br />

dieser 1.700 Jahre alten Geschichte. Aber ich<br />

bin ein eigener Mensch mit meiner individuellen<br />

Geschichte, und dieses Spannungsverhältnis<br />

zwischen mir als Person, dem Judentum<br />

dieses Landes, der jüdischen Geschichte<br />

des deutschen Sprachraums, überhaupt der<br />

deutschen Gesellschaft, das ist der Zweck des<br />

Buches, plus dem Vergnügen und dem Leid<br />

des Schreibens.<br />

chern, Fernseh- und Streaming-Serien. Nun, da sich<br />

die Welt verändert hat, Stichwort Zeitenwende, ist<br />

das vielleicht auch eine Art Rückzug ins Private?<br />

I Man kann sich nicht aus der Geschichte<br />

davonstehlen, wir sind und bleiben ein Teil<br />

der Geschichte, und so sehe ich mich auch.<br />

Wir stehen in einer globalen, einer europäischen<br />

und im deutschen Sprachraum in einer<br />

deutsch-jüdischen Geschichte. Auch wenn<br />

man es will, kann man sich nicht vollkommen<br />

ins Private zurückziehen.<br />

Unsere Eltern sind tot, und wir, die s. g. Zweite Generation,<br />

auch nicht mehr die Jüngsten. Besteht da<br />

auch eine Art Verpflichtung zur Zeitzeugenschaft,<br />

d. h. die Geschichte, wie wir Sie erfahren haben,<br />

weiterzugeben, bevor sie ganz vergessen wird?<br />

I Pflicht ist ein strenges Wort. Mir macht es<br />

Spaß, auch wenn es manchmal weh tut. Ich<br />

glaube, das Leben jedes Menschen hat einen<br />

Zweck, und meiner Ansicht ist dieser Sinn<br />

auch, Gutes zu tun, das ist der Kern des jüdischen<br />

Gesetzes: Liebe deinen Nächsten wie<br />

dich selbst.<br />

Ich glaube nicht, dass die Geschichte vergessen<br />

wird, aber damit die individuelle Geschichte<br />

nicht vergessen wird, hab ich unter<br />

anderem dieses Buch geschrieben. Ein<br />

Sachbuch ist schnell geschrieben, aber wie<br />

ein Mensch fühlt, wenn seine Familie ermordet<br />

wird, das darf nicht vergessen werden.<br />

Aber wir leben hier und müssen uns mit den<br />

Menschen versöhnen, wir müssen, was im Judentum<br />

sehr wichtig ist, die Welt verbessern:<br />

Tikkun Olam. Als Einzelner und als Gemeinschaft.<br />

Sie gelten als Israel-Experte und gleichzeitig als<br />

Experte fürs deutsche Judentum. Sind Sie noch<br />

immer beiden Welten gleichermaßen verbunden?<br />

I Ja, doch. Israel ist heute das Zentrum des Judentums,<br />

ich bin da geboren, und es ist meine<br />

Heimat. Meine kulturelle Heimat ist Deutschland,<br />

und beides kann vereint werden. Israel<br />

ist ein herrliches Experiment, einer der<br />

wenigen Staaten, in denen Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit herrschen, mit allen mög-<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

Es scheint eine Zeit für Familiensagas zu sein, in Bü-<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 47 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Altersmilder Provokateur<br />

lichen Fehlern, und darauf sollten alle stolz<br />

sein. Und zur Not ist es das letzte Asyl.<br />

Sie galten lange Zeit auch als Provokateur. Sie<br />

haben gern und viel provoziert, legt sich die Lust<br />

„Wenn man früher<br />

über jüdischen Sex<br />

geschrieben hat,<br />

war man der Super-<br />

Provokateur.“<br />

Rafael Seligmann<br />

I Das Judentum ist ein sehr dynamisches, und<br />

das von 20<strong>22</strong> ist nicht mehr das Judentum von<br />

1958, aber auch die deutsche Gesellschaft hat<br />

sich gewandelt, denn in den Städten hat die<br />

Hälfte der Bevölkerung Migrationshintergrund.<br />

Das Judentum wandelt sich,<br />

und wir müssen uns wandeln, und<br />

vielleicht ist diese Internationalität<br />

einer der Gründe, weshalb das<br />

Judentum so erfolgreich war: weil<br />

man sich immer wieder neu anpassen<br />

und neu erfinden musste. Und<br />

gleichzeitig das ewige Gesetz hatte.<br />

Also der bleibende Wert der Humanität<br />

und die Notwendigkeit, sich an<br />

andere Gesellschaften anzupassen.<br />

Rafi, Judenbub.<br />

Die Rückkehr der<br />

Seligmanns nach Deutschland.<br />

Im dritten Teil der Familientrilogie blickt der<br />

Autor darauf zurück, was seine Eltern und<br />

er im Deutschland der Adenauer-Zeit erlebten.<br />

Mit welchen Vorurteilen der zehnjährige<br />

„Judenbub“ vor allem in der Schule<br />

konfrontiert wurde, welchem Antisemitismus<br />

seine Eltern in ihrer ehemaligen Heimat<br />

begegneten und wie sie als Außenseiter<br />

in die Isolation gedrängt wurden.<br />

Über die Familiengeschichte hinaus, ist<br />

das Buch ein Sittenbild der vielfach von<br />

kleinbürgerlichem Mief und Spießertum<br />

geprägten deutschen Nachkriegszeit, in<br />

der von Vergangenheitsbewältigung noch<br />

keine Rede war. Unsentimental, lakonisch<br />

und oft witzig erzählt der Autor aus der<br />

dreifachen Ich-Perspektive: seiner eigenen,<br />

der seiner Mutter und der seines Vaters. Ein<br />

Stück deutsch-jüdischer Zeitgeschichte.<br />

Langen-Müller/Herbig 20<strong>22</strong>,<br />

400 S., € 25,70<br />

daran mit dem Alter, mir kommt vor, Sie sind altersmilde<br />

geworden?<br />

I Ich bin überhaupt nicht altersmilde geworden,<br />

dagegen verwahre ich mich (lacht). Wenn<br />

man früher über jüdischen Sex geschrieben<br />

hat, war man der Super-Provokateur, wenn<br />

man heute beschreibt, wie Menschen sich lieben,<br />

ist das was Selbstverständliches. Ich hab<br />

meine Meinung nicht geändert, und die Lust<br />

an der Provokation ist nach wie vor da.<br />

Was muss man heute noch sagen oder schreiben,<br />

um überhaupt zu provozieren?<br />

I Eine gute Frage, denn heute heißt es ja,<br />

anything goes. Provokation um der Provokation<br />

willen finde ich blöd. Aber die größte<br />

Provokation ist es immer, wenn man die<br />

Wahrheit sagt.<br />

Das Judentum in Deutschland hat sich seit Ihrer<br />

Jugend soziologisch total verändert. Russische<br />

Immigranten und auch Einwanderer aus Israel<br />

sind in großer Zahl dazugekommen und teilweise<br />

dominant. Wie sehen Sie das, ist das noch Ihr<br />

deutsches Judentum?<br />

Wie wird sich Ihrer Ansicht nach die Situation der<br />

europäischen Juden durch den Krieg verändern,<br />

nachdem sich bereits die Anzeichen mehren, dass<br />

Selenskyjs Judentum immer mehr zum unschönen<br />

Thema wird? Der Antisemitismus boomt, haben<br />

Sie da auch Angst?<br />

I Ich hab keine Angst, ich hab in Israel mehrere<br />

Kriege erlebt. Wir haben in Europa bisher<br />

in einer unnormalen Zeitspanne des Friedens<br />

gelebt und jetzt normalisiert sich das. In<br />

Kriegen und Krisen sind Juden oft die Opfer.<br />

Aber heute gibt es einen Staat Israel, und aus<br />

der Ukraine gehen viele Flüchtlinge nach Israel.<br />

Natürlich wittern die Antisemiten Morgenluft,<br />

aber wir wollen ihnen in die Suppe<br />

spucken.<br />

Berlin – Tel Aviv – Berlin sind die Stationen Ihrer<br />

Familie. Haben Sie in dem Zusammenhang daran<br />

gedacht, für immer zurück nach Israel zu gehen?<br />

I Mit 75 ist für immer eine relative Entscheidung,<br />

aber wenn „Führer“ wie Putin und Le<br />

Pen in Europa das Sagen haben werden, dann<br />

ist Israel der Platz, an dem man als Jude bleiben<br />

muss.<br />

48 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 48 07.06.<strong>22</strong> 13:52


FARBE,<br />

LANDSCHAFT,<br />

ATMOSPHÄRE<br />

© Courtesy of and © The Gordon Parks Foundation<br />

Die Kunsthalle Krems zeigt Gemälde<br />

und Zeichnungen von<br />

Helen Frankenthaler,<br />

einer der wichtigsten Repräsentantinnen<br />

des amerikanischen<br />

abstrakten Expressionismus.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Gordon Parks: Untitled – Helen Frankenthaler, umgeben von ihrer Malerei, New York, 1957.<br />

wına-magazin.at<br />

49<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 49 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Thema<br />

„Ihr Werk wurde<br />

im deutschsprachigen<br />

Raum sehr<br />

selten umfassend<br />

gezeigt.“<br />

Florian Steininger<br />

Es sind feine Gespinste auf Papier<br />

und mächtige Gemälde. Konkrete<br />

Gegenstände, Orte, Menschen<br />

findet man wohl nicht<br />

auf den Werken von Helen Frankenthaler.<br />

Aber ihre abstrakten Farbkompositionen<br />

lassen immer wieder Landschaften<br />

erahnen, geben das Gefühl von Sonne,<br />

Hitze und Flirren der Luft wider, führen<br />

die Betrachterinnen und Betrachter ihrer<br />

Bilder in andere Welten, meist mit einer<br />

positiven Grundstimmung. Kaum einmal<br />

wird es düster oder derb.<br />

Florian Steininger, künstlerischer Direktor<br />

der Kunsthalle Krems und Kurator<br />

der Ausstellung, hat vor drei Jahren mit<br />

den Vorbereitungen für die Frankenthaler-<br />

Schau begonnen. Er selbst hat sich schon<br />

im Studium intensiv mit den amerikanischen<br />

„abstract expressionists“ befasst, und<br />

man sieht ihm die Freude an, dass es gelungen<br />

ist, mehr als 70 Arbeiten Frankenthalers<br />

nach Krems zu bekommen.<br />

„Ihr Werk wurde im deutschsprachigen<br />

Raum sehr selten umfassend gezeigt“,<br />

erzählt der österreichische Kunsthistoriker.<br />

Es ist auch in europäischen Museen<br />

und Sammlungen kaum vertreten. Le-<br />

© 20<strong>22</strong> Helen Frankenthaler Foundation, Inc. / Bildrecht Wien, Foto © Jim Banks; Reinhard Engel<br />

50 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 50 07.06.<strong>22</strong> 13:52


Körperlicher Einsatz<br />

Helen Frankenthaler.<br />

Malerische Konstellationen.<br />

bis 30.10.20<strong>22</strong> i. d. Kunsthalle Krems<br />

kunsthalle.at<br />

© 20<strong>22</strong> Helen Frankenthaler Foundation, Inc. / Bildrecht Wien, Foto © Jim Banks; Reinhard Engel<br />

diglich ein großes Gemälde findet sich<br />

im Wiener Museum Moderner Kunst –<br />

und bildet jetzt den Abschluss der Ausstellung<br />

in Krems. Dazu kommt noch<br />

eine kleine Arbeit aus Privatbesitz eines<br />

österreichischen Sammlers. Hauptleihgeberin<br />

und Kooperationspartnerin der<br />

Ausstellung ist die Helen Frankenthaler<br />

Foundation in New York, erzählt Steiniger,<br />

der die Schau kuratiert hat – eine Kooperation<br />

mit dem Museum Folkwang in<br />

Essen, das ab Jahresende unter demselben<br />

Titel die beinahe idente Werkauswahl<br />

zeigen wird.<br />

Wer war Helen Frankenthaler?<br />

Sie wurde 1928 in New York in eine liberale<br />

jüdische großbürgerliche Familie<br />

hineingeboren. Ihr Vater Alfred Frankenthaler<br />

urteilte als Richter am Obersten<br />

Gericht des Staates New York, ihre<br />

Mutter, eine geborene Löwenstein, war<br />

als kleines Kind mit ihrer Familie aus<br />

Deutschland in die USA gekommen. Die<br />

Familie lebte auf der eleganten Upper<br />

East Side, und Helen konnte ebenso wie<br />

ihre beiden Schwestern studieren.<br />

Sie absolvierte erst eine so genannte<br />

Prep School für wohlhabende Kinder in<br />

Sie experimentierte auf dem Papier, um das dann später<br />

in großen Gemälden umzusetzen. Billboard Study, 1966.<br />

New York, die Dalton School, und besuchte<br />

dann das Bennington College in<br />

Vermont, wo sie Malerei studierte. Das<br />

setzte sie dann nach ihrem Abschluss mit<br />

Privatstunden fort, unter anderem bei<br />

Hans Hofmann. In Krems sieht man ein<br />

ganz frühes Werk der jungen Künstlerin,<br />

das offensichtlich in der Tradition von<br />

Pablo Picasso und George Braque steht.<br />

Doch dann wandte sie sich anderen<br />

Vorbildern und Strömungen zu. Es war<br />

vor allem Jackson Pollock, der sie mit seinen<br />

großformatigen abstrakten Tropfbildern<br />

beeinflusste, sie besuchte ihn wiederholt<br />

in seinem Atelier. Und sie war<br />

im Frühjahr 1951 bereits bei einer großen<br />

Ausstellung, der 9th St. Exhibition<br />

of Paintings and Sculpture, vertreten,<br />

die als Gründungsausstellung des New<br />

Yorker abstrakten Expressionismus gilt.<br />

Diese wurde von 61 Männern und nur<br />

elf Frauen bestritten. Für die 23-Jährige<br />

war es ein bedeutender Schritt, hier dabei<br />

sein zu können, etwa neben Lee Krasner,<br />

der Frau von Jackson Pollock.<br />

Nun findet sie auch ihren Stil. Kurator<br />

Steininger erzählt dazu: „1952 entstehen<br />

Frankenthalers revolutionäre, großformatige<br />

Soak-Stain-Bilder. Sie breitet<br />

dafür unbehandelte Leinwände auf dem<br />

Boden aus und trägt dann verdünnte<br />

Ölfarbe mit unterschiedlichen Werkzeugen<br />

auf: direkt aus Farbdosen geschüttet,<br />

mit Pinseln, Schwämmen, Wischmops<br />

oder anderen Mitteln.“ Dabei bewegt sie<br />

sich auch direkt im Bild, kommt damit<br />

schon in die Näher des Action Paintings.<br />

Ölgemälde mit Kohlestrichen. Aus dem Jahr<br />

1952 datiert auch eines ihrer berühmtesten<br />

Werke: das in Pastellfarben gehaltene<br />

Ölgemälde mit Kohlestrichen Mountains<br />

and Sea. Es zeigt weder konkrete Berge<br />

noch das Meer und fasziniert dank seiner<br />

kräftigen Dynamik. 1955 wird ein erstes<br />

Werk von Frankenthaler vom Museum<br />

of Modern Art angekauft.<br />

Privat war sie in diesen Jahren mit<br />

dem bekannten Kunstkritiker Clement<br />

Greenberg liiert, er galt als Spezialist für<br />

die abstrakten Expressionisten. Nach der<br />

Trennung heiratete sie den Maler Robert<br />

Motherwell, das Paar ließ sich Anfang der<br />

1970er-Jahre scheiden.<br />

Frankenthaler, die 2011 starb, blieb<br />

zwar ihrem grundsätzlichen Malstil treu,<br />

änderte aber immer wieder ihre Perspektiven<br />

und Schwerpunkte. So findet sich<br />

etwa eine Phase mit streng horizontal gegliederten<br />

abstrakten Gemälden, die aber<br />

dennoch an Landschaften erinnern. „Sie<br />

hat gesagt, sie spielt auch mit dem Zufall,<br />

sie experimentiert auf dem Papier,<br />

um das dann später in großen Gemälden<br />

umzusetzen“, erläutert Steininger.<br />

Er hat sie zu seinem Bedauern nicht<br />

mehr persönlich kennen gelernt, „aber<br />

man weiß, dass sie eine starke Persönlichkeit<br />

war, sehr selbstbewusst.“ Die gefühlvoll<br />

präsentierten Werke von Helen<br />

Frankenthaler werden mit einer<br />

Schwarz-Weiß-Fotoserie des in Wien geborenen<br />

Magnum-Fotografen Ernst Haas<br />

ergänzt, der sie im Jahr 1969 bei ihrer Arbeit<br />

im Atelier begleiten durfte. Höchste<br />

Anspannung, dann wieder Nachdenklichkeit,<br />

schließlich körperlicher Einsatz<br />

beim Beugen über die großen Leinwände<br />

werden über die Jahrzehnte hinweg frisch<br />

ins Heute transponiert und wieder zum<br />

künstlerischen Leben erweckt.<br />

wına-magazin.at<br />

51<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 51 07.06.<strong>22</strong> 13:52


WINA WERK-STÄDTE<br />

Der goldene Ring aus<br />

dem Schatz von Colmar<br />

wird im Musée de Cluny in<br />

Paris aufbewahrt.<br />

Colmar<br />

Die jüdische Trauung, hebräisch<br />

Chuppa, ist gespickt mit symbolträchtigen<br />

Ritualen. Im Mittelalter<br />

spielte ein besonderer Hochzeitsring<br />

eine wichtige Rolle.<br />

Von Esther Graf<br />

er Ringwechsel, der heute bei<br />

keiner Trauung fehlen darf,<br />

hat im Judentum seinen Ursprung<br />

im „Erwerb“ der<br />

Braut. Die Halacha, das jüdische<br />

Religionsgesetz, sieht<br />

vor, dass der Bräutigam die<br />

Braut mit Edelmetall „erwirbt“ und sie<br />

dadurch abgesichert ist. Wenn es sich dabei<br />

um einen Ring handelt, wie es sich im<br />

Mittelalter etabliert hat, muss dieser einen<br />

bestimmten Wert haben. In der Regel<br />

war er aus Gold, musste am Stück gegossen<br />

sein und durfte keine Schmucksteine<br />

haben – Vorsichtsmaßnahmen, um einen<br />

Betrug zu vermeiden, der verheerende<br />

Folgen für die Rückabwicklung<br />

der unter falschen Voraussetzungen geschlossenen<br />

Ehe bedeutet hätte.<br />

Meistens waren diese besonders ausgeführten<br />

Hochzeitsringe im Eigentum<br />

einer jüdischen Gemeinde und wurden<br />

nur für die Zeremonie verwendet (und<br />

die Braut erhielt ein anderes Stück Edelmetall<br />

vom Bräutigam).<br />

Die beeindruckendsten Fundstücke<br />

haben einen Aufsatz in Form eines Hauses<br />

und tragen den Schriftzug „Masal<br />

tow“. Das Haus symbolisiert aber nicht<br />

das gemeinsame Heim, sondern erinnert<br />

an den Jerusalemer Tempel, dessen Zerstörung<br />

bis heute auch beim Zerbrechen<br />

eines Glases gedacht wird.<br />

Der goldene Ring aus dem Schatz von<br />

Colmar stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert<br />

und ist mit Emaileinlagen verziert.<br />

Auf einem mit Miniatursäulen versehenen<br />

sechseckigen gotischen Aufsatz<br />

befindet sich ein Pyramidendach mit der<br />

Inschrift „Masal tow“.<br />

COLMAR<br />

In der drittgrößten Stadt im Elsass leben Juden seit dem 13. Jahrhundert. Im Zuge der<br />

Pestpogrome 1349 wurde die jüdische Gemeinde ausgelöscht. Nach einer zaghaften<br />

Wiederansiedlung kam es 1512 zur endgültigen Vertreibung. Erst im Zuge der Französischen<br />

Revolution entstand eine florierende jüdische Gemeinde. Als das Elsass 1940 von<br />

den Nazis besetzt wurde, wurden die verbliebenen Juden deportiert und größtenteils<br />

ermordet. Heute leben in Colmar rund 1.000 Jüdinnen und Juden, deren Zentrum die<br />

1843 eingeweihte Synagoge bildet.<br />

© Marie-Lan Nguyen, 2009 Commons Wikimedia https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Jewish_wedding_ring_MNMA_Cl20658_n2.<br />

52 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 52 07.06.<strong>22</strong> 13:52


URBAN LEGENDS<br />

Betroffen ist<br />

die ganze Welt<br />

Rastlos taumelnd bewegen wir uns durch die gegenwärtigen<br />

Ambivalenzen und Unsicherheiten.<br />

ie letzten Wochen sind geprägt von einer<br />

täglichen Flut an Meldungen über<br />

neue Phasen des Gemetzels, unfassbare<br />

Kriegsverbrechen, Berichten über Einzelschicksale<br />

Geflohener, wiederkehrende<br />

Von Paul Divjak<br />

Helden-Storys. Unerträgliche Bilder der<br />

Zerstörung und des Mordens prägen unseren Alltag. Prominente<br />

britische Musiker musizieren in provisorischen Schutzräumen<br />

im Kriegsgebiet, und die Farben der Nationalfahne des<br />

überfallenen Landes zieren Profilfotos auf Social-Media-Accounts<br />

wie Gebäude europäischer Institutionen; Solidaritätsbekundungen<br />

und Verurteilungen des russischen Aggressors<br />

sind Grundtenor. Führende Intellektuelle treten für Aufrüstung<br />

und gegen blinden Pazifismus ein, andere versuchen sich<br />

an differenzierteren Analysen einer durch und durch verworrenen<br />

Situation.<br />

Die Europäische Union sieht sich mit einem Weltzustand<br />

konfrontiert, dem aktuell mit vehementer Militarisierung begegnet<br />

wird, während der ukrainische Präsident zum Coverstar<br />

renommierter Magazine avanciert und ihn deutsche Medien<br />

gar zu einer Filmplakatikone stilisieren – als wäre der Krieg<br />

eine kinematografische Inszenierung à la Hollywood.<br />

Gegenwärtig drohen Hungerkatastrophen, Versorgungsengpässe,<br />

Schieflagen in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und<br />

ökologischen Gefügen, die noch gar nicht absehbar sind. Betroffen<br />

ist die ganze Welt. So gibt es beispielsweise in Thailand<br />

Regionen, die nach dem Covid-Desaster nunmehr weiterhin<br />

touristenleer bleiben. Auf Phuket liegen ganze Orte brach; Hotels,<br />

Lokale und Läden sind verlassen – es fehlen die ukrainischen<br />

und russischen Touristen – und damit das Einkommen<br />

vieler Großfamilien. Im Zentrum Wiens wiederum wurde noch<br />

nie so viel ukrainisch und russisch gesprochen wie dieser Tage.<br />

Und wie man hört, hat der Zuzug aus dem Osten bereits Auswirkungen<br />

auf das Portfolio der großen Internetdatingplattformen<br />

und Partnerbörsen. Von der grausamen Realität des Human<br />

Trafficking ganz zu schweigen.<br />

Neben jenen, die spenden oder sich zivilgesellschaftlich engagieren,<br />

die demonstrieren, Displaced Persons helfen, Wohnraum<br />

für Geflohene zur Verfügung stellen – auch hier blüht<br />

freilich ein grauer Markt, in dem Zwischenhändler vom Ausgeliefertsein<br />

und Leid profitieren –, ist aktuell nicht selten ein<br />

beschleunigtes „Business-as-usual“ zu beobachten. In unsicheren<br />

Zeiten scheint das getriebene Beschäftigtsein Halt zu<br />

„We want to say that any form of evil<br />

and aggression makes people cry,<br />

that´s why U CRY NOW” <br />

Betty, Miriam & Siona Endale aka FO SHO*<br />

geben: „Arbeiten bis zum Umfallen“ (Der Spiegel) als Versuch,<br />

der empfundenen Ohnmacht angesichts von postpandemischer<br />

Erschütterung, Klimaveränderungen, allgegenwärtigem<br />

militärischem Wahnsinn (der „Logik des Krieges“), menschlichem<br />

Leid und offensichtlich aus dem Lot geratener und bedrohter<br />

gewohnter Lebenswelten ein Stück weit Kontrollvermögen<br />

entgegenzuhalten? Rastlos taumelnd bewegen wir uns<br />

durch die gegenwärtigen Ambivalenzen und Unsicherheiten.<br />

„Oy oy oy Belz, mayn shtetele Belz …“<br />

Und dann begegnen wir unvermittelt zwei beeindruckenden<br />

jungen Menschen, die mit den ÖBB reisen. Ihr Ziel ist Venedig.<br />

Der eine trägt lange Haare, Hut, Strümpfe, Zizit und einen<br />

langen gestreiften Mantel, der andere eine weiße gestrickte<br />

Kippa, wie in einem 1970er-Kibbuz, und ein dunkles Sweatshirt<br />

mit dem aufgestickten Symbol einer lodernden Flamme<br />

über seinem Tallit, dazu Jeans. Sie haben ihre Gebetsbücher<br />

auf dem Tisch im Großraumwaggon platziert, sprechen einen<br />

Segensspruch, schneiden konzentriert den Brotlaib an,<br />

essen, trinken. Sie widmen sich innig dem Gebet, lachen und<br />

singen fröhlich laut. Dann folgt ein gemeinsames Backgammon-Spiel.<br />

Das Smartphone wird nur fürs gezielte Fotografieren<br />

der vorbeiziehenden Landschaften und für ein Telefonat<br />

mit der Mutter zur Hand genommen. „Mayn heymele,<br />

dort vo ikh hob mayne kindishe yorn farbrakht …“ Ein Jegliches<br />

hat seine Zeit, und die Aufmerksamkeit gilt jeweils ganz<br />

und gar einer Sache. Was von den beiden jungen Menschen<br />

ausgeht, sind Selbstbewusstsein, Präsenz und Lebensfreude<br />

– in einem Ordnungssystem, das ihnen Halt gibt.<br />

Womöglich könnte dies auch im säkularen Leben hilfreich<br />

sein, gerade in Zeiten, in denen das Getöse des Weltgeschehens<br />

und die Komplexität des Wahnsinns zur täglichen Überforderung<br />

werden: den allgegenwärtigen kleinen Bildschirm,<br />

der uns scheinbar mit der Welt und allem und jedem verbindet,<br />

bisweilen wegzulegen, bewusst innezuhalten und den Fokus<br />

der Wahrnehmung auf jeweils eine Sache zu lenken, um<br />

dann gesammelt handlungsfähig zu sein.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

*FO SHO ist ein ukrainisches Hip-Hop-Projekt von Betty, Miriam und Siona Endale, drei Schwestern mit äthiopisch-jüdischen<br />

Wurzeln, deren neuer Song U CRY NOW auf die Lage in der Ukraine aufmerksam machen will.<br />

wına-magazin.at<br />

53<br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 53 07.06.<strong>22</strong> 13:52


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal<br />

besonders „leakalisch“ habe ich<br />

mich gefühlt, ... als ich gestern ein<br />

Mini-Jiddish-Konzert gegeben habe<br />

beim Schabbat-Dinner meiner israelischen<br />

Kindheitsfreundin Enat und ihrer<br />

dreißigköpfigen Familie in Tel Aviv.<br />

Das letzte Mal einen besonders schönen<br />

jiddischen Ausdruck gerappt habe<br />

ich … im Dezember 2021, als ich mit meinem<br />

neuen Song Shetl Neshume aufgetreten<br />

bin. Shtetl Neshume ist ein Wort,<br />

das ein Bekannter von mir erfunden hat,<br />

um mich zu beschreiben: ein Mensch<br />

mit einer Shtetl-Seele, einer Seele, die<br />

nach dem Shtetl-Leben strebt und Nostalgie<br />

für das jüdische Leben vor dem<br />

Krieg empfindet.<br />

Das letzte Mal, dass ich mir dachte,<br />

Wien ist Minneapolis gar nicht so unähnlich,<br />

war ... noch nie! Die Städte<br />

könnten nicht unterschiedlicher sein.<br />

Wien hat so viel Geschichte und fühlt<br />

sich majestätisch an – was man von<br />

Minneapolis nicht gerade sagen kann.<br />

Und die Kaffeehaus-Kultur in Wien … unschlagbar!<br />

Das letzte Mal Schtreimel getragen<br />

habe ich … vor zwei Wochen, als ich<br />

ein Fotoshooting für das Cover meines<br />

neuen Albums hatte, das im Sommer<br />

veröffentlicht wird. Der Schtreimel ist<br />

mein Lieblingsaccessoire, er gibt mir irgendwie<br />

„magic power“, und paradoxerweise<br />

fühle ich mich damit femininer.<br />

Das letzte Mal, dass ich vor Freude einen<br />

dreifachen Axel gesprungen bin,<br />

war … in meinen Träumen. Ich muss ehrlich<br />

sein: Ich bin nie einen Dreifach-Axel<br />

gesprungen, ich habe es nur bis zum<br />

doppelten geschafft. Ich träume jedoch<br />

sehr oft vom Eiskunstlaufen, und in meinen<br />

Träumen ist das Springen so leicht<br />

und unbeschwert. Allerdings schiebe ich<br />

immer Panik, dass ich entweder meine<br />

Kür vergesse oder meine Haare sich öffnen<br />

... seltsam, ist mir nämlich im echten<br />

Leben nie passiert.<br />

TRAUMHAFTER<br />

DOPPEL-AXEL<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />

In diesem Monat erzählt die Sängerin und Schauspielerin<br />

Lea Kalisch von ihrer Shtetl-Seele und der magischen<br />

Kraft des Schtreimel-Tragens.<br />

Die gebürtige Zürcherin Lea Kalisch lebt als Sängerin und Schauspielerin<br />

in New York und Minneapolis. Sie setzt sich viel mit ihrer jüdischen<br />

Herkunft und Jiddischkeit auseinander und mischt Sprachen,<br />

Traditionen und Stile: Von Rap bis Rumba, von Hip-Hop bis<br />

Chassidisch, von Jazz bis Jiddisch. Was an der früheren<br />

Eiskunstläuferin typisch Schweizerisch ist?<br />

Ihre Liebe zu guter Schokolade.<br />

leakalisch.com<br />

Lea Kalisch spielt auf dem Straßenfest der IKG Wien,<br />

12. Juni, 14:30 Uhr, Judenplatz<br />

Heute Abend: So wie musikalisch, aber leakalisch! in Begleitung von<br />

Bela Koreny, 14. Juni, 20 Uhr, Porgy & Bess<br />

© Jonathan Hauerstock<br />

54 wına | Juni 20<strong>22</strong><br />

<strong>juni</strong><strong>22</strong>.indb 54 07.06.<strong>22</strong> 13:52


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Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, einen Lichtbildausweis mitzuführen.<br />

Mehr Informationen unter: www.ikg-wien.at/strassenfest<br />

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