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60_Ausgabe Juni 2008

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Vorwort<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

Ehre, dem die Ehre gebührt. Die alte<br />

Bibelweisheit bestätigte sich gerade mit<br />

der Verleihung der Ehrenbürgerschaft<br />

der Stadt Görlitz an unseren Autor Horst<br />

Wenzel. Auch unsere Leser schätzen<br />

seine kenntnisreichen und angenehm<br />

lesbaren Beiträge über Persönlichkeiten,<br />

Bauleistungen und Ereignisse unserer<br />

Stadtgeschichte, etwa über Georg<br />

Emmerich, über Jacob Böhme oder<br />

über Paul Mühsam. Dankbar nutzen sie<br />

die anschaulichen Bild-Text-Hefte über<br />

Görlitzer Kirchen, die durch Informationsdichte,<br />

Bekenntnistreue und Faßlichkeit<br />

beeindrucken. Viele Mitbürger<br />

wurden durch Horst Wenzels legendären<br />

Deutschunterricht an der Schulstraße<br />

und vor allem an der Annengasse geprägt,<br />

eigneten sich fürs Leben die Liebe<br />

zur deutschen Literatur und Sprache an,<br />

gaben diese Grundhaltung an die eigenen<br />

Kinder und Enkel weiter. Begeistert<br />

lasen sie seine Kinderbücher.<br />

An Lesenachmittagen der Stadtbibliothek,<br />

in Weiterbildungsveranstaltungen<br />

der Deutschlehrer oder in der Evangelischen<br />

Akademie begegneten wir uns<br />

über Jahrzehnte hinweg, abwechselnd<br />

aufmerksamer Zuhörer oder suchender<br />

Referent. Er weiß um die Zeitlichkeit der<br />

irdischen Dinge und stellte sich dem Widersprüchlichen<br />

menschlichen Daseins.<br />

Im Miteinander und Füreinander suchte<br />

er als Mitbürger „der Stadt Bestes“, blieb<br />

also ohne Wenn und Aber seiner Heimat<br />

und ihren Menschen treu. Seine aufrichtige<br />

Toleranz gegenüber Andersdenkenden<br />

zeugt von einer selten gewordenen<br />

noblen Geisteshaltung. Eine langjährige<br />

Freundschaft verband uns mit der inzwischen<br />

verstorbenen Ehrenbürgerin Else<br />

Levi-Mühsam. So hoffen wir mit allen<br />

unseren Lesern, dass er uns auch in naher<br />

Zukunft mit seiner unaufdringlichen<br />

Altersweisheit als Autor die Treue halten<br />

möge.<br />

Unser <strong>Juni</strong>heft eröffnet zwei neue mehrteilige<br />

Serien. Eine widmet sich dem<br />

100. Jubiläum der Straßburg-Passage,<br />

eine weitere der Geschichte des unvergessenen<br />

Dorfes Deutsch-Ossig. Zum<br />

wiederholten Male erfahren wir Neues<br />

über Schulsternwarte und Straßenbahn.<br />

Es eignet sich durchaus als Urlaubslektüre,<br />

ob auf dem Balkon, einer Parkbank<br />

oder auch in verlockender Ferne. Dass<br />

Sie uns treu bleiben, wünscht sich Ihr<br />

Ernst Kretzschmar<br />

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Einleitung<br />

3


Märkte und Krämer<br />

und Krämer<br />

Warenhaus Friedländer, Demianiplatz, um 1900<br />

Möchte man heutzutage<br />

über einen „historischen<br />

Markt“ vor dem Rathaus<br />

bummeln, muss man auf<br />

die nächste Festwoche<br />

warten und sich ein Festabzeichen<br />

kaufen. Am Eröffnungstage<br />

gerät man<br />

dort in ein arges Gedränge<br />

vor den buntbemalten Buden<br />

mit Sommerblumen<br />

und frischen Hühnereiern,<br />

mit duftendem Landbrot<br />

und antiquarischem<br />

Trödelkram. Denn sonst<br />

hat es unsereins mit dem<br />

Einkaufen eilig. Unsere<br />

übersachlichen Kaufhallen,<br />

Warenhäuser und<br />

Spezialverkaufsstellen an<br />

den Hauptgeschäftsstraßen<br />

und in den Neubauvierteln<br />

besitzen nur noch<br />

wenig von dem Reiz, den<br />

Handel und Wandel rund<br />

um den Untermarkt einmal<br />

hatten. Und so bekom-<br />

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4


Märkte<br />

Görlitzer Einzelhandel<br />

und<br />

früher<br />

Krämer<br />

men sogar ein paar gewöhnliche Kioske mit<br />

drolliger altertümlicher Verkleidung eine erstaunliche<br />

Anziehungskraft, sobald sie im<br />

Festwochentrubel vor den anheimelnden<br />

Laubengängen am Untermarkt auftauchen.<br />

Dabei war der Untermarkt tatsächlich für<br />

Jahrhunderte das Zentrum für Märkte und<br />

Krämer in Görlitz. An der Südseite der „Zeile“<br />

hatten schon im Mittelalter die wenigen<br />

Würz- und Seidenkrämer ihre Stände. Sie galten<br />

als ranghöchste Gruppe der Kleinhändler,<br />

bei ihnen bekam man kostbare Stoffe, seltene<br />

Gewürze, Pelzwaren, Bücher und Kunstgegenstände,<br />

die nur für die zahlungskräftigen<br />

Bürger erschwinglich waren. Zahlreicher<br />

und weniger vornehm waren die Spitz- oder<br />

Kleinkrämer. Nach den Pudritzen, den überbauten<br />

Gängen der Fachwerk- und Holzhäuser,<br />

nannte man sie auch die Pudritzkrämer.<br />

Sie mussten sich mit der Nordseite der<br />

„Zeile“ begnügen. Unter den Hirschläuben<br />

verkauften auch die Beutler ihre Lederwaren:<br />

Tabaksbeutel, Lederhosen, Handschuhe,<br />

Bruchbänder und Hosenträger. An festen<br />

Plätzen hatten verschiedene Handwerke<br />

ihre „Bänke“, immer eine begrenzte Zahl. Die<br />

Schuhbänke und Brotbänke fand man an-<br />

fangs auf dem Heringsmarkt, dem nördlichen<br />

Untermarkt, die Kuchenbänke und Fleischbänke<br />

an der Fleischergasse. Später, bis ins<br />

vorige Jahrhundert, zimmerte man sich hölzerne<br />

Verkaufsbuden. Sie zogen sich um die<br />

„Zeile“, die Dreifaltigkeitskirche und das Salzhaus<br />

und lehnten sich auch an die alte Stadtmauer.<br />

In den engen, dämmrigen Gewölben<br />

und Buden der Krämer stapelten sich Fässer,<br />

Kisten und Säcke, die verschiedensten Gerüche<br />

vermengten sich, und vor den Eingängen<br />

warben die Auslagen zum Kauf. Schaufenster<br />

kannte man noch nicht, oft dienten die heruntergeklappten<br />

Fensterladen als Verkaufstische.<br />

Jeder Krämer hatte sein Auskommen.<br />

Über alle Maßen liebten die alten Görlitzer<br />

die drei Jahrmärkte. Je nach der Jahreszeit<br />

unterschied man den „kalten“ Jahrmarkt,<br />

den „warmen“ Jahrmarkt und den Kirmes-<br />

Jahrmarkt. Da kamen Hunderte von Händlern<br />

mit ihren Wagen von weither. Buden,<br />

Bänke und Tische säumten die Gassen und<br />

zogen sich in die Hausgewölbe. Im dichten<br />

Gedränge kam man kaum vorwärts. Für<br />

eine Woche waren viele Leute rein aus dem<br />

Häuschen. Oft bekamen die Kinder sogar<br />

schulfrei, denn den Lehrern hörten sie vor<br />

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5


Märkte und Krämer<br />

und Krämer<br />

Wochenmarkt Marienplatz 1900<br />

Spannung sowieso kaum noch zu. Nur hier<br />

bekamen die Frauen die neuen Modeartikel<br />

zu sehen, nur hier erfuhren die Männer von<br />

technischen Neuerungen wie den Schwefelhölzchen.<br />

Pfefferküchler und Töpfer hatten<br />

ihr gutes Geschäft, aber auch Possenreißer<br />

und Bänkelsänger stellten sich ein, und<br />

manchmal stellten Menagerien ihre fremdartigen<br />

Tiere vor. Etwas stiller ging es auf den<br />

Weihnachtsmärkten zu, die auch lange Jahre<br />

auf dem Untermarkt Heimatrecht hatten.<br />

Auch den Wochenmarkt am Donnerstag<br />

mochten die Görlitzer nicht missen. Handwerker,<br />

Stadtgärtner und Bauern hatten vielerlei<br />

anzubieten. Gegenüber vom „Goldenen<br />

Baum“, zwischen Neptunbrunnen und<br />

Waage, spielte sich der Fischmarkt ab, bis<br />

zur Weihnachtszeit bekam man lebende Fische.<br />

Den Butter- und Eiermarkt fanden die<br />

sparsamen, wählerischen Hausfrauen und<br />

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6<br />

Titel |


Märkte<br />

Görlitzer Einzelhandel<br />

und<br />

früher<br />

Krämer<br />

Dienstmädchen dann auf dem Fischmarkt<br />

vor der heutigen Musikschule, den Flachsmarkt<br />

an der heutigen Jacob-Böhme-Straße,<br />

den Geflügelmarkt an der unteren Elisabethstraße<br />

bis zur Bergstraße. Für den<br />

Heu- und Strohmarkt war der Nikolaigraben<br />

freigehalten, für den Holzmarkt der Nikolaiturm,<br />

für den Obstmarkt und die Böttcher<br />

der Klosterplatz. Die Topfmärkte siedelten<br />

sich auf dem heutigen Lutherplatz an. Auf<br />

dem Obermarkt spielte sich der Getreidemarkt<br />

ab. Bauern aus dem weiten Umkreis,<br />

sogar aus Böhmen, waren mit ihren Pferdefuhrwerken<br />

gekommen. Die Getreidesäcke<br />

standen aufgebunden bereit, damit jeder<br />

Käufer die Güte prüfen konnte. Etwa viermal<br />

im Jahre gab es den Viehmarkt, da kam es<br />

vor, dass an die tausend Pferde und Rinder,<br />

Wochenmarkt Elisabethstraße 1904<br />

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Titel |<br />

7


Märkte und Krämer<br />

und Krämer<br />

Wochenmarkt Marienplatz 1901<br />

Kälber und Schweine aufgetrieben wurden.<br />

Gasthöfe und Geschäfte rund um die Marktplätze<br />

bekamen ihren guten Teil von den<br />

Markttagen. In zufriedener Bierrunde sah<br />

man Händler und Kunden im „Goldenen<br />

Baum“ am Untermarkt (er besteht seit 1538),<br />

in der „Goldenen Sonne“, Demianiplatz 54<br />

(früher „Drei Krebse“) oder im Ratskeller beieinander.<br />

Vor hundert Jahren reihten sich um<br />

den Obermarkt drei Hotels („Goldene Krone“,<br />

„Preußischer Hof“, „Weißes Ross“), zwei<br />

Weinstuben und die Speisegaststätte Pfennigwerth,<br />

wo sich Getreidehändler und Bauern<br />

trafen. Auch im Kolonialwarengeschäft<br />

von Hecker, im Zigarrenladen von Franke,<br />

im Eisen- und Kurzwarengeschäft Krumpelt,<br />

in der Nagelschmiede am Reichenbacher<br />

Turm und in der Großdestillation Friedländer<br />

gab man sich die Klinke in die Hand.<br />

Aus der Drogerie Schluckwerder nahm man<br />

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8<br />

Titel |


Märkte<br />

Görlitzer Einzelhandel<br />

und<br />

früher<br />

Krämer<br />

Farben, aus dem Leinen- und Kleiderwarengeschäft<br />

von Eduard Schulze Schürzen und<br />

Hemden mit. Und alles hatte man in einem<br />

kurzen Rundgang um den Platz geschafft.<br />

Erst ab 1880 wuchsen die neuen Geschäftsstraßen<br />

und Wohnviertel. Die Ladengeschäfte<br />

waren geräumig, hell, sauber und schließlich<br />

sogar geheizt, das gefiel den Kunden wie eben<br />

Warenhaus “Zum Strauß”, Demianiplatz, 1913<br />

alles Neue. Mit den Märkten ging es abwärts.<br />

Nur die Jahrmärkte hielten sich noch einige<br />

Zeit. Es bleibt der Wochenmarkt. Seit 1864<br />

hat der sich an der Elisabethstraße behauptet.<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

(Geschichten aus Alt-Görlitz 1983)<br />

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Titel |<br />

9


Die Passage als Bauaufgabe<br />

Sie ist etwas Alltägliches und doch etwas<br />

Besonderes: Die Passage. Der Begriff<br />

ist dem Französischen entlehnt<br />

und bedeutet soviel wie Durchgang. Ein<br />

glasbedeckter Verbindungsgang führt<br />

zwischen zwei belebten Straßen durch<br />

einen Häuserblock hindurch. Seine Seiten<br />

säumen Verkaufsläden in ein oder<br />

zwei Geschossen. Zuweilen mischt sich<br />

ein Café in die Reihe und bietet lukullische<br />

Genüsse zum Einkaufbummel.<br />

Die Passage entsteht ausschließlich<br />

durch das private Engagement. Ihre Zeit<br />

ist merkwürdig begrenzt - im frühen 19.<br />

Jahrhundert tritt sie ihren Siegeszug, an<br />

und bald nach der Jahrhundertwende<br />

verschwindet sie wieder. Dies ist nur mit<br />

den Eigentümlichkeiten der internationalen<br />

und schließlich auch der deutschen<br />

Warenhausgeschichte zu erklären. Heute<br />

gibt es die Passage wieder – ganz in<br />

modernen Formen gehalten. So manch<br />

einer hat die Vorzüge der überdachten<br />

Ladenstraße als sehr zweckmäßig erkannt.<br />

An die Großartigkeit der alten<br />

Passagen wie der Kaisergalerie in Ber-<br />

Mittelteil der Galleria Vittorio Emmanuele<br />

II in Mailand. Giuseppe Mengoni, 1864<br />

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10<br />

Geschichte |


Die Passage als Bauaufgabe<br />

lin, der Galleria Vittorio Emmanuele II<br />

in Mailand oder der Gallerie St. Hubert<br />

in Brüssel reichen sie nicht heran. Diese<br />

nun über 100 Jahre alten Bauten sind<br />

ein Stück Kulturgeschichte, haben städtisches<br />

Leben wesentlich befördert und<br />

mitgeprägt. Heute sind von den 17 Passagen<br />

in Deutschland nur noch insgesamt<br />

5 erhalten, international sind es<br />

ca. 120 von über 400 Bauten.<br />

Die erste Passage entstand im Pariser<br />

Palais-Royal, in der Zeit der Französischen<br />

Revolution aus Holz errichtet. In<br />

den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts<br />

erlebt die französische Metropole<br />

einen Passagenboom. Die neu gewonnene<br />

Gewerbefreiheit lässt in kurzer<br />

Zeit 27 dieser Ladenstraßen entstehen.<br />

Werbung zieht das Publikum aus den<br />

entlegensten Winkeln in die Passagen<br />

und ihre Geschäfte. Die modernsten<br />

Errungenschaften sind dort zu sehen.<br />

Mehr noch – es entsteht eine moderne<br />

Geschäftskultur mit offener Preisauszeichnung<br />

und Preisetikett.<br />

Die Pariser Passagenmode bleibt nicht<br />

ohne Wirkungen auf das übrige Europa.<br />

Wahrhaft gigantische Anlagen entstehen<br />

in Italien. Die Galleria Vittorio Emmanuele<br />

II in Mailand besteht aus zwei Passagen<br />

mit Fronten zu jeweils vier Geschossen.<br />

Den Schnittpunkt beherrscht eine<br />

mächtige gläserne Kuppel. In Deutschland<br />

wird diese Entwicklung viel später,<br />

erst nach der Gründung des Deutschen<br />

Reiches im Jahre 1871, einsetzen. Weißund<br />

Wollwarenhändler wie Abraham<br />

Wertheim, Hermann Tietz oder Rudolf<br />

Karstadt, häufig im Norden Deutschlands<br />

beheimatet, sind die Schrittmacher.<br />

Was in Frankreich bereits 50 Jahre<br />

zuvor die Entwicklung vorantrieb, sollte<br />

nun auch in Deutschland sichtbar werden:<br />

Neugier und ungezügelte Kauflust.<br />

Als Leonhard Tietz um 1890 erste Filialen<br />

im Rheinland gründete, eröffnete<br />

er auch in Köln ein Warenhaus, das<br />

so großen geschäftlichen Erfolg hatte,<br />

dass es fünf Tage nach seiner Eröffnung<br />

wieder geschlossen werden musste,<br />

um die ausverkaufte Ware ergänzen<br />

zu können. Dieses Geschäft sollte dann<br />

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Geschichte | 11


Die Passage als Bauaufgabe<br />

Die Kaiserin-Augusta-Passage in Köln,1902<br />

für den Kaufmann Leonhard Tietz errichtet.<br />

auch die Basis für die 1902 eröffnete<br />

Kaiserin-Augusta-Passage sein. Die Inspiration<br />

dazu erhielt Leonhard Tietz bei<br />

einem Besuch der Galleria Vittorio Emmanuele<br />

II in Mailand. Um 1900 greift<br />

auch in Deutschland die Passagenmode<br />

um sich. In Berlin, Leipzig, Dresden,<br />

Hannover, Dortmund, Frankfurt/M. und<br />

schließlich auch in Görlitz entstehen solche<br />

Anlagen. Sie sind ein Teil großstädtischer<br />

Kultur. Görlitz war nie Großstadt,<br />

jedoch die Entwicklung zum „Pensionopolis<br />

des deutschen Ostens“ hatte den<br />

Wunsch nach großstädtischem Flair erwachen<br />

und die Händler wie auch die<br />

Stadtväter aufmerksam die Neuerungen<br />

der Zeit beobachten lassen. Die Straßburg-Passage<br />

entsteht zur gleichen Zeit<br />

wie die Specks-Hof-Passage in Leipzig<br />

und markiert einen letzten Höhepunkt<br />

der deutschen Passagenmode, die mit<br />

Beginn des Ersten Weltkrieges ihr vorläufiges<br />

Ende findet.<br />

Dr. Andreas Bednarek<br />

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12<br />

Geschichte |


Die Passage als Bauaufgabe<br />

Wertheim-Warenhaus Berlin. 1896-1906 (Leipziger Straße 132/137 und Leipziger Platz 12)<br />

Alfred Messel schuf mit diesem Bau den Prototyp des deutschen Warenhausbaus.<br />

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Geschichte |<br />

13


Otto Straßburg<br />

Straßburg<br />

-<br />

Otto Straßburg um 1935<br />

Vor nunmehr 100 Jahren<br />

konnte der erfolgreiche<br />

Görlitzer Kaufmann Otto<br />

Straßburg (1862-1941)<br />

sein bemerkenswertes<br />

Lebenswerk mit der Eröffnung<br />

der Passage<br />

zwischen Berliner Straße<br />

und Jakobstraße krönen.<br />

Das architektonische Juwel<br />

mit Gründerzeitzentrum<br />

der Stadt trägt<br />

seither, wenn auch mit<br />

fast 50 Jahren Unterbrechung,<br />

seinen Namen.<br />

Bei der Eröffnungsfeier<br />

lobte Kommerzienrat Ferdinand<br />

Wilhelmy, Stadtverordnetenvorsteher<br />

und<br />

Präsident der Industrieund<br />

Handelkammer der<br />

Preußischen Oberlausitz,<br />

den Unternehmer:<br />

„Geradezu sprichwörtlich<br />

geworden ist in Görlitz<br />

ihre Kulanz dem Publikum<br />

gegenüber. Doch<br />

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14<br />

Geschichte |


Otto<br />

Görlitzer<br />

Straßburg<br />

Kaufmann von Format<br />

das nicht allein, sondern auch Ihr rastloser<br />

Fleiß, Ihre enorme Tätigkeit, Ihr stetes<br />

Erkennen aller Bedürfnisse der Zeit,<br />

Ihr großes organisatorisches Talent haben<br />

Ihr Geschäft zu solcher Blüte gebracht.“<br />

In der Festschrift zum 50. Geschäftsjubiläum<br />

1937, das noch heute in vielen<br />

Görlitzer Familien aufbewahrt wird,<br />

kann sich jedermann über die Entwicklung<br />

des Unternehmens und die Firmengrundsätze,<br />

über die Familiengeschichte<br />

des Gründers und über den politischen<br />

Standort der Beteiligten selbst unterrichten.<br />

Auch die Festschriften von 1908 und<br />

1927 sind reich an Informationen und<br />

Abbildungen. 1937 lesen wir: „Geboren<br />

am 18.Januar 1862 in Kölleda in Thüringen<br />

als Sohn des Leinewebermeisters<br />

und Kaufmanns Friedrich Straßburg,<br />

hatte Otto Straßburg von frühester Jugend<br />

an engste Fühlung mit dem Textilwarenhandel.<br />

Er bestand seine Lehrzeit<br />

bei der Firma C. Beeckmann, Weißenfels<br />

an der Saale, und besuchte dort auch<br />

die Handelsschule. Seine Wanderjahre<br />

führten ihn u.a. über Gera zu der bekannten<br />

Görlitzer Firma Webel, und er<br />

fand schon damals Gefallen an der aufstrebenden<br />

Stadt. Hierauf bereiste er<br />

als Vertreter eines Plauener Hauses große<br />

Teile Deutschlands und Russlands,<br />

kehrte aber dann nach Görlitz zurück,<br />

um seinen Herzenswunsch, selbst ein<br />

Geschäft zu gründen, zur Ausführung<br />

zu bringen. Seine finanziellen Mittel waren<br />

sehr beschränkt, aber er vereinigte<br />

in seiner Person alles, was an Intelligenz,<br />

außergewöhnlicher Liebe zum<br />

Beruf, gründlichem Fachwissen, zielbewusstem<br />

Arbeiten, gutem Gedächtnis<br />

und einer hohen Auffassung kaufmännischer<br />

Ehrbegriffe zu einem tüchtigen<br />

Kaufmann gehört.“<br />

Am 9.10.1887 gründete er Berliner<br />

Straße 7 ein „Spezialgeschäft für Leinen-<br />

und Baumwollwaren, Gardinen,<br />

Geraer Kleiderstoffe sowie Aussteuerartikel<br />

aller Art“. Der Erfolg des Unternehmens<br />

erforderte und ermöglichte<br />

dessen ständige Erweiterung. Erworben<br />

wurden die Häuser Berliner Straße 7,<br />

8 und 9 und Jakobstraße 34. Nach nur<br />

halbjähriger Bauzeit wurde im Dezem-<br />

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Geschichte |<br />

15


Otto Straßburg<br />

Straßburg<br />

-<br />

ber 1908 die Passage eröffnet, nach den<br />

Worten der Festschrift von 1937 „eines<br />

der schönsten Bauwerke dieser Art im<br />

ganzen Reich“. Seit 1912 Mitglied der<br />

Industrie- und Handelskammer, übernahm<br />

der Firmengründer öffentliche<br />

Ämter. Wir lesen 1937: „Neben seiner<br />

unermüdlichen geschäftlichen Tätigkeit<br />

widmete Herr Otto Straßburg einen<br />

beträchtlichen Teil seiner Zeit den<br />

Interessen des Kaufmannsstandes und<br />

als langjähriges Mitglied der Handelskammer<br />

und als Handelsrichter in vielen<br />

Ämtern...Er war Ausschussmitglied der<br />

bedeutendsten Fachverbände und gründete<br />

1922 die Ortsgruppe Görlitz und<br />

1923 den Bezirksverein Niederschlesien<br />

des Reichsbundes des Textil-Einzelhandels,<br />

die er über zwölf Jahre mit großer<br />

Hingabe als erster Vorsitzender leitete.“<br />

18 Jahre lang (bis 1905) stand<br />

ihm sein Bruder Fritz als Mitarbeiter<br />

zur Seite. Aus der Ehe mit Luise Helene<br />

Corves gingen fünf Kinder hervor: Gert<br />

(1901-1966), Heinz (1904-1944), Hans-<br />

Joachim (1908-1946), Wolfgang (1912-<br />

1981) und Annerose. Gert und Hans-Joachim<br />

traten 1936 als Mitinhaber in die<br />

Firma ein, zugleich als Leiter und dessen<br />

Stellvertreter. Der Betriebsgründer<br />

blieb Seniorchef und starb bald darauf<br />

am 22.5.1941 in der Gewissheit, sein<br />

Lebenswerk stehe auf sicheren Füßen.<br />

Nach Kriegsende 1945 wurde das Unternehmen<br />

unter Besatzungsrecht verstaatlicht.<br />

Das konnte kaum überraschen.<br />

Während vielejüdische Geschäftsnachbarn<br />

(Rauch, Meirowsky, Pese, Freundlich,<br />

Schlesinger, Kunz, Miodowsky, Rosenthal<br />

und andere) dem Druck der<br />

antijüdischen Politik nach 1933 weichen<br />

mussten, betonte Straßburg in seiner<br />

Festschrift 1937 seine Herkunft aus einem<br />

„deutschstämmigen Bauern- und<br />

Leinewebergeschlecht“ an die Adresse<br />

jener, „die immer noch Zweifel an der<br />

arischen Herkunft der Familie hegen“,<br />

was, wie es hieß, der „Sachverständige<br />

für Rassenforschung beim Reichsministerium<br />

des Innern in Berlin“ bereits am<br />

5. August 1933 bestätigt hatte. Die Anlage<br />

der Festschrift und die Beiträge der<br />

Werkzeitung sind sehr betont geprägt<br />

durch nationalsozialistisches Gedanken-<br />

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16<br />

Geschichte |


Otto<br />

Görlitzer<br />

Straßburg<br />

Kaufmann von Format<br />

gut. Bei allem Verständnis<br />

für Geschäftsinteresse,<br />

Anpassungsdruck<br />

und das politische<br />

Klima im Zeichen<br />

von Volksgemeinschaft,<br />

nationalem<br />

Wiederaufstieg und<br />

der Unterdrückung<br />

Andersdenkender<br />

ging das erheblich<br />

über das übliche<br />

Maß hinaus.<br />

Und, das sei nicht<br />

vergessen, der Untergang<br />

der Firma<br />

Straßburg war nur<br />

eines von Millionen<br />

tragischen Schicksalen<br />

bei Frontseinsatz,<br />

Bombenterror,<br />

Vertreibung<br />

und Besatzung.<br />

Was bleibt von diesem gewiss außergewöhnlichen<br />

Lebenswerk des Otto Straßburg,<br />

seiner Familie und seiner Belegschaft,<br />

das erfreut heute die Görlitzer<br />

und ihre Gäste täglich mit der stilsicher<br />

Familien-Grabstätte Straßburg, Städtischer Friedhof<br />

restaurierten und lebendigen Straßburg-<br />

Passage.<br />

Dr. Ernst Kretzschmar<br />

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Geschichte |<br />

17


Die Straßburg-Passage<br />

Görlitz erlebte seit den 1870er Jahren<br />

eine rasante Entwicklung. Mit dem direkten<br />

Eisenbahnanschluss an die preußische<br />

Hauptstadt fanden die Grundstücke<br />

zwischen Bahnhof und Altstadt<br />

immer mehr Interessenten. Die Jakobstraße,<br />

seit altersher in fiskalischem Besitz,<br />

gab zu jener Zeit ihren Rang als<br />

Hauptgeschäftstraße von Görlitz ab. Die<br />

alte Packhofstraße, auf die nunmehr der<br />

Hauptzugang des erweiterten Bahnhofes<br />

führte, hieß fortan Berliner Straße<br />

und avancierte als direkte Verbindung<br />

zum Postplatz zur bevorzugten Geschäftsmeile<br />

der Görlitzer.<br />

Die Lage war ausgezeichnet. Die Berliner<br />

Straße zählte zu den besten Adressen,<br />

und Straßburg war ein fleißiger und<br />

umsichtiger Geschäftsmann. So ließ der<br />

Erfolg nicht lange auf sich warten. Schon<br />

im Frühjahr des Jahres 1889 verlegte er<br />

sein Geschäft in das Erdgeschoss des<br />

Hauses Nr. 9. Durch Vereinigung von<br />

drei Läden stand ihm nun weit über das<br />

Doppelte der ursprünglichen Fläche von<br />

Haus Nr. 7 zur Verfügung. Bald genügte<br />

aber auch diese Fläche dem Unternehmer<br />

nicht mehr. Eine Freitreppe führte<br />

bald darauf in die neu erschlossenen<br />

Räume des 1. Obergeschosses.<br />

Im Jahre 1887 eröffnete eben dort, im<br />

Erdgeschoss des Hauses Nr. 7, der Kaufmann<br />

Otto Straßburg sein Leinen- und<br />

Baumwollwarengeschäft. Die Anfänge<br />

waren genauso bescheiden wie die<br />

der großen Unternehmen Wertheim,<br />

Tietz oder Karstadt. Zunächst teilte sich<br />

Straßburg die rechte Erdgeschosshälfte<br />

mit dem Kaufmann Uhlich. Eine Tür<br />

und ein Schaufenster markierten nach<br />

außen das Geschäft von Otto Straßburg.<br />

Straßburg war nicht der einzige, der in<br />

Görlitz auf eine solch beachtliche Entwicklung<br />

in kurzer Zeit verweisen konnte.<br />

So begründete Kaufmann Bargou<br />

am Ende der sechziger Jahre am Marienplatz<br />

sein Papier- und Kurzwarengeschäft,<br />

zugleich mit solchen in Chemnitz<br />

und Dresden. Etwas später kam eine<br />

Filiale in Berlin dazu. Das Mutterhaus<br />

wich um 1900 einem von dem Berliner<br />

Architekten Wilhelm Albert Cremer ent-<br />

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18<br />

Geschichte |


Straßburg-Passage<br />

Teil I<br />

worfenen Neubau,<br />

der ein Kaufhaus<br />

über zwei Etagen<br />

beherbergte. Auch<br />

andere Branchen,<br />

so die Händler für<br />

Damen-, Herrenund<br />

Kinderkonfektion<br />

wie Moritz<br />

Dresel (Obermarkt<br />

6), Oskar Nitsche<br />

(Elisabethstraße<br />

1), Alfred Totschek<br />

(Steinstraße 2/3)<br />

und die Gebrüder<br />

Meirowski (Obermarkt<br />

7) erfreuten<br />

sich in jenen Jahren<br />

eines ausgezeichneten<br />

Rufs.<br />

Bei den zwei Letztgenannten<br />

führte<br />

wie im Falle Straßburgs<br />

eine elegante<br />

Freitreppe vom<br />

Erdgeschoss in das<br />

1. Obergeschoss. Anzeige der Eröffnung des Geschäftes von Otto Straßburg 1887<br />

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Geschichte |<br />

19


Die Straßburg-Passage<br />

Otto Straßburg. Berliner Straße, 1905<br />

1894 erwarb Straßburg<br />

das Grundstück Berliner<br />

Straße 7 und kehrte<br />

nach umfassendem<br />

Umbau des Gebäudes<br />

an den Platz zurück, wo<br />

seine Erfolgsgeschichte<br />

7 Jahre zuvor begonnen<br />

hatte. Nun bot er<br />

seine Kleiderstoffe, Leinen-<br />

und Bauwollwaren<br />

sowie Gardinen in dem<br />

breit gelagerten Erdgeschoss<br />

an, das sich bis<br />

zu einem Galeriebau in<br />

der Tiefe des Grundstücks<br />

zog. Die Firmierung<br />

in kräftigen Lettern<br />

auf schwarzem Grund<br />

verriet Modernität und<br />

Eleganz.<br />

Otto Straßburg gewann<br />

für diesen ersten Meilenstein<br />

in der Firmengeschichte<br />

einen der<br />

besten Görlitzer Archi-<br />

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20<br />

Geschichte |


Straßburg-Passage<br />

Teil I<br />

tekten: Gerhard Röhr. Wie kaum ein anderer<br />

seines Berufsstandes in Görlitz ist<br />

er mit dem großstädtischen Geschäftshaus<br />

vertraut. Nach seiner Ausbildung<br />

in Görlitz ging Röhr 1879 nach Berlin,<br />

wo er seine Ausbildung in dem Atelier<br />

Kayser & Großheim fortsetzte. Dort lernte<br />

Röhr die Entwürfe moderner Wohnund<br />

Geschäftsbauten der zur Weltstadt<br />

aufsteigenden Reichsmetropole kennen.<br />

Das 1872 von Heinrich Joseph Kayser<br />

und Karl von Großheim begründete Architekturbüro<br />

besaß in der Fachwelt einen<br />

ausgezeichneten Ruf, und insbesondere<br />

Heinrich Joseph Kayser galt als der<br />

bekannteste Architekt des wilhelminischen<br />

Berlins. Gerhard Röhr lernte dort<br />

solche Bauten wie das Kaufhaus Leipziger<br />

Straße 83 (1877/1879) kennen.<br />

1882 kehrte er kurz nach Görlitz zurück<br />

und verließ im Oktober desselben Jahres<br />

abermals seine Heimatstadt in Richtung<br />

Wien, um dort bei Baurat Hieser<br />

und später bei dem fürstlichen Baurat<br />

Hanau sein Wissen zu erweitern. Gerade<br />

Otto Hieser war ein erfolgreicher Architekt<br />

und sorgte u.a. mit seinen Entwürfen<br />

für das Opernhaus in Odessa,<br />

das Museum in Linz oder die Amsterdamer<br />

Börse für Aufsehen. Ende Februar<br />

1885 kehrte Röhr nach Görlitz zurück,<br />

und im Oktober 1886 eröffnete er sein<br />

eigenes Atelier in der Mittelstraße 26.<br />

Seine Auftraggeber waren Geschäftsleute<br />

und Rentiers, die ihren Anspruch auf<br />

gepflegte Wohnumwelt, Repräsentation<br />

und Kapitalanlage zu verwirklichen<br />

suchten. Röhrs Lehrjahre bei renommierten<br />

Firmen in Berlin und Wien waren<br />

ihnen Empfehlung genug. So fanden<br />

die Kenntnisse Röhrs über die modernen<br />

Geschäftsbauten jener Jahre auch<br />

bei den Görlitzer Unternehmern gebührende<br />

Beachtung. Erwin Lüders und<br />

das Konfektionshaus Adolf Totschek an<br />

der Steinstraße zählten zu seinen ersten<br />

Auftraggebern. Schließlich bediente sich<br />

auch Otto Straßburg der Fähigkeiten von<br />

Gerhard Röhr, um das neue Geschäftshaus<br />

zu einem besonderen Erlebnis zu<br />

gestalten. So berichtet dann auch der<br />

Chronist, dass zur Eröffnung „eine wahre<br />

Völkerwanderung von Schaulustigen<br />

und Käufern in das mit einer Unmenge<br />

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Geschichte | 21


Die Straßburg-Passage<br />

Das Passagenprojekt. Anzeige von Otto Straßburg, 1908<br />

von Blumenspenden geschmückte<br />

Lokal“ zog.<br />

Weitere drei Jahre vergehen,<br />

bis Otto Straßburg<br />

sich zu einer weiteren<br />

Vergrößerung der<br />

Geschäftsfläche entschließen<br />

wird. Es ist das Jahr<br />

1898. Die Verkaufsfläche<br />

griff nun auf das<br />

erste und zweite Obergeschoss<br />

über. Kein anderes<br />

Geschäftshaus in<br />

Görlitz zeigte in jenen<br />

Jahren so deutlich den<br />

enormen Aufschwung<br />

des ausgehenden 19.<br />

Jahrhunderts. Wiederum<br />

war Gerhard Röhr als Architekt<br />

tätig. Die Fassade<br />

des einst so stolzen<br />

Miethauses veränderte<br />

gänzlich ihr Gesicht und<br />

passte sich modernsten<br />

internationalen Entwürfen<br />

an. Den Eingang mit<br />

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22<br />

Geschichte |


Straßburg-Passage<br />

Teil I<br />

einer Uhr an der Spitze flankierten<br />

jeweils zwei mächtige<br />

Schaufensterachsen, die sich<br />

scheinbar über drei Geschosse<br />

zogen und durch schlanke,<br />

elegante Pfeiler begleitet wurden.<br />

Genau diese Architekturidee<br />

hatte zwei Jahre zuvor<br />

die Architekten wie auch die<br />

Geschäftswelt in Atem gehalten<br />

– Alfred Messel schuf mit<br />

eben jenen Elementen das Warenhaus<br />

Wertheim an der Leipziger<br />

Straße zu Berlin als den<br />

ersten reinen Warenhausbau<br />

Deutschlands, den Prototypen<br />

des modernen Konsumtempels,<br />

der Waren aller Art unter einem<br />

Dach anbot. Seine Ausstattung<br />

war äußerst repräsentativ und<br />

kostspielig. Dieses Vorbild hatten<br />

Röhr und sein Auftraggeber<br />

vor Augen. Dabei wurde Otto<br />

Straßburg durch die städtische<br />

Interessenlage gestützt. Seit<br />

den späten vierziger Jahren<br />

hatte sich Görlitz durch seine<br />

Eröffnungsanzeige der Straßburg-Passage, 1908<br />

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Geschichte |<br />

23


Straßburg-Passage<br />

Die Straßburgpassage<br />

Die Straßburg-Passage. 1908<br />

vielfältigen Vorzüge zu einem gesuchten<br />

Altersruhesitz entwickelt. Die Lage der<br />

Stadt vor den Toren des Riesengebirges,<br />

die ausgedehnten und gepflegten Parkanlagen<br />

und eine milde Steuerpolitik zogen<br />

Rentiers und Pensionäre aus nah<br />

und fern nach Görlitz. Das “Pensionopolis<br />

des deutschen Ostens” bot mit Theater,<br />

Museen, Schlesischen Musikfestspielen<br />

und einem vielfältigen Vereinsleben<br />

allerlei Kurzweil. Die Stadtväter ließen<br />

hingegen keine Gelegenheit aus, dem<br />

Gemeinwesen ein großstädtisches Flair<br />

zu geben, und förderten besonders eifrig<br />

Entwicklungen in jener Richtung. Die<br />

Vision Straßburgs sollte sich rasch erfüllen.<br />

Auch dieses Geschäft hatte von Beginn<br />

an einen überwältigenden Erfolg,<br />

und so entwickelte sich das Unternehmen<br />

in der Tiefe des Grundstücks weiter.<br />

Im Jahre 1901 erwarb Straßburg<br />

das Grundstück Jakobstraße 35, den sogenannten<br />

„Schwarzen Adler“.<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Dr. Andreas Bednarek<br />

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24<br />

Geschichte |


Sternwarte<br />

Görlitz und seine Sternwarte<br />

-Fortsetzung-<br />

Eventuell hat Dr. Walter Zimmermann<br />

noch erfreut zur Kenntnis genommen,<br />

dass einer seiner Schüler ein international<br />

renommierter Astronom wurde.<br />

Friedrich Gondolatsch wurde am 3. <strong>Juni</strong><br />

1904 als Sohn des bekannten Oberschullehrers<br />

Max Gondolatsch in Görlitz<br />

geboren. Nach drei Jahren auf der<br />

Gemeindeschule besuchte er ab 1913<br />

das Augustum, an dem er 1923 seine<br />

Abiturprüfung bestand. Unmittelbar<br />

danach begann er sein Astronomiestudium<br />

an der Universität Leipzig, setzte<br />

es ein Jahr später in München und ab<br />

1925 in Berlin fort. Am 27. September<br />

1929 promovierte er über „Eine Methode<br />

zur räumlichen Bahnbestimmung<br />

bewegter Kometenschweifmaterie (mit<br />

Anwendung auf den Halleyschen Kometen)“<br />

und konzentrierte sich später vor<br />

allem auf die Kinematik und Dynamik<br />

der Milchstraße. Seit dem 1. Mai 1927<br />

war Gondolatsch am Astronomischen<br />

Rechen-Institut in Berlin angestellt, mit<br />

dem er nach Kriegsende nach Heidelberg<br />

umzog. So war er ab 1943 Dozent<br />

für Astronomie an der Berliner Universität<br />

und ab 1945 als Privatdozent an der<br />

Universität Heidelberg. 1956 erfolgte<br />

die Ernennung zum Professor. Friedrich<br />

Gondolatsch war 73 Jahre Mitglied der<br />

Astronomischen Gesellschaft und zeichnete<br />

sich durch zahlreiche Veröffentlichungen<br />

in Fachzeitschriften sowie die<br />

Herausgabe von Lehrbüchern aus. Am<br />

13. November 2003 starb er in Heidelberg.<br />

Die Görlitzer Sternwarte verwaiste 1945<br />

und drohte zu verfallen. Glücklicherweise<br />

gab es astronomieinteressierte Jugendliche<br />

in der Stadt, R. Bienert erinnerte<br />

sich: „Es begann mit einem Vortrag über<br />

die Geschichte der Astronomie, den ich<br />

am 10. Januar 1947 in der Wohnstube<br />

meines Freundes Manfred Mehlich in<br />

Görlitz hielt, zu dem sich ungefähr zehn<br />

junge, an der Astronomie interessierte<br />

Freunde und ein junger Lehrer eingefunden<br />

hatten. ... Wir hatten einen Plan.<br />

Das war zwar ein kühner Gedanke, aber,<br />

wie es uns schien, kein schlechter. Der<br />

Turm der Oberschule auf dem Klosterplatz<br />

sollte wieder eine Sternwarte wer-<br />

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Geschichte |<br />

25


Sternwarte<br />

Görlitz und seine Sternwarte<br />

-Fortsetzung-<br />

Großer Wagen überm Klosterplatz im September 1941<br />

den. Wir nahmen ‚Verbindung’ auf, und<br />

es waren allerhand Wege zu gehen, Absprachen<br />

zu führen, ehe wir den Schlüssel<br />

bekamen und einen ersten Blick in<br />

die „heiligen Räume“ tun durften. ‚Oh<br />

weh!’ - Kein Tisch, kein Stuhl, ein demolierter<br />

Sternenglobus, ein zerrissenes<br />

Foucoultsches Pendel, eine vergilbte<br />

Sternenkarte, ein hölzernes Stativ mit<br />

einem unbrauchbaren 3,5-Zoll-Refraktor,<br />

dessen Optik gänzlich fehlte, ein<br />

defekter Chronometer, auf dem Dachboden<br />

verstreut einige astronomische<br />

Hilfsmittel und überall Staub, zentimeterhoher<br />

Schmutz, Nistplatz vieler Vögel,<br />

die durch die scheibenlosen Fenster<br />

Einschlupf und damit Unterkunft gefunden<br />

hatten. Das war das Bild, das sich<br />

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26<br />

Geschichte |


Sternwarte<br />

Astronomie auf dem Klosterplatz<br />

uns bot! ‚Hier müssen Helfer herbei, das<br />

können wir allein nicht schaffen’, sagten<br />

wir uns, und wir fanden sie unter<br />

unseren Schulkameraden. Mit Besen<br />

und Scheuerlappen, mit Bürsten und Eimern,<br />

die wir von zu Hause mitbrachten,<br />

ging es ans Werk. Bei der strengen<br />

Kälte im Februar / März wurde das Wasser<br />

zu Eis, sobald wir es auf dem Boden<br />

ausgossen, erstarrten die Scheuerlappen<br />

zu schmutzverkrusteten Gebilden,<br />

ehe wir richtig mit ihnen an die Arbeit<br />

gehen konnten. Die Zahl der Eimer, die<br />

wir mit Kehricht beladen zur Aschengrube<br />

vier Stockwerke tiefer tragen mußten,<br />

kann ich nicht mehr nennen. Ich<br />

weiß nur noch, daß es sehr viele waren.<br />

Die Freunde der FDJ gaben uns<br />

fürs erste aus ihrem Büroraum einen<br />

Stuhl und einen Tisch, damit wir wenigstens<br />

etwas ablegen konnten. Kleinigkeiten,<br />

würde man jetzt sagen. Ja,<br />

aber in diesen ersten Jahren nach dem<br />

Kriege war die Beschaffung all dieser<br />

Dinge mit viel Lauferei, mit sehr viel Geduld<br />

verbunden. Wir gaben aber nicht<br />

auf, und noch erinnere ich mich an die<br />

Freunde Manfred Mehlich, Heinz Gellhorn,<br />

Fritz Tannert, später dann Dieter<br />

Riedel und Peter Toschek - um nur einige<br />

zu nennen - die fleißig mithalfen.<br />

Als wir dann Verbindung mit der damals<br />

bestehenden Zentralstelle der Astronomischen<br />

Arbeitsgemeinschaften in Bautzen<br />

bekamen, begann für uns neben<br />

der ‚Restaurierung’ die eigentliche Arbeit.<br />

Beobachtungen von periodischen<br />

Meteorströmen setzten ein, die wir trotz<br />

eisiger Kälte vornahmen. Später, nachdem<br />

wir einen 2 Zoll-Haase-Refraktor<br />

bekommen hatten, begannen wir mit<br />

bescheidenen Sonnenfleckenbeobachtungen<br />

und Wetterregistrierungen. Astronomische<br />

Lichtbildervorträge, von<br />

der Bautzener FDJ-Sternwarte durchgeführt,<br />

halfen unser Wissen zu erweitern<br />

und neue Mitarbeiter zu gewinnen. Die<br />

Sternwarte begann zu wachsen und zu<br />

leben, trotz aller Schwierigkeiten, die es<br />

bei den ersten Schritten immer geben<br />

wird.“<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Lutz Pannier<br />

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Geschichte |<br />

27


Goldsucher in der Lausitz<br />

Am Golde hängt, nach Golde drängt<br />

doch alles - dieses geflügelte Wort lockte<br />

schon so manchen Abenteurer, die<br />

Suche nach Gold oder anderen Reichtümern<br />

aufzunehmen. So kamen auch die<br />

Lausitzer auf die Idee, in der Erde nach<br />

Gold zu suchen.<br />

Wo der Boden in irgendeiner Form gelbes,<br />

glänzendes Gestein bietet, da glaubte<br />

man sofort Gold gefunden zu haben.<br />

Aber leider wurden diese Hoffnungen<br />

schnell zerstört, es handelte sich nämlich<br />

in den meisten Fällen um Schwefelkies,<br />

auch Katzengold genannt. Zahlreiche<br />

Orts- und Flurnamen deuten noch jetzt<br />

auf Stellen hin, an denen unsere Vorfahren<br />

nach dem edlen Metall gesucht haben.<br />

Unmittelbar am Stadtrand, an den<br />

Felshängen der Rothenburger Straße,<br />

gegenüber den Bleichen... befindet sich<br />

ein Brunnen. Und wenn man hier zur<br />

Neiße heruntersteigt, dann kommt man<br />

zur “Goldgrube“, die den älteren Bürgern<br />

der Stadt noch unter diesem Namen<br />

bekannt sein dürfte. Wenig davon<br />

ist aber heute noch zu sehen. 1477 wurde<br />

hier ein Stollen angelegt, da er sich<br />

aber als unergiebig erwies, wurde der<br />

Bergbau bald aufgegeben. In den Jahren<br />

1492, 1542, 1665 und 1770 kam es<br />

zu neuen Versuchen, die ebenfalls nicht<br />

mit Erfolg gekrönt waren. Doch das aus<br />

demselben reichlich fließende Wasser<br />

gab etwa nach 18<strong>60</strong> Veranlassung zum<br />

Umbau des Stollens in einen Brunnen.<br />

Der Felsen, in den der Stollen gehauen<br />

ist, besteht aus körniger Grauwacke, einer<br />

Art Sandstein. In dieser Grauwacke<br />

befindet sich ein Gang aus Tonschiefer,<br />

dessen Mitte von einer Quarzader eingenommen<br />

wird. Dieser Gang enthält sehr<br />

viel Schwefelkies. Mit seinem Goldglanz<br />

war dieser der Grund für den Bergbau<br />

gewesen. Leider - aus diesem Felsen an<br />

der Rothenburger Straße wird man nie<br />

Gold holen, alle Mühe wird vergebens<br />

sein.<br />

Etwa um dieselbe Zeit begann man an<br />

einer anderen Stelle der Umgebung von<br />

Görlitz, am Geiersberg im Schöpstal,<br />

nach Gold zu schürfen. Selbst unsere<br />

Landeskrone soll der Sage nach einen<br />

gewaltigen Goldschatz bergen. Kein Geringerer<br />

als Jacob Böhme hat ihn, wie er<br />

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28<br />

Geschichte |


Goldsucher<br />

Was der Görlitzer nicht weiß<br />

selbst erzählt, gesehen.<br />

Als er einst<br />

in seiner Jugend<br />

mit einigen Freunden<br />

auf der Landeskrone<br />

das Vieh<br />

hütete, sah er, wie<br />

sich vor ihm im<br />

dichten Gebüsch<br />

der Felsen öffnete<br />

und ein Gewölbe<br />

mit unermeßlichen<br />

Bergen von Gold<br />

und Silber sichtbar<br />

wurde. Böhme war<br />

so erstaunt und<br />

erschrocken, daß<br />

er es nicht wagte,<br />

näher zu treten<br />

und etwas anzurühren.<br />

Später<br />

konnte er den Eingang<br />

nicht wiederfinden.<br />

Ganz ähnliches weiß Frau Sage auch<br />

vom Valtenberg, dem höchsten Berg der<br />

sächsischen Oberlausitz, zu berichten.<br />

Seit alten Zeiten nennt der Volksmund<br />

Ritter Zizibor bringt den Schatz auf seine Burg auf der Landeskrone.<br />

Sagen-Zeichnung von Günter Hain 1984<br />

die Quelle der Wesenitz das “Goldbergwerk“.<br />

Hier soll der Eingang zu weiten<br />

unterirdischen Räumen sein, in denen<br />

riesige Schätze aufbewahrt und von<br />

Zwergen bewacht werden. Bergbau auf<br />

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Geschichte |<br />

29


Goldsucher in der Lausitz<br />

Gold ist tatsächlich im Hohwald<br />

betrieben worden. Schon 1333<br />

werden in einer Urkunde die Goldgruben<br />

am Hohwald erwähnt, und<br />

noch heute erinnern zahlreiche<br />

Flurnamen wie Goldgrube, Goldfloß,<br />

Goldberg, Goldbach usw. an<br />

den früheren Bergbau.<br />

Nach Gold ist ferner im Granit bei<br />

Neustadt in Sachsen und bei Sebnitz<br />

gegraben worden; auch bei<br />

Löbau hat man im Granit nach edlen<br />

Metallen, allerdings hier nach<br />

Silber, gesucht. Die Suche nach<br />

Gold oder anderen Schätzen wird<br />

in der Oberlausitz aber auch bis<br />

heute nicht erfolgreich sein, denn<br />

der geologische Aufbau und die<br />

erdgeschichtliche Entwicklung der<br />

Oberlausitz läßt es nicht zu, hier<br />

Erze von Edelmetallen zu finden. Und<br />

doch birgt der Boden in unserer Umgebung<br />

genug Bodenschätze, wenn auch<br />

nicht Gold in gediegener Form, sondern<br />

Granit, Basalt, Braunkohle, Torf, Ziegellehm,<br />

Töpferton, Quarzsand ,um nur einige<br />

zu nennen.<br />

Der Sage nach fand eine Mutter den Schatz auf<br />

der Landeskrone; weil sie nur Kostbarkeiten<br />

zusammenraffte, vergaß und verlor sie ihr Kind.<br />

Zeichnung von Günter Hain<br />

Daran sollten Sie, liebe Leser, denken,<br />

wenn Sie sich vielleicht schon zu Pfingsten<br />

einen Ausflug in unsere schöne Umgebung<br />

vornehmen.<br />

Quelle: Heimatkalender für den Landkreis<br />

Görlitz 1939; S.100 ff<br />

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30<br />

Geschichte |


Peppe - Besinnliches und Kulinarisches<br />

Vor einigen Tagen „entschleunigte“ mich<br />

und meinen wegen all der verführerischen<br />

Köstlichkeiten schon ungeduldig<br />

knurrenden Magen eine lange Schlange<br />

an der Kasse eines großen Görlitzer<br />

Supermarktes. Ich gewann unfreiwillige<br />

Zeit zur Beobachtung und vor allem<br />

-ganz vorweihnachtlich- zum Nachdenken<br />

und Philosophieren. Ein wohl situiertes<br />

Ehepaar mittleren Alters erweckte<br />

nämlich mein Interesse. Hastig und lieblos<br />

warfen beide mit mürrischem, fast<br />

verächtlichem Blick all die Leckerbissen<br />

aus dem turmhoch gefüllten Einkaufswagen,<br />

den Wochenendeinkauf auf das<br />

Band der Kasse. Liebe geht durch den<br />

Magen. Lieben, genießen wir noch all<br />

die oft mühsam produzierten Dinge, die<br />

wir essen? Welchen Wert haben das täglich<br />

Brot und all die ständig verfügbaren<br />

Naschereien aus der ganzen Welt noch<br />

für uns? Haben wir noch Demut angesichts<br />

der Tatsache, über immer ausreichende<br />

und hochwertige im besten Sinne<br />

des Wortes Lebensmittel verfügen zu<br />

können?<br />

Heute sprechen wir von Arbeitgebern,<br />

früher schätzten sich die meisten Menschen<br />

glücklich, einen „Brotherren“ zu<br />

haben. Es war auch hierzulande nicht<br />

selbstverständlich, satt zu werden. Zwei<br />

Missernten genügten noch bis weit in<br />

das 19. Jahrhundert hinein, um verheerende<br />

Hungersnöte auszulösen. Unwillkürlich<br />

dachte ich an eine am Vormittag<br />

erschlossene und tatsächlich staubige,<br />

350 Jahre alte Akte aus dem Gute Nieder-Ludwigsdorf.<br />

Im Jahre 1716 verpachteten<br />

es die Erben des Ratsherren<br />

Bartholomäus Gehler an Georg und<br />

Hans Horschig. Dabei wurde für das<br />

zwölf Köpfe zählende Gesinde eine Ordnung<br />

aufgesetzt, welche festlegte, welche<br />

Kost ihnen zu reichen war. Jeder<br />

sollte auch unter den neuen Besitzern<br />

„dasjenige erhalten, was ihm zustünde,<br />

so dass deswegen keine Klagen geführt<br />

würden“. Ja, was erhielten nun die Mägde<br />

und Knechte Tag ein Tag aus wohl<br />

nicht nur in Ludwigsdorf? Um es vorweg<br />

zu nehmen, das wichtigste Alltagsgericht<br />

war die „Peppe“. Mit Schaudern<br />

gedachte ich der Mehl- und Griespampe,<br />

welche man mir als Kind gelegentlich ei-<br />

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Geschichte |<br />

31


Peppe - Besinnliches und Kulinarisches<br />

nes Krankenhausaufenthaltes in rauen<br />

Mengen reichte, um meine damals zarte<br />

Konstitution zu stärken. Auch alle Bekannten,<br />

die ich befragte, kannten keine<br />

„Peppe“. Die Neugier war geweckt.<br />

Nahezu prädestiniert für ein Interview<br />

erschien mir so der wohl prominenteste<br />

Ludwigsdorfer, Joachim Paulick, Görlitzer<br />

Oberbürgermeister und aus einer<br />

durchaus wohlhabenden, aber bodenständigen<br />

Bauernfamilie stammend.<br />

Obwohl auch ihm der Begriff „Peppe“<br />

nichts sagte, konnte er mit dicken breiartigen<br />

Suppen wohl etwas anfangen.<br />

Zum Frühstück aß er in seiner Kindheit<br />

sehr oft und gern eine dicke, klumpige<br />

Mehlsuppe. Sonntags gab es Brotsuppe,<br />

oft auch mit Schinken. Mittags gehörten<br />

Eintöpfe und Mauke zum Alltag. Ab<br />

den <strong>60</strong>er Jahren bildete ein knuspriger<br />

Schweinebraten am Sonntag den wöchentlichen<br />

kulinarischen Höhepunkt.<br />

Die Überlieferung der erwähnten Ludwigsdorfer<br />

Hofgesinde-Kostordnung ist<br />

ein großer Glücksfall. Wir erhalten aus<br />

ihr interessante kulturgeschichtliche Einblicke<br />

in die Ernährungsgewohnheiten<br />

des frühen 18. Jahrhunderts. Alle 2 Wochen<br />

erhielten die Männer 5, die Frauen<br />

4 Brote sowie ½ Pfund Butter und<br />

Kuhkäse. Zum Frühstück gab es für die<br />

zwölf Personen eine Peppe aus 1,6 Liter<br />

Gerstenmehl, ½ Liter Roh-Milch und 40<br />

Gramm Butter. Darüber wurde Wasser<br />

gegossen, so dass alle Teller voll waren.<br />

Es folgte eine Milchsuppe aus 3 Litern<br />

Rohmilch. Mittags aß man Graupen in<br />

verdünnter Milch oder eine frische Molkensuppe.<br />

Abends erhielt man die gleiche<br />

Peppe wie des Morgens, dazu eine<br />

frische Molkensuppe und ein Näpfel mit<br />

bitterem Quark. Eintönige, aber nährende<br />

Kost. Sonntag war ein Feiertag,<br />

und dazu gehörte auch früher ein opulenteres<br />

wie teures Mahl. Das Mittagsmenü<br />

gestaltete sich wie folgt: eine Hirse-<br />

Peppe aus guter Milch, Graupen in<br />

Milch, Klöße, frisches Obst, Rüben und<br />

Kraut.<br />

Am Sonntagabend folgte eine Grützen-<br />

Peppe mit gebackenem Obst oder Bohnen.<br />

Die Ernährung der Landbewohner<br />

war also einerseits relativ gesund, aber<br />

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32<br />

Geschichte |


Peppe<br />

aus Ludwigsdorfs Vergangenheit<br />

eintönig und karg. Auch für die Stadt<br />

Görlitz gibt es aus dieser Zeit Berichte.<br />

Nahrungsmittelmangel gehörte in der<br />

Stadt schneller zum Alltag der Menschen<br />

als auf dem Lande: Statt Milch kam oft<br />

nur Wasser in die Görlitzer Peppe. Wer<br />

konnte, mengte Unmengen Schweineoder<br />

Gänsefett in seinen Brei. Besonders<br />

in der Stadt zeigten sich bei den<br />

Ernährungsgewohnheiten die krassen<br />

sozialen Unterschiede. Fleisch blieb für<br />

die Masse der Menschen, welche etwa<br />

2/3 der Stadtbevölkerung ausmachte,<br />

ein Luxus, welcher wichtigen Feiertagen<br />

wie Ostern, Pfingsten, Weihnachten und<br />

der Kirmes vorbehalten war. Was aß man<br />

nun am Weihnachtstag in Ludwigsdorf:<br />

Am Heiligen Abend bildete das Christbrot<br />

sicherlich den kulinarischen Höhepunkt.<br />

Dazu erhielt man ein Gericht aus<br />

Kraut, gebackenem Obst, Nüsse sowie<br />

für jedermann einen Hering. Zum Mittagessen<br />

labte man sich an gebratenem<br />

Rindfleisch und Kaldaunen, Kutteln mit<br />

viel Pfeffer bestreut.<br />

Das Ludwigsdorfer Gesinde war wohl<br />

sehr dankbar für Brot und Fleisch. Denn<br />

in den häufigen Notzeiten, zu denken sei<br />

nur an den Dreißigjährigen Krieg, fielen<br />

besonders die Dörfer Plünderungen und<br />

Brandschatzungen anheim. Aus einem<br />

ergreifenden Bericht des Ludwigsdorfer<br />

Pfarrers Menteler wissen wir von sieben<br />

Plünderungen, die er erleiden musste.<br />

Im Pfarrhause befand sich nach dem<br />

Krieg nur noch ein einziger Kupferkessel.<br />

In den relativ sicheren Städten dagegen<br />

sorgten die Räte für Getreidevorräte,<br />

welche zumindest für einige Zeit<br />

erst einmal das Überleben sicherten.<br />

Angesichts knapperer Ressourcen, wozu<br />

- wie wir gerade an besagter Supermarktkasse<br />

lernen - nicht nur Öl gehört,<br />

sollten wir wieder bewusster und vielleicht<br />

auch ein wenig dankbarer das genießen,<br />

was wir uns auf die Teller legen<br />

können.<br />

Siegfried Hoche M.A.<br />

Ratsarchivar<br />

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Geschichte |<br />

33


Die Ortschronik von Deutsch-Ossig<br />

Was heißt es, durch die Zeit zu reisen?<br />

Diese Frage bewegt nicht nur Historiker<br />

oder Geschichtsschreiber - nein, auch<br />

uns, die wir über den Lebenslauf eines<br />

Ortes Genaueres wissen wollen. Wenn<br />

wir in die Geschichte eines Ortes eintauchen<br />

wollen, dann sind es wohl zuerst<br />

historische Daten, die wir erfahren. Aber<br />

was wissen wir über die Menschen, die<br />

diese Geschichte seinerzeit erlebten, sogar<br />

auch mitgestalteten?<br />

So geht es auch jenen, die nach dem<br />

kleinen Ort Deutsch-Ossig blicken und<br />

seine Geschichte lebendig werden lassen<br />

Einer, der uns darüber Auskunft geben<br />

kann, ist Pfarrer Dieter Liebig. In<br />

seiner „Chronik der Kirchgemeinde“ hat<br />

er viele historisch eloquente Ereignisse<br />

im Leben dieser Gemeinde aufgezeigt<br />

und ihre geschichtliche Bedeutung gewürdigt.<br />

Erste deutsche Besiedlung an der Neiße<br />

Zu Beginn des 11. Jahrhunderts, nach<br />

Jahren der Hungersnot, Seuchen und<br />

Zerstörungen, stiftete Otto III. (981-<br />

Bauer mit Sichel, Spaten, Hirtenstab 15. Jh.<br />

1002) ein Erzbistum und besiegelte<br />

den Frieden mit Polen durch das Geschenk<br />

der Oberlausitz. Damit gab er<br />

dem Grenzland Sicherheit. Die Einigung<br />

des Reiches konnte er allerdings nicht<br />

mehr erleben, er starb 1002 nach mehreren<br />

Mordanschlägen. 1004 entbrannten<br />

die Kämpfe um die Lausitz erneut.<br />

Nach 14 Jahren Krieg mußte das Land<br />

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34<br />

Geschichte |


Die<br />

Teil I<br />

Ortschronik<br />

Bauer auf den Wege zum Markt, 15. Jhd.<br />

1033 an die Deutschen abgetreten werden.<br />

Damit begann auch die deutsche<br />

Besiedlung der Gegend an der Neiße.<br />

Die Besiedlung vollzog sich entlang der<br />

Straßen, an wichtigen Kreuzungen und<br />

Verteidigungspunkten. So wird Görlitz<br />

bereits 1071 als „Villa Goreliz“ erwähnt.<br />

Zur Stadtgründung kam es 1220<br />

an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsstraßen,<br />

an denen auch frühzeitig<br />

die notwendigen Verteidigungsanlagen<br />

errichtet wurden. Mutmaßungen, ob<br />

Deutsch-Ossig bereits im 11. Jahrhundert<br />

dazugehörte, sind angestellt worden,<br />

jedoch historisch nicht belegbar.<br />

Verläßlicher werden erst die Angaben<br />

zum Besitzstand des Bistums Meißen.<br />

1213 wurde dieser in einer Grenzurkunde<br />

zur Oberlausitz festgestellt und<br />

1241 von König Wenzel (die Oberlausitz<br />

war an die Krone Böhmens gefallen)<br />

bestätigt. Aus dieser Urkunde wird<br />

ersichtlich, dass eine Straße von Polen<br />

nach Böhmen über Lauban, Görlitz und<br />

Zittau führte. Noch genauer ist der vorgeschriebene<br />

Weg von Böhmen nach<br />

Brandenburg und dann bis an die Ostsee.<br />

Sein Verlauf führte von Prag über<br />

Weißwasser, Leipa, Niemes, Gabel, Zittau,<br />

Ostritz, Görlitz, Rothenburg und<br />

Guben. Allerdings war das ein Umweg,<br />

aber bei Abweichungen von dieser vorgeschriebenen<br />

Route lief der Reisende<br />

damals allerdings Gefahr,bestraft zu<br />

werden. Konfiskation und Leibesstrafe<br />

galten dafür als üblich .<br />

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Geschichte |<br />

35


Die Ortschronik von Deutsch-Ossig<br />

Bauernpaar 15. Jhd.<br />

Die Grenze zum Böhmischen<br />

lag zwischen<br />

Ostritz und Leuba. Deshalb<br />

wurden in diesem<br />

Bereich massiert Straßenschanzen<br />

zum Schutz<br />

angelegt, denn der Streit<br />

zwischen Görlitz und Zittau<br />

war ein uralter., der<br />

immer wieder , auch bei<br />

kleinen Anlässen,erneut<br />

aufflammte. So besaß<br />

allein nur Ostritz drei<br />

Straßenschanzen. Um<br />

den Weg von Görlitz<br />

her ebenfalls zu sichern,<br />

mußte, im Gegensatz<br />

zum bergigen Ostritz,<br />

hier in der Neißeniederung<br />

geschanzt werden.<br />

Ob nun der Flecken,<br />

auf dem Deutsch-Ossig<br />

errichtet wurde, zu<br />

den Straßenschanzen<br />

zu zählen ist, läßt sich<br />

nicht belegen. Aber<br />

eine natürliche Erhe-<br />

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36<br />

Geschichte |


Die<br />

Teil I<br />

Ortschronik<br />

bung im Schwemmland der Neiße bot<br />

sich für derartige Zwecke durchaus an.<br />

Da Deutsch-Ossig ohne Namen geführt<br />

wurde, läßt sich hier lediglich eine alte<br />

Anlage vermuten. Ossegk lag am jenseitigen<br />

Ufer der Neiße. Die slawische<br />

Namensgebung niemsky ossegk kann<br />

sowohl mit Schwarzpappel als auch mit<br />

Verhau wiedergegeben werden. Für die<br />

frühe Anlage spricht weiterhin auch eine<br />

natürliche Furt durch die Neiße und eine<br />

schon früh anzunehmende Brücke in<br />

Leschwitz. Straßenschanzen wurden allgemein<br />

an gefährdeten Flußübergängen<br />

errichtet. Die Sicherung war eine Aufgabe,<br />

die dem jeweiligen Grundherrn<br />

zukam. Daß der Ort in erster Linie der<br />

Verteidigung diente, darauf läßt die alte,<br />

noch heute erkennbare Anlage schließen.<br />

Eine mächtige Wehrmauer, wahrscheinlich<br />

im Doppelring, schützte das<br />

feste Land. Sie war mit Wehrgängen<br />

und Zinnen ausgerüstet. Der Pulverturm<br />

stand frei. Eine mehr als bescheidene<br />

Kapelle kam erst später hinzu. 1335<br />

wird sie mit dem ersten Pfarrer am Ort<br />

als Pfarrkirche erwähnt. Bereits in diesem<br />

Jahr wird sie als selbstverständlich<br />

angesehen, jedoch die Genehmigung zu<br />

ihrem Bau wird erst im Jahre 1410 erteilt.<br />

Eine Ortsgründung im eigentlichen<br />

Sinne liegt somit nicht vor, dass aber<br />

Deutsch-Ossig als Stütz- und Verteidigungspunkt<br />

allgemein bekannt war, zeigen<br />

die Kriege und Händel, in die der<br />

Ort stetig verwickelt wurde, Auch der<br />

ständige Wechsel im Besitzstand gibt<br />

darüber Auskunft.<br />

Geschichte der Oberlausitz findet hier<br />

ihren Niederschlag.<br />

Das Bistum Meißen und sein Wirken in<br />

der Oberlausitz<br />

Zu allen Zeiten hatte Kirche auch mit<br />

Macht zu tun. Die Zustände in den einzelnen<br />

Gebieten und Landstrichen hingen<br />

eng zusammen mit den jeweiligen<br />

Machtverhältnissen, die herrschten. Im<br />

Reich wie in den einzelnen Fürstentümern.<br />

So wurde im Jahr 965 das Bistum Meißen<br />

errichtet und 968 vom Papst bestä-<br />

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Geschichte | 37


Die Ortschronik von Deutsch-Ossig<br />

tigt. Als erster Bischof wurde Buchardus<br />

eingesetzt. In der Nachfolge zeigte sich<br />

besonders Benno, der zehnte Bischof,<br />

mit seinem Wirken in der Oberlausitz<br />

als tüchtig. Er bereiste das Land regelmäßig,<br />

und noch 1423 wird ihm in der<br />

Kanonisationsbulle Lob für seine geistlichen<br />

Reformen gezollt.<br />

Unter seinem Nachfolger Herwig kam es<br />

zum Wendenaufstand. Kirchen wurden<br />

zerstört, und die Wenden kehrten zu ihrem<br />

alten Glauben zurück. Nun sprach<br />

das Schwert, und in seiner Folge entstand<br />

eine umfassende kirchliche Verwaltung.<br />

Archidiakonate wurden errichtet,<br />

die dem Bischof unterstanden. Für<br />

die Oberlausitz war das Budissin. 1213<br />

gründete Bischof Bruno II. das Collegiatsstift<br />

Budissin, nachdem in der ganzen<br />

Provinz die „Ruhe gesichert“ war. 225<br />

Pfarrkirchen gehörten zum Gerichtsbezirk,<br />

deren Zahl bald auf dreihundert anstieg<br />

Eine weitere Verwaltungsordnung<br />

wurde nötig, zumal die Kapellen bei den<br />

Burgen und Rittersitzen in Pfarrkirchen<br />

umgewandelt wurden. Die ältesten Kirchengemeinden<br />

wurden zu Erzpriesterstühlen.<br />

Die früheste Eintragung 1346<br />

nennt für die Oberlausitz zwölf Erzpriesterstühle,<br />

davon war Görlitz der größte<br />

und umfasste 34 Kirchen.<br />

Die Aufgaben der Erzpriester werfen ein<br />

Licht auf die damaligen Verhältnisse in<br />

der Oberlausitz..Sie trafen Entscheidungen<br />

bei bedenklichen Fällen, die ihnen<br />

von den Priestern ihres Stuhles vorgetragen<br />

wurden, sie führten Aufsicht und<br />

trugen Sorge für Kirchenrechnungen<br />

und Seelenregister. Ihre Verantwortung<br />

erstreckte sich über alle höheren und<br />

niederen Kirchenbeamten und die von<br />

ihnen zu verrrichtenden Dienste, nicht<br />

minder über ihr sittliches Betragen, das<br />

sie bei nicht ordnungsgemäßem Verhalten<br />

entsprechend bestrafen und beim<br />

Bischof anzeigen mußten. Die Vereidigung<br />

der Erzpriester erfolgte per Handschlag<br />

durch den Archidiakon und war<br />

mit dem Gelöbnis des Gehorsams verbunden.<br />

Die ersten Pfarrer von Deutsch-Ossig<br />

Manches Dunkel liegt über der frühen<br />

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38<br />

Geschichte |


Die<br />

Teil I<br />

Ortschronik<br />

Besetzung der Pfarrstelle.<br />

Mit der Errichtung<br />

von Pfarrkirchen findet<br />

sich im Jahre 1335<br />

mit Johannes Schreiber<br />

der erste namentlich<br />

erwähnte Pfarrer in<br />

Deutsch-Ossig. Er wird<br />

im Görlitzer Stadtbuch<br />

als plebanus in Ossegk<br />

genannt.Es ist erwiesen,<br />

dass es sich dabei um<br />

Deutsch-Ossig handelte,<br />

denn Wendisch-Ossig<br />

war noch lange Filiale<br />

von Nieda. Die zufällige<br />

Notiz über die Regelung<br />

des Unterhalts nennt<br />

dann auch den Ort. Bei<br />

einer Teilung mit seinen<br />

Brüdern Heinrich, Peter<br />

und Nickel wurden<br />

dem Pfarrer drei Gärten<br />

zur Nutzung abgetreten.Diese<br />

zweite Eintragung<br />

stammt aus dem<br />

Jahre 1347: Vermöge er<br />

Landwirtschaftliche Arbeiten, 15. Jhd.<br />

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Geschichte |<br />

39


Die Ortschronik von Deutsch-Ossig<br />

jene drey Brüder zwei schocke ieriges<br />

Czinses gelegin in der Kalowe of zweyin<br />

garthin obenick dem Judenkirchhofe<br />

Herr Johannes ihrem Bruder dem pfarr<br />

von dem duzhen osseck oflasin. -<br />

Müller mit Esel 15. Jhd.<br />

Unter der gleichen Jahreszahl wird Johannes<br />

Heynmann genannt, was zu der<br />

Vermutung führte, es handele sich um<br />

jenen Skriptor (Schreiber), der hier mit<br />

seinem Familiennamen genannt wird.<br />

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40<br />

Geschichte |


Die<br />

Teil I<br />

Ortschronik<br />

Auch 1391 findet sich in einer Prozeßakte<br />

der Name Henricus (Heinrich) als<br />

plebanus in Osseck. Er bestätigte mit<br />

seiner Unterschrift die litteras executoris<br />

bei dem Prozeß des Görlitzer Plebans<br />

Johann von Luttitz mit den Mönchen<br />

seiner Kirchfahrt.<br />

1449 ist aus Görlitzer Rechnungen zu<br />

erfahren, dass ein Peter Tyle eine Beisteuer<br />

zu einem Bau erhalten hat. Der<br />

Name Tyle taucht aber bei den Patronen<br />

auf. Im Pfarrverzeichnis wird er allerdings<br />

auch geführt.<br />

Ebenso verhält es sich mit dem Namen<br />

Canitz. Das Pfarrverzeichnis nennt<br />

1486 einen George Canitz als Coelestiner<br />

Mönch aus Oybin. Das dürfte irrig<br />

sein, ist aber ein wichtiger Hinweis. Es<br />

steht zu vermuten, dass das Kloster Oybin<br />

, welches auch die Kirchfahrt Ostritz<br />

versorgte, über einen langen Zeitraum<br />

die Geistlichen nach Deutsch-Ossig entsandte.<br />

Die nächste Eintragung stammt aus<br />

dem Jahre 1530, sie fällt in die Wirren<br />

der Reformationszeit.<br />

Sie nennt einen Gregorius , dem einfa-<br />

chen Namen nach ein Mönch. Es kann<br />

sich hierbei um den letzten Coelestiner<br />

Mönch gehandelt haben. Die Reformation<br />

brachte eine gänzlich Neuordnung.<br />

Der Beginn der Reformation in Görlitz ist<br />

mit dem Namen Thomas Leyse verbunden.<br />

Er war als Pfarrer von Lissa Inhaber<br />

des Erzpriesterstuhles Görlitz. Der<br />

mutige Geistliche bezeichnete den Rath<br />

zu Görlitz 1527 als Feind des Evangeliums.<br />

Eine Übertreibung, denn der Rat<br />

hatte 1525 ohne Wissen des Probstes<br />

evangelische Pfarrer eingestellt. Was<br />

die Ratsherren aber plagte, war ihre<br />

Furcht vor dem Landesherrn. Sie selbst<br />

„blieben dem Papst treu“. Canonicus<br />

Cüchler hatte alle Druckschriften Luthers<br />

lehren lassen, widerrief nun aber.<br />

Die drei Stühle Görlitz, Reichenbach und<br />

Seidenberg griffen zur Selbsthilfe., vermutlich<br />

unter dem Vorsitz Leyses. Am<br />

27. April 1525 wurde in Görlitz ein Convent<br />

gehalten, an dem mehr als hundert<br />

Priester teilnahmen. Es war das Jahresgedächtnis<br />

zu Jubilate für die verstorbenen<br />

böhmischen Könige. Es wurde<br />

beschlossen, diese und sämtliche See-<br />

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Geschichte |<br />

41


Die Ortschronik von Deutsch-Ossig<br />

lenmessen abzuschaffen, das Evangelium<br />

nach dem göttlichen Worte zu predigen,<br />

die Gewalt des Bischofs nicht mehr<br />

anzuerkennen und keine kirchlichen Abgaben<br />

mehr zu leisten. Dem Festhalten<br />

am alten Glauben und dem Stillhalten<br />

des niederen Adels war es zu verdanken,<br />

dass der Aufstand nicht ausbrach,<br />

wie im Falle von Deutsch-Ossig noch zu<br />

sehen sein wird. Es ergab sich der Umstand,<br />

dass die Pfarrer evangelisch waren<br />

und ihre Patrone noch lange „gut<br />

römisch catholisch“ blieben. Auf dem<br />

Lande wurde erst 1540 mit den alten<br />

Verhältnissen gebrochen.<br />

1530 verweigerten die Gemeindemitglieder<br />

dem Coelestiner-Bruder die Lebensmittel,<br />

so dass er sein Amt aufgeben<br />

mußte. Dafür wurde auf Kosten<br />

der Kirchgemeinde ein evangelischer<br />

Pfarrer eingesetzt. Das reichte diesem<br />

aber nicht, und so beschwerte sich Alexius<br />

Clow bitterlich beim Rat der Stadt<br />

Görlitz. Das schlechte Auskommen der<br />

evangelischen Pfarrer war aber ein Zeichen<br />

der Rechtsunsicherheit gegenüber<br />

ihren Patronen allgemein im Lande. Im<br />

Pfarrerverzeichnis steht Clows Amtsantritt<br />

unter der Jahreszahl 1552. Zwei<br />

sich widersprechende Meldungen lassen<br />

die Versorgung der Gemeinde während<br />

der Reformationszeit im Dunkel. So<br />

wird einmal vermerkt , dass der Pfarrer<br />

von Deutsch-Ossig, Clow, sich nur „Lehrer“<br />

nennen durfte. Eine spätere Lückenschließung<br />

für die Jahre 1530 bis<br />

1552 erklärt das Fehlen eines Namens<br />

mit dem Verlust des alten Kirchenbuches<br />

während eines Brandes.<br />

Erst 1613 ist von einem großen Glück die<br />

Rede, das dem Pfarrer Valentin Schmied<br />

widerfuhr, als ein wohl begütertes Pfarrkind<br />

ein Legat stiftete, das der Geistliche<br />

lebenslang unverzinst nutzen konnte. In<br />

jedem Fall folgte auf Clow 1559 Nicolaus<br />

Bluhm und 1562 Nicolaus Thiem.<br />

Die Pfarrer vom Beginn des Dreißigjährigen<br />

Krieges bis zum Kirchenneubau<br />

Es ist bemerkenswert und sicher auch<br />

tröstlich, dass während des Dreißigjährigen<br />

Krieges in Deutsch-Ossig nur zwei<br />

Pfarrer ihren Dienst versahen. George<br />

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42<br />

Geschichte |


Die<br />

Teil I<br />

Ortschronik<br />

Aussaat 15. Jhd.<br />

Kloß trat als junger Pfarrer 1619 sein<br />

Amt an. Nachrichten von ihm und auch<br />

über ihn sind leider nicht erhalten geblieben.<br />

So findet sich lediglich die Eintragung<br />

seines Todestages. Er starb am<br />

4. April 1635 im Alter von 43 Jahren. Am<br />

Palmsonntag traf ihn auf der Kanzel der<br />

Schlag. Kloß hatte auch die traurige Aufgabe,<br />

die Pesttoten aus den Jahren 1631<br />

bis 1635 zu beerdigen. Auf dem Kirchhof<br />

fand sich ein Massengrab an der Mauer<br />

nach Westen hin, das noch lange<br />

in der Erinnerung blieb. Über die<br />

Zahl der Toten liegt keine Notiz<br />

vor. Da die Pest ganze Landstriche<br />

entvölkerte, ist zu vermuten,<br />

dass auch das Dorf schwer gelitten<br />

haben dürfte.<br />

Abraham Thomas folgte Kloß<br />

gleich 1635 im Amt nach. Er war<br />

ein Sohn des Görlitzer Oberpfarrers.<br />

Bis zu seinem Tode 1656<br />

war er Geistlicher in Deutsch-Ossig.<br />

Nachfolger von Thomas wurde<br />

1657 Christoph Friedrich Nicius.<br />

Sein Vater war Kantor des<br />

Görlitzer Gymnasiums und Rektor<br />

der Schule in Freystadt. Allerdings ging<br />

Pfarrer Nicius bereits 1662 als Diakon<br />

nach Görlitz.<br />

Sein Sohn machte sich als Görlitzer Bürgermeister<br />

um Reformen in Land und<br />

Stadt, dem Kirchenregiment und dem<br />

Schulwesen verdient.<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

Dieter Liebig, Volker Richter, Zusammengestellt<br />

durch Dr. Jngrid Oertel<br />

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Geschichte |<br />

43


Görlitzer<br />

Geschichten aus dem Görlitzer Nahverkehr<br />

Arbeitswagen Nr(2).101(II) ex. 34(II) 1969 Abzw. Sattigstr.<br />

Das Leben schreibt so mancherlei Geschichten.<br />

Über eine scheinbar unbedeutende<br />

Begebenheit aus meiner Kindheit<br />

möchte ich heute erzählen. Wir<br />

schrieben das Jahr 1965. Ich bekam an<br />

einem Sonntag von meiner Mutter Geld,<br />

um mit der Straßenbahn zum Tierpark<br />

zu fahren. Am Postplatz stieg ich in eine<br />

Straßenbahn, die ihrer äußeren Gestalt<br />

nach zu urteilen ein mir bekanntes Fahrzeug<br />

war, das ich bislang nur auf der Li-<br />

nie 1 hatte fahren sehen.<br />

Ohne es zu wissen,<br />

meinte ich den TW.34<br />

(II), welcher damals in<br />

der Tat fast immer auf<br />

der Linie 1 zu sehen war<br />

und von dem ich meinte,<br />

dass es der einzige<br />

seiner Art wäre. Aber<br />

ich hatte mich geirrt und<br />

wurde von der Schaffnerin<br />

darauf hingewiesen,<br />

dass dies die Linie 2 sei.<br />

So ging ich nicht in den<br />

Tierpark, sondern in einen<br />

Kinderfilm, welcher<br />

im Filmtheater „Capitol“ gespielt wurde.<br />

Hier nämlich handelte es sich um den<br />

Triebwagen Nr.33II. Erst als ich mich<br />

dann einige Jahre später intensiver mit<br />

der Straßenbahn in Görlitz zu beschäftigen<br />

begann, erfuhr ich, dass es sich um<br />

zwei zu unterschiedlichen Zeiten hergestellte<br />

Umbauten aus WUMAG- Triebwagen<br />

handelte, die sich stilistisch am<br />

Einheitstyp der 40er Jahre orientierten.<br />

Der Wagen Nr.34(II) ist 1956 im Per-<br />

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44<br />

Geschichte |


Görlitzer<br />

Zwei ähnliche „Exoten“<br />

Nahverkehr<br />

bei der Tram<br />

ronbereich modernisiert<br />

worden und erhielt dabei<br />

einen in Fahrtrichtung<br />

ganz links angeordneten<br />

Fahrschalter,<br />

was den Fahrern keineswegs<br />

gefiel. Auch war<br />

beim Fahren im Stehen-<br />

was damals noch<br />

weit verbreitet war- die<br />

obere Begrenzung der<br />

Frontscheibe durch den<br />

eingebauten Zielfilm zu<br />

tief angeordnet. Nach<br />

mehreren Frontalzusammenstößen<br />

mit WU-<br />

MAG- Triebwagen im Jahre 1963 erwogte<br />

die Geschäftsleitung den Umbau der<br />

Wagen 31(II), 33(II) und 37 in ähnlicher<br />

Weise. Letztendlich ist er aber nur<br />

beim Wagen Nr.33(II) zur Ausführung<br />

gekommen(allerdings mit nicht veränderter<br />

Fahrschalterposition). Der im<br />

Umbau durch die Werkstatt befindliche<br />

TW.31(II) wurde im Jahre 1967 unvollendet<br />

ausgesondert. Im Sommer 1970<br />

ist er als erster der sechzehn Görlitzer<br />

Arbeitswagen Nr(2).101(II) ex. TW.34(II) 1971 vor dem Depot<br />

WUMAG- Wagen zerlegt worden.<br />

Der ebenfalls verunglückte Triebwagen<br />

Nr.37 erhielt bis Ende 1964 wieder sein<br />

ursprüngliches Aussehen. Gerne sind die<br />

beiden „Exoten“ nicht gefahren worden.<br />

Ihr regulärer Personeneinsatz endete<br />

1966 (34) bzw. 1968 (33). Als Arbeitswagen<br />

sollten sich die beiden Triebwagen<br />

bis auf den Außenanstrich wieder<br />

zum Verwechseln ähneln. Bis Ende<br />

1973 sah man beide fast tälich auf Stre-<br />

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Geschichte |<br />

45


Görlitzer<br />

Geschichten vom Görlitzer Stadtverkehr<br />

Arbeitswagen Nr(2).101(II) ex. 34(II) 1975 im Depot<br />

ckenkontrolle, an Baustellen oder auch<br />

mal abgestellt am Postplatz. Bereits im<br />

Frühsommer 1975 ist der Arbeitswagen<br />

Nr.102(II) – 1968 aus dem TW.33(II)<br />

hergerichtet – ausgesondert und verschrottet<br />

worden. Im Februar 1976 gelangte<br />

der Arbeitswagen Nr.101 (II) ex.<br />

TW.34 (II) ebenfalls aufs<br />

Abstellgleis, ist aber erst<br />

1978-79 zerlegt worden.<br />

Damit verschwanden die<br />

formschön hergerichteten<br />

und dennoch so unpraktischen<br />

Einzelgänger aus<br />

dem Straßenbild unserer<br />

Stadt und sind schon<br />

beinahe in Vergessenheit<br />

geraten. Beide Arbeitswagen<br />

wurden ersetzt<br />

durch ein einziges<br />

Fahrzeug, den WUMAG-<br />

Triebwagen Nr.30(II),<br />

der einige Jahre als Nr.102(III) unterwegs<br />

war, den Atw.101(II) aber letztlich<br />

nur um ein Jahr überlebt hat. Das Ende<br />

der WUMAG- Ära hatte unausweichlich<br />

begonnen. (Fortsetzung folgt)<br />

Andreas Riedel, Wiesbaden<br />

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46<br />

Geschichte |

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