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BIBER 03_23 Ansicht (1)

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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

+<br />

MÄRZ<br />

20<strong>23</strong><br />

WUT IN DER TÜRKEI<br />

+<br />

PROFIL-CHEFIN<br />

IN ZAHLEN<br />

+<br />

COP UND<br />

TSCHETSCHENE<br />

+<br />

EIN JAHR KRIEG<br />

WAS DER RUSSISCHE ANGRIFFSKRIEG GEGEN DIE UKRAINE<br />

MIT DEM LEBEN DER DIASPORA ANGERICHTET HAT


Entgeltliche Einschaltung<br />

D A M I T S I E<br />

I H R E W O H N U N G<br />

B E H A L T E N<br />

Die Corona-Pandemie hat auch viele Mieter*innen im Gemeindebau vor große Herausforderungen gestellt.<br />

Wer dadurch kein Geld im Börsel hat und die Miete nicht zahlen kann, findet Hilfe bei der<br />

Wiener Wohnungssicherungsstelle unter der Telefonnummer 01 4000 11420 und<br />

durch die Stadtmenschen im Gemeindebau unter Stadtmenschen@wrwks.at.<br />

Mehr Infos über alle Unterstützungsmöglichkeiten für Gemeindebaumieter*innen: wienerwohnen.at/hilfe<br />

Sollten Sie Betroffene kennen, bitte weitersagen - helfen Sie uns beim Helfen!<br />

Service-Nummer 05 75 75 75<br />

wienerwohnen.at


3<br />

minuten<br />

mit<br />

Justin<br />

Bunyaj<br />

Auf TikTok bekommt er hunderttausende<br />

Likes für Videos,<br />

in denen er einen merkwürdigen<br />

Zivilpolizisten namens „Crazy<br />

Joe“ spielt – doch im echten<br />

Leben geht der 17-jährige Justin<br />

Bunyaj noch zur Schule. Der<br />

Wiener mit nigerianischen Wurzeln<br />

im Gespräch über Comedy<br />

und Cannabis-Politik.<br />

Interview: Layla Ahmed<br />

Foto: Atila Vadoc<br />

<strong>BIBER</strong>: Justin, du machst auf TikTok<br />

Comedy-Content, indem du in verschiedene<br />

Charaktere schlüpfst. Woher kam<br />

die Idee?<br />

Es gibt ja diese typischen amerikanischen<br />

Highschool-Filme und diese<br />

peinlichen Synchronstimmen. Meine<br />

Freunde und ich haben einfach eine<br />

Parodie davon gemacht.<br />

<strong>BIBER</strong>: Wieso heißt du auf TikTok<br />

justin_gym?<br />

Früher habe ich Fitness-Videos<br />

gedreht, die haben immer 5000 bis<br />

10 000 Klicks bekommen. Dann habe<br />

ich circa vor einem Jahr zum Spaß ein<br />

Comedy-Video hochgeladen. Ich bin<br />

in der Nacht schlafen gegangen und<br />

am nächsten Tag hatte das Video eine<br />

Million Aufrufe. Dem Account-Namen<br />

bin ich aber treu geblieben.<br />

Dein beliebtestes Format ist der Zivilcop.<br />

Du hast die Figur „Crazy Joe“ erfunden,<br />

der sich als ein jugendlicher Kiffer<br />

ausgibt, einen eigenartigen Jugends-<br />

lang spricht und sich Wörter wie „der<br />

Haschisch-King“ ausdenkt. Mit dieser<br />

Tarnung will er junge Menschen beim<br />

illegalen Cannabiskonsum erwischen.<br />

Was hat dich zum Videoformat mit dem<br />

Zivilpolizisten inspiriert?<br />

Jeder kennt die restriktive Cannabis-<br />

Politik in Österreich. Die älteren Leute<br />

halten Marihuana für den Teufel. Und<br />

mit diesen Zivilpolizisten-Videos will ich<br />

es auf eine sarkastische Art präsentieren<br />

und auch Leute zum Nachdenken<br />

anregen.<br />

Du hast mehrere Sketches, wie etwa<br />

die „D-Max-Dokus“ oder „Der Freund,<br />

der auf Ausländer tut“, die immer wieder<br />

vorkommen. Warum kommt „Crazy<br />

Joe“, der Zivilpolizist, am besten an?<br />

Ich denke, weil es ein aktuelles Thema<br />

anspricht. Viele Jugendliche haben was<br />

mit dem Thema zu tun und finden diese<br />

Gesetze auch ziemlich rückschrittlich.<br />

Ebenfalls finden etliche diesen Dialekt<br />

interessant. Das gibt es eigentlich nicht<br />

so auf TikTok. Dieser typische Wiener<br />

Dialekt, der nochmal richtig übertrieben<br />

dargestellt wird, kommt gut an bei den<br />

Leuten. Ich war schon immer so ein<br />

Typ, der Bock hatte auf kreative Videos,<br />

und mir ist immer etwas in die Richtung<br />

wie „Crazy Joe“ eingefallen.<br />

Hörst du oft, dass du Synchronsprecher<br />

werden könntest?<br />

Ich habe es bis jetzt noch nicht in<br />

Erwägung gezogen. Ich sehe mich viel<br />

mehr in der Schauspielerei und in der<br />

Produktion. Ich denke, als Side-Job<br />

einmal Synchronsprecher zu sein, wäre<br />

richtig witzig.<br />

Wer ist er? Justin Bunyaj<br />

Alter: 17<br />

TikTok: justin_gym<br />

Fun Fact: Hat einen Zweitnamen, von<br />

dem nur wenige wissen: Uzochukwu,<br />

was auf Igbo (die Sprache wird in Nigeria<br />

gesprochen) „Gott ist mit dir“ bedeutet.<br />

/ 3 MINUTEN / 3


3 3 MINUTEN MIT<br />

JUSTIN BUNYAJ<br />

Der 17-jährige „Zivilcop“ von TikTok<br />

im Schnellinterview.<br />

8 IVANAS WELT<br />

Kolumnistin Ivana Cucujkić findet den<br />

österreichischen Umgang mit mehrsprachigen<br />

Menschen zum Kotzen.<br />

10 KLIMA-NEWS<br />

Interessante Zahlen, Daten und Fakten rund<br />

um das Thema Umweltschutz.<br />

POLITIKA<br />

14 DAS LEBEN NACH DEM BEBEN<br />

Nach dem verheerenden Erdbeben in der<br />

Türkei sind Betroffene auf der Suche nach<br />

Antworten.<br />

18 „FRAU THALHAMMER,<br />

WIE OFT WURDEN SIE<br />

BESCHATTET?“<br />

Biber fragt in Worten, Profil-Chefredakteurin<br />

Anna Thalhammer antwortet mit einer Zahl.<br />

20 FLUCHT, FAKE NEWS<br />

UND PROPAGANDA<br />

Betroffene aus der Ukraine und Russland<br />

resümieren, wie sich ihr Leben seit dem<br />

24. Februar 2022 verändert hat.<br />

25 „WIR ALLE SIND WIEN!“<br />

Justizministerin Alma Zadić im Interview über<br />

Waldhäusl und Diskriminierung.<br />

26 „ÖSTERREICH, WARUM<br />

BIN ICH EINE GEFAHR FÜR<br />

DICH?“<br />

Der „Held der Wiener Terrornacht“ Osama Abu<br />

El Hosna darf kein Österreicher werden.<br />

RAMBAZAMBA<br />

30 DER COP UND DER<br />

TSCHETSCHENE<br />

Polizist Uwe und Tschetschene Ahmad sind mit<br />

ihren Info-Tiktoks zu Stars geworden.<br />

20<br />

EIN JAHR KRIEG<br />

Ukrainer:innen und<br />

Russ:innen über ihr<br />

verändertes Leben seit<br />

dem Beginn von Putins<br />

Angriffskrieg.<br />

14<br />

WO IST DIE<br />

ERDBEBEN-<br />

STEUER HIN?<br />

Türk:innen aus<br />

Österreich fordern,<br />

dass endlich<br />

Verantwortung<br />

übernommen wird.<br />

IN


31 DAS ZEITALTER DER<br />

„NICHTSGÖNNER“<br />

Şeyda Gün rechnet mit dem Neid ab,<br />

der unser Zusammenleben zerfrisst.<br />

30<br />

HALT MÄRZ<br />

20<strong>23</strong><br />

DER COP UND<br />

DER TSCHE-<br />

TSCHENE<br />

Polizist Uwe und<br />

Tschetschene Ahmad<br />

sind mit ihren Info-<br />

TikToks zu Stars<br />

geworden.<br />

34 SCHLUSS MIT DER<br />

BALKAN-ERZIEHUNG<br />

Filloreta Bennett möchte keinen Tyrannen<br />

erziehen, der Frauen nicht respektiert.<br />

38 ZU SELBSTBESTIMMT?<br />

Emilija Ilić musste schnell erwachsen werden –<br />

und daran ist nichts verkehrt.<br />

42 WIE VIEL SCHULDE ICH<br />

MEINEN ELTERN?<br />

Evelyn Shi möchte sich genauso gut um sich<br />

kümmern können, wie um ihre chinesische<br />

Mutter.<br />

44 BRO & KONTRA<br />

Kann die jüngere Generation im „Land der<br />

Femizide“ endlich etwas ändern?<br />

TECHNIK&MOBIL<br />

48 THE PARTY IS OVER<br />

Kolumnist Adam Bezeczky über Downsizing im<br />

Silicon Valley und Künstliche Intelligenz.<br />

KARRIERE&KOHLE<br />

50 DAS BILDUNGSSYSTEM<br />

ALS TOXISCHER EX<br />

Šemsa Salioski darüber, warum<br />

Auswendiglernen längst überholt ist.<br />

KULTURA<br />

58 NICHT SCHON WIEDER<br />

Nada El-Azar-Chekh spricht es aus: Wann ist<br />

endlich Schluss mit den Biopics in den Kinos?<br />

34<br />

WIR BESTIMMEN SELBST.<br />

Drei starke Autorinnen schreiben über<br />

ihre persönliche Revolution.<br />

© Zoe Opratko, Cover: © Thomas Süß<br />

61 MEIN OPA, DER PIONIER<br />

Kolumnist Dennis Miskić würdigt seinen<br />

Gastarbeiter-Großvater, weil Österreich es<br />

nicht tat.<br />

68 QUOTEN-ALMANCI<br />

Kolumnistin Özben Önal muss erst mal weg<br />

aus Österreich. Was dafür, und was dagegen<br />

spricht.


Liebe Leser:innen,<br />

„<br />

Inmitten der Trauer nach<br />

dem Erdbeben in der Türkei<br />

bricht immer mehr Wut aus<br />

den Betroffenen heraus. Wie<br />

konnte es dazu kommen, dass<br />

Wohn- und Krankenhäuser<br />

wie Kartenhäuser zusammengefallen<br />

sind? Wer ist<br />

verantwortlich für die<br />

Katastrophe? Auf der Suche<br />

nach Antworten ab Seite 14.<br />

Aleksandra “ Tulej,<br />

Chefredakteurin<br />

Die gravierenden Auswirkungen des Erdbebens in der Türkei und in Syrien<br />

werden mit jedem Tag deutlicher: Über 48.000 Tote und ganze Städte sind<br />

dem Erdboden gleichgemacht; Menschen haben ihre Liebsten, ihre Häuser und<br />

ihre gesamte Existenz verloren. Inmitten der Trauer bricht aber immer mehr<br />

Wut aus den Betroffenen heraus. Wie konnte es dazu kommen, dass Wohn- und<br />

Krankenhäuser wie Kartenhäuser zusammengefallen sind? Was wurde aus der<br />

im Jahr 1999 eingeführten Erdbebensteuer? Auf der Suche nach Antworten<br />

und Verantwortlichen – zwischen Angst, Verzweiflung und Kritik, die man nicht<br />

immer äußern darf. Ab S. 14.<br />

„Der Krieg hat meine gesamte Familie gespalten. Mein Vater hat sich mit seinen<br />

Brüdern so sehr zerstritten, dass er den Kontakt zu ihnen abbrechen musste.<br />

Auch meine Mutter hat viele ihrer Freundinnen verloren“, erzählt Anna. Genau<br />

vor einem Jahr startete Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine und veränderte<br />

damit das Leben der Diaspora. Nicht nur vor Ort, sondern überall auf der<br />

Welt. Wir haben mit Ukrainer:innen sowie Russ:innen aus Wien gesprochen und<br />

erfahren, wie der Krieg ihr Leben, ihre Beziehungen und ihren Alltag verändert<br />

hat – zu lesen in unserer Coverstory ab S.<br />

20.<br />

Filloreta wird keinen Tyrannen erziehen,<br />

Evelyn schuldet ihren Eltern nichts und Emilija<br />

lebt so, wie sie es selbst will. Drei junge<br />

Frauen erzählen, wie sie es geschafft haben,<br />

alte Strukturen zu durchbrechen, und welche<br />

Rückschläge sie dafür in Kauf nehmen mussten.<br />

Über Unterdrückung der Eltern, Kritik<br />

aus der eigenen Community und toxische<br />

Verhaltensmuster ab S. 32.<br />

Alles andere als toxisch ist die Beziehung<br />

zwischen dem Cop Uwe und dem Tschetschenen<br />

Ahmad. Das Duo beantwortet auf<br />

TikTok Fragen rund um Strafen, Cannabisgebrauch<br />

und Polizeigewalt. Die Resonanz:<br />

über 2,5 Millionen Klicks. Wie die Videos im<br />

Umfeld der beiden ankommen und warum<br />

sie so beliebt bei der Community sind, könnt<br />

ihr ab S. 30 lesen.<br />

Viel Freude beim Lesen,<br />

eure biber-Redaktion<br />

<strong>BIBER</strong> SAGT BYE, BYE:<br />

Als biber noch ein Garagen-Projekt<br />

war und seine Mitarbeiter:-<br />

innen mit Pizza entlohnte, war<br />

er schon an Bord. Amar Rajković<br />

trug das biber-Herzblut in sich wie<br />

kaum einer. Wehe, überintegrierte<br />

Redakteur:innen verzichteten<br />

im eigenen Nachnamen auf ihre<br />

Sonderzeichen (š, ć, ž und dergleichen).<br />

Nach 16 Jahren geht<br />

der stv. Chefredakteur und Leiter<br />

der Akademie nun neue Wege<br />

und wird bei der Volkshilfe Wien<br />

für den Ausbau des Community-<br />

Works zuständig sein. Wir werden<br />

dich vermissen, besta Kollega!<br />

Und nie vergessen: Der Journalismus<br />

schläft nicht. Danke für Alles!<br />

Sretan put, Amare.<br />

© Zoe Opratko<br />

6 / MIT SCHARF /


IMPRESSUM<br />

MEDIENINHABER:<br />

Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />

Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />

HERAUSGEBER:INNEN:<br />

Delna Antia-Tatić und Simon Kravagna<br />

CHEFREDAKTEURIN:<br />

Aleksandra Tulej<br />

KULTUR:<br />

Nada El-Azar-Chekh<br />

FOTOCHEFIN:<br />

Zoe Opratko<br />

ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />

KOLUMNIST/IN:<br />

Ivana Cucujkić-Panić, Dennis Miskić, Özben Önal<br />

LEKTORAT: Florian Haderer<br />

REDAKTION & FOTOGRAFIE:<br />

Maria Lovrić-Anušić, Adam Bezeczky, Nada El-Azar-Chekh, Šemsa<br />

Salioski, Dennis Miskić, Mala Kolumna, Franziska Liehl, Thomas Süß,<br />

Zoe Opratko, Atila Vadoc, Malina Köhn, Layla Ahmed<br />

VERLAGSLEITUNG :<br />

Aida Durić<br />

MARKETING & ABO:<br />

Şeyda Gün<br />

REDAKTIONSHUND:<br />

Casper<br />

BUSINESS DEVELOPMENT:<br />

Andreas Wiesmüller<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />

Wilfried Wiesinger<br />

KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />

E-1.4, 1070 Wien<br />

Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />

WEBSITE: www.dasbiber.at<br />

2. bis 5. März<br />

Wiener Stadthalle<br />

9 bis 18 Uhr, 5. März bis 17 Uhr<br />

www.bestinfo.at<br />

ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 1. HJ 2022:<br />

Druckauflage 85.000 Stück<br />

Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />

Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />

www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />

DRUCK: Mediaprint<br />

20<strong>23</strong><br />

Eintritt frei!<br />

Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />

In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />

jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />

der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.<br />

www.facebook.com/bestinfo.at<br />

www.twitter.com/bestinfo_at<br />

www.instagram.com/bestmesse<br />

D i e g r o ß e B i l d u n g s m e s s e<br />

bestinfo.at


In „Ivanas Welt“ berichtet die biber-Kolumnistin Ivana Cucujkić-Panić<br />

über ihr Leben - Glamour zwischen Balkan und Baby<br />

IVANAS WELT<br />

Foto: Igor Minić<br />

GEKOMMEN, UM ZU SPEIBEN<br />

Seit wann, bitte, ist Mehrsprachigkeit eine Bereicherung? … in Österreich?<br />

„Es wäre toll, wenn die Eltern aus einem Buch in ihrer<br />

Muttersprache vorlesen.“ Huch, was ist denn da<br />

los? Die Erzieherin meines Fünfjährigen hat sich bestimmt<br />

vertippt in ihrer Rundmail an die Eltern. Ja,<br />

wo samma denn. Im Betreff: ‚Fest der Bücher‘. Sie<br />

hat sich nicht vertippt. Sie stiftet sogar weiter an: Es<br />

sei „eine Bereicherung, multikulturelle Familien an<br />

unserer Schule zu haben“, und sie möchten, dass alle<br />

Kinder davon profitieren. Spoiler: Der Spross besucht<br />

einen französischen Kindergarten mit internationalem<br />

Umfeld. Das feine Kontrastprogramm zu unserem Brigittenauer<br />

Ghetto.<br />

Eine Woche später saß ich mit Lampenfieber auf<br />

einem kleinen Hocker vor der versammelten Gruppe<br />

und trug ein berühmtes Gedicht meiner Kindheit vor.<br />

Auf Serbisch. Zwanzig kleine Hände klatschten Beifall<br />

und verlangten nach einem Sternchen in ihrem Buchfest-Heft.<br />

Von den gegenwärtigen Pädagoginnen gab<br />

es ein würdigendes „Merci, wunderbar.“ Mein Muttersprachen-Trauma<br />

war geheilt.<br />

GUTE SPRACHE – SCHLECHTE SPRACHE<br />

Von der Krabbelstube bis zum Uniabschluss habe<br />

ich 25 Jahre im österreichischen Bildungssystem<br />

verbracht. Nicht ein einziges Mal sollte meine Muttersprache<br />

dabei eine Rolle spielen. In einem wertschätzenden<br />

Kontext schon gar nicht. Und Serbisch<br />

erst recht nicht. Am besten ich erwähne nicht einmal,<br />

dass zu Hause so gesprochen wird. Zu sehr liegen<br />

mir die Worte meiner Mutter in den Ohren: „Schhhht.<br />

Sprich Deutsch!“ In der Straßenbahn sollte uns niemand<br />

als Serben entlarven.<br />

ABER WOHER KOMMST DU WIRKLICH?<br />

In den 1990er-Jahren war das rein imagetechnisch<br />

bestimmt die bessere Wahl und einfach nur gut gemeint.<br />

Die zehnjährige Ivana hat das unter Scham<br />

und wertlos abgespeichert. Einem ‚Woher kommst<br />

du? Aber woher kommst du wirklich?‘ bin ich deswegen<br />

nicht entkommen. „Aus Wien“ reichte den wenigsten.<br />

Auch heute noch. Sie brauchen die genaue<br />

Ortung für ihre kleinkarierten Diskriminierungsschubladen,<br />

das kulturelle Google-Maps verliert sonst die<br />

Route. Eine scharfe Grenze möchte gezogen werden<br />

zwischen ihr und mir. Als Neugier und weltoffenes<br />

Interesse am Gegenüber getarnt steckt doch hinter<br />

jedem „aber woher kommst du wirklich“ ein „na, von<br />

hier aber sicher nicht“.<br />

EINE RUNDE KOTZEN<br />

Man darf sich für diese Frage durchaus ein bisschen<br />

schämen. Wir haben 20<strong>23</strong>. Österreich ist nicht seit<br />

gestern, nicht seit den 90ern und auch nicht erst seit<br />

1961 ein Einwanderungsland. Also können wir bitte<br />

aufhören, so peinlich zu sein und von „Österreicherinnen<br />

und Österreichern und allen, die hier leben“<br />

zu reden. Da will ich einfach nur in einem Strahl erbrechen.<br />

Ja, wer begrenzt ist, der will Grenzen ziehen.<br />

Festungen errichten. Gäbe es diese, „dann wäre<br />

Wien noch Wien“, skandieren provinzielle Rassisten.<br />

Tschulligung, österreichische Politiker. Andere veranstalten<br />

Bücher-Feste und zitieren internationale<br />

Poeten. Ironischerweise eben nicht in einer österreichischen<br />

Bildungseinrichtung. Aber bleiben wir in unserer<br />

Bubble. Damit Wien noch Wien ist. ●<br />

cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt<br />

8 / MIT SCHARF /


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LIMANEWS<br />

Von Malina Köhn und Layla Ahmed<br />

Wetterextreme, Hunger, Dürren, Konflikte und Menschen, die im globalen Süden<br />

ihre Heimat verlassen müssen – der Klimawandel ist eine Bedrohung für Umwelt<br />

und Mensch. Deshalb gibt es auf dieser Seite News zum Thema Klima und hilfreiche<br />

Tipps, mit denen wir unseren ökologischen Fußabdruck verringern können. Denn der<br />

Klimawandel geht uns alle etwas an.<br />

SCHON GEWUSST?<br />

Filterkaffee maschinen sind<br />

eine größere Umweltsünde als<br />

Kaffeekapseln<br />

KLIMA-PODCASTS ZUM INFOR-<br />

MIEREN UND WEITEREMPFEHLEN<br />

ZAHLEN,<br />

BITTE!<br />

NACHHALTIGKEIT<br />

IM ALLTAG<br />

Kaffeekapseln gelten als die Umweltsünde überhaupt,<br />

doch Forscher der Universität in Quebec<br />

haben herausgefunden, dass die Zubereitungsart<br />

des Kaffees eine viel größere Rolle im Umweltschutz<br />

spielt, als es die Verpackung tut.<br />

ZUBEREITUNGSART ENTSCHEIDENDER ALS<br />

VERPACKUNG<br />

Durch die Aluminiumpackung der einzelnen Kapseln<br />

haben Nespresso und seine Kollegen aus der Kaffeekapsel-Industrie<br />

den Ruf, die Umwelt stark zu schädigen.<br />

Jedoch kam besagte Studie zu dem Ergebnis, dass die<br />

Zubereitungsart viel entscheidender für den CO2-Ausstoß<br />

ist als die Verpackung. Den Forschern zufolge verursachen<br />

Filterkaffeemaschinen bei der Zubereitung bis zu<br />

eineinhalb Mal so viele Emissionen wie ein Kaffee aus der<br />

Kapsel. Das liegt daran, dass eine Tasse Kaffee aus der<br />

Kapselmaschine 14 Gramm Kaffeepulver und Filterkaffee<br />

25 Gramm benötigt.<br />

Zudem verschwenden Filtermaschinen wie die French<br />

Press viel mehr Energie, da sie das Wasser zunächst zum<br />

Kochen bringen. Bei Kapselmaschinen läuft man außerdem<br />

nie Gefahr, mehr Wasser zu verwenden als nötig, da<br />

die Maschine dies kontrolliert.<br />

KLIMAFREUNDLICH IST ES TROTZDEM NICHT<br />

Zu betonen ist, dass Kaffeetrinken generell nicht sehr<br />

umweltfreundlich ist. Die Kaffeebohnen haben sehr lange<br />

Wege hinter sich, sodass Verarbeitung und Logistik von<br />

Rohkaffee immer sehr viel CO2 verbrauchen. Außerdem<br />

ist die Beschaffung der Rohstoffe, um die Aluminiumkapseln<br />

überhaupt herstellen zu können, für die Umweltbilanz<br />

eine Katastrophe. Gleiches gilt für die Entsorgung,<br />

worüber bekanntermaßen schon länger diskutiert wird.<br />

klima update°<br />

der klimareporter° Podcast<br />

Die Redaktion des „Klimareporter“<br />

und der TAZ-Klimahub informiert<br />

in einfachen Worten beispielsweise<br />

darüber, was die Regierungschefs<br />

mal wieder beschlossen<br />

haben, was es bedeutet, wenn die<br />

EU bis 2050 klimaneutral werden<br />

will oder Forscher:innen die Klimaintensivität<br />

genauer bestimmen<br />

können. Der Podcast ist auf der<br />

Website und fast überall, wo es<br />

Podcasts gibt zu hören.<br />

5MinutenClimateChance<br />

Der Klima-Podcast<br />

In nur 5 Minuten erzählen die<br />

Podcaster das Wichtigste über<br />

das Klima und den Klimawandel -<br />

vom Treibhauseffekt und der Rolle<br />

von CO2 bis hin zu Chancen und<br />

Lösungen. Hören könnt ihr den<br />

Podcast auf der Website 5mcc.at.<br />

1<br />

Bambuszahnbürste<br />

=<br />

4<br />

Kunststoffzahnbürsten<br />

1<br />

Glasbehälter<br />

für Zahnseide<br />

=<br />

7<br />

Kunststoffbehälter<br />

für Zahnseide<br />

1<br />

wiederverwendbare<br />

Wasserflasche<br />

=<br />

167<br />

Plastikwasserflaschen<br />

© The James Dyson Foundation, GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com<br />

10 / MIT SCHARF /


GOOD NEWS:<br />

Aus Biomüll wird<br />

Sonnenstrom<br />

AuREUS Solar heißt die tolle Erfindung des philippinischen<br />

Studenten Carvey Ehren Maigue.<br />

Seine Idee ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine<br />

Bereicherung für den Klimaschutz.<br />

DIE VORTEILE VON AUREUS SOLAR<br />

Zum einen erstellt er die Solarplatten aus Bioabfall,<br />

aus dem lumineszierenden Partikel herausgefiltert<br />

werden. Für die Solarplatten verwendet er momentan<br />

zu 80 Prozent<br />

Biomüll und nur<br />

20 Prozent Plastik,<br />

welches Maigue<br />

jedoch zukünftig ganz<br />

weglassen möchte<br />

und eben genau<br />

daran arbeitet. Zum<br />

anderen kauft er den<br />

Biomüll bei philippinischen<br />

Bauern ein, die<br />

besonders unter den<br />

Folgen des Klimawandels<br />

leiden und<br />

häufig Ernteausfälle<br />

haben.<br />

Während herkömmliche<br />

Photovoltaik-Zellen<br />

nur in 10<br />

bis 25 Prozent der<br />

Zeit Strom erzeugen,<br />

schafft AuREUS Solar bis zu 48 Prozent. Das liegt daran,<br />

dass es herkömmlichen Solarplatten nur bei direkter<br />

Sonneneinstrahlung gelingt, Strom zu erzeugen,<br />

während die Erfindung von Maigue auch an wolkigen<br />

Tagen von Gehwegen oder umliegenden Gebäuden<br />

abprallende UV-Strahlen einfangen kann.<br />

WAS SICH DADURCH VERÄNDERN KANN<br />

Das Produkt ist nach wie vor in der Entwicklung, hat<br />

aber 2020 bereits als Erstes den James Dyson Award<br />

für Nachhaltigkeit erhalten, ebenso wie eine Prämie,<br />

mit der der junge Student weiter forscht und seine<br />

Technik ausbaut.<br />

Es könnte verschiedene Anwendungsmöglichkeiten<br />

für AuREUS Solar geben. So könnte es beispielsweise<br />

für die Stromerzeugung von Booten, E-Autos<br />

oder Flugzeugen genutzt werden. Carvey Ehren<br />

Maigues Traum wäre ein Hochhaus, das anstelle<br />

von Fenstern seine Platten enthält, durch die man<br />

durchsehen kann, und so das gesamte Hochhaus mit<br />

Strom versorgt wird.<br />

KLAGEN<br />

FÜR‘S KLIMA<br />

Das gab es noch nie: In Österreich<br />

haben zwölf Kinder<br />

und Jugendliche beim Verfassungsgerichtshof<br />

Klage<br />

gegen die Republik Österreich<br />

eingereicht. Der Grund? Das<br />

aktuelle Klimaschutzgesetz<br />

reicht nicht aus, um den<br />

Schutz von Kindern und<br />

Jugendlichen zu garantieren.<br />

Seit 2011 sind in der Verfassung<br />

die Kinderrechte verankert.<br />

Zu viele Treibhausgase<br />

und die Verfehlung der Pariser<br />

Klimaziele würden somit das<br />

Klimaschutzgesetz in seiner<br />

jetzigen Form verfassungswidrig<br />

machen. Vertreten durch<br />

Anwältin Michaela Krömer, die<br />

schon zuvor mehrere Klimaklagen<br />

begleitet hat, wollen<br />

die jungen Kläger:innen eine<br />

Neuerung des Klimaschutzgesetzes<br />

erreichen.<br />

FUN-FACT:<br />

SINNFLUENCER,<br />

DIE EUCH HELFEN,<br />

NACHHALTIGER ZU<br />

LEBEN<br />

JUSTINE AUS WIEN<br />

Die selbsternannte Ökotante<br />

setzt sich für faire und nachhaltige<br />

Fashion ein und ernährt<br />

sich vegan. Auf ihrem Instagram-Kanal<br />

sowie in ihrem Blog<br />

teilt sie Marken und Firmen, die<br />

vegane Produkte herstellen,<br />

gibt Tipps für ein nachhaltigeres<br />

Leben durch beispielsweise<br />

Stromsparen und stellt leckere,<br />

vegane Rezepte vor.<br />

Instagram: @justinekeptcalmandwentvegan<br />

Blog: justinekeptcalmandwentvegan.com<br />

SVENJA AUS BERLIN<br />

Svenja zeigt uns, wie man<br />

Nachhaltigkeit in allen möglichen<br />

Situationen im Alltagsleben<br />

einbauen kann. Von<br />

plastikfreier Kosmetik, wiederverwendbaren<br />

Wattepads oder<br />

der Überprüfungsmethode, mit<br />

der du rausfindest, ob ein Produkt<br />

wirklich vegan ist, bis hin<br />

zu Tipps zum Gassparen findet<br />

ihr auf ihrem Instagram- und<br />

Youtube-Kanal alles, was ihr<br />

wissen müsst, um nachhaltiger<br />

und klimafreundlicher zu leben.<br />

Instagram: @fraeulein.oeko;<br />

Youtube: FräuleinÖko<br />

Der Klimawandel macht<br />

uns aggressiver<br />

Studien US-amerikanischer Wissenschaftler der Harvard T.H.<br />

Chan School of Public Health ergaben, dass extreme Wetterverhältnisse<br />

die Aggressivität erhöhen. Das liege daran, dass<br />

durch heißes Klima der Adrenalinspiegel im Körper steigt, der<br />

wiederum aggressives Verhalten fördere. Das heißt also: Steigende<br />

Temperaturen führen zu mehr Konfliktpotenzial.<br />

/ MIT SCHARF / 11


ESSEN FÜR DIE TONNE?<br />

SO NICHT!<br />

Lebensmittel zu sparen schont die Umwelt und die Geldbörse.<br />

Mit diesen einfachen Tipps sparst du Ressourcen und<br />

bringst mehr „Zero Waste“ in deinen Alltag.<br />

Von Nada El-Azar-Chekh<br />

Rund ein Drittel aller erzeugten Lebensmittel<br />

landet in der EU im Mist. Ein<br />

erheblicher Teil aller Lebensmittelabfälle<br />

entsteht dabei im eigenen Haushalt: Pro<br />

Kopf kommen etwa 60kg an vermeidbaren<br />

Lebensmittelabfällen zusammen. Deshalb ist<br />

ein bewusster Konsum eine besonders einfache<br />

und kostengünstige Maßnahme für besseren<br />

Klimaschutz – denn wer Essen spart, spart auch<br />

Pestizide, Land und Energie, die zur Herstellung<br />

der Lebensmittel nötig sind und kann aktiv dazu<br />

beitragen, die Umwelt zu schonen. Doch wie<br />

geht Müllvermeidung in der Küche richtig?<br />

ERST DENKEN,<br />

DANN KAUFEN<br />

Bei Lebensmitteln sollte man darauf achten<br />

möglichst saisonal, biologisch und regional<br />

einzukaufen. Das spart nicht nur in vielen<br />

Bereichen Ressourcen , sondern wirkt sich auch<br />

auf den Geschmack und Qualität aus: Gemüse<br />

und Obst schmecken in ihrer jeweiligen Saison<br />

nicht nur besser, sondern sind auch weniger<br />

mit Pestiziden belastet. Im Internet finden sich<br />

viele Saisonkalender für Obst und Gemüse,<br />

an denen man sich gut orientieren kann. Im<br />

Frühling kann man etwa aus Spinat, Spargel,<br />

Bärlauch und Rhabarber viele leckere Speisen<br />

kochen, die sich auch gut einfrieren lassen.<br />

Bei einem Einkauf am Markt lässt sich gut<br />

Verpackungsmist sparen: Habe immer mehrere<br />

Stofftaschen dabei. Haltbares wie Reis, Bohnen,<br />

Getreide und Nudeln in Großpackungen zu kaufen<br />

spart auf lange Sicht viel Mist – und Geld.<br />

Günstige (Bauern-)Märkte in Wien:<br />

Meiselmarkt (1150), Kutschkermarkt (1180),<br />

Viktor-Adler-Markt (1100), Brunnenmarkt<br />

(1160), Naschmarkt (1060)<br />

SCHON GEWUSST?<br />

Laut einer Studie des WWF entfallen 2,2 Milliarden<br />

Tonnen CO2 auf Lebensmittelabfälle. Das entspricht<br />

den Emissionen von 3,3 Milliarden Autos. Die Fläche,<br />

die dafür benötigt wird um diese Menge zu<br />

produzieren entspricht etwa der Größe Indiens!<br />

12 / SPECIAL /


© unsplash.com / Yasin Aribuga, unsplash.com/ Pawel Czerwinski unsplash.com/ Julietta Watson<br />

GUTE GEWOHN-<br />

HEITEN ZAHLEN<br />

SICH AUS<br />

Die richtige Lagerung von Lebensmitteln verhindert, dass<br />

gute Produkte schneller im Mist landen. Im Allgemeinen<br />

gilt bei Obst und Gemüse: Heimische Sorten mögen<br />

es kalt, Exoten brauchen keine Kühlung. Putze deinen<br />

Kühlschrank zudem regelmäßig, um Keimen vorzubeugen.<br />

Auch wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten<br />

ist, können Produkte genießbar sein. Vertraue auf deinen<br />

Geruchs- und Geschmackssinn, bevor Joghurt und Co.<br />

in den Mist kommen. Motiviere auch deine Liebsten und<br />

deine Mitbewohner dazu, mehr auf Müllvermeidung zu<br />

achten! Sammle Einkaufstaschen und wiederverwendbare<br />

Gläser an einem Ort, der für alle gut erreichbar ist. Investiere<br />

in Vorratsdosen, und verwende Büroklammern oder<br />

Clips um geöffnete Verpackungen dicht zu machen und<br />

den Inhalt länger haltbar zu machen.<br />

TIPP FÜR DEN KÜHLSCHRANK:<br />

Gemüse soll rein! Außer: Tomaten, Zucchini,<br />

Melanzani, Paprika, Kürbis und Kartoffeln<br />

Interessante Fakten und mehr Tipps<br />

für Abfallvermeidung findest du<br />

online bei Global 2000:<br />

AUS ALT<br />

MACH NEU<br />

Upcycling ist eine kreative Möglichkeit, aus Dingen<br />

das meiste herauszuholen, bevor sie im Mist landen.<br />

Aus Kaffeesatz lässt sich ein gutes Peeling für die<br />

Haut machen, alte Textilien kann man noch als<br />

Putzlappen verwenden, und alte Konservendosen<br />

machen auch als Stiftehalter für den Schreibtisch<br />

oder als Zahnbürstendose im Bad eine gute Figur.<br />

Vermeide Einwegplastik<br />

und kaufe stattdessen<br />

Produkte in Mehrwegverpackungen.<br />

Marmeladen-<br />

oder Gurkengläser<br />

lassen sich vielfältig im<br />

Haushalt wiederverwenden<br />

– als Trinkglas,<br />

Teelichthalter oder als<br />

Behälter für eine leckere<br />

Mahlzeit für Schule, Uni<br />

oder Büro sind sie noch<br />

lange verwendbar. Ein<br />

guter Tipp: Etikettenkleber<br />

lässt sich mit etwas<br />

Speiseöl und Natron ganz<br />

leicht entfernen!<br />

YALLA! EIN WEEKEND<br />

FÜR KLIMA- UND<br />

UMWELTSCHUTZ<br />

Du bist zwischen 18 und 24<br />

Jahre alt und willst Klimabotschafter:in<br />

für deine Community<br />

werden? Du willst<br />

mehr darüber erfahren, wie<br />

du Klimathemen für Podcasts,<br />

Videos und Social Media aufbereiten<br />

und verbreiten kannst?<br />

Dann komm zum GLOBAL 2000<br />

Yalla-Weekend, das vom <strong>23</strong>.–<br />

25.6.20<strong>23</strong> in Wien stattfindet!<br />

Kosten für Reise, Unterkunft<br />

und Verpflegung werden von<br />

uns übernommen.<br />

Weitere Infos und<br />

das Anmeldeformular<br />

findest du<br />

hier<br />

Dieses Nachhaltigkeitsspecial ist Teil des Projekts „Yalla Klimaschutz - Umweltbildung für alle!“ von GLOBAL 2000, das vom Bundesministerium<br />

für Klimaschutz und Umwelt gefördert wird. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei <strong>BIBER</strong>.<br />

/ SPECIAL / 13


DIE WUT,<br />

DIE ÜBER DEN<br />

TRÜMMERN<br />

HÄNGT<br />

© Bernat Armangue / AP / picturedesk.com<br />

Das Erdbeben in der Türkei Anfang<br />

Februar hat tiefe Wunden hinterlassen:<br />

Inmitten der Trauer bricht immer mehr<br />

Wut bei Betroffenen hervor – auch bei<br />

jenen, die in Österreich leben. Der Druck<br />

auf Präsident Erdoğan wird immer größer.<br />

Auf der Suche nach Verantwortlichen;<br />

zwischen Angst, Verzweiflung und Kritik,<br />

die man nicht immer äußern darf.<br />

Von Maria Lovrić-Anušić und Aleksandra Tulej<br />

Mitarbeit: Malina Köhn und Layla Ahmed, Collage: Zoe Opratko<br />

14 / POLITIKA /


© SAMEER AL-DOUMY / AFP / picturedesk.com<br />

Erdoğans Wählerschaft wurde<br />

in den letzten 22 Jahren mit<br />

Nationalismus, Religion und<br />

Angst berieselt. Er schuf<br />

dieses Bild von „Wir sind alleine, alle<br />

sind gegen uns.“ Und damit hat er Erfolg<br />

gehabt. Ich denke, ein kleiner Teil seiner<br />

Basis wird sich von ihm abkehren, aber<br />

viele Wählerstimmen wird er dadurch<br />

nicht verlieren, sondern einfach weiter<br />

mit der Strategie fahren, wie bisher“,<br />

erzählt Ali. Ali ist Kurde, 61 Jahre alt,<br />

Sozialarbeiter und lebt seit über 30<br />

Jahren in Wien. Er ist in Pazarcık in der<br />

Provinz Kahramanmaraş in der Türkei<br />

geboren und aufgewachsen. Einreisen<br />

darf er in die Türkei nicht mehr, aufgrund<br />

vergangener kritischer Äußerungen<br />

gegenüber dem türkischen Präsidenten<br />

Recep Tayyip Erdoğan. Ali selbst hat<br />

bei dem Erdbeben seine Tante, die eine<br />

Ersatzmutter für ihn war, und mehrere<br />

Freunde verloren.<br />

ERDBEBENSTEUER,<br />

LEERE VERSPRECHEN,<br />

KORRUPTION<br />

Das Erdbeben in der Türkei, in Kurdistan<br />

und in Syrien Anfang Februar hat<br />

bis dato 48.000 Menschen das Leben<br />

gekostet. Ganze Städte wurden dem<br />

Erdboden gleichgemacht. Zigtausende<br />

Menschen haben ihre Verwandten, ihre<br />

Häuser und ihre gesamte Existenz verloren.<br />

Eine Naturkatastrophe kann zwar<br />

niemand verhindern, ihre Folgen und das<br />

Ausmaß hätten in diesem Fall aber minimiert<br />

werden können, beklagen immer<br />

mehr Menschen. Die türkische Bevölkerung<br />

fühlt sich im Stich gelassen, es wird<br />

nach Verantwortlichen gesucht.<br />

Erdoğan gerät derzeit immer mehr<br />

unter Druck. Die Opposition wirft ihm<br />

Totalversagen vor. Ingeneuri:nnen<br />

werfen ihm vor, dass trotz Risiken Vorschriften<br />

zur Gebäudesicherheit ignoriert<br />

wurden, Wissenschafter:innen kritisieren,<br />

dass Warnungen nicht beachtet wurden.<br />

Die Reaktion der Regierung: Twitter wurde<br />

lahmgelegt, Erdoğan ließ Bauherren<br />

festnehmen, kritische Berichterstattung<br />

wird im Keim erstickt. So kursieren auf<br />

Social Media immer mehr Videos, bei<br />

denen Interviews des türkischen Staatsfernsehens<br />

mit Betroffenen unterbrochen<br />

werden, sobald diese sich kritisch<br />

gegenüber der Regierung äußern. Und<br />

Erdoğan? Er bezeichnet das Erdbeben als<br />

"Schicksal". Er steht mit seiner konservativen<br />

Partei Adalet ve Kalkınma Partisi<br />

(auf Deutsch: Partei für Gerechtigkeit<br />

und Aufschwung), kurz AKP, seit 20<strong>03</strong><br />

an der Spitze der Türkei. Er regiert schon<br />

so lange, dass man seine Reaktion auf<br />

andere Erdbeben im Land herbeiziehen<br />

kann: Im Jahr 20<strong>03</strong> zum Beispiel, als er<br />

erst Premierminister geworden ist, gab<br />

es ein Erdbeben in der Provinz Bingöl.<br />

Erdoğan versprach Konsequenzen, er<br />

wolle sich anschauen, wer sich beim<br />

Bau bereichert habe. Und er sagte, man<br />

könne das Beben "nicht als Schicksal<br />

abtun".<br />

So äußert sich auch die Grünen-<br />

Abgeordnete Berivan Aslan bei einer<br />

Gedenkveranstaltung für die Opfer des<br />

Erdbebens am 16. Februar am Wiener<br />

Stephansplatz: „Jeder stellt sich die<br />

Frage: Wie kann das sein? Der Mensch<br />

ist hilflos gegenüber Naturkatastrophen<br />

und wahrscheinlich wäre jedes Land mit<br />

dem Ausmaß dieser Katastrophe überfordert<br />

gewesen“, so die Juristin. „Aber<br />

es sind nicht nur die Bauherren dafür<br />

verantwortlich, dass sehr viele Menschen<br />

gestorben sind. Es ist auch die korrupte<br />

Politik verantwortlich. Aufgrund der<br />

Korruption sind sehr viele Menschen<br />

gestorben.“ Sie kritisiert die strukturellen<br />

Probleme und die mangelnden Präventivmaßnahmen:<br />

„Viele machen sich unbeliebt<br />

oder werden angefeindet, wenn sie<br />

strukturelle Probleme und auch diese<br />

Korruptionsprobleme ansprechen. Aber<br />

Antakya in Trümmern<br />

es kann nicht sein, dass Gebäude, die<br />

vor drei Jahren gebaut wurden, heute<br />

komplett in Schutt und Asche liegen. Es<br />

kann nicht sein, dass in einer Region, die<br />

zu den erdbebengefährdetsten Regionen<br />

der Welt gehört, so wenige Präventivmaßnahmen<br />

vorgenommen wurden.<br />

Seit 1999 gibt es in der Türkei die<br />

Erdbebensteuer. Diese wurde nach<br />

dem großen Erdbeben von Gölcük,<br />

bei dem über 17.000 Menschen ums<br />

Leben gekommen waren, eingeführt. Mit<br />

diesem Steuergeld sollte dafür gesorgt<br />

werden, dass Gebäude erdbebenfest<br />

gemacht werden. Dennoch sind viele<br />

Gebäude in den betroffenen Provinzen<br />

dem Erdboden gleichgemacht. Viele<br />

Bürger:innen in der Türkei fragen sich,<br />

was mit dem Geld passiert ist, wenn es<br />

nicht in die Erdbebensicherheit investiert<br />

wurde. Unter der AKP-Regierung hat die<br />

Türkei in den letzten 20 Jahren einen<br />

Bauboom erlebt, dabei haben vermehrt<br />

regierungsnahe Firmen die Aufträge<br />

bekommen. Seit Jahren ist die Rede<br />

von Nepotismus und Korruption. Die<br />

Gebäude, die im Zuge des Erdbebens im<br />

Es kann nicht sein, dass<br />

Gebäude, die vor drei<br />

Jahren gebaut wurden,<br />

heute komplett in Schutt<br />

und Asche liegen.<br />

/ POLITIKA / 15


Hatay: Viele Betroffene stehen vor dem Nichts und die Wut auf die Regierung wird immer größer<br />

Februar zusammengefallen sind, darunter<br />

auch Krankenhäuser oder Flughäfen,<br />

sind alle im staatlichen Auftrag gebaut<br />

worden. „Erdoğan hat seine Versprechen<br />

nicht eingehalten. Nichts hat er eingehalten<br />

und dabei stehen Menschen dahinter<br />

und glauben ihm. Nur so viel dazu: Diese<br />

Häuser sind ja nicht von heute auf morgen<br />

eingestürzt“, so Hatice Sahin İlter,<br />

stellvertretende Bundesvorsitzende der<br />

Organisation „freie-aleviten österreich“.<br />

BILLIGBAUTEN<br />

BESONDERS IN<br />

KURDISCHEN GEBIETEN<br />

Tausende von Menschen sind aufgrund<br />

von billig errichteten Wohnungen,<br />

die angeblich das Wohnungsproblem<br />

lösen sollten, gestorben. Insbesondere<br />

betroffen sind kurdische Menschen, die<br />

aufgrund von jahrzehntelanger militärischer<br />

Besatzung in die Städte und Vorstädte<br />

des Landes gezwungen wurden.<br />

Der Krieg, Naturkatastrophen und die<br />

systematische Verarmung haben dazu<br />

beigetragen, dass viele Menschen in die<br />

Provinzhauptstädte des Landes umgesiedelt<br />

wurden, wo die militärische und<br />

politische Kontrolle einfacher zu bewerkstelligen<br />

waren. Nach der Zerstörung<br />

vieler Dörfer in den 1990er Jahren war<br />

der billige Bauboom unter dem 20<strong>03</strong> an<br />

die Macht gekommenen Präsidenten eine<br />

schnelle, aber tödliche Lösung für viele<br />

kurdische Menschen, die keine andere<br />

Wahl hatten. Die charakteristischen<br />

mehrstöckigen Billigwohnbauten boten<br />

den Menschen zwar ein Dach über dem<br />

Kopf, zerstörten aber auch viele kurdische<br />

Gemeinschaften, deren politische<br />

Stärke gerade in ihrem Zusammenleben<br />

bestanden hatte.<br />

„Das war ein sprechendes Bild<br />

dafür, dass diese Menschenleben in<br />

den Augen des Staates weniger Wert<br />

haben“, erzählt Damla aufgebracht über<br />

die verspäteten Hilfeleistungen. Damla<br />

selbst stammt aus Istanbul und ist somit<br />

nicht direkt vom Erdbeben betroffen.<br />

Indirekt allerdings schon, denn ihre<br />

Familie ist jüdisch und somit zählt sie<br />

zu einer Minderheit in der Türkei. Die<br />

25-Jährige empfand ihre Heimat immer<br />

als unglaublich gastfreundlich und fühlte<br />

sich wohl, doch vor zehn Jahren begann<br />

sich ihre Sicht zu ändern. Die stiefmütterliche<br />

Behandlung von Minderheiten,<br />

und die Tatsache, dass einige Freunde<br />

ihrer Familie in der Türkei politisch<br />

Verfolgte sind, brachte sie immer wieder<br />

zum Nachdenken. Trotz alledem hätte<br />

sie niemals damit gerechnet, dass die<br />

Ersthilfe in den Gegenden wie Hatay, in<br />

denen viele Minderheiten leben so rar<br />

ausfallen würde. In einigen Gebieten der<br />

Türkei mussten Betroffene über hundert<br />

Stunden auf Hilfe warten. „Das türkische<br />

Volk hat sehr lange und stark an seine<br />

Führung geglaubt. Dass die Menschen<br />

dann so stark im Stich gelassen werden<br />

in solchen Momenten wie beim Erdbeben,<br />

ist einfach erschütternd.“ Damla hat<br />

die Hoffnung, dass wenigstens die Wahlen<br />

diesmal anders ausgehen werden,<br />

denn laut ihr seien selbst die Menschen,<br />

die an die AKP geglaubt haben, nun<br />

wütend. Ihre einzige Sorge ist jedoch, ob<br />

es Wahlkabinen im Raum rund um Hatay<br />

geben wird und die Betroffenen überhaupt<br />

zum Wählen kommen werden.<br />

„ICH HABE FRÜHER<br />

ERDOĞAN GEWÄHLT,<br />

ICH HABE DIE AKP<br />

UNTERSTÜTZT.“<br />

Nach der Katastrophe ist in der Türkei<br />

auch eine Diskussion darüber entbrannt,<br />

ob Präsident Erdoğan die Präsidentschafts-<br />

und Parlamentswahlen, die<br />

eigentlich für den 14. Mai angesetzt sind,<br />

verschieben wird.<br />

Laut aktuellen Prognosen liegt die<br />

AKP bei 35,7 %, die Umfragen wurden<br />

allerdings noch vor dem Erdbeben<br />

gemacht. Welche Auswirkung wird das<br />

Erdbeben auf die Wählerstimmen haben?<br />

Wer wird sich von ihm abwenden? Laut<br />

Meinungsumfragen, die noch vor den<br />

Erdbeben veröffentlicht wurden, muss<br />

sich Erdoğan auf einen harten Wahlkampf<br />

einstellen. Seine Beliebtheit hat<br />

unter anderem aufgrund steigender<br />

Lebenshaltungskosten und der schwächelnden<br />

Landeswährung Lira gelitten,<br />

auch die hohe Inflation sorgt für Unmut<br />

in der Bevölkerung. Nun wird Erdoğan<br />

dafür kritisiert, wie seine Regierung auf<br />

das verheerende Erdbeben reagiert hat.<br />

Laut der offiziellen Website des<br />

türkischen Wahlrats (YSK) waren bei den<br />

letzten Präsidentschaftswahlen in der<br />

Türkei im Jahr 2018 insgesamt 106.004<br />

türkische Staatsbürger:innen in Österreich<br />

wahlberechtigt. Dies entspricht<br />

etwa 3,4 % der insgesamt etwa 3,2<br />

Millionen wahlberechtigten Türk:innen<br />

weltweit.<br />

Eine von ihnen ist Ebru. Ebru ist 25<br />

Jahre alt und ist türkischstämmige Österreicherin<br />

und Muslima. „Ich habe früher<br />

Erdoğan gewählt, ich habe die AKP<br />

© YASIN AKGUL / AFP / picturedesk.com<br />

16 / POLITIKA /


unterstützt. Weil er in der eher laizistischen<br />

Türkei den Frauen, den kopftuchtragenden<br />

Frauen, die Freiheit bei der<br />

Ausübung der Religion anerkannt hat.“<br />

Ihre Einstellung hat sich aber im Laufe<br />

der letzten Jahre geändert. „Mittlerweile<br />

sehe ich das nicht mehr so: Ich bin kein<br />

Fan von seiner autoritären politischen<br />

Regierungsart und seiner zunehmend<br />

aggressiven Außenpolitik.“ Ebru sieht<br />

Erdoğans Politik als eine Bedrohung für<br />

die Demokratie in der Türkei und als Hindernis<br />

für die wirtschaftliche und soziale<br />

Entwicklung des Landes.<br />

„ICH HABE ANGST,<br />

AUF DEM RADAR DER<br />

TÜRKISCHEN REGIERUNG<br />

ZU LANDEN.“<br />

Seit Mitte Oktober 2022 existiert in der<br />

Türkei das Desinformationsgesetz. Ziel ist<br />

es, die Verbreitung von Fehlinformationen<br />

zu stoppen. Ein Teil der Bevölkerung<br />

sieht darin allerdings nur den Versuch,<br />

Regierungskritiker:innen einzuschüchtern.<br />

Wer vermeintliche Desinformationen<br />

verbreitet, muss mit bis zu drei<br />

Jahren Haft rechnen. Aus diesem Grund<br />

schlucken viele Bürger:innen ihre Wut<br />

runter, statt sie öffentlich auszusprechen.<br />

„Ich habe Angst, auf dem Radar der<br />

türkischen Regierung zu landen“, erzählt<br />

die Wienerin Sila nervös. Die 22-Jährige<br />

kommt aus Malatya, einer Stadt, die<br />

durch das Erdbeben fast vollständig zerstört<br />

wurde. Sie ist wütend und hätte viel<br />

an der Regierung zu kritisieren, allerdings<br />

gestaltet sich das nicht so einfach. Sila<br />

erzählt von türkischen Bürger:innen, die<br />

über Twitter Kritik äußerten und danach<br />

eine Klage am Hals hatten. „Erdoğan<br />

schränkte die Nutzung von Twitter und<br />

Instagram ein, mit der Begründung, dass<br />

Fehlinformationen verbreitet und eine<br />

falsche Angst geweckt werden würde.“<br />

Sie sieht diese Maßnahme Erdoğans<br />

als einen Versuch, nur Propaganda aus<br />

seinen eigenen Reihen an die Öffentlichkeit<br />

zu lassen. Sila berichtet von Videos,<br />

in denen die AKP-Regierung und Erdoğan<br />

gezeigt werden, wie sie Betroffene im<br />

Krankenhaus besuchen und erzählen,<br />

dass sie keinen im Stich lassen würden.<br />

„Sogar als viele Länder ihre externe Hilfe<br />

angeboten hatten, erklärte er, dass die<br />

Türkei keine Hilfeleistungen brauchen<br />

Präsident Recep Tayyip Erdoğan gerät<br />

immer mehr unter Druck<br />

würde. Die AKP-Regierung würde mehr<br />

als genug für die Bürger:innen tun.“ Laut<br />

der 22-Jährigen kursiert das Gerücht,<br />

dass Personen, die sich kritisch zu der<br />

Erdbebensituation oder der Erdbebensteuer<br />

äußern, früher oder später dafür<br />

bestraft würden, weshalb auch sie ihre<br />

Wut einfach runterschluckt. ●<br />

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Weil man, je nach Situation, gezielte Infos über Chancen<br />

und Möglichkeiten am Arbeitsmarkt braucht.<br />

Alle Informationen gibt’s beim AMS Wien unter: www.ams.at/biz<br />

Ihr Arbeitsmarktservice Wien.


Frau Thalhammer,<br />

wie oft wurden Sie<br />

beschattet?<br />

Wie viele Jahre<br />

wird es noch<br />

gedruckte<br />

Magazine<br />

geben?<br />

Wie viele Jahre<br />

wird es profil<br />

noch geben?<br />

Wie viele<br />

Politiker:innen<br />

sind aufgrund<br />

Ihrer Recherchen<br />

zurückgetreten?<br />

Interview in Zahlen:<br />

In Politik & Medien wird schon<br />

genug geredet. Biber fragt in<br />

Worten, die neue profil-Chefredakteurin<br />

Anna Thalhammer<br />

antwortet in Zahlen.<br />

10<br />

100<br />

3<br />

Von Simon Kravagna, Fotos: Franziska Liehl<br />

Investigativjournalistin Anna Thalhammer (37)<br />

wurde einmal beschattet.<br />

Die neue Profil-Chefredakteurin hat nicht nur Freunde:<br />

10 Politiker:innen sprechen nicht mit ihr.<br />

Wie oft wurden<br />

Sie aufgrund<br />

Ihrer Arbeit<br />

beschattet?<br />

Wie oft wurden<br />

Sie angezeigt?<br />

Wie oft wurden<br />

Sie verurteilt?<br />

Wie viele gute<br />

Investigativjournalist:innen<br />

hat Österreich?<br />

Wie viele<br />

Parteien haben<br />

Sie bereits in<br />

Ihrem Leben<br />

gewählt?<br />

1<br />

3<br />

0<br />

5<br />

3<br />

18 / POLITIKA /


Mit wie vielen<br />

Politiker:innen<br />

sind Sie per<br />

Du?<br />

Mit wie vielen<br />

Politiker:innen<br />

sind Sie<br />

befreundet?<br />

Wie viele<br />

Politiker:innen<br />

sprechen<br />

nicht mehr mit<br />

Ihnen?<br />

Wie oft<br />

mussten Sie<br />

eine Gegendarstellung<br />

bringen?<br />

Wie oft wurde<br />

versucht,<br />

Ihr Handy<br />

beschlagnahmen<br />

zu<br />

lassen?<br />

7<br />

0<br />

10<br />

4<br />

2<br />

Zweimal gab es vergebliche Versuche,<br />

ihr Handy beschlagnahmen zu lassen.<br />

Viermal musste sie eine medienrechtliche<br />

Gegendarstellung veröffentlichen.<br />

Wie viele<br />

Stunden pro Tag<br />

verbringen Sie<br />

auf Twitter?<br />

Wie viele<br />

Stunden pro<br />

Tag verbringen<br />

Sie auf TikTok?<br />

Wie viele<br />

Stunden<br />

arbeiten Sie<br />

pro Tag?<br />

Wie viele<br />

Stunden Schlaf<br />

brauchen Sie<br />

pro Nacht?<br />

Wie viele<br />

Stunden Schlaf<br />

bekommen Sie?<br />

4<br />

0<br />

14<br />

9<br />

6<br />

/ POLITIKA / 19


EIN<br />

JAHR<br />

KRIEG<br />

Am 24. Februar jährte sich die russische Invasion in der Ukraine zum<br />

ersten Mal. Betroffene mit Wurzeln in der Ukraine und Russland<br />

erzählen, wie sich ihr Leben und ihre Beziehungen zwischen Flucht,<br />

Fake News und Propaganda seither verändert haben.<br />

Von Nada El-Azar-Chekh, Illustrationen: Thomas Süß<br />

20 / POLITIKA /


Viele meiner ukrainischen Freunde haben das<br />

Gefühl, dass man zwar etwas für die Zukunft<br />

planen kann, vieles aber im nächsten Moment<br />

auch einfach keinen Sinn mehr machen kann.<br />

Das Leben ist so flüchtig geworden – du könntest einschlafen<br />

und zack, gibt es dich nicht mehr. Ähnlich wie bei dem<br />

Erdbeben in der Türkei und in Syrien kann von heute auf<br />

morgen alles weg sein“, sagt Olesya. Die 35-Jährige lebt seit<br />

2011 in Wien, wo sie als Modedesignerin arbeitet. Seit dem<br />

24. Februar 2022 ist die Welt nicht mehr dieselbe. An diesen<br />

Tag wird sie sich ihr ganzes Leben erinnern können. „Ich<br />

konnte nachts nicht schlafen und bin mit meinem Handy im<br />

Bett gelegen. Dann bekam ich um vier Uhr früh eine Nachricht<br />

von einer Freundin aus Kiew, dass Explosionen zu hören<br />

waren.“ Ihr Blick geht in die Ferne und sie stößt einen tiefen<br />

Seufzer aus. Bereits einen Monat vor Beginn der Invasion<br />

spürte sie eine große Nervosität angesichts der sich immer<br />

weiter zuspitzenden Lage. Russische Truppen formierten sich<br />

um die Grenzen der Ukraine für militärische Übungen. Olesyas<br />

Eltern leben in der Stadt Mikolayiv im Süden der Ukraine,<br />

die etwa 60 Kilometer von der Krim entfernt liegt. Sie erinnert<br />

sich daran, wie viel Überzeugungskraft es kostete, ihre<br />

Eltern dazu zu bringen, zumindest einen Notfallrucksack zu<br />

packen, bevor Russland den Überfall auf die Ukraine startete.<br />

„Mikolayiv war früher, neben Sankt Petersburg, die<br />

zweitwichtigste Schiffbaustadt in der Sowjetunion. Dort<br />

stehen große Fabriken, die teilweise heute immer noch in<br />

Betrieb sind. Man weiß, dass Russland Kontrolle über das<br />

Asowsche Meer will und weiter nach Transnistrien strebt“,<br />

so Olesya. Sie spürte von Anfang an, dass dies ein längerer<br />

Krieg werden würde und nicht eine kurze „militärische<br />

Spezialoperation“, wie von russischer Seite das Vorgehen<br />

der russischen Armee in der Ukraine bis heute genannt wird.<br />

Sie wusste, dass die Ukrainer nicht so<br />

schnell aufgeben würden. „Jeder lernt<br />

in der Schule über die Kosakenseele der<br />

Ukraine, es geht darum, seine Heimat<br />

zu verteidigen“, so die Modedesignerin.<br />

Sie kennt einige Männer persönlich, die<br />

vormals etwa in der IT gearbeitet haben,<br />

und nun in der Armee ihr Heimatland<br />

verteidigen müssen.<br />

Seit Beginn des russischen Überfalls<br />

sind über acht Millionen Flüchtlinge aus<br />

„<br />

Was in Butscha alles<br />

von jungen russischen<br />

Soldaten an Videos<br />

aufgenommen und auch<br />

vielfach geteilt wurde, ist<br />

einfach schrecklich.<br />

“<br />

der Ukraine in Europa registriert worden. Nach Angaben<br />

der Vereinigten Nationen sind 2,8 Millionen Flüchtlinge<br />

aus der Ukraine in Russland. Polen, Deutschland und die<br />

Tschechische Republik folgen zahlenmäßig als Hauptziele<br />

der jüngsten Fluchtbewegungen. Genaue Zahlen über die<br />

militärischen Verluste dieses Konflikts zu finden, ist schwer.<br />

Weder von ukrainischer, noch von russischer Seite gibt es<br />

hierzu verlässliche Zahlen. Offiziell hat der ukrainische Präsident<br />

Selenskyi zuletzt im Dezember 2022 von 10.000 bis<br />

13.000 verlorenen Streitkräften gesprochen. Die russische<br />

Regierung hat im September 2022 etwa 6.000 Verluste in<br />

der Armee gezählt. Im Westen geht man davon aus, dass<br />

es sich in Wahrheit um mehrere Zehntausend Getötete auf<br />

beiden Seiten handeln muss – zivile Opfer nicht mitgezählt.<br />

Zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 2. Jänner 20<strong>23</strong><br />

zählt die UNHCR etwa 6.919 zivile Todesopfer und 11.075<br />

Verletzte in der Ukraine alleine. Derzeit konzentrieren sich die<br />

Kämpfe auf den Osten der Ukraine, wo Russland im Februar<br />

20<strong>23</strong> eine weitere Großoffensive gestartet hat. Immer wieder<br />

wird die ukrainische Energieinfrastruktur von Russland bombardiert.<br />

„MEINE VERWANDTSCHAFT IN<br />

RUSSLAND IST VERLOREN.“<br />

Besonders prägend ist für Olesya das Gefühl, dass sich mit<br />

dem Krieg das Leben in zwei Teile geteilt hat – und das nicht<br />

nur im Sinne eines Lebens vor der Invasion und eines nach<br />

der Invasion.<br />

Mit ihren Freundinnen und Freunden aus Russland und<br />

Belarus ist sie in diesem Jahr noch enger zusammengewachsen.<br />

„Meine Verwandtschaft in Russland ist hingegen<br />

verloren – manche von ihnen haben sich bis jetzt nicht<br />

einmal bei mir gemeldet. Früher bin ich mit meiner Familie<br />

regelmäßig auf Besuch in Russland gewesen und es war<br />

normal, dass zwanzig Personen auf mich zukamen und mich<br />

abküssten.“ Sie schüttelt den Kopf und erzählt von einem<br />

engen Bekannten in der Familie, den sie Onkel nannte. „Seit<br />

er 18 Jahre alt war, war er in der russischen Armee. Natürlich<br />

habe ich versucht, mit ihm darüber zu reden, warum er<br />

sich für einen Lebensweg als Soldat entschieden hatte. Aber<br />

man muss verstehen, dass es in vielen Teilen Russlands<br />

verdammt hart ist, einen Lebensunterhalt zu verdienen und<br />

deshalb viele Männer aus Verzweiflung in die Armee gehen.<br />

Die russische Regierung hat das Leben vielerorts so hart<br />

gemacht, dass der einzige Ausweg aus der Armut die Armee<br />

ist. Russland investiert enorm viele Ressourcen in das Militär.<br />

Heute arbeitet er in einer Raketenbasis,<br />

von der aus mein Heimatland bombardiert<br />

wird.“<br />

BILDER AUS BUTSCHA<br />

Am meisten erschütterten sie die vielen<br />

Videoaufnahmen aus den besetzten<br />

Gebieten, die sich über das Internet<br />

verbreiteten. „Was dort alles von jungen<br />

russischen Soldaten an Videos aufgenommen<br />

und auch vielfach geteilt wur-<br />

/ POLITIKA / 21


de, ist einfach schrecklich.<br />

Vergewaltigungen, Folter<br />

und andere Dinge, über die<br />

meine Tanten in der Ukraine<br />

bis jetzt nicht einmal<br />

sprechen können“, sagt die<br />

35-Jährige bedrückt. „Als<br />

ich die Bilder aus Butscha<br />

sah, wusste ich sofort,<br />

dass die Meldungen wahr<br />

gewesen sind. Ich kenne<br />

doch diese Wälder, mit den<br />

langen, dünnen Tannenbäumen.<br />

Da kann mir niemand<br />

etwas vormachen.“<br />

HARTE STRA-<br />

FEN FÜR UNTER-<br />

STÜTZUNG DER<br />

UKRAINE<br />

Wie Olesya lebt auch die<br />

Russin Anna bereits seit<br />

2011 in Wien. „Der Krieg<br />

hat meine gesamte Familie<br />

gespalten. Mein Vater hat<br />

sich mit seinen Brüdern so<br />

sehr zerstritten, dass er den<br />

Kontakt zu ihnen abbrechen<br />

musste. Auch meine Mutter<br />

hat viele ihrer Freundinnen verloren“, so die 33-jährige<br />

Studentin aus Moskau. Durch Meinungsverschiedenheiten<br />

zum russischen Angriffskrieg hat Anna sehr viele Bekannte<br />

und Freunde in ihrem Heimatland verloren. „Heute weiß ich,<br />

dass es einfach viele Leute gibt, die nichts von dem wissen<br />

wollen, was um sie herum passiert“, so Anna.<br />

Sie erzählt, dass sie bereits einige Tage nach Beginn der<br />

Invasion auf Facebook ein Posting veröffentlichte, in dem<br />

sie den Krieg verurteilte. „Das politische Klima ist derzeit<br />

so angespannt, dass man sich nicht traut, kritisch über den<br />

Krieg zu sprechen, was zu einer großen Einsamkeit führt.<br />

Nicht nur, weil es für jegliche Unterstützung der Ukraine<br />

harte Strafen [siehe Infobox] gibt, sondern auch, weil in der<br />

Gesellschaft verrückte Sachen kursieren“, so Anna. Einige<br />

ihrer Kontakte in Russland warfen ihr vor, dass sie amerikanische<br />

Propaganda verbreiten würde, und rieten ihr, das<br />

Posting zu löschen. Von einer ihrer besten Freundinnen<br />

wurde sie kommentarlos blockiert. Jedoch bekam sie auch<br />

viel Zuspruch, vor allem von ukrainischen<br />

Freundinnen und Freunden, so wie auch<br />

von ihren Eltern. „Mein Vater rief mich an<br />

und er war sehr dankbar, dass ich meine<br />

Meinung öffentlich machte. Er meinte,<br />

dass man zu lange unterdrückt wurde,<br />

auch schon zu Sowjetzeiten, und dass<br />

es endlich an der Zeit ist, die Muster zu<br />

brechen“, so die gebürtige Russin.<br />

Im November 2022 emigrierten<br />

„<br />

Das politische Klima ist<br />

derzeit so angespannt,<br />

dass man sich nicht<br />

traut, kritisch über den<br />

Krieg zu sprechen.<br />

“<br />

22 / POLITIKA /<br />

Annas Eltern nach Bulgarien.<br />

Schätzungen zufolge<br />

haben etwa 900.000<br />

russische StaatsbürgerInnen<br />

ihr Heimatland verlassen.<br />

Hauptsächlich halten sich<br />

die Emigranten in Ländern<br />

wie der Türkei, Armenien,<br />

Georgien oder Serbien auf.<br />

„Ich bin froh, dass ich meine<br />

Eltern in einem sicheren<br />

Land besuchen kann, was<br />

viele russische Bürger nicht<br />

können. Aber was ist mit all<br />

den Dingen, die über Generationen<br />

in unserer Familie<br />

weitergegeben wurden? Mir<br />

tut es weh, dass sie alles,<br />

was die Geschichte unserer<br />

Familie ausmacht, in Moskau<br />

zurücklassen mussten“, so<br />

Anna.<br />

FAMILIENALLTAG<br />

IM INTERNET<br />

Für Maksim war ein Krieg bis<br />

zum Beginn der Invasion am<br />

24. Februar unvorstellbar.<br />

„Es war so unglaublich, dass<br />

ich es sogar für einen Bluff hielt, als mir meine ukrainischen<br />

Freunde von den russischen Truppen an der Grenze erzählten.“<br />

Er lebt seit 2012 in Wien, wo er als Dirigent arbeitet,<br />

und war zum letzten Mal in seiner Heimatstadt Moskau in der<br />

Woche vor Kriegsausbruch. Mit seiner Familie in Russland ist<br />

er nur noch über das Internet, über Whatsapp, Telegram und<br />

Facetime verbunden – bereits vor Kriegsbeginn war es in der<br />

Coronazeit schwer, seine Angehörigen zu sehen. „Das wird<br />

noch länger so sein“, befürchtet er.<br />

Kurz nach Kriegsausbruch wurde Maksim eine Absage<br />

für ein großes Konzert in Berlin erteilt, mit der Begründung<br />

der Agentur, dass man in dieser politischen Situation keinen<br />

russischen Dirigenten groß ankündigen könne. „Ich habe<br />

das nachvollziehen können – als Veranstalter will man sich<br />

auch nicht den Fragen aus dem Publikum stellen. Ich habe<br />

in diesem Jahr ehrlich gesagt mehr in Russland verloren, als<br />

ich hier in Österreich verloren habe. Hierzulande kenne ich<br />

niemanden, der diesen Krieg unterstützt. Die Protestkultur<br />

wurde in Russland hingegen erfolgreich<br />

erstickt – jegliche Oppositionelle<br />

sitzen im Gefängnis oder mussten das<br />

Land verlassen“, erklärt Maksim. Als<br />

männlicher Staatsbürger befürchtet er<br />

auch, von einer weiteren Mobilisierung<br />

in Russland betroffen zu sein. „Ich bin<br />

mir nicht sicher, ob ich dort überhaupt<br />

in dem System bin. Meine Mutter hat<br />

jedenfalls bis jetzt keinen Brief vom


örtlichen Militärkommissariat bekommen. Dieses Jahr sollte<br />

ich noch zwei Konzerte in Russland dirigieren – beide werde<br />

ich aber definitiv absagen. Auch wenn ich nicht in die<br />

Armee eingezogen werde, ist es durchaus möglich, dass<br />

ich nicht mehr aus Russland ausreisen kann“, so Maksim.<br />

Momentan herrscht unter Putin politische Willkür. Jeden<br />

Tag könnten neue Gesetze in Kraft treten, welche die Zivilbevölkerung<br />

weiter unterdrücken.<br />

PROPAGANDA: KRIEG IST FRIEDEN<br />

Die russische Staatspropaganda hat ihre Spuren auch in<br />

seiner Familie hinterlassen. „Wenn meine Mutter von der<br />

Arbeit nachhause kommt, läuft im Hintergrund der Fernseher,<br />

wo immer dieselben Geschichten erzählt werden.<br />

Irgendwann fragen sich die Leute da natürlich: Vielleicht<br />

stimmt das alles, was da im Fernsehen erzählt wird?“,<br />

meint Maksim. So ist sein Vater heute skeptisch dem<br />

Vorgehen der russischen Armee gegenüber, während seine<br />

Mutter es legitim findet.<br />

Ähnlich geht es auch dem gebürtigen Ukrainer Dmytro,<br />

der in Charkiw geboren und aufgewachsen ist. Seine<br />

Familie ist auf die Länder Russland und Ukraine aufgeteilt.<br />

Seine Mutter wurde in der Sowjetunion auf dem Gebiet<br />

des heutigen Russland geboren, sein Vater wurde in der<br />

ukrainischen Oblast Luhansk geboren und übersiedelte<br />

später nach Russland. Derzeit lebt nur noch seine Mutter in<br />

der Ukraine, denn sie will Dmytros Stiefvater nicht zurücklassen,<br />

der als unter 60-jähriger Mann das Land nicht<br />

verlassen darf. Der Maschinenbaustudent lebt derzeit in<br />

Fotos: shutterstock<br />

JETZT<br />

KURSE BUCHEN<br />

UND AK-BILDUNGS-<br />

GUTSCHEIN<br />

EINLÖSEN!<br />

WARUM IST ES IN RUSSLAND SO<br />

GEFÄHRLICH, DEN KRIEG IN DER UKRA-<br />

INE ZU VERURTEILEN?<br />

Mit Anfang März 2022 trat ein neues Paket an<br />

Gesetzen in der Russischen Föderation in Kraft,<br />

nach denen die „Diskreditierung der russischen<br />

Armee“, der „Aufruf zu Sanktionen gegen die<br />

Russische Föderation“ sowie die „Verbreitung von<br />

Falschnachrichten über russische Streitkräfte“ mit<br />

Geld- und Freiheitsstrafen geahndet werden. Bereits<br />

drei Monate nach dem Erlass der Gesetze wurden<br />

über 2.500 BürgerInnen zu Geldstrafen von insgesamt<br />

87,5 Millionen Rubel verurteilt. Prominente<br />

Fälle sind etwa die Verurteilung des Bloggers Ilya<br />

Yashin zu achteinhalb Jahren Strafkolonie wegen<br />

Aussagen über die Geschehnisse in Butscha, oder<br />

auch die Verurteilung des Journalisten Alexander<br />

Nevzorov für seine Kommentare über den Angriff<br />

einer Geburtsstation in der ukrainischen Stadt Mariupol.<br />

Nevzorov, der im März 2022 Russland verließ,<br />

wurde unter Abwesenheit von einem Moskauer<br />

Gericht zu acht Jahren Strafkolonie verurteilt. Selbst<br />

wenn er die Strafe absitzen würde, dürfte er weitere<br />

vier Jahre lang nichts im Internet veröffentlichen.<br />

Zeit für<br />

Erfolgserlebnisse<br />

Weiterbildung erhöht Ihre Einstiegs- und Aufstiegschancen<br />

im Berufsleben. Die Wiener Volkshochschulen<br />

bieten ein breites Angebot in den Bereichen Computer,<br />

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Bildung<br />

und Jugend<br />

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Hamburg. „Für mich war es sehr schwer zu sehen, wie Charkiw<br />

bombardiert wurde, und natürlich machte ich mir Sorgen<br />

um meine Mutter. Eine Rakete ist in das benachbarte Haus<br />

eingeschlagen, etwa 30 Meter entfernt von unserem. Man<br />

will sich das nicht einmal vorstellen“, so der <strong>23</strong>-Jährige.<br />

Das letzte Mal besuchte er seine Familie in Russland im<br />

Sommer 2021. „Ich habe zwar nicht bewusst ferngesehen,<br />

aber mir ist trotzdem untergekommen, was den Leuten dort<br />

so eingetrichtert wird.“ Dmytro erzählt, dass es in der Wohnung<br />

seiner Oma drei Fernseher gibt, für jedes Zimmer<br />

einen. Er verglich die Bildschirme mit jenen<br />

aus dem Buch „1984“ von George Orwell.<br />

So spricht Präsident Putin von einer „Befreiung<br />

der Ukraine von Nazis“ durch seine „militärische<br />

Spezialoperation“, frei nach dem Motto „Krieg<br />

ist Frieden“. Jegliche Fakten über den Konflikt<br />

werden verdreht und an die Ziele der russischen<br />

Regierung angepasst.<br />

„Jeden Tag haben solche Typen wie Soloviov<br />

und Kiseliov in Talkshows [siehe Infobox] auf verschiedenen<br />

Kanälen in irgendeiner Form negativ über die<br />

Ukraine gesprochen. Eine Stunde lang ging es darum, was<br />

alles an der Ukraine doof ist, als ob es im territorial größten<br />

Land der Welt keine anderen Probleme gäbe. Im Nachhinein<br />

macht es Sinn, wie die Bevölkerung ideologisch auf die heutige<br />

Situation vorbereitet wurde“, so der gebürtige Ukrainer.<br />

Das russische Staatsfernsehen kontrolliert gezielt die<br />

Wahrnehmung über den Krieg in der eigenen Bevölkerung.<br />

Unabhängige Medien werden dort schon seit Jahren verfolgt<br />

– seit Kriegsbeginn gilt jegliche Berichterstattung über den<br />

Krieg, die sich von der offiziellen Ideologie der russischen<br />

Regierung unterscheidet, als „Fake News“ und ist somit<br />

gesetzeswidrig.<br />

RUSSLANDS BEKANNTESTE<br />

P ROPAGANDISTEN<br />

Vladimir Soloviov (*1963) ist ein bekannter russischer<br />

Journalist und Moderator. Unter anderem in<br />

seiner Talksendung „Der Abend mit Vladimir Soloviov“<br />

verbreitet er seit vielen Jahren rigide Theorien über<br />

das politische Geschehen in Russland. So sollen die<br />

Vergiftungen der Oppositionellen Sergey Skripal und<br />

Alexey Navalny Produkte einer westlichen Provokation<br />

sein.<br />

Dmitrij Kiseliov (*1954) ist ein Journalist und<br />

Generaldirektor der von Präsident Putin gegründeten<br />

Medienagentur „Russland Heute“. Besonders<br />

bekannt ist er durch seine propagandistische Nachrichtenshow<br />

„Die Nachrichten der Woche“, die stets<br />

sonntags auf dem staatlichen Hauptsender „Rossija<br />

1“ zur Primetime läuft.<br />

HOFFNUNG AUF REVOLUTION<br />

So glaube seine Oma sehr stark an das, was im Staatsfernsehen<br />

über den Krieg berichtet wird. „Das hat mich<br />

schon sehr überrascht, weil ich zu Beginn dachte, dass die<br />

Tatsachen doch auf der Hand liegen würden. Man kann sie<br />

nicht überreden – beispielsweise ist das Argument, dass die<br />

Ukraine den ganzen Konflikt mit dem Donbass begonnen<br />

hätte, zu stark.“ Dmytro stritt sich so lange mit seiner Oma,<br />

bis er es aufgeben musste. Mit seiner Cousine, die im selben<br />

Alter ist wie er, sieht es jedoch anders aus. „Sie versteht,<br />

was passiert, wie viele jüngeren Leute eben auch. Sie lesen<br />

westliche Medien und wir kommen diesbezüglich miteinander<br />

gut klar.“ Viele seiner Freunde in der Ukraine, die muttersprachlich<br />

mit dem Russischen aufgewachsen sind, haben<br />

die Alltagssprache ins Ukrainische gewechselt. „Ich kann es<br />

nachvollziehen, aber in meinem Fall stellt sich die Frage, mit<br />

wem ich Ukrainisch sprechen soll, wenn doch fast meine<br />

ganze Familie – bis auf meine Mutter – in Russland ist.“<br />

Dmytro hofft, wie Maksim auch, dass vor allem die junge<br />

Generation in Russland für eine demokratische Zukunft<br />

kämpfen wird. „Irgendwann kommt die Revolution und dann<br />

auch der Bürgerkrieg. Anders kann ich mir das gar nicht<br />

vorstellen“, so Maksim. Olesya betont hingegen, wie wichtig<br />

ein Sieg der Ukraine ihrer Meinung nach für das politische<br />

Weltgeschehen wäre. „Russland darf damit einfach nicht<br />

durchkommen. Dieser Krieg hat eine Symbolfunktion für<br />

andere Konflikte auf der Welt: China und Taiwan oder auch<br />

Nordkorea und Südkorea. Wenn die Ukraine diesen Krieg<br />

verliert, ist das ein Zeichen dafür, dass völkerrechtswidrige<br />

Politik eine Zukunft hat. Das will doch niemand.“ ●<br />

24 / POLITIKA /


„Wir alle<br />

sind Wien!“<br />

Der „Waldhäusl-Sager“ sorgte<br />

für heftige Kritik in Politik,<br />

Medien aber auch unter<br />

Wiener Schüler:innen. Sie<br />

selbst hat Migrationshintergrund,<br />

kennt Diskriminierung<br />

und möchte deshalb jungen<br />

Migrant:innen in Wien Mut<br />

machen. Justizministerin<br />

Alma Zadić im Interview.<br />

Interview: Aleksandra Tulej,<br />

Foto: Franziska Liehl, Transkript: Layla Ahmed<br />

<strong>BIBER</strong>: Frau Zadić, FPÖ-Landesrat<br />

Gottfried Waldhäusl meinte letztens in<br />

einer TV-Sendung zu einer Schulklasse,<br />

dass „wenn weniger Menschen mit<br />

Migrationshintergrund in Wien leben<br />

würden, dann ‚wäre Wien noch Wien‘. In<br />

Österreich hat aber rund ein Viertel der<br />

Menschen einen Migrationshintergrund,<br />

in Wien ist es die Hälfte der Bevölkerung.<br />

Was für ein Wien wäre es denn, wenn<br />

diese Menschen alle nicht hier leben<br />

würden?<br />

ALMA ZADIĆ: Ich muss Herrn Waldhäusl<br />

leider ausrichten, dass er Geschichte<br />

lernen muss. Wien war immer bunt und<br />

vielfältig. Dass Wien zu den lebenswertesten<br />

Städten der Welt gehört, ist auch<br />

wegen der Menschen, die hier leben. Die<br />

Menschen machen diese Stadt aus und<br />

Wien war auch seit Generationen eine<br />

Einwanderungsstadt.<br />

Was würden Sie Jugendlichen, vor allem<br />

jenen mit Migrationshintergrund, sagen,<br />

die sich jetzt von diesem Sager angegriffen<br />

fühlen?<br />

Er greift damit nicht nur diese eine<br />

Schulklasse an, sondern Wien als Ganzes.<br />

Er greift damit Menschen an, die in<br />

Wien geboren sind, die in Wien aufgewachsen<br />

sind, die in Wien leben, und da<br />

möchte ich Menschen Mut machen und<br />

erstens sagen: „Bitte steht auf, wenn<br />

solche Sager kommen. Ihr seid Wien, wir<br />

alle sind Wien.“ Das haben zum Glück<br />

auch ganz viele getan. Es gibt so viele<br />

Menschen mit Migrationshintergrund, mit<br />

Migrationsgeschichte, mit Migrationsbiografie<br />

hier in Österreich. Daher - nicht<br />

ernst nehmen, Krone aufsetzen und<br />

mutig durch die Welt gehen. Es gibt eine<br />

ganz große Mehrheit, die hinter diesen<br />

Schüler:innen steht.<br />

Sie haben selbst Migrationshintergrund<br />

und haben in Ihrer Kindheit, Jugend und<br />

auch jetzt in Ihrer Laufbahn als Ministerin<br />

Diskriminierungserfahrungen gemacht.<br />

Was hat diese Aussage in Ihnen persönlich<br />

ausgelöst?<br />

Ich habe mich in eine Zeit zurückversetzt<br />

gefühlt, als ich selbst Jugendliche war.<br />

Ich kannte das damals gut: Man will zu<br />

der Gesellschaft, in der man aufwächst,<br />

dazugehören. Dieses Recht wird einem<br />

aber immer auf verschiedenen Ebenen<br />

abgesprochen. An ein Ereignis erinnere<br />

ich mich besonders gut. Damals war<br />

ich 13 Jahre alt: Ich bin zu einer Sporthalle<br />

gefahren und habe den Straßenbahnfahrer<br />

gefragt, ob das die richtige<br />

Straßenbahn zu dieser Sporthalle ist. Er<br />

hat mich angeschaut und geantwortet:<br />

„Tschuschen fahren da nirgends hin.“<br />

Das war so ein Rückschlag. Ich habe<br />

mich hingesetzt und habe geweint, weil<br />

ich es nicht verstanden habe, wieso mir<br />

das Recht, an dieser Gesellschaft teilzuhaben,<br />

abgesprochen wird. Das Gute ist,<br />

dass man im Leben auch viel Positives<br />

erfährt, dass man vielen Menschen<br />

begegnet, die einem Mut zusprechen,<br />

die einen als ein Teil der Gesellschaft<br />

sehen.<br />

Waldhäusl aber steht nach wie vor hinter<br />

seiner Aussage. Welche Konsequenzen<br />

könnte oder sollte es geben?<br />

Ich glaube, die wichtigste Konsequenz<br />

ist, dass viele Menschen aufstehen, weil<br />

sie sehen, dass diese Aussage rassistisch<br />

ist und Jugendlichen das Recht dazuzugehören<br />

abspricht. Es ist wichtig, die<br />

Mehrheit wachzurütteln und zu sagen,<br />

dass wir unsere Demokratie und Freiheit<br />

verteidigen müssen. Solche Aussagen,<br />

die der Herr Waldhäusl getätigt hat,<br />

sind bei uns in Österreich fehl am Platz.<br />

Natürlich gibt es eine Anzeige und die<br />

Staatsanwaltschaft wird auch diese<br />

Anzeige prüfen. Dann muss sich natürlich<br />

auch die Freiheitliche Partei überlegen,<br />

ob der Herr Waldhäusl wirklich die richtige<br />

Person in diesem Amt ist, zumal er<br />

auch Integrationssprecher ist und Integrationslandesrat.<br />

Das ist absolut zynisch.<br />

/ POLITIKA / 25


„ÖSTERREICH,<br />

WIESO BIN ICH<br />

EINE GEFAHR<br />

FÜR DICH?“<br />

Osama Abu El Hosna, der einstige „Held der<br />

Wiener Terrornacht“, darf kein Österreicher<br />

werden. Die Begründung? Osama stelle eine<br />

„Gefahr für Österreich dar“.<br />

Der haltlose Vorwurf? Er würde sich im Umfeld<br />

einer terroristischen Organisation bewegen. Jener,<br />

vor der seine Eltern aus Palästina nach Österreich<br />

geflohen sind. Der Staatenlose über sein Leben im<br />

Teufelskreis zwischen Behörden, Vorwürfen und<br />

Generalverdacht. Von Aleksandra Tulej, Fotos: Mala Kolumna<br />

Mir geht’s gerade extrem<br />

schlecht. Aber ich will<br />

mich trotzdem nicht<br />

demotivieren lassen“, sagt<br />

Osama Abu El Hosna gleich zu Beginn<br />

unseres Treffens. „Glaubst du, wenn ich<br />

ein Foto mit Bier in der Hand auf Social<br />

Media poste, bin ich dann integriert<br />

genug? Will mich Österreich dann?“,<br />

fragt sein Bruder Mansour lachend in<br />

die Runde. Aber gleich danach wird er<br />

ernst. „Ehrlich jetzt: Ich tue mir gerade<br />

schwer, noch auf irgendwas zu hoffen.“<br />

Wir treffen Osama und Mansour im Café<br />

Prückel im ersten Bezirk. Das Café, in<br />

dem wir sitzen, ist nur ein paar Minuten<br />

Fußweg vom Schwedenplatz entfernt<br />

– genau dort, wo Osama in der Wiener<br />

Terrornacht am 2. November 2020<br />

einem Polizisten das Leben gerettet hat.<br />

Dadurch wurde er in der breiten Öffentlichkeit<br />

bekannt. Medien titelten ihn als<br />

„Helden der Terrornacht“, er bekam von<br />

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig die<br />

„Rettungsmedaille des Landes Wien“.<br />

Jetzt, über zwei Jahre später, ist Osama<br />

wieder in den Medien: Er darf kein österreichischer<br />

Staatsbürger werden, weil er<br />

eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche<br />

Sicherheit der Republik Österreich“<br />

darstellen würde. Für Osama wird die<br />

Lage immer absurder: „Ich will gar kein<br />

Held sein, ich brauche keine Ehrenmedaillen.<br />

Ich will einfach nur endlich ganz<br />

normal hier leben.“<br />

VOM HELDEN ZUM<br />

VERDÄCHTIGEN<br />

Osama lebt als anerkannter Flüchtling<br />

seit 2013 mit seiner Familie in Österreich<br />

– er ist in Gaza, Palästina, geboren und<br />

somit staatenlos. Der 24-Jährige machte<br />

hier seinen Schulabschluss und arbeitet<br />

heute als Manager in einer Wiener<br />

McDonalds-Filiale. Am Abend des Terroranschlags<br />

am 2. November 2020 befand<br />

26 / POLITIKA /


Mansour (l.) und Osama (r.) Abu El Hosna dürfen keine Österreicher werden.<br />

Osama sich zufällig mitten im Geschehen<br />

und leistete bei einem angeschossenen<br />

Polizisten Ersthilfe, obwohl der Attentäter<br />

immer noch vor Ort war. Osama wurde<br />

daraufhin als Held gefeiert, bekam eine<br />

Ehrenmedaille verliehen. Kurz darauf<br />

geriet er aber im Zuge der Operation<br />

Luxor, der Großrazzia im November<br />

2020, ins Visier der Staatsanwaltschaft<br />

Graz. Die Begründung? Osama war in<br />

einem Hilfsverein tätig, der dem Verdacht<br />

der Ermittler zufolge Spendengelder<br />

aus Österreich in ein „mögliches<br />

Einflussgebiet der terroristischen Vereinigung<br />

Hamas“ weitergeleitet hätte.<br />

Bei dem Verein handelt es sich um die<br />

Organisation „International Hope Association“,<br />

die Spendengelder für Menschen<br />

unter anderem in Palästina sammelt.<br />

Bei der Operation Luxor kam es österreichweit<br />

zu etwa 60 teils rechtswidrigen<br />

Hausdurchsuchungen - im Verdacht<br />

standen mehr als 100 Beschuldigte,<br />

Anhänger und Unterstützer der Muslimbruderschaft<br />

bzw. der Terrororganisation<br />

Hamas zu sein. Bis dato haben sich<br />

die Vorwürfe aber noch bei keiner der<br />

beschuldigten Personen als bestätigt<br />

erwiesen, die Verfahren wurden nach<br />

und nach eingestellt. So auch in Osamas<br />

Fall.<br />

Wir spazieren zum Schwedenplatz,<br />

Osama zeigt uns genau den Baum, hinter<br />

dem der Attentäter sich versteckt hatte,<br />

den Ort, an dem der Polizist angeschossen<br />

wurde, die Betonbank, hinter der er<br />

seine Mitarbeiter in Sicherheit gebracht<br />

hat. Hier erinnert er sich an die Szenen,<br />

die er schon zig Mal der Polizei, den<br />

Medien und den Behörden geschildert<br />

hat. „Das ist alles egal jetzt, ich habe<br />

einfach das getan, was ich für richtig<br />

gehalten habe. Aber ich frage mich nur:<br />

Wieso will mich Österreich zuerst als<br />

Held feiern, und dann bin ich plötzlich<br />

eine Gefahr? Wieso darf ich hier dann<br />

überhaupt leben?“ Osama wollte mit<br />

seiner Tätigkeit im Spendenverein Menschen<br />

helfen, aber es wurde ihm zum<br />

Verhängnis:<br />

„Ich bin in Gaza geboren, Gaza wird<br />

von der Hamas kontrolliert. Meine Eltern<br />

sind vor dem Krieg geflüchtet, das heißt,<br />

sie sind auch vor der Hamas geflohen.<br />

Ich habe weder was mit denen zu tun,<br />

noch will ich irgendwas damit zu tun<br />

haben. Wie absurd ist das alles eigentlich?“,<br />

fragt Osama. Alles, was er wollte,<br />

war, Menschen in seiner Heimat mit<br />

Spenden zu helfen, da er selbst weiß,<br />

wie schwer das Leben dort ist. „Dass das<br />

ein Einflussgebiet der Hamas ist, weiß ja<br />

jeder. Das ist kein Geheimnis. Aber die<br />

Zivilbevölkerung ist die, die dort wirklich<br />

leidet, und für die haben wir Spenden<br />

gesammelt“, erklärt er. Sein 26-jähriger<br />

Bruder Mansour, der gelernter Finanzbuchhalter<br />

ist und in einer Steuerberatungskanzlei<br />

arbeitet, muss auch mit<br />

denselben Schikanen seitens des österreichischen<br />

Staates kämpfen. Mansour<br />

wird die Staatsbürgerschaft aus demselben<br />

Grund verweigert. „Mich ärgert<br />

das so, wenn ich sehe, wie viel Geld, ja,<br />

auch Steuergeld, an die Operation Luxor<br />

(s. Infobox) verschwendet wurde, wem<br />

bringt das etwas?“, fragt Mansour.<br />

An seine Kindheit in Gaza erinnert<br />

Osama sich nur ungern zurück: „Dort ist<br />

es einfach schrecklich. Es wurden Familienmitglieder<br />

vor meinen Augen getötet,<br />

als ich noch ein Kind war.“ Eine Situation<br />

ist Osama besonders gut im Gedächtnis<br />

geblieben: „Einmal wollten wir einen Verletzten<br />

wegtragen, ich habe ihn an seinen<br />

Beinen gepackt – aber der Kopf ist<br />

nicht mehr mitgekommen, ich hatte nur<br />

seine Beine in der Hand. Der war einfach<br />

durchgetrennt. Damals war ich 14 Jahre<br />

alt.“ Diese Erlebnisse prägten ihn so<br />

stark, dass er zumindest von Österreich<br />

aus in Palästina helfen will – einreisen<br />

darf er nach Gaza nicht, sonst würde er<br />

seinen Status in Österreich verlieren.<br />

„KEINE KONKRETEN<br />

BEWEISERGEBNISSE“<br />

Was das alles aber mit ihm als Einzelperson<br />

zu tun hat, kann er nicht verstehen<br />

– weder auf bürokratischer, noch auf<br />

menschlicher Ebene. „Ich will jetzt nicht<br />

sagen ‚nur weil ich Palästinenser bin‘<br />

- ich weiß, wie schwierig die politische<br />

Lage ist. Aber ganz ehrlich: Wo bin ich<br />

bitte eine Gefahr für irgendwen?“, wundert<br />

sich Osama verärgert. Das sehen die<br />

Behörden anders:<br />

Das Landesamt für Verfassungsschutz<br />

und Terrorismusbekämpfung<br />

(LVT) hält in seinem Bericht fest,<br />

Osama Abu El Hosna würde „nach<br />

wie vor im Umfeld der terroristischen<br />

Gruppierung Hamas in Erscheinung“<br />

treten. Eine Verleihung der Staatsbürgerschaft<br />

würde daher „eine erhebliche<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit der<br />

Republik Österreich“ darstellen. In der<br />

/ POLITIKA / 27


MA35 erklärte man, dass sich eine vollziehende<br />

Behörde an die Rechtsprechung zu halten habe:<br />

„Wenn eine Gefährdungsmeldung durch das<br />

Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung<br />

vorliegt, ist das ein Einbürgerungshindernis.“<br />

Dann begann die ewig lange bürokratische<br />

Odyssee, die kein Ende zu nehmen scheint.<br />

Es gebe „keine konkreten Beweisergebnisse“,<br />

„die die Annahme einer Mitgliedschaft bei<br />

der Hamas tragen würde“. Auch das Ermittlungsverfahren<br />

gegen den Verein wurde eingestellt.<br />

Die Landespolizeidirektion Wien äußerte<br />

daher noch im Herbst 2022 keine Bedenken<br />

bezüglich der Einbürgerung. Doch im Dezember<br />

wurde der Antrag dann abgelehnt.<br />

„MAN FORDERT JA IMMER<br />

INTEGRATION – UND GENAU<br />

DURCH SOWAS WIRD DIESE<br />

INTEGRATION UNMÖGLICH<br />

GEMACHT.“<br />

Osamas Rechtsanwältin, die ehemalige SPÖ-<br />

Staatssekräterin Muna Duzdar, übt heftige Kritik<br />

an der Entscheidung: „Die Vorgehensweisen<br />

sind reine Willkür.“ Duzdar fordert in einer<br />

Stellungnahme vom 31.1. die MA35 dazu auf,<br />

dass diese das LVT dazu auffordert, Beweise<br />

für diese haltlosen Vorwürfe offenzulegen.<br />

Das Verfahren gegen den Verein International<br />

Hope Association, bei dem Osama karitativ tätig<br />

war, wurde übrigens auch eingestellt. Duzdar<br />

sieht die Vorwürfe nicht ein und merkt an, dass<br />

Osamas Zukunft in Österreich dadurch deutlich<br />

erschwert werde: „Nur, weil er als Araber<br />

Lunchpakete in den Nahen Osten geschickt hat?<br />

Man fordert ja immer Integration – und genau<br />

durch sowas wird diese Integration unmöglich<br />

gemacht.“<br />

Das sieht auch Osama so: „Wenn das so<br />

weitergeht, dann werde ich aus Österreich wegziehen.<br />

Ich will endlich Staatsbürger sein und die<br />

Rechte, die mir zustehen, haben. Wenn nicht in<br />

Österreich, dann vielleicht in Deutschland. Ich<br />

müsste zwar wieder bei null anfangen, aber da<br />

kann ich zumindest die Sprache“ , resümiert er.<br />

Er hat letztes Jahr geheiratet, er würde gerne<br />

Kinder bekommen. „Aber nicht, solang das<br />

nicht alles geklärt ist, ich will niemandem so ein<br />

Leben zumuten“. ●<br />

Osama (l.) und sein Bruder Mansour (r.) beim Gedenkstein für<br />

die Opfer des Wiener Terroranschlags am 2.11.2020<br />

WAS IST DIE MUSLIMBRUDERSCHAFT?<br />

Die Muslimbruderschaft ist eine 1928 von Hasan al-Bannā in<br />

Ägypten gegründete islamistische Organisation. In der Ideologie<br />

der Muslimbruderschaft steht die Religion vor den von<br />

Menschen verfassten Gesetzen und auch die Trennung von<br />

Staat und Religion wird abgelehnt. Als Ziel sieht sie eine graduelle<br />

Islamisierung der Gesellschaft, welche zu einer von Koran<br />

und Sunna abhängigen Staatsordnung führen würde. In einigen<br />

Staaten des Nahen Ostens, wie beispielsweise in Ägypten, wird<br />

die Muslimbruderschaft klar als Terrororganisation eingestuft.<br />

WAS WAR DIE OPERATION LUXOR?<br />

Nach dem Terroranschlag in Wien im November 2020 wurde<br />

eine Großrazzia in Österreich durchgeführt. Ziel war es, mutmaßliche<br />

Anhänger und Unterstützer der Muslimbruderschaft<br />

oder der Terrororganisation Hamas ausfindig zu machen. Das<br />

Ergebnis: 60 teils rechtswidrige Hausdurchsuchungen, 106<br />

Beschuldigte, 31 Einstellungen, keine Anklagen und niemand<br />

kam je in Haft.<br />

WER IST FÜR DIE STAATSBÜRGERSCHAFT<br />

ZUSTÄNDIG?<br />

In Wien ist die MA35 für die Abwicklung der Anträge um<br />

die österreichische Staatsbürgerschaft zuständig. Für<br />

den Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen sind die<br />

Antragssteller:innen selbst verantwortlich. Die MA35 fragt<br />

nach unterschiedlichen Dokumenten, wie beispielsweise den<br />

Strafregisterauszug, auch bei den zuständigen Behörden nach.<br />

28 / POLITIKA /


Bezahlte Anzeige<br />

Fake Nägel<br />

statt Fake News.<br />

Gib Fake News keine Chance.<br />

Fake News oder Falschmeldungen haben nichts mit der Wahrheit<br />

zu tun. Sie werden bewusst verbreitet, um Menschen zu manipulieren<br />

und zu verunsichern. Pass deshalb besonders in Sozialen Medien auf,<br />

hinterfrage Inhalte kritisch und prüfe die Quelle. Informiere dich, wie<br />

du sicher im Internet surfen kannst!<br />

wien.gv.at/medien/fake-news<br />

/ POLITIKA / 29


DER COP UND DER<br />

TSCHETSCHENE<br />

Über 2,5 Millionen Klicks haben die beiden mittlerweile<br />

auf TikTok: Der Cop Uwe und der Tschetschene<br />

Ahmad beantworten Fragen rund um<br />

Strafen, Cannabisgebrauch, Motorradtuning und<br />

Polizeigewalt: Alles, was Jugendliche in Wien und<br />

Umgebung eben so beschäftigt. Aber wie sieht<br />

es ‚Behind the scenes‘ aus? Wie kam dieses Duo<br />

zustande, wie sieht die Dynamik zwischen den<br />

beiden aus, wie ist die Resonanz im jeweiligen<br />

Umfeld und wieso kommen die Videos so gut an?<br />

Hier geht‘s<br />

zu den<br />

Videos:<br />

Von Aleksandra Tulej, Fotos: Zoe Opratko<br />

30 / RAMBAZAMBA /


Ab wann geht man maya mit Cannabis?“, möchte<br />

der User „alex“ wissen. „Salam Aleikum, darf<br />

die Polizei einfach dein Handy wegnehmen und<br />

dich zwingen, es zu entsperren?“, beschäftigt<br />

User „ichkeria“. Alles Fragen, die die Jugendlichen einem<br />

Polizisten von Angesicht zu Angesicht wohl nicht stellen<br />

würden – auch weil sie erst gar nicht die Möglichkeit dazu<br />

hätten. Deshalb fragt Ahmad für sie: Ahmad ist <strong>23</strong> Jahre alt,<br />

Jugendarbeiter und tschetschenischer Aktivist mit bis dato<br />

negativen Erfahrungen mit der Polizei. Er steht gemeinsam<br />

mit dem 59-jährigen Polizisten Uwe in der Wiener Milleniumcity<br />

und liest vom Handy laut die Fragen der Jugendlichen<br />

vor, die Uwe dann beantwortet. Ahmad im Hoodie, Grätzlpolizist<br />

Uwe in Polizeiuniform – beiden ist es wichtig, nicht<br />

verstellt rüberzukommen. Sie stehen hier aus Überzeugung.<br />

Wusstet ihr, dass es für „Beamtenbeleidigung“ in Österreich<br />

gar kein Delikt gibt? Oder, dass für Cannabis keine Toleranzmengen<br />

existieren, wie oft behauptet wird? Das Format „Der<br />

Cop und der Tschetschene“ erfreut sich auf TikTok gerade<br />

bei Jugendlichen großer Beliebtheit – Ahmad und Uwe<br />

bekommen täglich Fragen gestellt, ihre Videos wurden über<br />

2,5 Millionen Mal geklickt. Die häufigsten Fragen werden<br />

in folgende Richtung gestellt: „Was passiert, wenn ich dies<br />

oder jenes mache? Was darf ich? Was darf die Polizei?“ Die<br />

Antworten darauf hätte Ahmad selbst gerne in seiner Jugend<br />

bekommen. Ahmad hatte in seiner Jugend Probleme mit<br />

dem Gesetz, saß sogar eine Zeit lang im Gefängnis - daraus<br />

macht er kein Geheimnis. „Ich hatte in meiner Vergangenheit<br />

ein paar Probleme mit der Polizei – oder die Polizei mit mir,<br />

das weiß ich nicht – aber es ist für mich einfacher geworden,<br />

einige Sachen zu verstehen, seitdem ich Uwe kennengelernt<br />

habe,“ beginnt Ahmad das erste Video auf seinem Kanal.<br />

„Wir beantworten eure Fragen zum Thema Polizei – stellt uns<br />

die Fragen in die Kommentare“, ergänzt Uwe. Sie versuchen,<br />

das ungleiche Machtverhältnis zumindest auf dieser Ebene<br />

zu brechen: durch TikTok.<br />

„AHMAD, WIE VIEL BEZAHLEN SIE DIR?<br />

BIST DU JETZT EIN BULLENFREUND?“<br />

Die Themen, die die Jugendlichen beschäftigten, sind breit<br />

gefächert, man liest etwa Fragen wie: „Warum kontrolliert<br />

ihr immer die Jugendlichen?“, „Was für eine Strafe kriege<br />

ich, wenn ich Gokart auf der Autobahn fahre?“, „Wie lange<br />

bleibt man im Knast, wenn man mit 15 bei einem Raubüberfall<br />

dabei war?“, „Wird meine Strafe höher, wenn ich von der<br />

Polizei weglaufe?“, „Darf ich unter meinem Niqab eine Maske<br />

tragen?“<br />

All diese Fragen stellt Ahmad, und Uwe beantwortet sie<br />

ausführlich. Er trifft sich einmal die Woche mit Ahmad, in<br />

einem Café in einem Wiener Gemeindebau im 20. Bezirk<br />

- das Lokal ist irgendwie so zu ihrem Treffpunkt geworden<br />

- und sie besprechen, wie die Resonanz auf die letzten<br />

Videos war, welche Fragen sie beantworten werden, wie die<br />

Gesetzeslage zu einzelnen Fragen ist und wie man am besten<br />

auf einzelne Themengebiete eingeht. Unterstützt werden<br />

sie dabei von Sozialarbeiter Fabian Reicher und Dominik<br />

Grabner, Social-Media-Manager der Wiener Polizei. Die<br />

Entstehungsgeschichte des Formats ist doch eher untypisch:<br />

Aus einem ursprünglichen Streitgespräch zwischen Uwe<br />

und Ahmad heraus beschlossen sie, gemeinsame Sache zu<br />

machen.<br />

ZIEMLICH BESTE FEINDE<br />

„Das ist doch safe gespielt, wie viel bezahlen sie dir,<br />

Ahmad?“ – so lautet schon einer der ersten Kommentare<br />

unter dem Video. Das wollen wir auch gleich zu Beginn wissen.<br />

„Die bezahlen mir gar nichts“, stellt Ahmad gleich am<br />

Anfang klar, als wir uns zum Interview in ihrem Stammlokal<br />

in Brigittenau treffen. „Ich mag die Polizei genauso wenig<br />

wie vorher. Ich bin immer noch kein Bullenfreund, damit das<br />

klar ist“, das ist ihm wichtig. „Wenn ich die Polizei von 1–10<br />

bewerten müsste, würde ich ihnen eine minus 4000 geben.<br />

Aber ich kann die Polizei als Struktur kritisieren, aber einzelne<br />

Menschen mögen, oder?“ So wie Uwe, der mit ihm am<br />

Tisch sitzt. Mit ihm versteht er sich gut. Ihre Kennenlerngeschichte<br />

war aber etwas holprig, um es milde auszudrücken.<br />

Im Rahmen der Initiative „Gemeinsam Sicher mit unserer<br />

Polizei“ veranstaltete die Polizei im Sommer mit Mitgliedern<br />

des Rates für Tschetschenen und Inguschen (Anm. d.<br />

Red.: Inguschetien ist eine autonome Republik in Russland)<br />

in Wien einen Workshop im Amtshaus Brigittenau. Das<br />

Treffen war als Pilotprojekt von Projektleiter Oberst Johann<br />

Golob und seinen Kolleg:innen initiiert und die Initiative als<br />

proaktive Zusammenarbeit mit der tschetschenischen Community<br />

erdacht.<br />

Das Ziel war es, gemeinsam Ideen zu sammeln und über<br />

Integration und Zusammenarbeit zu sprechen. Ahmad war<br />

auch vor Ort. Als er hörte, dass die Erwachsenen davon<br />

sprachen, ein Werbe-Video für Facebook aufzunehmen<br />

und gemeinsame Schach-Turniere mit tschetschenischen<br />

Jugendlichen zu planen, musste er laut lachen, wie er selbst<br />

sagt. „Ich habe dann ehrlich gefragt: Wen erreicht ihr so?<br />

Schaut’s euch mal an, uns erreicht ihr so sicher nicht.“<br />

Außerdem nervte es ihn, dass immer nur die Erwachsenen<br />

miteinander sprachen, und die Jugendlichen „die Schnauze<br />

halten mussten.“ Dabei sind sie es, um die es hier vorrangig<br />

geht. Ahmad schlug dann vor, doch ein Treffen mit<br />

Polizist:innen und tschetschenischen Jugendlichen im Park<br />

zu vereinbaren, um dort Videos zu drehen, auf denen man<br />

sich miteinander austauscht. Die anwesenden Jugendlichen<br />

hielten das für eine sehr gute Idee – der Rest, also die<br />

Erwachsenen, reagierten eher zögerlich. Doch dann kam<br />

Ahmad mit Uwe ins Gespräch. „Ihr Polizisten in Österreich<br />

habt doch eh nix zu tun, außer irgendwelche Kaugummidi-<br />

/ RAMBAZAMBA / 31


ebe aufzuhalten - und trotzdem reagiert ihr aggressiv auf<br />

Jugendliche“, warf er ihm vor. „In Deutschland oder Frankreich<br />

geht die Polizei viel sensibler auf junge Menschen zu,<br />

obwohl es dort wirklich Ghettos und arge Probleme gibt“,<br />

so Ahmad. „Glaubst du wirklich, dass wir so drauf sind?“,<br />

wehrte sich Uwe.<br />

„DU ORSCHGESICHT,<br />

DAS RECHT BIN ICH!“<br />

Ahmads Einstellung kommt nicht von Ungefähr: Seitdem er<br />

begonnen hat, alleine rauszugehen, wurde er immer wieder<br />

von Polizist:innen kontrolliert. „Du bist Tschetschene und<br />

hast keine Vorstrafen?“, hieß es seitens eines Beamten bei<br />

einer Polizeikontrolle, als Ahmad 14 war. Der Umgangston,<br />

die Beschimpfungen und die Art, wie mit ihm umgegangen<br />

wurde, prägten sich bei Ahmad<br />

negativ ein. Er informierte<br />

sich darüber, was die Beamten<br />

dürfen und was nicht.<br />

Als er einen Polizisten damit<br />

konfrontierte, dass er seine<br />

Rechte kenne, wurde ihm „Du<br />

Orschgesicht, das Recht bin<br />

ich!“ geantwortet. „Wenn du<br />

solche Erfahrungen machst,<br />

kriegst du dann natürlich jedes<br />

Mal Eierflattern, wenn du Polizisten<br />

siehst“, so Ahmad. Er<br />

versteht deshalb auch, warum<br />

vor allem Jugendliche mit Migrationshintergund<br />

kein gutes<br />

Verhältnis zur Polizei haben.<br />

Was Uwe zu solchen Vorfällen<br />

sagt? Er selbst würde nie so<br />

mit jemandem sprechen, wie<br />

er sagt – betont aber, dass es<br />

wichtig ist, dass von beiden<br />

Seiten respektvoll miteinander<br />

kommuniziert wird. „Wenn<br />

mein Gegenüber normal<br />

reagiert, reagiere ich auch<br />

normal, ganz einfach. Ich bin aber auch schon älter, seit 40<br />

Jahren im Dienst, da gehst du allgemein entspannter mit<br />

allem um.“ Allen Beteiligten des Projekts ist es aber wichtig,<br />

Authentizität zu bewahren, was sich auch in den Videos<br />

zeigt: „Wenn Polizisten einen Zivilisten beleidigen, gibt’s eine<br />

Richtlinienbeschwerde“, klärt Uwe auf. „Und die wird dann<br />

eingestellt“, entgegnet Ahmad schmunzelnd. „Nein, die wird<br />

nicht eingestellt, die wird verfolgt, und wurde schon sehr oft<br />

bestraft“, antwortet Uwe geduldig.<br />

Uwe und Ahmad sind mittlerweile zu<br />

richtigen TikTok-Stars geworden<br />

WAS SAGT DIE POLIZEI?<br />

„In Wien geraten vor allem marginalisierte Jugendliche<br />

sehr oft in Polizeikontrollen und werden dabei oft ziemlich<br />

schlecht behandelt. Wenn sie ihre Pflichten, vor allem aber<br />

auch ihre Rechte im Umgang mit solchen Situationen kennen,<br />

fällt es ihnen vielleicht leichter, sich nicht so leicht provoziert<br />

zu fühlen, aber sich auch nicht erniedrigen zu lassen.<br />

Denn davon hat im Endeffekt niemand was!“, fügt der Sozialarbeiter<br />

der Beratungsstelle Extremismus, Fabian Reicher,<br />

an. „Ein erfahrener Polizist und ein junger Tschetschene<br />

zeigen uns, wie es gehen kann. Nämlich mit gegenseitigem<br />

Interesse und Wertschätzung“, resümiert Oberst Johann<br />

Golob. „Dies ist für uns als Polizei eine neue Möglichkeit, mit<br />

Jugendlichen, die wir sonst nur schwer oder gar nicht erreichen<br />

würden, ins Gespräch zu kommen. Daher bewerten wir<br />

das auch nicht als klassische PR-Aktion, sondern als eine<br />

Erweiterung des Community Policing. Wenn wir es schaffen,<br />

damit aufzuklären, Ängste zu nehmen oder auch Vorurteile<br />

aus dem Weg zu räumen, dann hilft dies allen Beteiligten“,<br />

so Dominik Grabner von der LPD. Es ist nicht so, dass die<br />

Polizei Uwe explizit dafür ausgewählt hat, eher im Gegenteil.<br />

Das erste "Der Cop und<br />

der Tschetschene" Video<br />

entstand im November,<br />

damals noch ohne Wissen der<br />

Pressestelle der Polizei. Es hat<br />

gedauert, bis das Projekt von<br />

der Pressestelle wirklich ernst<br />

genommen wurde. Übrigens:<br />

Uwe bekommt für die Videos<br />

auch kein extra Honorar, sie<br />

sind jetzt Teil seiner Tätigkeit<br />

in seiner Arbeitszeit. Als<br />

Grätzlpolizist sieht Uwe sich<br />

als eine Art Sozialarbeiter bei<br />

der Polizei: Er schlichtet etwa<br />

Nachbarschaftsstreitigkeiten<br />

und „kleinere Probleme, mit<br />

denen man normalerweise<br />

nicht zur Polizei gehen würde.“<br />

Sein Umfeld reagierte anfangs<br />

skeptisch auf das Vorhaben<br />

mit dem Tik-Tok-Format:<br />

„Der Tenor bei meinen<br />

Kolleg:innen bei der Polizei<br />

lautete eher: ‚Machts halt<br />

mal, aber das wird eh nix!‘“,<br />

so Uwe lachend. Doch schon bald zeigte sich der Erfolg<br />

der Videos, Uwes Kinder und Freunde seiner Kinder waren<br />

begeistert. Heute wird Uwe, wenn er durch Brigittenau seine<br />

Runden dreht, immer wieder von Jugendlichen erkannt. „Sie<br />

sind doch der Polizist von TikTok, können wir ein Foto mit<br />

Ihnen machen?“ Solche Szenen erlebt er mindestens ein<br />

Mal die Woche. Auch Ahmads Freunde reagierten kritisch,<br />

als er von seiner Format-Idee erzählte: „Das passt doch gar<br />

nicht zu dir, was wird das da? Ist das dein Ernst?“, hieß es<br />

aus seinem Umfeld. Ahmad betont aber, dass er selbst als<br />

Jugendlicher genau so ein Sprachrohr, das er jetzt selbst<br />

verkörpert, gebraucht hätte. Die Resonanz ist auf alle Fälle<br />

da: „Stabile Aussage, Bruder“, solche Kommentare liest man<br />

unter den Videos auch immer öfter. Ob sie nun Ahmad oder<br />

Uwe gelten. ●<br />

32 / RAMBAZAMBA /


LIFE & STYLE<br />

Mache mir die Welt,<br />

wie sie mir gefällt<br />

Von Şeyda Gün<br />

LERNCAFÉ<br />

TIPP<br />

Mit dem Start ins Sommersemester<br />

habe ich für euch drei Cafés ausgewählt,<br />

die besonders gut als Lernplätze<br />

dienen. Ich persönlich genieße ruhige<br />

Kaffeehäuser, in denen ich gemütlich<br />

meine Zusammenfassungen im Laufe<br />

des Semesters erstellen kann.<br />

Hier findet ihr sie:<br />

Das café<br />

7. Bezirk, Burggasse 10<br />

MEINUNG<br />

Das Zeitalter der<br />

„Nichtsgönner“<br />

Café Caspar<br />

1. Bezirk, Grillparzerstraße 6<br />

CoffeePirates<br />

9. Bezirk, Spitalgasse 17<br />

© Zoe Opratko, unsplash.com/Toa Heftiba, Instagram @bathandbodyworksat, Ikea<br />

„Keiner gönnt einem mehr etwas heutzutage“<br />

– diesen Satz höre ich leider viel<br />

zu oft, egal ob im Bekanntenkreis oder<br />

Freundeskreis. Ich dachte viel über diesen<br />

Satz nach und beobachtete parallel<br />

dazu mein Umfeld. So kam ich auch zu<br />

der Erkenntnis, dass ich, wie es aussieht,<br />

in einem Nichtsgönner-Zeitalter lebe.<br />

Das Prinzip vom Nicht-Gönnen ist immer<br />

gleich: Der Erfolg von anderen wird heruntergespielt,<br />

Misserfolge werden betont,<br />

abwertende Vergleiche werden gezogen<br />

und aus unerklärlichen Gründen entsteht<br />

ein Konkurrenzverhalten. Stichwort: Neid.<br />

Es ist doch pure Missgunst, einem Menschen<br />

grundlos etwas nicht zu gönnen,<br />

weil man der Überzeugung ist, die Person<br />

hätte es nicht verdient. Wer entscheidet<br />

denn, ob etwas einer Person zusteht oder<br />

nicht? So viel ich beobachten konnte,<br />

ist es deine Community. Einzelne Personen,<br />

die sich das Recht nehmen, über<br />

das Leben anderer zu urteilen, ob etwas<br />

ihnen nun gegönnt sei oder nicht. Total<br />

absurd. Naja, vielleicht ist es auch in<br />

Wirklichkeit kein Nichtsgönner-Zeitalter,<br />

in dem ich lebe, sondern mein toxisches<br />

Umfeld, von dem ich mich dringend<br />

befreien sollte.<br />

guen@dasbiber.at<br />

Mashallah<br />

RAMADAN<br />

BEI IKEA<br />

Laternen, Teelichthalter, Deko,<br />

Geschirr, Kissen und Teppiche in<br />

einem Mix aus osmanischen Elementen<br />

und dem typisch skandinavischen<br />

Design: Die neue limitierte IKEA-Kollektion<br />

GÖKVALLÅ ist dem Fastenmonat<br />

Ramadan gewidmet. Die Kollektion<br />

feiert Kultur, Spiritualität und Vielfalt<br />

– egal, ob ihr Ramadan feiert oder<br />

nicht, die Kollektion ist einfach super<br />

stimmungsvoll. Die Auswahl findet ihr<br />

auf www.ikea.at<br />

BATH & BODY<br />

ZAUBER<br />

Endlich gibt es auch in Österreich<br />

bath & body works – im<br />

Donauzentrum und in der<br />

Shopping City Süd (Vösendorf).<br />

Was es dort alles gibt?<br />

Duschgel, Körper Lotionen,<br />

fancy Hand-Sanitizer<br />

und Duftkerzen. Falls ihr<br />

eure Familie, Freund:innen<br />

oder eure:n Partner:in mit<br />

guten Düften beschenken<br />

wollt, ist bath & body works<br />

der ultimative Tipp!<br />

/ LIFESTYLE / 33


Die Autorinnen<br />

Evelyn Shi,<br />

Filloreta Bennett<br />

und Emilija Ilić<br />

(v.l.n.r.)<br />

34 / EMPOWERMENT SPECIAL /


DU<br />

BESTIMMST<br />

IMMER.<br />

PUNKT.<br />

Geschlechterrollen durchbrechen, eigene Träume und Leidenschaften<br />

verfolgen, ohne sich dem Druck aus der Familie hinzugeben:<br />

Weibliche Selbstbestimmung hat viele Gesichter und kann<br />

auf unterschiedlichen Wegen passieren.<br />

Drei starke, junge Autorinnen aus verschiedenen Communitys<br />

erzählen von ihren persönlichen Revolutionen und was sie dafür<br />

in Kauf nehmen mussten. Über veralterte Erziehungsmuster, das<br />

Erwachsenwerden und die Bringschuld gegenüber den Eltern. Sie<br />

kommen in diesem Empowerment-Special selbst zu Wort.<br />

Mit Beiträgen von Emilija Ilić, Filloreta Bennett und Evelyn Shi.<br />

© Zoe Opratko<br />

Das Projekt „Du bestimmst IMMER. Punkt!“ findet im Rahmen des Aufrufs „Maßnahmen<br />

zur Stärkung von Frauen und Mädchen im Kontext von Integration“ des Österreichischen<br />

Integrationsfonds statt. Dieses Projekt wird durch den Österreichischen Integrationsfonds<br />

(ÖIF) finanziert. Die redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber.<br />

/ EMPOWERMENT SPECIAL / 35


WARUM ICH<br />

KEINE LUST<br />

HABE, EINEN<br />

TYRANNEN<br />

ZU ERZIEHEN.<br />

Die Ehre der Familie und das Gesicht zu<br />

wahren, sind das Alpha und auch das Omega.<br />

Nicht aufzufallen und den Namen der<br />

Familie in den Schmutz zu ziehen, sind deshalb<br />

die ersten Gebote der balkanischen<br />

Erziehung. Schluss damit, sagt Filloreta:<br />

Und erzieht ihren Sohn ganz anders, als sie<br />

es selbst erlebt hat.<br />

Von Filloreta Bennett, Fotos: Zoe Opratko<br />

36 / EMPOWERMENT SPECIAL /


Als wir vor der Armut flohen,<br />

war ich drei Jahre alt. Wir<br />

waren Wirtschaftsflüchtlinge.<br />

Meine Eltern hatten<br />

Angst, dass uns das neue Land vergessen<br />

lässt, dass wir Kinder aus dem<br />

Kosovo kommen und wir somit auch die<br />

Kultur, Traditionen und Sitten verlieren<br />

würden. Im Grunde genommen ähnelt<br />

die albanische Kultur in vielen Dingen<br />

anderen Ländern des Balkans, deshalb<br />

erlaube ich mir es auch, in diesem Artikel<br />

über die balkanische Erziehung und ihre<br />

Stolpersteine zu schreiben.<br />

Warum Stolpersteine? Nun, das habe<br />

ich auch erst begriffen, als ich selbst<br />

Mutter geworden bin. Erst seit ich mich<br />

mit der Erziehung meines eigenen Sohnes<br />

auseinandersetze, sehe ich all diese<br />

erzieherischen Missstände, unter denen<br />

ich und viele andere Balkankids leiden<br />

mussten. Kinder sollten keine Angst<br />

vor ihren Eltern (vor allem den Vätern)<br />

haben, um zu lernen, was Respekt<br />

bedeutet. Sie müssen nicht mit Sprüchen<br />

wie „Wenn du nicht das machst, was ich<br />

will, bist du kein gutes Kind” manipuliert<br />

werden. Vor allem sollten sie aber nicht<br />

in eine Position der Bringschuld gebracht<br />

werden, dass sie für das Seelenheil<br />

der gesamten Familie zuständig wären.<br />

Wenn wir funktionierten, dann funktionierten<br />

alle. Und genau diese Missstände<br />

meine ich, die ich seit zehn Jahren<br />

immer wieder in unterschiedlichen<br />

Situationen wiedererkenne.<br />

ERZWUNGENE<br />

UNTERWÜRFIGKEIT<br />

Wieso begrüßt du deine Tante nicht?<br />

Wieso gibst du deinem Onkel keinen<br />

Begrüßungskuss? Ich wurde immer<br />

gezwungen, alle Verwandten, egal ob<br />

ich sie kannte oder nicht, zu umarmen,<br />

oder Bussis auf die Wangen zu geben,<br />

nur damit meine Eltern voller Stolz sagen<br />

können: Ja, meine Kinder wissen, wie sie<br />

sich zu benehmen haben, und wissen,<br />

wem sie Respekt zollen müssen.<br />

Einmal verweigerte ich die Bussis<br />

und Umarmungen und wurde dafür,<br />

nachdem wir vom Besuch zurückgekommen<br />

waren, geschlagen. Ich hätte<br />

mich respektlos den anderen gegenüber<br />

verhalten – schließlich muss ich immer<br />

auf meine Eltern hören und den Älteren<br />

gegenüber Respekt zeigen. So wurde<br />

es mir, wie vielen anderen Kindern vom<br />

Balkan, von klein auf eingetrichtert. Aber<br />

dass ich da genötigt werde, als Kind lieb<br />

und nett zu sein, weil ich es muss und<br />

nicht, weil ich es will, hat niemanden<br />

interessiert. Der erzwungene und falsche<br />

Respekt, aber auch diese „Unterwürfigkeit“<br />

gegenüber Älteren, Männern und<br />

auch Frauen, ist schlichtweg falsch!<br />

Damit bringst du deinem Kind nur bei,<br />

dass es erst was wert ist, wenn es<br />

erwachsen ist, andere unterdrückt und<br />

vielleicht auch das richtige Geschlecht<br />

hat.<br />

Das erste Mal wurde es mir mit etwa<br />

18 Jahren bewusst. Als ich es nicht<br />

mehr aushalten konnte, mich selbst als<br />

wertlos, unwichtig und Objekt zu sehen.<br />

Ich habe es damals auch geschafft, aus<br />

diesem Muster auszubrechen, aber nur<br />

für vier Monate. Durch die balkanische<br />

Erziehung hatte ich immer das starke<br />

Gefühl von Schuld und habe mich dann<br />

wieder untergeordnet. Auch hat man mir<br />

beigebracht, dass ich die Familie zusammenhalten<br />

muss, indem ich als gutes<br />

Beispiel vorangehe und immer für sie<br />

da bin, egal ob es mir guttut oder nicht.<br />

Ich hatte irgendwann so einen Druck<br />

auf meinen Schultern, dass ich geglaubt<br />

habe, dafür verantwortlich zu sein, dass<br />

wir als Familie funktionieren. So lernte<br />

ich, meine Bedürfnisse hintanzustellen,<br />

oder noch besser gesagt, die Bedürfnisse<br />

meiner Eltern als meine eigenen<br />

anzusehen.<br />

Kinder am Balkan haben schon sehr<br />

früh Verantwortung zu tragen und müssen<br />

funktionieren. Indem sie im Haushalt<br />

helfen, sich um die jüngeren, aber auch<br />

älteren Geschwister kümmern. Zusätzlich<br />

mussten wir die Bildungsdefizite<br />

unserer Eltern kompensieren, indem wir<br />

bürokratische Dinge wie Anträge stellen<br />

erledigen mussten. Wir hatten keine Zeit,<br />

unsere Kindheit zu genießen und wurden<br />

von Anfang an mit der Last von Verantwortung<br />

beladen.<br />

„<br />

Wenn du nicht das<br />

machst, was ich<br />

will, bist du kein<br />

gutes Kind.<br />

“<br />

HARTE MÄNNER,<br />

BRAVE MÄDCHEN<br />

Lange Zeit hielt ich es für normal, dass<br />

meine Erziehung auch physische Gewalt<br />

beinhaltete. Ich sah auch keinen Anlass,<br />

mit jemandem darüber zu sprechen.<br />

Mit 16 hatte ich das Glück, in Wien in<br />

die Schule zu gehen. Dort habe ich das<br />

erste Mal mit anderen Jugendlichen, die<br />

auch einen balkanischen Migrationshintergrund<br />

haben, echte Freundschaften<br />

geschlossen. Erst dort konnte ich mich<br />

mitteilen. Ohne Scham konnte ich einer<br />

Freundin anvertrauen, was ich alles<br />

erlebt habe. Die meisten Mädchen und<br />

ihre Geschwister hatten das Gleiche wie<br />

ich erlebt. Man hat uns beigebracht, still<br />

zu sein, zu gehorchen, Verantwortung für<br />

unsere kleineren Geschwister, aber auch<br />

für die gesamte Familie zu übernehmen.<br />

Wir hatten keine lange Kindheit, nein,<br />

auch die Burschen mussten früh lernen,<br />

was es alles braucht, ein gestandener<br />

Mann zu sein, der seine Macht über die<br />

Jüngeren, aber auch Mädchen oder<br />

Frauen ausüben kann.<br />

Jungs wird beigebracht, dass Emotionen<br />

Schwäche sind, indem man sie etwa<br />

fürs Weinen mit Liebesentzug bestraft,<br />

oder sie schlägt, damit sie „einen richtigen<br />

Grund haben, zu weinen“. Genauso<br />

werden sie – sogar von den Älteren –<br />

schikaniert, wenn sie liebevoll mit anderen<br />

umgehen. Dann kommt meistens der<br />

Spruch: „Du hast ja keine Eier. Bist du<br />

jetzt zu einer Frau geworden oder warum<br />

bist du so liebevoll?”<br />

Ich beobachte immer wieder, wie<br />

Männer eine abweisende Haltung ihren<br />

Kindern gegenüber haben. Sie haben es<br />

so von ihren eigenen Vätern erlebt und<br />

machen es nun selbst. Sie sind in diesem<br />

Teufelskreis gefangen, weil es verständlicherweise<br />

auch gar nicht so leicht ist,<br />

alles, was man kennt, zu hinterfragen<br />

und anders zu machen. Sich einzugestehen,<br />

dass die eigenen Eltern was falsch<br />

gemacht haben, ist, meiner Meinung<br />

nach, im balkanischen Raum noch viel<br />

schwieriger. Es ist schwierig, weil wir<br />

nach außen hin eine glückliche, funktionierende<br />

Familie präsentieren wollen. Für<br />

meine Mutter und meinen Vater ist es<br />

heute noch sehr wichtig, was die anderen<br />

Verwandten über uns denken. Es wurden<br />

so viele Emotionen unterdrückt, nur damit<br />

niemand schlecht über uns spricht.<br />

/ EMPOWERMENT SPECIAL / 37


Erst nachdem Filloreta<br />

selbst Mutter wurde,<br />

wurden ihr die Missstände<br />

ihrer eigenen balkanischen<br />

Erziehung bewusst.<br />

Mädchen wird hingegen anerzogen,<br />

wie sie den Haushalt führen, wie sie<br />

kochen, wie sie sich benehmen und<br />

wie sie den künftigen Ehemann, die<br />

Schwiegermutter, den Schwiegervater<br />

und die ganze Familie ihres Zukünftigen<br />

respektieren sollen. Dabei geht es gar<br />

nicht darum, dass uns selbst gegenüber<br />

auch Respekt widerfährt. Nein, es geht<br />

darum, den Kopf geduckt zu halten und<br />

zu hoffen, dass der zukünftige Ehemann<br />

oder die Schwiegermutter oder die<br />

gesamte Familie ab und zu ein wenig<br />

Freiheiten gewährt. Sie lernen, dass sie<br />

genau nichts zu melden haben, es sei<br />

denn, man erteilt ihnen das Wort. Im<br />

Grunde werden wir Mädchen zu Sklavinnen<br />

erzogen, die keinen freien Willen<br />

haben dürfen.<br />

Wenn einem als Mädchen beigebracht<br />

wird, vor Männern ehrfürchtig zu<br />

sein und immer einen Platz, der in der<br />

Hierarchie relativ unten ist, anzunehmen,<br />

hast du es später wirklich schwer, als<br />

erwachsene Frau für dich einzustehen.<br />

Du lernst durch Angst und Furcht, andere<br />

zu respektieren, weil du eben nicht die<br />

Konsequenzen tragen willst, und lernst<br />

dabei aber nie, dich selbst wertzuschätzen<br />

und zu respektieren.<br />

NIEMAND SOLL VON DEN<br />

PROBLEMEN ERFAHREN<br />

Mein Papa und ich hatten einmal einen<br />

heftigen Streit, ich war damals gar nicht<br />

mehr so klein, ich war 16 Jahre alt. Ich<br />

hatte meiner Mama anvertraut, dass ich<br />

mich in einen Jungen verliebt hatte. Sie<br />

ging damit zu meinem Vater, weil sie<br />

Sorge hatte, ich würde meine Jungfräulichkeit<br />

– also das Einzige, was den<br />

Wert einer Frau auszumachen scheint<br />

– verlieren. Also war es besser, wenn ich<br />

dafür gemaßregelt werde und so, ihrer<br />

Meinung nach, zur Vernunft komme. Ich<br />

wurde lauter und schrie meinen Vater<br />

an. Sie nennen es Pubertät, ich nenne<br />

es aber Mut, für sich einzustehen. Meine<br />

Mutter war aber nur in Sorge darüber,<br />

was die anderen von uns denken würden,<br />

wenn sie mein Schreien auf dem<br />

Gang hören. Niemand soll von unseren<br />

Problemen in der Familie erfahren.<br />

Das Bild, von außen eine normale und<br />

gesunde Familie zu sein, war wichtiger,<br />

als die ganzen Probleme, die wir zu lösen<br />

hatten. Die Ehre der Familie und das<br />

Gesicht zu wahren, sind das Alpha und<br />

auch das Omega. Nicht aufzufallen und<br />

den Namen der Familie in den Schmutz<br />

zu ziehen, sind deshalb die ersten Gebote<br />

der balkanischen Erziehung.<br />

Seit ich meinen Sohn habe, bin ich<br />

dahinter, diese Erziehungsmuster zu<br />

durchbrechen. Um das zu schaffen,<br />

muss ich aber selbst lernen – und das<br />

täglich – was eine gesunde Erziehung<br />

überhaupt ist. Und das mache ich, indem<br />

ich mich mit anderen Müttern und Eltern<br />

austausche, Erziehungsratgeber lese und<br />

gelesen habe, aber auch einfach reflektiere,<br />

wie meine Erziehung war und was<br />

daran besser hätte sein können.<br />

„Dein Sohn ist kein richtiger Albaner.<br />

So wie du dein Kind erziehst, wird<br />

er noch homosexuell. Warum erziehst<br />

du ihn zu einem Schlappschwanz? Du<br />

bringst ihm die falschen Werte bei. Du<br />

hast dein Kind entwurzelt. Wieso erziehst<br />

du dein Kind österreichisch?“ sind<br />

Sätze, die ich von meinen Verwandten,<br />

Angehörigen und sogar Freunden gehört<br />

habe. Aber ich sehe kein Problem darin,<br />

dass mein Sohn gegebenenfalls homosexuell<br />

oder zu feminin sein könnte, warum<br />

dann ihr? Es ist so, als wollten alle bei<br />

jeder Gelegenheit ihre Probleme zu meinen<br />

machen.<br />

MEIN SOHN SOLL<br />

SEINE SANFTE SEITE<br />

(AUS-)LEBEN<br />

Ich wollte und will eben keine toxische<br />

Erziehungsmethode anwenden, um<br />

meinen Sohn zu einem Tyrannen zu<br />

machen. Es geht bei der balkanischen<br />

Erziehung nämlich in erster Linie darum,<br />

dass Familie alles und man selbst ohne<br />

Familie nichts wert ist. Um aber in dieser<br />

Familie einen Wert zu haben, muss man<br />

alle Bedürfnisse und Erwartungen von<br />

ihnen erfüllen. Die beste Strategie, um<br />

das durchzusetzen, ist mit Angst, Gewalt,<br />

Schuldgefühlen und Manipulation zu<br />

arbeiten.<br />

38 / EMPOWERMENT SPECIAL /


Mein Sohn – genau dafür liebe ich<br />

ihn so sehr – hat mich mal Folgendes<br />

gefragt: „Warum sollte ich denn irgendwen<br />

respektieren, wenn diese Person<br />

mich nicht respektieren kann? Nur weil<br />

ich ein Kind bin, heißt das nicht, dass ich<br />

keinen Respekt verdient habe!“ Ich muss<br />

zugeben, dass ich selbst durch meinen<br />

Sohn auf Muster und Fehler aufmerksam<br />

gemacht werde, die mir selbst nicht<br />

bewusst waren.<br />

Ich beobachte, wie sich mein Sohn<br />

seit seiner Geburt entwickelt, und ich<br />

wusste schon sehr früh, dass dieses Kind<br />

voller Gefühle, Empathie und Liebe ist.<br />

Deshalb habe ich ganz bewusst entschieden,<br />

die Erziehung, die ich erlebt<br />

habe, nicht anzuwenden. Für meinen<br />

Sohn wollte ich etwas anderes. Ich wollte<br />

und will, dass er seine Emotionen kennenlernt.<br />

Er soll eine sanfte Seite erleben<br />

und vor allem ausleben dürfen.<br />

Mein Sohn ist einmal auf die Idee<br />

gekommen, sich die Nägel zu lackieren,<br />

da war er gerade mal acht Jahre alt.<br />

Während ich ihm diese nun in Pink (weil<br />

das seine Lieblingsfarbe ist) lackierte,<br />

erklärte ich ihm, wie er sich gegen<br />

dumme Sprüche wehren sollte. Als er am<br />

Abend zurückkam, sagte er voller Stolz:<br />

„Ein paar Kinder haben zwar versucht,<br />

mich zu ärgern, und auch die Lehrerin<br />

hat komisch geschaut, aber ich meinte<br />

zu ihnen, am Nagellack steht nichts<br />

davon, dass Nagellack nur für Mädchen<br />

ist, also kann ich das auch tragen. Und<br />

es gefällt mir.“<br />

Ein paar Tage später besuchten wir<br />

dann mit den Nägeln auch noch meine<br />

Eltern. Meine Mutter war schockiert. Sie<br />

hatte die Sorge, dass er homosexuell<br />

ist und ist dann richtig sauer auf mich<br />

gewesen. Sie befürchtete, dass meine<br />

Erziehung ihm seine Männlichkeit rauben<br />

würde. Ich habe mit ihr lange und mehrmals<br />

darüber sprechen müssen und ihr<br />

erklärt, dass ich der Meinung bin, dass<br />

Kinder frei und ohne unnötige Verbote<br />

und Strenge aufwachsen sollten. Es<br />

hat lange gedauert, dass meine Mutter<br />

gelernt hat, meine Erziehung zu akzeptieren<br />

und sich wirklich bemüht, diese<br />

auch umzusetzen, wenn mein Sohn bei<br />

ihnen ist.<br />

Männliche Verwandte meinten<br />

oft zu mir, dass mein Sohn zu soft für<br />

diese Welt wäre, er mich durch meine<br />

„<br />

Du hältst dich für<br />

etwas Besseres,<br />

weil du deinen<br />

Sohn anders als<br />

wir erziehst.<br />

“<br />

Erziehung nie respektieren wird und ich<br />

schuld wäre, wenn er kein richtiger Albaner<br />

wird. Und das Schlimmste: Er würde<br />

so seine Wurzeln nicht kennenlernen.<br />

Viele dieser Männer wissen aber selbst<br />

nicht, was einen richtigen Menschen<br />

ausmacht. Nicht die Herkunft, nicht die<br />

Wurzeln und auch nicht die Sprache. Ein<br />

richtiger Mensch kennt seine Bedürfnisse,<br />

seine Gefühle, kann sich in die<br />

Gefühle seiner Mitmenschen versetzen<br />

und weiß vor allem, wie er mit seinen<br />

Emotionen umgeht.<br />

ALTE MUSTER<br />

DURCHBRECHEN<br />

Einmal sagte eine Cousine zu mir: „Du<br />

hältst dich für etwas Besseres, weil du<br />

deinen Sohn anders als wir erziehst.“ Ich<br />

musste darauf lächeln und sagte: Nein,<br />

ich habe nur keine Lust, einen Tyrannen<br />

großzuziehen. Er soll lernen, dass Frauen<br />

den gleichen Wert haben wie ein Mann.<br />

Er soll lernen, dass vor allem er genauso<br />

ein wertvoller kleiner Mensch ist. Ich will<br />

aber auch nicht, dass er irgendwann vor<br />

einer Autoritätsperson steht und sich<br />

total kleinmacht, nur um geduldet zu<br />

werden. Sei es im Job oder im Privatleben.<br />

Es ist mir wichtig, dass er für das,<br />

was er ist, geschätzt wird und sich nicht<br />

verstellen muss, um angenommen zu<br />

werden.<br />

Ich habe eine balkanische Erziehung<br />

„genossen“ und heute kann ich mich<br />

keinem Balkanier nähern, ohne in die<br />

antrainierten Muster zu fallen: dem Mann<br />

gehörig zu sein, ihm alles nachzutragen<br />

und meinen Selbstwert über Bord zu<br />

werfen.<br />

Ich bin in meinem Umfeld die Erste<br />

gewesen, die diese alten Muster der<br />

Erziehung durchbrochen hat – und<br />

manchmal ist es noch immer schwer,<br />

richtig zu handeln. Auch ich habe<br />

manchmal wie meine Eltern gehandelt.<br />

Zwar ohne physische Gewalt, aber ich<br />

Filloretas Sohn soll auch seine<br />

sanfte und feminine Seite ausleben<br />

können – ohne Vorurteile.<br />

neige dazu, wenn ich überfordert bin,<br />

cholerisch zu sein, und das tut dem Kind<br />

genauso wenig gut.<br />

Es geht mir gar nicht darum, perfekt<br />

zu sein. Sondern darum, zu reflektieren<br />

und zu unterscheiden, welcher Anteil<br />

meiner Erziehungsmethoden zu mir<br />

gehört, und welcher mir von meinen<br />

Eltern anerzogen wurde. Was hat mir<br />

in der Erziehung damals gutgetan und<br />

was nicht? Wo leide ich heute noch<br />

darunter und wie kann ich dieses Muster<br />

durchbrechen? Es geht nicht darum,<br />

seine Kultur zu verleugnen. Ich liebe die<br />

balkanische Kultur, die Musik, unsere<br />

Geschichte, das Essen und dieses<br />

Beisammensitzen und dabei andere zu<br />

bekochen und gastfreundlich zu sein.<br />

Aber nicht, weil ich es muss, sondern<br />

weil ich es will. Ich will mich dafür<br />

entscheiden können, ohne die Angst zu<br />

haben, dass ich anders gar nicht anerkannt<br />

werde. ●<br />

Filloreta ist 35 Jahre alt, hat albanischen<br />

Background, arbeitet als diplomierte<br />

Sozialbegleiterin und Integrationscoach<br />

und interessiert sich für intersektionalen<br />

Feminismus.<br />

/ EMPOWERMENT SPECIAL / 39


ZU STUR, ZU STARK,<br />

ZU SELBSTBESTIMMT<br />

40 / EMPOWERMENT SPECIAL /


„Du bist eine Frau. Du bist noch zu jung. Du bist nicht von hier. Du wirst<br />

auch nie von hier sein.“ Sätze wie diese – von der serbischen Community,<br />

von Lehrer:innen und anderen Österreicher:innen– begleiten Emilija schon<br />

ihr ganzes Leben lang. Viel zu lange hat sie sie wirklich geglaubt. Damit ist<br />

jetzt Schluss.<br />

Von Emilija Ilić, Fotos: Zoe Opratko<br />

Du bist eine Frau. Du bist<br />

noch zu jung. Du bist nicht<br />

von hier. Du wirst auch<br />

nie von hier sein.“ Sätze<br />

wie diese - von der serbischen Community,<br />

von Lehrer:innen und anderen<br />

Österreicher:innen - begleiten mich<br />

schon mein ganzes Leben lang. Viel zu<br />

lange habe ich sie wirklich geglaubt.<br />

Damit ist jetzt Schluss.<br />

Als ‚Migrakid‘ in Wien aufzuwachsen,<br />

ist schon schwer genug. Mit meiner ‚zu<br />

großen Klappe‘, wie man mir immer einreden<br />

wollte, wäre es auch nicht leichter.<br />

Ich war allen immer zu stur, zu nervig<br />

und schlichtweg zu frech. Als junge Frau<br />

eine eigene Meinung zu haben und diese<br />

auch deutlich zu äußern, wird vor allem<br />

in Teilen der migrantischen Community<br />

ungern gesehen. „Du kannst nicht immer<br />

machen, was du willst. Welcher Mann<br />

soll dich später so heiraten?“<br />

Du wirst erst als ‚gute Frau‘ gesehen,<br />

wenn du kochen, putzen und zu allen<br />

Männern „Ja und Amen“ sagen kannst.<br />

Du bist erst eine gute Frau, wenn du alle<br />

anderen an erste Stelle stellst und dich<br />

selbst an letzte. Wenn du jedem nach<br />

der Nase tanzt und dich dem Bild der<br />

„typischen Hausfrau“ fügst. Sich anpassen,<br />

unterordnen und seiner Familie alles<br />

recht machen zu wollen, habe ich schon<br />

längst aufgegeben. Den eigenen Kopf<br />

durchzusetzen und die Meinungen seiner<br />

Liebsten zu ignorieren, tut manchmal<br />

weh. Doch obwohl ich erst 21 Jahre alt<br />

bin, musste ich früh lernen, dass das<br />

Leben viel zu kurz ist, um es für andere<br />

zu leben.<br />

PLÖTZLICH ERWACHSEN<br />

Als ich 16 Jahre alt war, ist meine kleine<br />

Schwester an Krebs gestorben. Eigentlich<br />

ist sie meine Cousine, aber wir<br />

sind wie Geschwister aufgewachsen.<br />

Wir haben 1½ Jahre gekämpft. Etliche<br />

Krankenhausbesuche, Therapien (diese<br />

scheiß Chemo war am schlimmsten),<br />

Gebete, Hoffnung – sie hat es nicht<br />

geschafft. Dieser Schicksalsschlag<br />

hat meine Familie und mich unendlich<br />

schwer getroffen, und dieses Gefühl<br />

lässt sich weder in Worte fassen noch<br />

zu Papier bringen. Und ich wünsche niemanden,<br />

das jemals erleben zu müssen.<br />

In dieser Zeit blieb nicht viel Raum für<br />

mich selbst. Als erstes Enkelkind, älteste<br />

Tochter und Cousine musste ich meiner<br />

Familie Halt geben. Es fühlte sich an, als<br />

hätte ich von einen auf den anderen Tag<br />

erwachsen werden müssen. Ich musste<br />

miterleben, wie schnell das Leben vorbei<br />

sein kann. Und wie verdammt unfair es<br />

manchmal ist.<br />

Dieser Schicksalsschlag hat mich<br />

sehr geprägt. Ich habe angefangen,<br />

mir Gedanken über meine Zukunft zu<br />

machen. Die Erwartungen und Wünsche<br />

der Menschen in meinem Umfeld an<br />

mich zu hinterfragen. Mich mit mir selbst<br />

auseinanderzusetzen und zu verstehen,<br />

wer ich bin und was ich vom Leben<br />

möchte. Das war die beste Entscheidung,<br />

die ich treffen konnte. Auch wenn ich mir<br />

oft anhören musste, dass ich egoistisch<br />

sei. Ich habe beschlossen, meine Wünsche<br />

umzusetzen und Dinge zu tun, die<br />

sich für MICH richtig anfühlen.<br />

Trotz der Skepsis und dem fehlenden<br />

„<br />

Du kannst nicht<br />

immer machen, was<br />

du willst. Welcher<br />

Mann soll dich<br />

später so heiraten?<br />

“<br />

Verständnis für viele meiner Handlungen<br />

haben meine Eltern mir den Raum<br />

gegeben, meine eigenen Entscheidungen<br />

zu treffen. Es war nicht immer einfach,<br />

sich gegen sie zu stellen. Es tut weh, die<br />

Enttäuschung in ihren Augen zu sehen,<br />

wenn ich wieder nicht auf sie höre. Es tut<br />

weh, dass sie sich schützend vor mich<br />

stellen müssen, wenn Familienmitglieder<br />

meine Lebensweise kritisieren. Ich weiß,<br />

dass sie sich Sorgen um mich machen.<br />

FALSCHE<br />

ENTSCHEIDUNGEN?<br />

Die Kraft und der Ehrgeiz seine eigenen<br />

Entscheidungen zu treffen, lässt spätestens<br />

dann nach, wenn außenstehende<br />

Personen dir den Mut dazu absprechen.<br />

Ob Lehrkräfte, die dir davon abraten,<br />

die Matura zu machen und lieber eine<br />

Lehre anzufangen, oder Eltern, die dich<br />

daran hindern möchten, dein Studium<br />

hinzuschmeißen, obwohl du selbst weißt,<br />

dass es nichts für dich ist – oder auch<br />

Familienmitglieder, die deine Partnerwahl<br />

kritisieren.<br />

Oft kommt es zu Konflikten und<br />

vielleicht gehen auch manche Menschen<br />

aus deinem Leben, weil sie deine<br />

Entscheidungen nicht akzeptieren. Aber<br />

ganz ehrlich: Das müssen sie auch nicht.<br />

Und das ist vollkommen in Ordnung.<br />

Meine Eltern konnten viele meiner<br />

Entscheidungen nicht verstehen und wir<br />

haben immer viel gestritten. Doch auch<br />

wenn ich selten nachgebe, stärken sie<br />

mir trotzdem den Rücken und sind für<br />

mich da. Dafür werde ich ihnen auf ewig<br />

dankbar sein.<br />

Aber ich werde mich weder ihren<br />

noch den Vorstellungen anderer anpassen.<br />

Ich wollte nie etwas anderes als<br />

Unabhängigkeit und Freiheit. Ich möchte<br />

selbstbestimmt leben. Losgelöst von<br />

allen Erwartungen meiner Community,<br />

/ EMPOWERMENT SPECIAL / 41


den gesellschaftlichen Normen und den<br />

dummen Klischees, die mich als junge<br />

migrantische Frau betreffen. Ich muss<br />

gar nichts. Und du auch nicht.<br />

ENDLICH FREI<br />

Genau an meinem 18. Geburtstag trug<br />

ich mich in einem Wohnungsportal ein,<br />

um rechtzeitig eine Wohnung zu bekommen.<br />

Ich fing an zu arbeiten und machte<br />

alle möglichen Jobs, einfach nur um von<br />

niemanden finanziell abhängig zu sein.<br />

Auszuziehen war schon lange ein großer<br />

Traum von mir – nicht, weil ich unbedingt<br />

schnell erwachsen werden wollte.<br />

Ich wollte nach meinen eigenen Regeln<br />

leben. Im Laufe meines Studiums habe<br />

ich endgültig mein Elternhaus verlassen –<br />

und ich genieße das Privileg, unabhängig<br />

und selbstbestimmt leben zu können, in<br />

vollen Zügen.<br />

„Dein ‚Jugo-Vater‘ lässt dich mit 19<br />

ausziehen? Da muss aber was schiefgelaufen<br />

sein.“ Nein, da ist alles genau<br />

richtig gelaufen. Nach viel Überzeugungsarbeit<br />

und Diskussion hat es<br />

geklappt. Für ihn war es besonders<br />

wichtig, dass ich Verantwortung für mich<br />

und meine Zukunft übernehmen kann.<br />

Ich fühlte mich bereit dazu. Durch den<br />

Verlust meiner Cousine wusste ich schon<br />

früh, was es heißt, Verantwortung übernehmen<br />

zu müssen – wie schwer kann<br />

dann schon alles andere im Leben sein?<br />

TRÄUME WERDEN<br />

MANCHMAL DOCH WAHR<br />

Mein Herzenswunsch Moderatorin zu<br />

werden, wurde immer belächelt. Eine<br />

junge Frau mit Migrationshintergrund, die<br />

aus einer Arbeiterfamilie kommt – „Was<br />

für Moderatorin?“ Die besten Voraussetzungen<br />

um dem nachzugehen, hatte ich<br />

in Österreich nicht unbedingt. Doch nach<br />

der „Biber Summer School“ kam schnell<br />

der Wunsch auf, mich als Journalistin<br />

zu verwirklichen. Ich hielt an meinem<br />

Traumberuf fest und versuchte, mich<br />

neben meinen Nebenjobs weiterzubilden.<br />

Mittlerweile arbeite ich als freie Journalistin<br />

und Social-Media-Managerin. Die<br />

„Biber Akademie“ hat mir hierfür den<br />

Weg geebnet – hier fand ich meinen<br />

Safe Space, um beruflich zu wachsen.<br />

Die ganze Arbeit und all der Selbstzweifel<br />

haben sich doch gelohnt.<br />

„Ich musste viele Leute davon überzeugen, dass ich es doch eh kann. Auch<br />

in jungen Jahren, auch ohne Mann, auch wenn ich nicht von hier bin.“<br />

NICHT ALLES IMMER SO<br />

ERNST NEHMEN<br />

Meine Geschichte klingt so, als hätte<br />

ich meinen „Shit together“ und wäre<br />

immer verantwortungsbewusst. Aber das<br />

stimmt nicht und das will ich auch nicht<br />

sein. Auch wenn ich in jungen Jahren<br />

viel Verantwortung übernehmen muss/<br />

darf/will – ich will auch jung bleiben.<br />

Und dazu gehört auch, Fehler zu machen<br />

und nicht immer alles im Griff zu haben.<br />

Du kannst dir noch so viele „that girl“<br />

Videos auf TikTok reinziehen – es entspricht<br />

nicht der Realität. Wir alle haben<br />

mal richtig schlechte Zeiten, kommen<br />

morgens nicht aus dem Bett, isolieren<br />

uns von Freund:innen, räumen wochenlang<br />

nicht auf und haben unser Uni- und<br />

Arbeitsleben nicht unter Kontrolle. Been<br />

there, done that. Sich manchmal überfordert<br />

zu fühlen und an sich selbst zu<br />

zweifeln – ist okay.<br />

Es gehört auch dazu, falsche<br />

Entscheidungen zu treffen und sie zu<br />

bereuen. Und dabei ist vollkommen egal,<br />

was andere von dir halten und in welche<br />

Schubladen auch immer sie dich dafür<br />

stecken möchten. Am Ende zählt, dass<br />

du weißt, wer du bist und was du von dir<br />

selbst hältst. Wichtig ist, dass du an dich<br />

und deine Fähigkeiten glaubst. Und dass<br />

du Vertrauen in dich hast.<br />

Ich musste viele Leute davon überzeugen,<br />

dass ich es doch eh kann. Auch<br />

in jungen Jahren, auch ohne Mann, auch<br />

wenn ich nicht von hier bin. Lass auch<br />

du dir von niemanden einreden, dass<br />

du etwas nicht kannst. Auch wenn es<br />

schwer ist, sich gegen die Erwartungen<br />

anderer zu stellen und seinen eigenen<br />

Kopf durchzusetzen. Glaub mir - das<br />

Leben ist viel zu kurz, um es nicht für<br />

dich selbst zu leben. ●<br />

Emilija ist 21 Jahre alt, hat serbischen<br />

Background, studiert Medienmanagement<br />

und ist als freie Journalistin sowie<br />

Social-Media-Redakteurin tätig. In ihrer<br />

Arbeit befasst sie sich mit Themen wie<br />

Feminismus, Gleichbehandlung und<br />

Gesellschaftskritik<br />

42 / EMPOWERMENT SPECIAL /


<strong>BIBER</strong><br />

SUCHT<br />

DICH!<br />

Du möchtest lernen, wie man richtig<br />

recherchiert und gute Geschichten<br />

schreibt? Du hast es satt, wie über<br />

Migrant:innen geschrieben wird und<br />

möchtest wissen, wie die österreichische<br />

Medienlandschaft tickt? Dann<br />

bewirb dich für ein Stipendium an der<br />

biber-Akademie. Die Stipendiat:innen<br />

erhalten eine zweimonatige journalistische<br />

Grundausbildung. Workshops mit<br />

externen Medienschaffenden, Diskussionsrunden<br />

über gesellschaftlich relevante<br />

Themen und Ausflüge in die großen<br />

Redaktionen Wiens stehen genauso<br />

auf dem Programm wie das Erarbeiten<br />

eigener Geschichten, Mobile Reporting<br />

und Beratungsstunden für den weiteren<br />

Berufsweg. Das Ziel der Akademie ist<br />

es, die kommende Mediengeneration<br />

zu rekrutieren und auszubilden. Das<br />

Stipendium ist mit 836 Euro brutto laut<br />

Kollektivvertrag monatlich dotiert. Bist<br />

du interessiert und zwischen 18 und 28<br />

Jahre alt? Schick uns deinen Lebenslauf<br />

und schreib uns in einem Motivationsschreiben,<br />

warum du das Stipendium<br />

bekommen solltest, welche drei<br />

Geschichten du gerne schreiben würdest<br />

und sende uns eine Textprobe.<br />

Alle Bewerbungsunterlagen an:<br />

redaktion@dasbiber.at<br />

AKADEMIE


WIE VIEL SCHULDE<br />

ICH MEINEN ELTERN?<br />

Evelyn ist ist 27<br />

Jahre alt und Klubvorsitzende<br />

der Neos<br />

in Döbling. Sie hat<br />

chinesischen Migrationsbackground<br />

und<br />

befasst sich mit Themen<br />

wie psychische<br />

Erkrankungen und<br />

mentale Gesundheit.<br />

Den eigenen Weg zu gehen, ist für eine Tochter chinesischer Eltern<br />

keine Selbstverständlichkeit - besonders, wenn erwartet wird, dass<br />

man die Eltern bis ins hohe Alter pflegen sollte. Evelyn Shi ist dabei zu<br />

lernen, Grenzen zu setzen. Dennoch fragt sie sich, wie viel Fürsorglichkeit<br />

sollte drin sein? Und wie viel schuldet sie ihren Eltern wirklich?<br />

Von Evelyn Shi, Foto: Mafalda Rakoš<br />

44 / EMPOWERMENT SPECIAL /


Du hast kein Gewissen“ ist<br />

ein Satz, den ich oft gehört<br />

habe, wenn ich meinen<br />

Eltern widersprochen habe.<br />

Ich glaube, wenn man mit strengen<br />

Eltern aufwächst, wird man entweder<br />

ganz gefügig oder ganz rebellisch. Mein<br />

Bruder wuchs in die gefügige Rolle und<br />

ich in die rebellische. Es ist nicht selbstverständlich,<br />

dass ich meinen eigenen<br />

Weg gegangen bin und nicht dem Plan<br />

meiner Eltern folgte. Ich war immer<br />

eifersüchtig auf meine Freund:innen, die<br />

viel Freiheit von ihren Eltern bekommen<br />

haben. Ich durfte nicht ausgehen, nicht<br />

bei anderen übernachten, weil ich sonst<br />

ein Kind wäre, das „nichts Gutes wolle“.<br />

Das werfe ich meinen Eltern nicht vor,<br />

denn sie haben ihr Bestes gegeben – nur<br />

sind wir in und mit einer anderen Kultur<br />

aufgewachsen als sie, und das hat alles<br />

schwieriger gemacht.<br />

Meine Eltern sind beide in den 80ern<br />

von China nach Wien emigriert. Aufgewachsen<br />

in Armut haben sie die 10-jährige<br />

Kulturrevolution in China überlebt, wo<br />

mein Vater in der Mine gearbeitet hat,<br />

während meine Mutter nicht in die Schule<br />

gehen konnte, da "Bildung der Feind"<br />

war. Meine Eltern haben es schließlich<br />

rausgeschafft, was damals gar nicht<br />

selbstverständlich war. Mein Vater hat in<br />

Wien studiert, und meine Mutter ist mit<br />

der Transsibirischen Eisenbahn gekommen.<br />

Davon hat sie einige witzige Storys<br />

und wenn ich sie höre, bewundere ich<br />

sie immer für diese Reise, wo sie sich mit<br />

Händen und Füßen verständigt hat und<br />

im Zug sogar irgendwie einen Pelzmantel<br />

gegen chinesische Seidenprodukte<br />

eingetauscht bekommen hat. Mein Vater<br />

fuhr immer wieder per Anhalter nach<br />

Ungarn, um dort Lippenstifte zu verkaufen.<br />

Ich weiß nicht, woher er sie hatte,<br />

aber sie waren zu der Zeit anscheinend<br />

in Mode und gut zu verkaufen. Sie<br />

standen täglich auf Flohmärkten und verkauften<br />

Seide, Tigerbalsam und andere<br />

Produkte aus China.<br />

Meine Eltern hatten damals auch<br />

einen großen Kinderwunsch. Oder besser<br />

gesagt: einen Wunsch nach einem Sohn.<br />

In China nimmt der Sohn eine wichtige<br />

Stellung ein. Er gibt den Familiennamen<br />

weiter und erbt das Vermögen. Er wird<br />

das Familienoberhaupt und kümmert sich<br />

um die anderen. In China werden daher<br />

viele weibliche Föten abgetrieben. Die<br />

mittlerweile abgeschaffte Ein-Kind-Politik<br />

diente dazu als weiterer Katalysator – sie<br />

war aber nicht der einzige Grund für diese<br />

medizinischen Eingriffe. Viele kämpf(t)<br />

en mit ihren finanziellen Situationen,<br />

weswegen es sich oft nicht „auszahlt“,<br />

ein Mädchen zu bekommen. Die Tochter<br />

wird ja schließlich in eine andere Familie<br />

eingeheiratet und führt die andere<br />

Familienlinie weiter. Eine Frau sollte so<br />

früh wie möglich heiraten. 27-jährige<br />

unverheiratete Frauen werden „shèn<br />

nü“ genannt, übersetzt „übergebliebene<br />

Frauen“. Kurz nach meiner Geburt<br />

zog mein Vater zurück nach China, wo<br />

er genug Geld verdienen konnte, um<br />

mich, meinen Bruder und unsere Mutter<br />

zu versorgen. Er entschied sich also für<br />

die Familie, indem er von der Familie<br />

wegzog.<br />

DIE VERLORENE<br />

EIGENSTÄNDIGKEIT IST<br />

MEINE SCHULD<br />

Meine Mutter zog uns in Wien auf und<br />

musste das alleine neben ihrer Arbeit<br />

und den Fahrstunden arrangieren. Die<br />

Sprache konnte sie nicht. Sieben Jahre<br />

lang – bis mein Bruder die chinesische<br />

Samstagsschule begann – hatte sie auch<br />

keine Freund:innen. Aus der Frau, die<br />

alleine von China nach Österreich gereist<br />

ist – ihre erste Auslandsreise – war eine<br />

Frau geworden, die im Wartezimmer<br />

des Arztes eine Stunde auf mich warten<br />

muss, damit ich für sie ein einfaches<br />

Kontrollgespräch übersetze. Von der<br />

Eigenständigkeit und dem Mut, den sie<br />

früher hatte, sehe ich mittlerweile wenig.<br />

Und ich sehe mich mitschuldig daran,<br />

weil ich dazu beigetragen habe, dass sie<br />

ihre Eigenständigkeit verloren hat. Diese<br />

Schuldgefühle kamen von ganz alleine,<br />

durch meine Erziehung. Das ist eine<br />

Last, mit der ich mir sehr schwertue. Ich<br />

möchte fürsorglich für meine Mutter da<br />

sein – aber ich fühle oft die Sorge, dass<br />

meine Mutter vereinsamt, unglücklich<br />

ist oder ihren Alltag nicht auf die Reihe<br />

kriegt. Ich mache mir Sorgen um sie, wie<br />

eine Mutter sich Sorgen um ihre Kinder<br />

macht.<br />

Es ist zu einer Selbstverständlichkeit<br />

geworden, unseren Eltern ihre Aufgaben<br />

abzunehmen. Mittlerweile geht es hier<br />

nicht mehr nur um Übersetzungen bei<br />

Arzt- oder Behördenbesuchen, sondern<br />

auch um einfache Sachen wie kopieren,<br />

Medikamente holen – Alltagssachen<br />

also, die sie grundsätzlich auch alleine<br />

bewältigen könnten. Wenn sie sich nicht<br />

schon so daran gewöhnt hätten, dass wir<br />

das für sie erledigen. Was auch bedeutet,<br />

dass sie es uns vorwerfen, wenn<br />

es nicht erledigt wird. Wenn ich meine<br />

Woche plane, muss ich also immer auch<br />

Zeit einplanen für Erledigungen für meine<br />

Eltern. Was grundsätzlich okay ist, was<br />

aber in Kombination mit meinen psychischen<br />

Erkrankungen – Depressionen<br />

und Borderline – auch Energie und Zeit<br />

fordert, die ich nicht habe.<br />

KEIN „ENTWEDER – ODER“<br />

Lange Zeit hielt ich es für meine Schuld,<br />

wenn irgendetwas nicht funktionierte<br />

oder Konflikte in der Familie entstanden.<br />

Weil ich den einen Termin nicht rechtzeitig<br />

ausgemacht hatte. Oder einen Brief<br />

nicht rechtzeitig abgeschickt hatte. Weil<br />

ich immer noch dieses eine Dokument<br />

nicht kopiert und ihr gebracht hatte. So<br />

Aufgaben, die man öfters nach hinten<br />

schiebt, nur sind es nicht Aufgaben für<br />

mich, sondern es hängt von mir ab, dass<br />

die Aufgaben meiner Mutter gemacht<br />

werden. Viele meinen, ich solle mich<br />

einfach unabhängig machen von meinen<br />

Eltern und mein eigenes Leben führen,<br />

dann wäre ich auch den Streit und die<br />

Last los. Aber das kommt vor allem von<br />

Menschen, die hier aufgewachsen sind<br />

und ein anderes Verständnis von Familie<br />

und Verantwortung für die Familie<br />

haben. Sie verstehen nicht, dass es kein<br />

Entweder-Oder sein sollte.<br />

Heute weiß ich: Ich schulde meinen<br />

Eltern nichts. Das bedeutet ganz und gar<br />

nicht, dass es nicht meine Aufgabe sein<br />

sollte, für sie zu sorgen. Diese Fürsorge<br />

hat aber ihre Grenzen und sollte unter<br />

normalen Umständen keine grundlegende<br />

Sorge um sie sein. Ich kann nur<br />

mein Bestes geben, sie in ihrem Alltag<br />

zu unterstützen, ohne meine eigenen<br />

Interessen vollkommen hintanzustellen.<br />

Ich kann nur mein Bestes geben, indem<br />

ich ihnen meine Grenzen zeige und mich<br />

nicht für Sachen darüber hinaus verantwortlich<br />

fühle. Auch mein Mitleid muss<br />

sich daher in Grenzen halten, weil ich<br />

sonst Gefahr laufe, mich mehr um sie zu<br />

sorgen als um mich selbst. ●<br />

/ EMPOWERMENT SPECIAL / 45


KAMPF<br />

DEM<br />

PATRIARCHAT<br />

46 / RAMBAZAMBA /


In keinem anderen europäischen Land werden so viele Frauen getötet wie in<br />

Österreich. Die Zahl steigt immer weiter an und das Gefühl der Fassungslosigkeit<br />

und Ohnmacht bleibt. Seit Generationen leben wir in Strukturen, die diese Gewalt<br />

zulassen. Doch damit ist jetzt Schluss: Kann die jüngere Generation das Bild toxischer<br />

Geschlechterrollen brechen? Atilla, Adam, Ewa und Jasmin machen den Anfang und<br />

sagen: Wir dürfen nicht mehr schweigend zusehen.<br />

Von Emilija Ilić, Fotos: Atila Vadoc<br />

Wenn ein Mann eine<br />

Frau schlägt, ist er in<br />

meinen Augen kein<br />

Mann.“ Atilla nimmt<br />

seine Sturmhaube ab und setzt sich auf<br />

einen heruntergekommenen Schreibtischsessel<br />

im Jugendzentrum. Er ist 17<br />

Jahre alt und hat türkischen Migrationshintergrund.<br />

Er erzählt von Situationen,<br />

in denen er sich gegen gewalttätige<br />

Personen in seinem Umfeld, auch gegen<br />

ihm fremde, gestellt hat. Dabei ging es<br />

immer um eines: Gewalt an Frauen.<br />

Österreich macht dem Namen „Land<br />

der Femizide“ mittlerweile alle Ehre. Im<br />

Jahr 2022 wurden allein 29 Frauen von<br />

Männern getötet. Damit liegt Österreich<br />

im Vergleich zu den Einwohner:innen-<br />

Zahlen innerhalb der EU an einer traurigen<br />

Spitze.<br />

Atilla ist einer von acht Jugendlichen,<br />

die sich bei „Bro & Kontra“, einem<br />

Online-Filmprojekt, das jungen Männern<br />

Alternativen zu toxischen Männlichkeitskonstruktionen<br />

zeigen soll, engagieren.<br />

Im Wiener Jugendtreff JUVIVO.21 sind<br />

sie groß geworden und auch mit dessen<br />

Unterstützung wollen sie in ihrer fiktiven<br />

Geschichte auf Gewalt an Frauen aufmerksam<br />

machen.<br />

Als Atilla und Adam kürzlich unterwegs<br />

waren, bekamen sie einen Angriff<br />

mit, der zu eskalieren drohte. „Ich habe<br />

einen Mann gesehen, der zwei kopftuchtragende<br />

Frauen mit Kindern angreifen<br />

wollte“, erinnert sich Atilla zurück. „Wenn<br />

man so etwas sieht, muss man immer<br />

eingreifen. Für mich hat es keine Rolle<br />

gespielt, dass es eine Muslima oder eine<br />

Frau meiner Herkunft ist. Das ist egal –<br />

es ist eine Frau, die Hilfe braucht. Wir<br />

haben den Mann zur Rede gestellt, bis<br />

die Polizei gekommen ist.“<br />

Der 17-jährige Adam schüttelt bei<br />

dieser Geschichte den Kopf. Er versteht<br />

nicht, wie Männer so gewalttätig werden<br />

können. „Väter müssen ihren Söhnen<br />

beibringen, dass man Frauen mit Respekt<br />

behandelt. Und vor allem, dass man sie<br />

nicht schlägt. Streiten gehört in einer<br />

Beziehung dazu, aber Schlagen geht<br />

einfach zu weit“, erzählt er. Er hat schon<br />

live miterlebt, dass ein guter Freund von<br />

ihm gegenüber seiner Partnerin gewalttätig<br />

wurde. Nachdem Adam eingriff und<br />

die Polizei verständigte, stellte sich das<br />

Mädchen schützend vor ihren Partner.<br />

Dieser wies jegliche Schuld von sich<br />

und die Beamten kümmerten sich nicht<br />

weiter darum.<br />

Seit diesem Ereignis beschäftigt<br />

er sich noch intensiver mit der Sicherheit<br />

von Frauen. „Es ist wirklich traurig.<br />

Normalerweise sollten Frauen von<br />

Männern erwarten können, dass sie von<br />

ihnen beschützt und unterstützt werden.<br />

So habe ich das jedenfalls beigebracht<br />

bekommen. Dass sie von Männern im<br />

nächsten Umfeld Gewalt und sogar noch<br />

„<br />

Väter müssen ihren<br />

Söhnen beibringen,<br />

dass man Frauen mit<br />

Respekt behandelt.<br />

“<br />

Schlimmeres erleben müssen, ist einfach<br />

nicht normal.“<br />

SPIELT DAS GESCHLECHT<br />

EINE ROLLE?<br />

Besonders das weibliche Geschlecht<br />

ist überproportional oft von Gewalt<br />

betroffen. Dabei gibt es unterschiedliche<br />

Gewaltformen, unter denen Frauen<br />

leiden müssen. Laut Statistik Austria hat<br />

jede dritte Frau zwischen 18 und 74 Jahren<br />

bereits körperliche und/oder sexuelle<br />

Gewalt erlebt. Auch psychischer Druck,<br />

sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz<br />

oder Stalking sind Gewaltformen, von<br />

denen Frauen besonders häufig betroffen<br />

sind. Oft erfahren sie von denjenigen<br />

Männern Gewalt, die ihnen am nächsten<br />

stehen – ihren (Ex-)Partnern.<br />

Expert:innen sprechen immer wieder<br />

von hohen Dunkelziffern, wenn es um<br />

Gewalt an Frauen geht. Dies lässt sich<br />

in Österreich vor allem auf schlecht erhobene<br />

staatliche Statistiken zurückführen.<br />

Auch der Umgang mit betroffenen Frauen<br />

innerhalb von Behörden, könnte dazu<br />

beitragen. Von Betroffenen erfordert es<br />

viel Kraft, gewaltsame Vorfälle polizeilich<br />

zu melden. Oft fühlen sie sich nicht ernst<br />

genommen und werden dadurch entmutigt,<br />

sich an öffentliche Institutionen zu<br />

wenden. Ein in sich nicht funktionierendes<br />

System, das im schlimmsten Fall zu<br />

einem Femizid führt. Dieser beschreibt<br />

den Mord an einer Frau aufgrund ihres<br />

Geschlechtes. Obwohl die Mordkriminalität<br />

weltweit zurückgeht, bleiben die<br />

Morde an Frauen in vielen Ländern gleich<br />

– oder steigen sogar.<br />

/ RAMBAZAMBA / 47


Die fünfzehnjährigen Mädchen Ewa<br />

und Jasmin zeigen sich schockiert<br />

über die grausamen Vorfälle und die<br />

immer weiter steigenden Zahlen. Die<br />

beiden Mädchen setzen sich wie Atilla<br />

und Adam bei dem Online-Filmprojekt<br />

ein. „Uns ist es wichtig, dass Gewalt an<br />

Frauen endlich aufhört. Ich bin überzeugt<br />

davon, dass sich in unserer Generation<br />

gerade etwas ändert. Wir Jüngeren sprechen<br />

viel offener über das Thema und<br />

auch durch unser Filmprojekt hoffen wir,<br />

vor allem Jungs zu erreichen, damit sie<br />

vielleicht ihre Denkweise ändern“, erzählt<br />

Jasmin. Sie ist der Meinung, dass alle<br />

Frauen dieselbe <strong>Ansicht</strong> teilen: Frauen<br />

verdienen keine Gewalt. Es liege an den<br />

Männern, ihre Denkweise zu ändern.<br />

GESCHLECHTERROLLEN,<br />

TOXISCHE MÄNNLICHKEIT<br />

UND TIKTOK<br />

Auch Ewa ist aufgebracht über die<br />

traditionellen Rollenbilder von Mann und<br />

Frau, die sie selbst noch immer miterlebt.<br />

„Wenn ich später Kinder habe,<br />

Toxische und gewalttätige<br />

Beziehungen<br />

werden in ihrer Generation<br />

vor allem auf<br />

TikTok verherrlicht<br />

und propagiert.<br />

werden beide Geschlechter die gleichen<br />

Rechte haben. Ich finde, kein Mensch hat<br />

mehr vom Leben verdient, nur weil er ein<br />

Mann ist. Eine Frau kann genauso stark<br />

sein."<br />

Das klischeehafte Bild des „starken“<br />

Mannes, der über der „schwachen“ Frau<br />

steht, ist gesellschaftlich noch immer<br />

fest verankert. Viele Männer sehen<br />

Frauen und Mädchen als ihren Besitz an.<br />

Durch traditionelle Rollenbilder werden<br />

Frauen aufgrund ihres Geschlechtes in<br />

vielen Aspekten vernachlässigt. Seinen<br />

Privilegien als Mann ist sich Atilla<br />

bewusst: „Wir leben in einer Welt, in<br />

der Männer stärker als Frauen gezeigt<br />

werden. Dadurch habe ich als Mann<br />

keine Angst. Ich wurde so sozialisiert,<br />

dass Männer immer stärker sein müssen.<br />

Aber es macht mich wütend. Wenn ich<br />

als Türke mitbekomme, dass ein anderer<br />

Türke seine Frau schlägt, finde ich das<br />

einfach nur scheiße. Sobald ich dazwischen<br />

gehe, reagiert mein Umfeld oft<br />

mit Unverständnis. Sie verstehen nicht,<br />

warum ich mich für sie einsetze, weil es<br />

„ja eh nur“ eine Frau ist. In meiner Kultur<br />

wird es oft noch normal gesehen, dass<br />

ein Mann über der Frau steht. Dahinter<br />

stehen wir als junge Generation gar nicht<br />

mehr.“ Atilla und Adam haben es satt,<br />

in eine Schublade gesteckt zu werden.<br />

Sie erzählen betroffen von rassistischen<br />

Lehrkräften und Arbeitskollegen, die<br />

ihnen wegen ihrer Herkunft unterstellten,<br />

Frauenschläger und -mörder zu<br />

sein. Dabei gab es in der Türkei, ihrem<br />

Herkunftsland, letztes Jahr über 300<br />

Femizide. „Mir wurde von klein auf beigebracht,<br />

dass ich respektvoll zu Frauen<br />

sein soll. Und dann kommt mein Lehrer<br />

und sagt mir, dass meine Herkunft mich<br />

zu einem Frauenschläger mache“, sieht<br />

Adam frustriert zu Boden.<br />

Aber selbst die junge, scheinbar so<br />

aufgeklärte Generation, entflieht den<br />

alten Rollenbildern nicht. Toxische und<br />

gewalttätige Beziehungen werden in<br />

ihrer Generation vor allem auf TikTok verherrlicht<br />

und propagiert. Diverse Trends<br />

und unkontrollierbare Inhalte beeinflussen<br />

die Denkweise vieler Jugendlicher.<br />

„Durch TikTok werden solche Werte stark<br />

verbreitet. Auf der Plattform sind Jungs,<br />

die Tipps geben, wie „schlecht“ man<br />

seine Freundin behandeln müsse. Sie<br />

behaupten dann, dass sie einem niemals<br />

von der Seite weichen würde. Es gibt<br />

natürlich auch Frauen, die eine toxische<br />

Art von Beziehung und krankhafte Eifersucht<br />

verherrlichen. Man bekommt das<br />

Gefühl, Frauen geht es nur noch um Geld<br />

und Status“, behauptet Adam. Sozialarbeiterin<br />

Pamina Gutschelhofer bestätigt,<br />

dass es an Aufklärung fehle und<br />

Jugendliche oft nicht wüssten, wohin sie<br />

sich wenden können. Aus diesem Grund<br />

möchten Atilla, Adam, Ewa und Jasmin<br />

ihr Online-Filmprojekt in den sozialen<br />

Medien verbreiten und ein Gegenpol zu<br />

toxischen Bewegungen bieten. ●<br />

Jasmin und Ewa setzen sich für mehr Aufklärung<br />

von Gewalt gegenüber Frauen ein.<br />

48 / RAMBAZAMBA /


Das „Bro & Kontra“ -Team dreht Kurzvideos um toxische Männlichkeitsvorstellungen zu brechen.<br />

ÜBER DAS PROJEKT:<br />

Was ist Bro & Kontra?<br />

Bei dem Online-Filmprojekt beteiligen sich Jugendliche<br />

mit unterschiedlicher Herkunft, Religion und Geschlecht.<br />

Bereits 2020 behandelte das Team in Kurzvideos die<br />

Ausschreitungen der „Grauen Wölfe“ auf eine kurdische<br />

Demonstration in Wien Favoriten. Aufgrund der hohen<br />

Gewaltrate an Frauen und der zahlreichen Femizide in<br />

Österreich, möchten sie in ihrer neuen Staffel #KeineEinzigeSchwesterMehr<br />

auf patriarchale Strukturen<br />

und toxische Männlichkeitsvorstellungen aufmerksam<br />

machen.<br />

Wer ist beteiligt?<br />

Mit Unterstützung des Jugendtreffs JUVIVO.21 und der<br />

bOJA (Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit)<br />

setzen die Jugendlichen ihre fiktive Geschichte um.<br />

Mit Hilfe eines Creative Art Directors (Calimaat) lassen<br />

sie die Story in Kurzvideos aufleben und sind auch selbst<br />

Protagonist:innen. Um das Projekt umsetzen zu können,<br />

wird es vom „Zukunftsfonds Österreich“ gefördert.<br />

Was ist das Ziel?<br />

Die zahlreichen Workshops während des Projektes und das<br />

digitale Endprodukt sollen jungen Männern Alternativen zu<br />

toxischen Männlichkeitskonstruktionen bieten, mit denen<br />

sie sich auch identifizieren können. Jugendliche, die sonst<br />

schwer zu erreichen sind, sollen von den Online-Inhalten<br />

abgeholt werden und sich mit dem Thema „Gewalt an Frauen<br />

und Mädchen und Femizide“ auseinandersetzen. Die<br />

Jugendlichen betonen, dass es ihnen besonders wichtig<br />

ist, dass betroffene Frauen und Mädchen wissen, wohin<br />

sie sich bei Bedarf wenden können. Ihr großes Ziel ist es,<br />

dass toxische Denkweisen und traditionelle Männerbilder<br />

hinterfragt werden.<br />

/ RAMBAZAMBA / 49


TECHNIK & MOBIL<br />

Alt+F4 und der Tag gehört dir.<br />

Von Adam Bezeczky<br />

MEINUNG<br />

Im Silicon<br />

Valley ist die<br />

Party (vorerst)<br />

vorbei<br />

Die IT-Branche in den USA hat zur<br />

Zeit einen schweren Stand. Praktisch<br />

alle großen IT-Firmen haben<br />

massenhaft Mitarbeiter:innen<br />

entlassen. Pandemie und Lockdowns<br />

sorgten für eine ungeheure<br />

Nachfrage, die jetzt wieder<br />

- auch aufgrund der Mega-Inflation<br />

- geringer wird. Unter dem<br />

Stichwort “downsizing” versteht<br />

man das Schrumpfen von Unternehmen,<br />

um noch profitabler<br />

zu werden. Wer sich darüber in<br />

unseren Breitengraden empört,<br />

möge aber auch daran denken:<br />

Die geteilten Netflix-Accounts,<br />

der Werbeblocker im Browser<br />

und am Handy sind auch Gründe,<br />

warum Menscentlassen werden<br />

müssen. Außerdem: Hire & Fire<br />

ist in den USA eine übliche Praxis,<br />

und nur uns in Europa erscheint<br />

es barbarisch - großteils werden<br />

den abgebauten Mitarbeiter:innen<br />

anständige “Packages” also Abfindungen<br />

mitgegeben.<br />

bezeczky@dasbiber.at<br />

paprikap0w3r<br />

EINE KI<br />

VERÄNDERT DIE WELT<br />

Mit ChatGPT ist eines der einflussreichsten<br />

Chatbots in aller Munde. Tatsächlich ist das<br />

Programm in der Lage, auf alle möglichen Fragen<br />

erstaunliche Antworten zu liefern. Schon<br />

liest man allerlei Nachrichten, die Welt würde<br />

von der KI übernommen werden. In Panik<br />

sollte man aber noch nicht verfallen: Momentan<br />

kann man Fehler, die die KI macht, noch<br />

leicht erkennen. Dennoch sollte bereits jetzt<br />

eine ernsthafte Diskussion darüber<br />

beginnen, wie wir mit einer extrem<br />

fortgeschrittenen KI in unserer<br />

Gesellschaft umgehen werden.<br />

GOLDENEYE FÜR<br />

SWITCH UND XBOX<br />

VERÖFFENTLICHT<br />

Apple<br />

schaltet<br />

geheime<br />

Funktion<br />

in Lautsprecher<br />

frei<br />

Bond ist zurück - das kultige Game<br />

von 1997 von der Nintendo 64<br />

Konsole hat es auch auf die aktuelle<br />

Konsolengeneration geschafft und ist bei Microsoft im Game Pass<br />

und auf Nintendo Switch Online bereits enthalten. Einfach ausprobieren<br />

und in Erinnerungen schwelgen oder mit Freunden neue<br />

Multiplayer-Erinnerungen schaffen!<br />

Überraschung! Apple hat<br />

per Software-Update bisher<br />

unbenutzte Sensoren bei<br />

den Apple HomePod Mini<br />

Lautsprechern freigeschaltet.<br />

Die Temperatur- und<br />

Luftfeuchtigkeitsfühler<br />

arbeiten mit Apples<br />

hauseigenem Smart Home<br />

“HomeKit” zusammen.<br />

Jetzt fragt sich alle Welt<br />

natürlich, in welchen Geräten<br />

wohl noch versteckte<br />

Features enthalten sind.<br />

© Marko Mestrovic, Apple Inc., unsplash.com / Antenna, Nintendo<br />

50 / TECHNIK /


Bezahlte Anzeige<br />

Spar ein daheim!<br />

12 Energiespar-Tipps für dein Zuhause.<br />

Schon mit kleinen Handgriffen und einfachen Änderungen<br />

im Alltag kannst du deinen Energieverbrauch deutlich senken.<br />

Das spart Geld und ist gut fürs Klima. Fang also gleich damit an!<br />

Alle 12 Energiespar-Tipps für deinen Haushalt findest du jetzt unter:<br />

wien.gv.at/energiesparen<br />

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KARRIERE & KOHLE<br />

Para gut, alles gut<br />

Von Šemsa Salioski<br />

MEINUNG<br />

Unser Bildungssystem ist<br />

wie ein toxischer Ex, der<br />

"sich ja eh ändern will".<br />

Ende Jänner bemerke ich, dass viele<br />

Prüfungen, anders als in den letzten<br />

Pandemiejahren, weder online noch<br />

im Open-Book-Format stattfinden. Bei<br />

einer LV zum breit gefächerten Thema<br />

Migration hat mich Letzteres besonders<br />

gestört, da diese sich eigentlich hervorragend<br />

als Open-Book-Prüfung geeignet<br />

hätte. Leider war das Auswendiglernen<br />

der 20 Texte voller Namen und Jahreszahlen,<br />

wie schon so oft, das Ziel. Noch<br />

absurder machen das aktuelle Schlagzeilen<br />

wie “ChatGPT hat Abschlussprüfung<br />

an Elite-Uni geschafft“, die eine<br />

Diskussion über veraltete Lehrmethoden<br />

losgetreten haben. Zugegeben, anfangs<br />

wurden Open-Book-Prüfungsformate<br />

kritisiert, weil die Fragen wegen erlaubter<br />

Hilfsmittel komplexer waren. Nach<br />

der Umgewöhnungsphase wurde aber<br />

klar, dass sie dem Zeitgeist besser<br />

entsprechen, da wir in einer Welt der<br />

unendlichen Recherchemöglichkeiten<br />

leben. Aufgaben im Berufsleben sind im<br />

Grunde Open-Book-Prüfungen, in denen<br />

man Wissen anwenden und Zusammenhänge<br />

herstellen muss, statt Fakten zu<br />

reproduzieren. Und trotzdemb bleiben<br />

reguläre Prüfungsmethoden die Norm.<br />

Die Welt verändert sich eben und unser<br />

Bildungssystem scheint nicht Schritt<br />

halten zu können.<br />

salioski@dasbiber.at<br />

FOMO („FEAR OF MISSING OUT“)<br />

WAR GESTERN!<br />

Dich zieht es auf die Uni, Fachhochschule<br />

oder auf‘s Kolleg, aber du hast noch keine<br />

Matura? Keine Panik hier – die VHS got<br />

your back! Mit der Berufsreife- oder Studienberechtigungsprüfung<br />

qualifizierst du<br />

dich für den weiteren Bildungsweg. Für die<br />

Berufsreifeprüfung (BRP) musst du keine<br />

besonderen Voraussetzungen mitbringen,<br />

außer deine Motivation. Anders als bei der<br />

der Studienberechtigungsprüfung (SBP)<br />

– hier musst du einen Nachweis einer<br />

beruflichen oder außerberuflichen Vorbildung<br />

sowie ein Mindestalter vorweisen.<br />

Alle Infos findest du aber unter<br />

www.vhs.at/de/info/brp sowie www.vhs.<br />

at/de/info/sbp.<br />

„SCI-HUB“<br />

Die Schattenbibliothek,<br />

die ihr natürlich<br />

nieeeemals nutzen dürft.<br />

Unter dem Motto „knowledge belongs to all<br />

mankind“ hat Alexandra Elbakyan aus Kasachstan<br />

„Sci-Hub“ 2011 ins Leben gerufen.<br />

Ziel ist es, den kostenfreien Zugang zu allen<br />

existierenden wissenschaftlichen Zeitschriften<br />

und Büchern zu ermöglichen. Urheberrechte<br />

werden damit natürlich ignoriert. Um<br />

zur gewünschten Publikation zu gelangen,<br />

muss man nur die DOI (Digital Object Identifier<br />

– eine digitale Signatur, die direkt mit<br />

einem Text verbunden ist) eingeben und hat<br />

den Volltext sofort auf dem Bildschirm. Und<br />

jetzt bloß nicht den folgenden Link im Netz<br />

suchen: sci-hub.ru/<br />

Die AK<br />

schafft Fakten:<br />

Literatur und<br />

Beratung für Studis<br />

Ab April bietet die AK Wien<br />

in der faktory direkt neben<br />

dem NIG kostenlos Service,<br />

Infos und Beratung für<br />

Studierende an. Praktisch:<br />

Gleich daneben gibt’ in der<br />

faktory-Buchhandlung bei<br />

einem guten Kaffee auch die<br />

passende Fachliteratur fürs<br />

Studium zu kaufen.<br />

Kennt ihr schon<br />

„Migrapreneur“?<br />

Das Unternehmen wurde von<br />

Ana Alvarez gegründet und<br />

arbeitet mit Migrant:innen<br />

aus Deutschland, Österreich<br />

und der Schweiz zusammen.<br />

Ana selbst ist vor sieben<br />

Jahren alleine von Costa<br />

Rica nach Deutschland<br />

gekommen und hat trotz<br />

über 200 Bewerbungen keine<br />

fixe Anstellung bekommen.<br />

Nun unterstützen sie und<br />

ihr Team andere bei ihrem<br />

Neustart, durch Beratung,<br />

Netzwerkbildung und finanziellen<br />

Förderungsmöglichkeiten.<br />

Ihre Spezialgebiete sind<br />

finanzielle Allgemeinbildung,<br />

finanzielle Inklusion, Unternehmertum,<br />

Diversität &<br />

Inklusion, Migrationsthemen,<br />

Digitalisierung und Governance.<br />

Mehr Infos unter:<br />

migrapreneur.org<br />

© Zoe Opratko, unsplash.com, Migrapreneur<br />

52 / KARRIERE /


DIE LEHRLINGE DER SPAR-AKADEMIE UND<br />

DER ÖSTERREICHISCHEN<br />

BUNDESGÄRTEN PRÄSENTIEREN DIE<br />

AUSSTELLUNG<br />

Exotische<br />

P F L A N Z E N<br />

UND FRÜCHTE<br />

11. – 19. MÄRZ 20<strong>23</strong><br />

UNSERE<br />

LEHRLINGE<br />

RÄSENTIEREN!<br />

GROSSES PALMENHAUS SCHÖNBRUNN<br />

Infos zur<br />

Veranstaltung<br />

PRÄSENTATIONEN &<br />

VERKOSTUNGEN:<br />

täglich, 10:00 – 12:00 Uhr<br />

und 13:00 – 15:00 Uhr<br />

Diese Sonderausstellung ist<br />

zu den normalen Eintrittspreisen<br />

zu besichtigen.<br />

ÖFFNUNGSZEITEN:<br />

10:00 – 16:30 Uhr<br />

UNSERE<br />

LEHRLINGE<br />

ZEIGEN WAS<br />

SIE KÖNNEN!<br />

Weitere Infos zur Veranstaltung:<br />

spar.at/regionales/wien/<br />

exotische-pflanzenundfruechte<br />

EINTRITTSPREISE:<br />

€ 8,– (€ 5,– ermäßigt)


Selbermacherin<br />

„Mein Ziel ist es,<br />

dass mein Lokal ein<br />

traditionsreiches<br />

Familienrestaurant<br />

wird, das ich auch an<br />

die nächste Generation<br />

weitergeben kann.“<br />

Gehobenes Flair und<br />

moderne chinesische<br />

Küche: Bei „One<br />

Night in Beijing“<br />

schlägt das Gourmet-<br />

Herz gleich höher.<br />

Von Nada El-Azar-Chekh,<br />

Fotos: Zoe Opratko<br />

Direkt am Nußdorfer Platz kann<br />

man in Wien authentische und<br />

moderne chinesische Küche in<br />

einem geschmackvollen Ambiente genießen:<br />

Wir befinden uns im Lokal „One Night<br />

in Beijing“, das im Dezember 2018 von der<br />

Wiener Unternehmerin Weny Sun eröffnet<br />

wurde. „Wir legen hier großen Wert auf<br />

guten Service, was es in vielen Chinarestaurants<br />

nicht gibt. Oft setzt man eher auf<br />

die Quantität, mit Buffets oder All-You-Can-<br />

Eat-Konzepten“, verrät sie. Insgesamt 15<br />

Mitarbeiter:innen sorgen für das Wohl ihrer<br />

Gäste. „In der westlichen Küche gibt es<br />

stets einen Küchenchef und viele Küchenhilfen.<br />

Nicht so bei uns. Wie in China, hat<br />

jede Station ihren Meister: Wir haben einen<br />

Sushi-Meister, einen Enten-Meister, einen<br />

Wok-Meister, und so weiter“, erklärt die<br />

Unternehmerin.<br />

Kulinarische<br />

Reise nach<br />

Beijing<br />

HIGHLIGHT PEKING-ENTE<br />

Absolute Spezialität des Hauses ist die<br />

Pekingente, die auf der Karte als Signature<br />

Dish geführt wird. Die Pekingente ist<br />

zwar eines der bekanntesten Gerichte in<br />

der chinesischen Küche, aber aufgrund<br />

ihrer komplexen Zubereitung in Wien kaum<br />

zu finden. Die Pekingente wird in einem<br />

24-stündigen Prozess mariniert und eingelegt,<br />

dann wird mit einem Kompressor<br />

die Haut aufgeblasen, sodass sie sich vom<br />

Fleisch löst, und anschließend getrocknet,<br />

und dann mit heißem Öl übergossen, bis die<br />

Haut knusprig wird.<br />

Weny Sun kam mit ihrer Familie im Alter<br />

von sechs Jahren nach Wien und wuchs –<br />

wie viele Chinesinnen und Chinesen – im<br />

Restaurant ihrer Eltern auf. Mit 18 Jahren<br />

machte sie sich selbstständig und führt seither<br />

verschiedene Unternehmen, wie etwa<br />

auch die Miss Moda Boutique in der Wiener<br />

54 / KARRIERE /


Lugner City. „Dieses Lokal hier ist aber mein<br />

Baby“, so die Gastronomin. Die Liebe zum<br />

Detail macht sich belohnt: Im Jahr 2021<br />

wurde „One Night in Beijing“ unter anderem<br />

vom Restaurantguide Gault-Millau mit einer<br />

Haube ausgezeichnet.<br />

Sonntags wird ein Brunch-Buffet<br />

angeboten, wo es neben der Reissuppe<br />

Congee – die in China typisch zum Frühstück<br />

gegessen wird – auch Dim Sum und<br />

Maki-Kreationen nach Art des Hauses gibt.<br />

Einmal im Monat wird auch ein künstlerischer<br />

Themenabend veranstaltet. „Wir<br />

haben schon chinesisches Neujahr mit<br />

Tänzerinnen und Masken hier gefeiert, oder<br />

auch eine Modenschau veranstaltet. Im<br />

Vordergrund steht aber immer die Kulinarik,<br />

sodass unsere Gäste ihr Essen neben<br />

der Unterhaltung genießen können“, so die<br />

zweifache Mutter Sun.<br />

FAMILIENBETRIEB VON MORGEN<br />

Ganz so wie in China zu speisen, funktioniert<br />

in Österreich aber nicht ganz. „In<br />

China essen Leute zu zehnt und sitzen an<br />

einem runden Tisch. Alle Speisen werden<br />

dabei miteinander geteilt, sodass nicht<br />

eine einzige Person einen ganzen Fisch<br />

oder einen Teller Gemüse alleine isst. Hier<br />

kommen Gäste aber eher zu einem romantischen<br />

Dinner zu zweit, daher haben wir die<br />

Gerichte so angepasst, dass Beilagen immer<br />

dabei sind und die Portionen bewältigbar<br />

sind“, erklärt Sun. Wer hierher zum Speisen<br />

kommt, sollte zudem unbedingt das fluffige<br />

Matcha-Tiramisu mit Grüntee probieren.<br />

One Night in Beijing<br />

Nußdorfer Platz 8, 1190 Wien<br />

Beim köstlichen Peking-Entenmenü dürfen<br />

gedämpfte Reisfladen, Porree, Mango,<br />

Jungzwiebel und Hoisin-Sauce nicht fehlen.<br />

WKO-WIEN HILFT<br />

Im Gründerservice der<br />

WKO-Wien kann man bei<br />

einem Beratungsgespräch<br />

alle Fragen stellen, die die<br />

Gründung eines Unternehmens<br />

betreffen. Im Vorhinein<br />

kann man sich auch<br />

schon eigenständig online<br />

informieren. Ob generelle<br />

Tipps zur Selbstständigkeit,<br />

rechtliche Voraussetzungen,<br />

Amtswege oder<br />

Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten:<br />

Auf<br />

der Website kommt man<br />

mit wenigen Klicks zu allen<br />

wichtigen Informationen.<br />

wko.at/wien<br />

www.gruenderservice.at<br />

Die Selbermacher-Serie ist<br />

eine redaktionelle Kooperation<br />

von das biber mit der<br />

Wirtschaftskammer Wien.<br />

© Halfpoint/stock.adobe.com<br />

Online informieren!<br />

W www.gruenderservice.at<br />

VON DER IDEE<br />

BIS ZUR GRÜNDUNG<br />

» GRUENDERSERVICE.AT<br />

Basis-Informationen und Tools zur Gründung<br />

finden Sie auf unserer Webseite.


WOHIN AUF<br />

DER BEST³<br />

MESSE?<br />

Was soll aus mir werden? Studium, Lehre,<br />

oder doch gleich rein in das Jobleben?<br />

Auf der BeSt 3 Messe hat man die Qual<br />

der Wahl: Interessierte jeden Alters<br />

können hier in jeden Berufssektor<br />

oder Studiengang reinschnuppern.<br />

Für Uni-Interessierte ist hier<br />

genauso viel zu finden,<br />

wie für angehende<br />

Facharbeiter:innen. Wir<br />

geben euch einen Überblick.<br />

Von Layla Ahmed<br />

WO: Wiener Stadthalle, Roland-<br />

Rainer-Platz 1, 1150 Wien<br />

WANN: Donnerstag, 02.<strong>03</strong>.20<strong>23</strong> bis<br />

Sonntag, 05.<strong>03</strong>.20<strong>23</strong>. Geöffnet ist<br />

am Donnerstag, Freitag und Samstag<br />

jeweils von 9 bis 18 Uhr und am<br />

Sonntag von 9 bis 17 Uhr.<br />

WIE: Der Eintritt ist frei<br />

FÜR WEN: Schüler:innen, Auszubildende,<br />

Studierende, Eltern<br />

von ebendiesen, Lehrkräfte und<br />

Schulabbrecher:innen die sich weiterbilden<br />

möchten.<br />

WAS: Die BeSt³ Messe informiert<br />

über Beruf, Weiterbildung und Studium<br />

in den verschiedensten Bereichen.<br />

Um die 340 Aussteller bieten<br />

jede Menge Angebote an, die Fragen<br />

beantworten und Interessierte<br />

informieren sollen. Es gibt Vorträge,<br />

Workshops, Anregungen zur Berufsund<br />

Studienwahl sowie Einblicke in<br />

aktuelle Bildungsthemen.<br />

Mehr Infos findest du hier:<br />

www.bestinfo.at<br />

WORK-<br />

SHOP<br />

TIPPS:<br />

→ WIE FINDE ICH MEIN<br />

STUDIUM?<br />

Donnerstag 2.3. 11:00 Uhr<br />

Freitag 3.3. 11:00 Uhr<br />

Samstag 4.3. 11:00 Uhr<br />

Sonntag 5.3. 12:15 Uhr<br />

Hier bekommst du von der ÖH Studienvertretung<br />

Tipps, welcher Studiengang am<br />

besten zu dir passt.<br />

→ WELCHE BILDUNGSCHANCEN HAST<br />

DU GEERBT?<br />

Freitag 3.3. 12:15 Uhr<br />

Assal Badiyi von Teach For Austria erklärt<br />

dir, wie du deinen Lebensweg ändern<br />

kannst.<br />

→ TRAUMJOB? JOURNALISMUS!<br />

Donnerstag 2.3. 14:45 Uhr<br />

Sonntag 5.3. 14:45 Uhr<br />

Die Journalisten Erich Kocina und Michael<br />

Köttritsch von „Die Presse“ geben Einblicke<br />

in das Leben als Journalist: in, beantworten<br />

Fragen zu Ausbildung, Jobchancen und<br />

Berufsalltag.<br />

56 / MIT SCHARF /


EIN BOT, DER (BALD) ALLES KANN?<br />

„Kannst du mit mir Spanisch üben?“, „Ich habe folgenden Code geschrieben. Wo ist der Fehler?“,<br />

„Kannst du mir einen Essay zum Thema Feminismus schreiben?“ – All das sind Fragen, die das<br />

Programm ChatGPT in sekundenschnelle beantworten kann. Beängstigend und cool zugleich.<br />

Von Malina Köhn<br />

Auf TikTok wird versprochen, dass<br />

Hausaufgaben ab sofort mit Hilfe von<br />

ChatGPT in Sekunden erledigt sind.<br />

Das Schockierende: Es stimmt. Auch<br />

das Jura-Examen der Universität von<br />

Minnesota in den USA hat der Chatbot<br />

bestanden. Wer glaubt, alle Studierenden<br />

oder Schüler:innen würden nun mit<br />

Hilfe des Bots immer den gleichen Text<br />

abgeben, der liegt falsch. ChatGPT liefert<br />

verschiedene Fließtexte auf die gleiche<br />

Frage, Plagiate werden so also vermieden<br />

bzw. können nicht überprüft werden.<br />

Nun stellt sich die Frage, wie werden<br />

Lehranstalten in Zukunft mit ChatGPT<br />

und anderen KIs umgehen?<br />

Von der künstlichen Intelligenz<br />

ChatGPT dürfte inzwischen wohl jede:r<br />

gehört haben. Die Medien überschlagen<br />

sich förmlich vor Aufregung und auch<br />

in den Universitäten und Schulen ist der<br />

Chatbot in aller Munde. Die Anwendung<br />

mit ChatGPT ist simpel. Man tippt einfach<br />

eine Aufgabe oder eine Frage ein und die<br />

künstliche Intelligenz löst bzw. beantwortet<br />

diese blitzschnell. Dies gelingt, da das<br />

Programm Zugriff auf alle öffentlichen<br />

Datenbanken hat. Es geht jedoch auch<br />

andersherum. In einem Selbstversuch<br />

habe ich das ChatGPT gefragt, ob es mit<br />

mir Spanisch üben kann, und es lieferte<br />

mir prompt einige Fragen zum Üben,<br />

die ich auf Spanisch beantworten sollte.<br />

Essays für die Uni, komplizierte Rechenaufgaben,<br />

Codes zum Programmieren,<br />

Recherche und einiges mehr sind dank<br />

dieses Programms in Sekunden bis wenigen<br />

Minuten erledigt. Cool und unheimlich<br />

zugleich. Wieviele Berufe werden<br />

dadurch in Zukunft überflüssig?<br />

DARIN IST DER MENSCH JEDOCH<br />

(NOCH) ÜBERLEGEN<br />

In einigen Punkten ist der Mensch dem<br />

Chatbot jedoch überlegen – zumindest<br />

jetzt noch. Zum einen liefert ChatGPT<br />

keine Quellen, was sich jedoch in Zukunft<br />

natürlich noch ändern könnte. Die Richtigkeit<br />

der Angaben, die ChatGPT liefert,<br />

kann momentan folglich nicht überprüft<br />

werden. Es bleibt abzuwarten ob und<br />

wann sich diese Tatsache ändern wird<br />

und wie Konkurrenzunternehmen wie<br />

beispielsweise Google, die ihre neue KI<br />

„Bard“ bald öffentlich zugänglich machen<br />

wollen, dies lösen. Zum anderen sind<br />

die Texte sehr herzlos, eben maschinell<br />

und ohne Kreativität oder eigenem Stil<br />

geschrieben, was hoffen lässt, dass das<br />

Texten von Menschen für Menschen<br />

nicht gänzlich schwinden wird. ●<br />

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Lust auf eine gratis<br />

Stadtrallye durch Wien?<br />

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entdecke die Geschichte der<br />

Wiener IT ganz neu!<br />

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Auf Nummer sicher gehen –<br />

mit einem Job in der IT!<br />

Mit einer Ausbildung in der IT am Puls<br />

der Zeit sein und perfekte Jobchancen<br />

wahren. Das Berufsfeld entwickelt<br />

sich laufend weiter. Rund 24.000 IT-<br />

Fachkräfte werden aktuell in Österreich<br />

gesucht.<br />

Wie einsteigen? Es gibt verschiedene<br />

Wege für Interessierte, in die IT zu<br />

kommen. Ob über eine Lehrausbildung<br />

zum App-Entwickler, zum System- oder<br />

Betriebstechniker. Oder den Besuch<br />

einer HTL mit Informatik-Schwerpunkt.<br />

Oder die Entscheidung für ein<br />

IT-Studium an einer Fachhochschule<br />

oder Uni. Eine Ausbildungsdatenbank<br />

mit Übersicht zu IT-Ausbildungen in<br />

Österreich entsteht gerade. Mehr Infos<br />

unter https://it-ausbildung.wien/<br />

Was macht IT? Heute ist alles vernetzt!<br />

IT-Fachkräfte sind Schnittstellen. Es<br />

geht um Hard- und Software und auch<br />

um Sicherheit – IT-Security, also um<br />

Maßnahmen, um Daten vor Cyber-<br />

Angriffen zu schützen. Dazu kommen<br />

weiters Big Data & Cloud Computing:<br />

IT-Fachkräfte sind Träger dieser<br />

Zukunftstechnologien.<br />

IT-Jobs für Mädchen? Ja sicher! Die<br />

Flexibilität und vielen Arbeitsbereiche<br />

der IT-Branche bieten für Mädchen<br />

gute Berufsaussichten – und bei<br />

entsprechender Weiterbildung auch<br />

spannende Aufstiegschancen.


KULTURA NEWS<br />

Klappe zu und Vorhang auf!<br />

Von Nada El-Azar-Chekh<br />

MEINUNG<br />

Schluss mit<br />

den Biopics!<br />

Marilyn Monroe, Elvis Presley, Freddie<br />

Mercury, Amy Winehouse, Robert<br />

Oppenheimer, Whitney Houston und<br />

selbst die Kaiserin Sisi hat man nicht<br />

ruhen lassen: Das sind alles nur einige<br />

Persönlichkeiten, denen in den letzten<br />

Jahren fulminante Filmbiografien<br />

gewidmet wurden, bzw. die uns noch<br />

bevorstehen. Der Grund dafür, dass<br />

immer mehr Biopics im Blockbusterformat<br />

unsere Kinoprogramme fluten,<br />

liegt dabei auf der Hand: Für die Produktionsfirmen<br />

geht man hier inhaltlich<br />

(und finanziell) auf „Nummer sicher“<br />

und für die Hauptdarsteller:innen winkt<br />

auch oft der eine oder andere Golden<br />

Globe oder Oscar für ihre angeblich<br />

lebensverändernde Performance. Eine<br />

runde Sache, oder nicht? Doch ich<br />

bin offen und ehrlich: Ich kann keine<br />

Biopics mehr sehen – okay, ich mache<br />

eine Ausnahme für „Oppenheimer“,<br />

doch das liegt alleine am Hauptdarsteller<br />

Cillian Murphy. Wo sind all<br />

die neuen, aufregenden Storys hin,<br />

welche die Kinobesucher inspirieren<br />

und welche Geschichten erzählen, die<br />

zum Träumen veranlassen? Ich warte<br />

sehnsüchtig auf originelle Drehbücher<br />

und neue Perspektiven. Ihr auch?<br />

el-azar@dasbiber.at<br />

Ausstellungstipp:<br />

THE FEST<br />

Die Ausstellung „The Fest“<br />

untersucht das Feiern quer<br />

durch Kultur und Kunst: vom<br />

Maskenball bis zum Rave. Die<br />

große Festschau an rauschenden<br />

Abenden, politischen<br />

Straßenfesten, ausgefallenen<br />

Outfits, knallenden Korken,<br />

Exzessen und Feuerwerken<br />

wird von einem breiten Programm<br />

mit Führungen, Talks<br />

und Workshops begleitet.<br />

Bis 7. Mai 20<strong>23</strong> im<br />

MAK zu sehen.<br />

Non-Stop<br />

Kino!<br />

Mit dem neuen Kino-Abo können<br />

z. B. alle unter 26 Jahre für nur<br />

22 Euro im Monat österreichweit<br />

Vorstellungen in 18 Programmkinos<br />

erleben – ganz ähnlich wie bei<br />

einem Abo bei einem Streamingdienst.<br />

Nach dem Abostart am<br />

9. März bekommt man mit einer<br />

Mitgliedskarte an der Kinokassa eine<br />

Freikarte. Mit diesem Projekt sollen<br />

heimische Kinos nach der Coronapandemie<br />

unterstützt<br />

werden.<br />

Alle Informationen<br />

zum Kino-Abo<br />

findest du hier:<br />

Buchtipp:<br />

Identitti<br />

Mithu Sanyals Debütroman handelt<br />

von der jungen Studentin Nivedita<br />

Anand, die „Intercultural Studies“<br />

in Düsseldorf studiert und die PoC-<br />

Professorin Saraswati, eine führende<br />

Expertin auf dem Gebiet des Rassismus,<br />

regelrecht vergöttert. Nivedita,<br />

die selbst indisch-deutscher Herkunft<br />

ist, hat in Professor Saraswati eine<br />

Vorbildfigur gefunden – bis sich herausstellt,<br />

dass sie gar keine Person of<br />

Color ist, sondern sich nur zu dieser<br />

Identität hingezogen fühlt. Ein witziger<br />

Roman, der auch viel Autobiografisches<br />

verarbeitet.<br />

„Identitti“ von Mithu Sanyal,<br />

Hanser Verlag, 432 Seiten, 22 Euro<br />

(Hardcover)<br />

© Zoe Opratko, A. & A. Ostier, Minitta Kandlbauer, Hanser Literaturverlage<br />

58 / KULTURA /


© Schande<br />

3 FRAGEN AN…<br />

SEBA KAYAN<br />

Seba Kayan ist eine DJ mit kurdischen<br />

Wurzeln aus Wien, die in ihren Performances<br />

orientalische Klänge mit<br />

Technobeats neu denkt. Bekannt ist sie<br />

auch für ihre „Carpet Concerts“, die<br />

regelmäßig stattfinden.<br />

<strong>BIBER</strong>: In deinen DJ-Sets verbindest du orientalische Musik mit<br />

Techno - warum holt das auch so viele Menschen ab, die selbst<br />

nicht mit dieser Musik aufgewachsen sind?<br />

SEBA KAYAN: Ich<br />

denke, dass die Kombination<br />

von „orientalischer“<br />

Musik mit<br />

Techno, abseits von<br />

der klassischen westlichen<br />

Zwölftonmusik<br />

Leute anders abholt,<br />

weil beispielsweise die<br />

typisch orientalischen<br />

Maqams – also Melodien,<br />

die auf dem arabischen<br />

Tonsystem basieren –<br />

und Vocals nicht in der<br />

europäischen Musik zu<br />

finden sind. Durch elektronische<br />

Musik verliert<br />

es den sogenannten<br />

folkloristischen Aspekt,<br />

erhält einen neuen Vibe<br />

und wird neu kontextualisiert.<br />

Technobeats<br />

sind den Wiener*innen<br />

ja bekannt, und somit lege ich ihnen einen Teppich, den sie<br />

kennen und auf dem sie sich wohl fühlen.<br />

Inwiefern betreibst du mit deiner Musik Aktivismus?<br />

Ich sehe „Oriental Techno“ auch konzeptuell. Es geht hier<br />

auch darum wie der sogenannte „Orient“ und „orientalische“<br />

Musik aus einer eurozentristischen Perspektive wahrgenommen<br />

wird. Ein neues Narrativ soll erzählt werden, welches das<br />

gewiss verzerrte und stereotype Bild des „Orients“ hinterfragt,<br />

und zu dekonstruieren versucht. Es ist auch eine Soundsuche,<br />

die ja auch zu meiner eigenen Heritage führt, denn Identitäten<br />

sind fluid, wie meine auch. Zusätzlich verwende ich<br />

Sampling als Tool um politische Themen in meinen Sets zu<br />

thematisieren, hör- und spürbar zu machen.<br />

Was ist deine musikalische „Guilty Pleasure“?<br />

In der Musik gibt es keine Guilty Pleasure bei mir, weil ich<br />

von jeder Musikrichtung etwas mitnehmen kann. Alles geht,<br />

querbeet sozusagen. Aber meine (guilty) Pleasures gehen von<br />

Britney bis Balkan.<br />

Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

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SEPTEMBER<br />

2022<br />

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HEINZ FISCHER SPIELT<br />

FUSSBALL<br />

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VERSUCHSKANINCHEN<br />

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WIENS VERGESSENE JUGEND<br />

OKTOBER<br />

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IRANISCHE<br />

REVOLUTION IN WIEN<br />

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HÄUPL IN ZAHLEN<br />

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LIEBE ZU DRITT<br />

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2022<br />

NEWCOMER<br />

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GLATTAUER IN ZAHLEN<br />

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GASTRO IN DER KRISE<br />

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BEIRUT IM DUNKELN<br />

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Sache ist nämlich: DU entscheidest, wie<br />

viel das kosten soll.<br />

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Which Side<br />

Are You On?<br />

Rajkamal Kahlons große Schau<br />

in der Kunsthalle Wien im<br />

Museumsquartier verbindet<br />

oftmals Schreckliches mit<br />

Schönem: Wie mit gekonnten<br />

Pinselstrichen unsere Perspektive<br />

herausgefordert werden kann.<br />

Von Nada El-Azar-Chekh<br />

Jeden Sonntag um 16 Uhr<br />

gibt es mit gültigem Ticket<br />

eine kostenlose Führung<br />

durch die Ausstellung.<br />

Noch bis 9. April 20<strong>23</strong><br />

in der Kunsthalle Wien<br />

Museumsquartier zu sehen.<br />

Die US-amerikanische Künstlerin Rajkamal<br />

Kahlon zeigt die Grausamkeiten des<br />

Kolonialismus in all ihren Facetten: In<br />

ihren Werken verwandelt sie ethnografische<br />

Bücher aus dem 19. Jahrhundert<br />

in Panoramen der kolonialen Gewalt:<br />

Abgetrennte Gliedmaßen, Verstümmelungen<br />

und Bandagen sind wiederkehrende<br />

Motive, welche die Position der<br />

Betrachter*innen hinterfragen sollen.<br />

Kahlon, die in Berlin lebt und arbeitet,<br />

verbindet nicht selten dabei Schreckliches<br />

mit Schönem: So können auch<br />

Eingeweide kunstvoll drapiert sein und<br />

Wunden in satten Rot- und Pinktönen<br />

strahlen. Ausgebeutete und exotisierte<br />

Bewohner*innen ferner Länder bekommen<br />

mit moderner Kleidung und mit<br />

Waffen ein Stück Handlungsfähigkeit und<br />

Würde zurück.<br />

UNSICHTBARE VERBINDUNGEN<br />

AUFZEIGEN<br />

Nicht umsonst trägt die große Einzelschau<br />

in der Kunsthalle Wien Museumsquartier,<br />

die Arbeiten aus über<br />

zwanzigjähriger Praxis zeigt, den Titel:<br />

„Which Side Are You On?“ Welche<br />

rassistischen Publikationen nehmen wir<br />

heute immer noch als wissenschaftlich<br />

hin? Wie viel politische Gewalt steckt in<br />

unseren Archiven? Und welche Verbindungen<br />

lassen sich zwischen dieser<br />

Geschichte und den Diskriminierungen<br />

von Bevölkerungsgruppen in der heutigen<br />

Zeit spannen? All diese Fragen wirft<br />

die Kunst von Rajkamal Kahlon auf, in der<br />

Malerei gerne auch mit Fotografie oder<br />

mit Skulptur kombiniert wird.<br />

© Rajkamal Kahlon<br />

60 / KULTURA /


WAS GIBT’S NEUES AM BALKAN?<br />

Von Dennis Miskić<br />

MEIN OPA, DER PIONIER.<br />

„Dein Dedo war der erste Gastarbeiter in Österreich!“,<br />

hat meine Oma immer mit funkelnden<br />

Augen erzählt. Mein Großvater war natürlich<br />

nicht der erste Gastarbeiter in Österreich, aber<br />

einer der ersten aus unserer Heimatstadt. Er<br />

hat sich dazu entschieden, sein Zuhause, seine<br />

Familie und all das, was er sich über die Jahrzehnte<br />

aufgebaut hatte, zurückzulassen und<br />

in ein fremdes Land zu gehen. Diese Reise ins<br />

Fremde war nicht nur mutig und riskant, sondern<br />

hat auch das Fundament für die nächsten<br />

Generationen unserer Familie gelegt.<br />

Genau deshalb war er immer<br />

viel mehr als nur ein „Gastarbeiter“.<br />

Er war ein Pionier. Ein Vorreiter.<br />

Jemand, der seine Heimat verlässt<br />

und sich auf die Reise ins Unbekannte<br />

begibt, um ein neues Leben, eine<br />

neue Heimat aufzubauen. Nicht wissend,<br />

wie ihn das Unbekannte, das<br />

Fremde, aufnehmen wird.<br />

IHR HABT UNS GERUFEN,<br />

WIR SIND GEBLIEBEN<br />

Wie kann ich ihn in Anbetracht all dessen als<br />

Gastarbeiter bezeichnen? Ein Wort, das in seinem<br />

Wesen negativ konnotiert ist. Ein Wort, das<br />

suggeriert, dass mein Opa nur ein „Gast“ war.<br />

Ein Gast, der sich bitte so schnell wie möglich<br />

wieder dorthin schleicht, „von wo er hergekommen<br />

ist“. Ein Arbeiter, der sich die Hände<br />

schmutzig macht und anpackt, Wien wieder<br />

mit aufzubauen. Österreich wollte Arbeitskraft.<br />

Haben sie sich Menschen erwartet? Österreichische<br />

Politiker sprechen heute davon, dass<br />

Kolumnist Dennis Miskić<br />

hat seinen Auslandsdienst<br />

in Srebrenica<br />

geleistet und engagiert<br />

sich in verschiedenen<br />

NGOs zum Thema Westbalkan<br />

und Migrationspolitik.<br />

In seiner Kolumne<br />

hält er euch über Politisches<br />

& Kulturelles vom<br />

Balkan am Laufenden.<br />

ohne den Migranten Wien noch Wien geblieben<br />

wäre. Ernsthaft? Wer hätte euch unter solchen<br />

Lebensumständen die Büros und Straßen<br />

gebaut? Ihr habt uns gerufen. Wir sind geblieben.<br />

In Österreich ist mein Opa nicht geblieben.<br />

Nach einer Verletzung auf der Baustelle ist er in<br />

seine Heimat, in das Bekannte, zurückgegangen<br />

und auch dort an den Folgen dieser Verletzung<br />

gestorben. Erinnerungen an ihn habe ich nicht.<br />

Ich sehe lediglich die alten Bilder, in denen er<br />

mich in seinen Armen hält.<br />

Dafür lausche ich umso aufmerksamer,<br />

wenn bei unseren Familienfesten<br />

Erzählungen über meinen Opa<br />

durch die Runde gehen und entdecke<br />

stückweise meine eigene Identität<br />

in den Geschichten über ihn. Über<br />

meinen Opa, den Pionier.<br />

Ich habe es mir zur Gewohnheit<br />

gemacht, das Grab meiner Großeltern<br />

in Bosnien zu besuchen. Jedes Mal,<br />

wenn ich vor ihrem Doppelgrab stehe, erinnere<br />

ich mich an den Stolz meiner Großmutter und<br />

den Mut meines Großvaters. Und ich kann nicht<br />

anders als zusammenzubrechen und zu weinen.<br />

Tränen, weil ich es bedauere, ihn nicht gekannt<br />

zu haben. Nie die Möglichkeit hatte, mich mit<br />

ihm über das Leben auszutauschen. Aber eines<br />

habe ich mir und ihnen versprochen: Seinen<br />

Mut, seine Opferbereitschaft und sein Durchhaltevermögen<br />

immer in mir und weiter zu tragen.<br />

Das Versprechen, meine Oma mit dem gleichen<br />

Stolz zu erfüllen, wie sie der Stolz über meinen<br />

Opa erfüllt hat. ●<br />

© Zoe Opratko<br />

/ MIT SCHARF / 61


DER QUOTEN-ALMANCI<br />

ALLE WEGE FÜHREN RAUS AUS WIEN<br />

Von Özben Önal<br />

Für diejenigen, die sich zurecht nicht<br />

trauen zu fragen: Ja, mein Name ist<br />

Özben Önal und ich bin mehr „Alman“<br />

als ich manchmal zugeben mag. Und<br />

ich spreche dabei nicht nur von meinem<br />

fast zwanghaften Drang, pünktlich<br />

zu sein und dem innerlichen Stress,<br />

dem ich ausgesetzt bin, wenn ich meinen<br />

Zeitplan nicht einhalten kann. Aber eben nicht<br />

nur „Alman“. In der Türkei, in der ich immer<br />

noch jedes Jahr meine Familie und Freund:innen<br />

besuche, bin ich ein „almanci“. Eine in Deutschland<br />

lebende Person mit türkischen<br />

Wurzeln, die sich Gebräuche und<br />

Verhaltensweisen der deutschen<br />

Gesellschaft angeeignet hat. Das<br />

bedeutet konkret, ich gebe mir größte<br />

Mühe, meinen Akzent im Türkischen<br />

zu verstecken, wenn ich frage „Abi,<br />

wie viel?“ und zahle auf dem Bazaar<br />

trotzdem den vierfachen Preis.<br />

VON DER QUOTENTÜRKIN<br />

ZUR QUOTENALMANCI<br />

Nachdem ich mich meine gesamte<br />

Jugend über in einer mehrheitlich<br />

weißen Kleinstadt in Nordrhein-<br />

Westfalen unfreiwillig als die Quotentürkin<br />

behauptete, bin ich nun mehr<br />

als freiwillig der Quoten-Almanci<br />

und Piefke in einer österreichischen<br />

Redaktion. Das heißt aber nicht, dass<br />

ich euch in Zukunft ausschließlich<br />

darüber informiere, was im geliebten<br />

(ehemaligen) Nachbarland so vor sich<br />

geht – ich werde auch über verschiedene<br />

gesellschaftliche und politische Konstrukte<br />

sowie zwischenmenschliche Phänomene lästern<br />

und mich voranging auf mein „Anderssein“<br />

berufen, indem ich über das Leben mit doppelter<br />

Identität spreche. Es wird also eine bunte<br />

Mischung – lasst euch positiv überraschen oder<br />

eben enttäuschen.<br />

Einen kleinen Haken gibt es bei der<br />

Sache allerdings – ich werde aus der<br />

Stadt wegziehen, die ich nun knapp<br />

zweieinhalb Jahre mein Zuhause<br />

genannt habe. Ich weiß, ich weiß. Wie<br />

komme ich auf die Idee, das Gras könne<br />

irgendwo grüner sein als in der „lebenswertesten<br />

Stadt der Welt“? Um mir diese Frage<br />

zu beantworten, habe ich eine Pro und Contra<br />

Liste angefertigt, die ich euch nicht vorhalten<br />

möchte:<br />

Pro Wegziehen:<br />

• nicht mehr zwanghaft und<br />

aufgesetzt alte Omis und Opis<br />

angrinsen aus Angst vor ihrem<br />

potenziellen Grant-Angriff<br />

• Ich darf wieder Tüte statt<br />

Sackerl und Brötchen statt<br />

Semmel sagen.<br />

• Kein Small Talk mehr auf Ausstellungen,<br />

auf denen sich eh<br />

niemand für die Kunst, sondern<br />

lediglich für ‚free drinks‘ und<br />

Selbstinszenierung interessiert<br />

(inklusive mir).<br />

• (im besten Fall) Menschen, die<br />

Hochdeutsch sprechen<br />

• Zigaretten im Supermarkt kaufen<br />

können (auch nach 20 Uhr)<br />

• Lebensmittel einkaufen an<br />

einem Samstag nach 18 Uhr<br />

• Österreichs Politik<br />

Contra Wegziehen:<br />

• „Das geht sich nicht aus“<br />

nicht mehr verwenden können<br />

und mir „eh“ und „ur“<br />

abgewöhnen<br />

• Nicht mehr durch die Straßen<br />

schlendern können und jedes<br />

Mal aufs Neue überwältigt<br />

sein von der Schönheit und<br />

Ästhetik der Stadt.<br />

• den Sommer nicht in Wien<br />

verbringen<br />

• Spritzer bestellen und<br />

komisch angeschaut werden<br />

• sich Altbau nicht mehr leisten<br />

können<br />

• Ich kann nicht alle geliebten<br />

Menschen überreden mitzukommen.<br />

• Deutschlands Politik<br />

Ihr seht also, es war auch für mich keine leichte<br />

Entscheidung. Aber getroffen habe ich eine –<br />

vorerst. Klar ist, wenn ich nicht zurückkomme,<br />

bleibt Wien für mich eine meiner Heimaten, die<br />

ich mit der euphorischen Vorfreude eines Kindes<br />

immer wieder besuchen werde. ●<br />

© Zoe Opratko<br />

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