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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
www.dasbiber.at<br />
MIT SCHARF<br />
+<br />
MÄRZ<br />
20<strong>23</strong><br />
WUT IN DER TÜRKEI<br />
+<br />
PROFIL-CHEFIN<br />
IN ZAHLEN<br />
+<br />
COP UND<br />
TSCHETSCHENE<br />
+<br />
EIN JAHR KRIEG<br />
WAS DER RUSSISCHE ANGRIFFSKRIEG GEGEN DIE UKRAINE<br />
MIT DEM LEBEN DER DIASPORA ANGERICHTET HAT
Entgeltliche Einschaltung<br />
D A M I T S I E<br />
I H R E W O H N U N G<br />
B E H A L T E N<br />
Die Corona-Pandemie hat auch viele Mieter*innen im Gemeindebau vor große Herausforderungen gestellt.<br />
Wer dadurch kein Geld im Börsel hat und die Miete nicht zahlen kann, findet Hilfe bei der<br />
Wiener Wohnungssicherungsstelle unter der Telefonnummer 01 4000 11420 und<br />
durch die Stadtmenschen im Gemeindebau unter Stadtmenschen@wrwks.at.<br />
Mehr Infos über alle Unterstützungsmöglichkeiten für Gemeindebaumieter*innen: wienerwohnen.at/hilfe<br />
Sollten Sie Betroffene kennen, bitte weitersagen - helfen Sie uns beim Helfen!<br />
Service-Nummer 05 75 75 75<br />
wienerwohnen.at
3<br />
minuten<br />
mit<br />
Justin<br />
Bunyaj<br />
Auf TikTok bekommt er hunderttausende<br />
Likes für Videos,<br />
in denen er einen merkwürdigen<br />
Zivilpolizisten namens „Crazy<br />
Joe“ spielt – doch im echten<br />
Leben geht der 17-jährige Justin<br />
Bunyaj noch zur Schule. Der<br />
Wiener mit nigerianischen Wurzeln<br />
im Gespräch über Comedy<br />
und Cannabis-Politik.<br />
Interview: Layla Ahmed<br />
Foto: Atila Vadoc<br />
<strong>BIBER</strong>: Justin, du machst auf TikTok<br />
Comedy-Content, indem du in verschiedene<br />
Charaktere schlüpfst. Woher kam<br />
die Idee?<br />
Es gibt ja diese typischen amerikanischen<br />
Highschool-Filme und diese<br />
peinlichen Synchronstimmen. Meine<br />
Freunde und ich haben einfach eine<br />
Parodie davon gemacht.<br />
<strong>BIBER</strong>: Wieso heißt du auf TikTok<br />
justin_gym?<br />
Früher habe ich Fitness-Videos<br />
gedreht, die haben immer 5000 bis<br />
10 000 Klicks bekommen. Dann habe<br />
ich circa vor einem Jahr zum Spaß ein<br />
Comedy-Video hochgeladen. Ich bin<br />
in der Nacht schlafen gegangen und<br />
am nächsten Tag hatte das Video eine<br />
Million Aufrufe. Dem Account-Namen<br />
bin ich aber treu geblieben.<br />
Dein beliebtestes Format ist der Zivilcop.<br />
Du hast die Figur „Crazy Joe“ erfunden,<br />
der sich als ein jugendlicher Kiffer<br />
ausgibt, einen eigenartigen Jugends-<br />
lang spricht und sich Wörter wie „der<br />
Haschisch-King“ ausdenkt. Mit dieser<br />
Tarnung will er junge Menschen beim<br />
illegalen Cannabiskonsum erwischen.<br />
Was hat dich zum Videoformat mit dem<br />
Zivilpolizisten inspiriert?<br />
Jeder kennt die restriktive Cannabis-<br />
Politik in Österreich. Die älteren Leute<br />
halten Marihuana für den Teufel. Und<br />
mit diesen Zivilpolizisten-Videos will ich<br />
es auf eine sarkastische Art präsentieren<br />
und auch Leute zum Nachdenken<br />
anregen.<br />
Du hast mehrere Sketches, wie etwa<br />
die „D-Max-Dokus“ oder „Der Freund,<br />
der auf Ausländer tut“, die immer wieder<br />
vorkommen. Warum kommt „Crazy<br />
Joe“, der Zivilpolizist, am besten an?<br />
Ich denke, weil es ein aktuelles Thema<br />
anspricht. Viele Jugendliche haben was<br />
mit dem Thema zu tun und finden diese<br />
Gesetze auch ziemlich rückschrittlich.<br />
Ebenfalls finden etliche diesen Dialekt<br />
interessant. Das gibt es eigentlich nicht<br />
so auf TikTok. Dieser typische Wiener<br />
Dialekt, der nochmal richtig übertrieben<br />
dargestellt wird, kommt gut an bei den<br />
Leuten. Ich war schon immer so ein<br />
Typ, der Bock hatte auf kreative Videos,<br />
und mir ist immer etwas in die Richtung<br />
wie „Crazy Joe“ eingefallen.<br />
Hörst du oft, dass du Synchronsprecher<br />
werden könntest?<br />
Ich habe es bis jetzt noch nicht in<br />
Erwägung gezogen. Ich sehe mich viel<br />
mehr in der Schauspielerei und in der<br />
Produktion. Ich denke, als Side-Job<br />
einmal Synchronsprecher zu sein, wäre<br />
richtig witzig.<br />
Wer ist er? Justin Bunyaj<br />
Alter: 17<br />
TikTok: justin_gym<br />
Fun Fact: Hat einen Zweitnamen, von<br />
dem nur wenige wissen: Uzochukwu,<br />
was auf Igbo (die Sprache wird in Nigeria<br />
gesprochen) „Gott ist mit dir“ bedeutet.<br />
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT<br />
JUSTIN BUNYAJ<br />
Der 17-jährige „Zivilcop“ von TikTok<br />
im Schnellinterview.<br />
8 IVANAS WELT<br />
Kolumnistin Ivana Cucujkić findet den<br />
österreichischen Umgang mit mehrsprachigen<br />
Menschen zum Kotzen.<br />
10 KLIMA-NEWS<br />
Interessante Zahlen, Daten und Fakten rund<br />
um das Thema Umweltschutz.<br />
POLITIKA<br />
14 DAS LEBEN NACH DEM BEBEN<br />
Nach dem verheerenden Erdbeben in der<br />
Türkei sind Betroffene auf der Suche nach<br />
Antworten.<br />
18 „FRAU THALHAMMER,<br />
WIE OFT WURDEN SIE<br />
BESCHATTET?“<br />
Biber fragt in Worten, Profil-Chefredakteurin<br />
Anna Thalhammer antwortet mit einer Zahl.<br />
20 FLUCHT, FAKE NEWS<br />
UND PROPAGANDA<br />
Betroffene aus der Ukraine und Russland<br />
resümieren, wie sich ihr Leben seit dem<br />
24. Februar 2022 verändert hat.<br />
25 „WIR ALLE SIND WIEN!“<br />
Justizministerin Alma Zadić im Interview über<br />
Waldhäusl und Diskriminierung.<br />
26 „ÖSTERREICH, WARUM<br />
BIN ICH EINE GEFAHR FÜR<br />
DICH?“<br />
Der „Held der Wiener Terrornacht“ Osama Abu<br />
El Hosna darf kein Österreicher werden.<br />
RAMBAZAMBA<br />
30 DER COP UND DER<br />
TSCHETSCHENE<br />
Polizist Uwe und Tschetschene Ahmad sind mit<br />
ihren Info-Tiktoks zu Stars geworden.<br />
20<br />
EIN JAHR KRIEG<br />
Ukrainer:innen und<br />
Russ:innen über ihr<br />
verändertes Leben seit<br />
dem Beginn von Putins<br />
Angriffskrieg.<br />
14<br />
WO IST DIE<br />
ERDBEBEN-<br />
STEUER HIN?<br />
Türk:innen aus<br />
Österreich fordern,<br />
dass endlich<br />
Verantwortung<br />
übernommen wird.<br />
IN
31 DAS ZEITALTER DER<br />
„NICHTSGÖNNER“<br />
Şeyda Gün rechnet mit dem Neid ab,<br />
der unser Zusammenleben zerfrisst.<br />
30<br />
HALT MÄRZ<br />
20<strong>23</strong><br />
DER COP UND<br />
DER TSCHE-<br />
TSCHENE<br />
Polizist Uwe und<br />
Tschetschene Ahmad<br />
sind mit ihren Info-<br />
TikToks zu Stars<br />
geworden.<br />
34 SCHLUSS MIT DER<br />
BALKAN-ERZIEHUNG<br />
Filloreta Bennett möchte keinen Tyrannen<br />
erziehen, der Frauen nicht respektiert.<br />
38 ZU SELBSTBESTIMMT?<br />
Emilija Ilić musste schnell erwachsen werden –<br />
und daran ist nichts verkehrt.<br />
42 WIE VIEL SCHULDE ICH<br />
MEINEN ELTERN?<br />
Evelyn Shi möchte sich genauso gut um sich<br />
kümmern können, wie um ihre chinesische<br />
Mutter.<br />
44 BRO & KONTRA<br />
Kann die jüngere Generation im „Land der<br />
Femizide“ endlich etwas ändern?<br />
TECHNIK&MOBIL<br />
48 THE PARTY IS OVER<br />
Kolumnist Adam Bezeczky über Downsizing im<br />
Silicon Valley und Künstliche Intelligenz.<br />
KARRIERE&KOHLE<br />
50 DAS BILDUNGSSYSTEM<br />
ALS TOXISCHER EX<br />
Šemsa Salioski darüber, warum<br />
Auswendiglernen längst überholt ist.<br />
KULTURA<br />
58 NICHT SCHON WIEDER<br />
Nada El-Azar-Chekh spricht es aus: Wann ist<br />
endlich Schluss mit den Biopics in den Kinos?<br />
34<br />
WIR BESTIMMEN SELBST.<br />
Drei starke Autorinnen schreiben über<br />
ihre persönliche Revolution.<br />
© Zoe Opratko, Cover: © Thomas Süß<br />
61 MEIN OPA, DER PIONIER<br />
Kolumnist Dennis Miskić würdigt seinen<br />
Gastarbeiter-Großvater, weil Österreich es<br />
nicht tat.<br />
68 QUOTEN-ALMANCI<br />
Kolumnistin Özben Önal muss erst mal weg<br />
aus Österreich. Was dafür, und was dagegen<br />
spricht.
Liebe Leser:innen,<br />
„<br />
Inmitten der Trauer nach<br />
dem Erdbeben in der Türkei<br />
bricht immer mehr Wut aus<br />
den Betroffenen heraus. Wie<br />
konnte es dazu kommen, dass<br />
Wohn- und Krankenhäuser<br />
wie Kartenhäuser zusammengefallen<br />
sind? Wer ist<br />
verantwortlich für die<br />
Katastrophe? Auf der Suche<br />
nach Antworten ab Seite 14.<br />
Aleksandra “ Tulej,<br />
Chefredakteurin<br />
Die gravierenden Auswirkungen des Erdbebens in der Türkei und in Syrien<br />
werden mit jedem Tag deutlicher: Über 48.000 Tote und ganze Städte sind<br />
dem Erdboden gleichgemacht; Menschen haben ihre Liebsten, ihre Häuser und<br />
ihre gesamte Existenz verloren. Inmitten der Trauer bricht aber immer mehr<br />
Wut aus den Betroffenen heraus. Wie konnte es dazu kommen, dass Wohn- und<br />
Krankenhäuser wie Kartenhäuser zusammengefallen sind? Was wurde aus der<br />
im Jahr 1999 eingeführten Erdbebensteuer? Auf der Suche nach Antworten<br />
und Verantwortlichen – zwischen Angst, Verzweiflung und Kritik, die man nicht<br />
immer äußern darf. Ab S. 14.<br />
„Der Krieg hat meine gesamte Familie gespalten. Mein Vater hat sich mit seinen<br />
Brüdern so sehr zerstritten, dass er den Kontakt zu ihnen abbrechen musste.<br />
Auch meine Mutter hat viele ihrer Freundinnen verloren“, erzählt Anna. Genau<br />
vor einem Jahr startete Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine und veränderte<br />
damit das Leben der Diaspora. Nicht nur vor Ort, sondern überall auf der<br />
Welt. Wir haben mit Ukrainer:innen sowie Russ:innen aus Wien gesprochen und<br />
erfahren, wie der Krieg ihr Leben, ihre Beziehungen und ihren Alltag verändert<br />
hat – zu lesen in unserer Coverstory ab S.<br />
20.<br />
Filloreta wird keinen Tyrannen erziehen,<br />
Evelyn schuldet ihren Eltern nichts und Emilija<br />
lebt so, wie sie es selbst will. Drei junge<br />
Frauen erzählen, wie sie es geschafft haben,<br />
alte Strukturen zu durchbrechen, und welche<br />
Rückschläge sie dafür in Kauf nehmen mussten.<br />
Über Unterdrückung der Eltern, Kritik<br />
aus der eigenen Community und toxische<br />
Verhaltensmuster ab S. 32.<br />
Alles andere als toxisch ist die Beziehung<br />
zwischen dem Cop Uwe und dem Tschetschenen<br />
Ahmad. Das Duo beantwortet auf<br />
TikTok Fragen rund um Strafen, Cannabisgebrauch<br />
und Polizeigewalt. Die Resonanz:<br />
über 2,5 Millionen Klicks. Wie die Videos im<br />
Umfeld der beiden ankommen und warum<br />
sie so beliebt bei der Community sind, könnt<br />
ihr ab S. 30 lesen.<br />
Viel Freude beim Lesen,<br />
eure biber-Redaktion<br />
<strong>BIBER</strong> SAGT BYE, BYE:<br />
Als biber noch ein Garagen-Projekt<br />
war und seine Mitarbeiter:-<br />
innen mit Pizza entlohnte, war<br />
er schon an Bord. Amar Rajković<br />
trug das biber-Herzblut in sich wie<br />
kaum einer. Wehe, überintegrierte<br />
Redakteur:innen verzichteten<br />
im eigenen Nachnamen auf ihre<br />
Sonderzeichen (š, ć, ž und dergleichen).<br />
Nach 16 Jahren geht<br />
der stv. Chefredakteur und Leiter<br />
der Akademie nun neue Wege<br />
und wird bei der Volkshilfe Wien<br />
für den Ausbau des Community-<br />
Works zuständig sein. Wir werden<br />
dich vermissen, besta Kollega!<br />
Und nie vergessen: Der Journalismus<br />
schläft nicht. Danke für Alles!<br />
Sretan put, Amare.<br />
© Zoe Opratko<br />
6 / MIT SCHARF /
IMPRESSUM<br />
MEDIENINHABER:<br />
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />
HERAUSGEBER:INNEN:<br />
Delna Antia-Tatić und Simon Kravagna<br />
CHEFREDAKTEURIN:<br />
Aleksandra Tulej<br />
KULTUR:<br />
Nada El-Azar-Chekh<br />
FOTOCHEFIN:<br />
Zoe Opratko<br />
ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />
KOLUMNIST/IN:<br />
Ivana Cucujkić-Panić, Dennis Miskić, Özben Önal<br />
LEKTORAT: Florian Haderer<br />
REDAKTION & FOTOGRAFIE:<br />
Maria Lovrić-Anušić, Adam Bezeczky, Nada El-Azar-Chekh, Šemsa<br />
Salioski, Dennis Miskić, Mala Kolumna, Franziska Liehl, Thomas Süß,<br />
Zoe Opratko, Atila Vadoc, Malina Köhn, Layla Ahmed<br />
VERLAGSLEITUNG :<br />
Aida Durić<br />
MARKETING & ABO:<br />
Şeyda Gün<br />
REDAKTIONSHUND:<br />
Casper<br />
BUSINESS DEVELOPMENT:<br />
Andreas Wiesmüller<br />
GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />
Wilfried Wiesinger<br />
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />
E-1.4, 1070 Wien<br />
Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />
WEBSITE: www.dasbiber.at<br />
2. bis 5. März<br />
Wiener Stadthalle<br />
9 bis 18 Uhr, 5. März bis 17 Uhr<br />
www.bestinfo.at<br />
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 1. HJ 2022:<br />
Druckauflage 85.000 Stück<br />
Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />
www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />
DRUCK: Mediaprint<br />
20<strong>23</strong><br />
Eintritt frei!<br />
Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />
jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />
der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.<br />
www.facebook.com/bestinfo.at<br />
www.twitter.com/bestinfo_at<br />
www.instagram.com/bestmesse<br />
D i e g r o ß e B i l d u n g s m e s s e<br />
bestinfo.at
In „Ivanas Welt“ berichtet die biber-Kolumnistin Ivana Cucujkić-Panić<br />
über ihr Leben - Glamour zwischen Balkan und Baby<br />
IVANAS WELT<br />
Foto: Igor Minić<br />
GEKOMMEN, UM ZU SPEIBEN<br />
Seit wann, bitte, ist Mehrsprachigkeit eine Bereicherung? … in Österreich?<br />
„Es wäre toll, wenn die Eltern aus einem Buch in ihrer<br />
Muttersprache vorlesen.“ Huch, was ist denn da<br />
los? Die Erzieherin meines Fünfjährigen hat sich bestimmt<br />
vertippt in ihrer Rundmail an die Eltern. Ja,<br />
wo samma denn. Im Betreff: ‚Fest der Bücher‘. Sie<br />
hat sich nicht vertippt. Sie stiftet sogar weiter an: Es<br />
sei „eine Bereicherung, multikulturelle Familien an<br />
unserer Schule zu haben“, und sie möchten, dass alle<br />
Kinder davon profitieren. Spoiler: Der Spross besucht<br />
einen französischen Kindergarten mit internationalem<br />
Umfeld. Das feine Kontrastprogramm zu unserem Brigittenauer<br />
Ghetto.<br />
Eine Woche später saß ich mit Lampenfieber auf<br />
einem kleinen Hocker vor der versammelten Gruppe<br />
und trug ein berühmtes Gedicht meiner Kindheit vor.<br />
Auf Serbisch. Zwanzig kleine Hände klatschten Beifall<br />
und verlangten nach einem Sternchen in ihrem Buchfest-Heft.<br />
Von den gegenwärtigen Pädagoginnen gab<br />
es ein würdigendes „Merci, wunderbar.“ Mein Muttersprachen-Trauma<br />
war geheilt.<br />
GUTE SPRACHE – SCHLECHTE SPRACHE<br />
Von der Krabbelstube bis zum Uniabschluss habe<br />
ich 25 Jahre im österreichischen Bildungssystem<br />
verbracht. Nicht ein einziges Mal sollte meine Muttersprache<br />
dabei eine Rolle spielen. In einem wertschätzenden<br />
Kontext schon gar nicht. Und Serbisch<br />
erst recht nicht. Am besten ich erwähne nicht einmal,<br />
dass zu Hause so gesprochen wird. Zu sehr liegen<br />
mir die Worte meiner Mutter in den Ohren: „Schhhht.<br />
Sprich Deutsch!“ In der Straßenbahn sollte uns niemand<br />
als Serben entlarven.<br />
ABER WOHER KOMMST DU WIRKLICH?<br />
In den 1990er-Jahren war das rein imagetechnisch<br />
bestimmt die bessere Wahl und einfach nur gut gemeint.<br />
Die zehnjährige Ivana hat das unter Scham<br />
und wertlos abgespeichert. Einem ‚Woher kommst<br />
du? Aber woher kommst du wirklich?‘ bin ich deswegen<br />
nicht entkommen. „Aus Wien“ reichte den wenigsten.<br />
Auch heute noch. Sie brauchen die genaue<br />
Ortung für ihre kleinkarierten Diskriminierungsschubladen,<br />
das kulturelle Google-Maps verliert sonst die<br />
Route. Eine scharfe Grenze möchte gezogen werden<br />
zwischen ihr und mir. Als Neugier und weltoffenes<br />
Interesse am Gegenüber getarnt steckt doch hinter<br />
jedem „aber woher kommst du wirklich“ ein „na, von<br />
hier aber sicher nicht“.<br />
EINE RUNDE KOTZEN<br />
Man darf sich für diese Frage durchaus ein bisschen<br />
schämen. Wir haben 20<strong>23</strong>. Österreich ist nicht seit<br />
gestern, nicht seit den 90ern und auch nicht erst seit<br />
1961 ein Einwanderungsland. Also können wir bitte<br />
aufhören, so peinlich zu sein und von „Österreicherinnen<br />
und Österreichern und allen, die hier leben“<br />
zu reden. Da will ich einfach nur in einem Strahl erbrechen.<br />
Ja, wer begrenzt ist, der will Grenzen ziehen.<br />
Festungen errichten. Gäbe es diese, „dann wäre<br />
Wien noch Wien“, skandieren provinzielle Rassisten.<br />
Tschulligung, österreichische Politiker. Andere veranstalten<br />
Bücher-Feste und zitieren internationale<br />
Poeten. Ironischerweise eben nicht in einer österreichischen<br />
Bildungseinrichtung. Aber bleiben wir in unserer<br />
Bubble. Damit Wien noch Wien ist. ●<br />
cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt<br />
8 / MIT SCHARF /
Wir sorgen für<br />
einen guten Job.<br />
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Ihre Sorgen möchten wir haben.
LIMANEWS<br />
Von Malina Köhn und Layla Ahmed<br />
Wetterextreme, Hunger, Dürren, Konflikte und Menschen, die im globalen Süden<br />
ihre Heimat verlassen müssen – der Klimawandel ist eine Bedrohung für Umwelt<br />
und Mensch. Deshalb gibt es auf dieser Seite News zum Thema Klima und hilfreiche<br />
Tipps, mit denen wir unseren ökologischen Fußabdruck verringern können. Denn der<br />
Klimawandel geht uns alle etwas an.<br />
SCHON GEWUSST?<br />
Filterkaffee maschinen sind<br />
eine größere Umweltsünde als<br />
Kaffeekapseln<br />
KLIMA-PODCASTS ZUM INFOR-<br />
MIEREN UND WEITEREMPFEHLEN<br />
ZAHLEN,<br />
BITTE!<br />
NACHHALTIGKEIT<br />
IM ALLTAG<br />
Kaffeekapseln gelten als die Umweltsünde überhaupt,<br />
doch Forscher der Universität in Quebec<br />
haben herausgefunden, dass die Zubereitungsart<br />
des Kaffees eine viel größere Rolle im Umweltschutz<br />
spielt, als es die Verpackung tut.<br />
ZUBEREITUNGSART ENTSCHEIDENDER ALS<br />
VERPACKUNG<br />
Durch die Aluminiumpackung der einzelnen Kapseln<br />
haben Nespresso und seine Kollegen aus der Kaffeekapsel-Industrie<br />
den Ruf, die Umwelt stark zu schädigen.<br />
Jedoch kam besagte Studie zu dem Ergebnis, dass die<br />
Zubereitungsart viel entscheidender für den CO2-Ausstoß<br />
ist als die Verpackung. Den Forschern zufolge verursachen<br />
Filterkaffeemaschinen bei der Zubereitung bis zu<br />
eineinhalb Mal so viele Emissionen wie ein Kaffee aus der<br />
Kapsel. Das liegt daran, dass eine Tasse Kaffee aus der<br />
Kapselmaschine 14 Gramm Kaffeepulver und Filterkaffee<br />
25 Gramm benötigt.<br />
Zudem verschwenden Filtermaschinen wie die French<br />
Press viel mehr Energie, da sie das Wasser zunächst zum<br />
Kochen bringen. Bei Kapselmaschinen läuft man außerdem<br />
nie Gefahr, mehr Wasser zu verwenden als nötig, da<br />
die Maschine dies kontrolliert.<br />
KLIMAFREUNDLICH IST ES TROTZDEM NICHT<br />
Zu betonen ist, dass Kaffeetrinken generell nicht sehr<br />
umweltfreundlich ist. Die Kaffeebohnen haben sehr lange<br />
Wege hinter sich, sodass Verarbeitung und Logistik von<br />
Rohkaffee immer sehr viel CO2 verbrauchen. Außerdem<br />
ist die Beschaffung der Rohstoffe, um die Aluminiumkapseln<br />
überhaupt herstellen zu können, für die Umweltbilanz<br />
eine Katastrophe. Gleiches gilt für die Entsorgung,<br />
worüber bekanntermaßen schon länger diskutiert wird.<br />
klima update°<br />
der klimareporter° Podcast<br />
Die Redaktion des „Klimareporter“<br />
und der TAZ-Klimahub informiert<br />
in einfachen Worten beispielsweise<br />
darüber, was die Regierungschefs<br />
mal wieder beschlossen<br />
haben, was es bedeutet, wenn die<br />
EU bis 2050 klimaneutral werden<br />
will oder Forscher:innen die Klimaintensivität<br />
genauer bestimmen<br />
können. Der Podcast ist auf der<br />
Website und fast überall, wo es<br />
Podcasts gibt zu hören.<br />
5MinutenClimateChance<br />
Der Klima-Podcast<br />
In nur 5 Minuten erzählen die<br />
Podcaster das Wichtigste über<br />
das Klima und den Klimawandel -<br />
vom Treibhauseffekt und der Rolle<br />
von CO2 bis hin zu Chancen und<br />
Lösungen. Hören könnt ihr den<br />
Podcast auf der Website 5mcc.at.<br />
1<br />
Bambuszahnbürste<br />
=<br />
4<br />
Kunststoffzahnbürsten<br />
1<br />
Glasbehälter<br />
für Zahnseide<br />
=<br />
7<br />
Kunststoffbehälter<br />
für Zahnseide<br />
1<br />
wiederverwendbare<br />
Wasserflasche<br />
=<br />
167<br />
Plastikwasserflaschen<br />
© The James Dyson Foundation, GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com<br />
10 / MIT SCHARF /
GOOD NEWS:<br />
Aus Biomüll wird<br />
Sonnenstrom<br />
AuREUS Solar heißt die tolle Erfindung des philippinischen<br />
Studenten Carvey Ehren Maigue.<br />
Seine Idee ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine<br />
Bereicherung für den Klimaschutz.<br />
DIE VORTEILE VON AUREUS SOLAR<br />
Zum einen erstellt er die Solarplatten aus Bioabfall,<br />
aus dem lumineszierenden Partikel herausgefiltert<br />
werden. Für die Solarplatten verwendet er momentan<br />
zu 80 Prozent<br />
Biomüll und nur<br />
20 Prozent Plastik,<br />
welches Maigue<br />
jedoch zukünftig ganz<br />
weglassen möchte<br />
und eben genau<br />
daran arbeitet. Zum<br />
anderen kauft er den<br />
Biomüll bei philippinischen<br />
Bauern ein, die<br />
besonders unter den<br />
Folgen des Klimawandels<br />
leiden und<br />
häufig Ernteausfälle<br />
haben.<br />
Während herkömmliche<br />
Photovoltaik-Zellen<br />
nur in 10<br />
bis 25 Prozent der<br />
Zeit Strom erzeugen,<br />
schafft AuREUS Solar bis zu 48 Prozent. Das liegt daran,<br />
dass es herkömmlichen Solarplatten nur bei direkter<br />
Sonneneinstrahlung gelingt, Strom zu erzeugen,<br />
während die Erfindung von Maigue auch an wolkigen<br />
Tagen von Gehwegen oder umliegenden Gebäuden<br />
abprallende UV-Strahlen einfangen kann.<br />
WAS SICH DADURCH VERÄNDERN KANN<br />
Das Produkt ist nach wie vor in der Entwicklung, hat<br />
aber 2020 bereits als Erstes den James Dyson Award<br />
für Nachhaltigkeit erhalten, ebenso wie eine Prämie,<br />
mit der der junge Student weiter forscht und seine<br />
Technik ausbaut.<br />
Es könnte verschiedene Anwendungsmöglichkeiten<br />
für AuREUS Solar geben. So könnte es beispielsweise<br />
für die Stromerzeugung von Booten, E-Autos<br />
oder Flugzeugen genutzt werden. Carvey Ehren<br />
Maigues Traum wäre ein Hochhaus, das anstelle<br />
von Fenstern seine Platten enthält, durch die man<br />
durchsehen kann, und so das gesamte Hochhaus mit<br />
Strom versorgt wird.<br />
KLAGEN<br />
FÜR‘S KLIMA<br />
Das gab es noch nie: In Österreich<br />
haben zwölf Kinder<br />
und Jugendliche beim Verfassungsgerichtshof<br />
Klage<br />
gegen die Republik Österreich<br />
eingereicht. Der Grund? Das<br />
aktuelle Klimaschutzgesetz<br />
reicht nicht aus, um den<br />
Schutz von Kindern und<br />
Jugendlichen zu garantieren.<br />
Seit 2011 sind in der Verfassung<br />
die Kinderrechte verankert.<br />
Zu viele Treibhausgase<br />
und die Verfehlung der Pariser<br />
Klimaziele würden somit das<br />
Klimaschutzgesetz in seiner<br />
jetzigen Form verfassungswidrig<br />
machen. Vertreten durch<br />
Anwältin Michaela Krömer, die<br />
schon zuvor mehrere Klimaklagen<br />
begleitet hat, wollen<br />
die jungen Kläger:innen eine<br />
Neuerung des Klimaschutzgesetzes<br />
erreichen.<br />
FUN-FACT:<br />
SINNFLUENCER,<br />
DIE EUCH HELFEN,<br />
NACHHALTIGER ZU<br />
LEBEN<br />
JUSTINE AUS WIEN<br />
Die selbsternannte Ökotante<br />
setzt sich für faire und nachhaltige<br />
Fashion ein und ernährt<br />
sich vegan. Auf ihrem Instagram-Kanal<br />
sowie in ihrem Blog<br />
teilt sie Marken und Firmen, die<br />
vegane Produkte herstellen,<br />
gibt Tipps für ein nachhaltigeres<br />
Leben durch beispielsweise<br />
Stromsparen und stellt leckere,<br />
vegane Rezepte vor.<br />
Instagram: @justinekeptcalmandwentvegan<br />
Blog: justinekeptcalmandwentvegan.com<br />
SVENJA AUS BERLIN<br />
Svenja zeigt uns, wie man<br />
Nachhaltigkeit in allen möglichen<br />
Situationen im Alltagsleben<br />
einbauen kann. Von<br />
plastikfreier Kosmetik, wiederverwendbaren<br />
Wattepads oder<br />
der Überprüfungsmethode, mit<br />
der du rausfindest, ob ein Produkt<br />
wirklich vegan ist, bis hin<br />
zu Tipps zum Gassparen findet<br />
ihr auf ihrem Instagram- und<br />
Youtube-Kanal alles, was ihr<br />
wissen müsst, um nachhaltiger<br />
und klimafreundlicher zu leben.<br />
Instagram: @fraeulein.oeko;<br />
Youtube: FräuleinÖko<br />
Der Klimawandel macht<br />
uns aggressiver<br />
Studien US-amerikanischer Wissenschaftler der Harvard T.H.<br />
Chan School of Public Health ergaben, dass extreme Wetterverhältnisse<br />
die Aggressivität erhöhen. Das liege daran, dass<br />
durch heißes Klima der Adrenalinspiegel im Körper steigt, der<br />
wiederum aggressives Verhalten fördere. Das heißt also: Steigende<br />
Temperaturen führen zu mehr Konfliktpotenzial.<br />
/ MIT SCHARF / 11
ESSEN FÜR DIE TONNE?<br />
SO NICHT!<br />
Lebensmittel zu sparen schont die Umwelt und die Geldbörse.<br />
Mit diesen einfachen Tipps sparst du Ressourcen und<br />
bringst mehr „Zero Waste“ in deinen Alltag.<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
Rund ein Drittel aller erzeugten Lebensmittel<br />
landet in der EU im Mist. Ein<br />
erheblicher Teil aller Lebensmittelabfälle<br />
entsteht dabei im eigenen Haushalt: Pro<br />
Kopf kommen etwa 60kg an vermeidbaren<br />
Lebensmittelabfällen zusammen. Deshalb ist<br />
ein bewusster Konsum eine besonders einfache<br />
und kostengünstige Maßnahme für besseren<br />
Klimaschutz – denn wer Essen spart, spart auch<br />
Pestizide, Land und Energie, die zur Herstellung<br />
der Lebensmittel nötig sind und kann aktiv dazu<br />
beitragen, die Umwelt zu schonen. Doch wie<br />
geht Müllvermeidung in der Küche richtig?<br />
ERST DENKEN,<br />
DANN KAUFEN<br />
Bei Lebensmitteln sollte man darauf achten<br />
möglichst saisonal, biologisch und regional<br />
einzukaufen. Das spart nicht nur in vielen<br />
Bereichen Ressourcen , sondern wirkt sich auch<br />
auf den Geschmack und Qualität aus: Gemüse<br />
und Obst schmecken in ihrer jeweiligen Saison<br />
nicht nur besser, sondern sind auch weniger<br />
mit Pestiziden belastet. Im Internet finden sich<br />
viele Saisonkalender für Obst und Gemüse,<br />
an denen man sich gut orientieren kann. Im<br />
Frühling kann man etwa aus Spinat, Spargel,<br />
Bärlauch und Rhabarber viele leckere Speisen<br />
kochen, die sich auch gut einfrieren lassen.<br />
Bei einem Einkauf am Markt lässt sich gut<br />
Verpackungsmist sparen: Habe immer mehrere<br />
Stofftaschen dabei. Haltbares wie Reis, Bohnen,<br />
Getreide und Nudeln in Großpackungen zu kaufen<br />
spart auf lange Sicht viel Mist – und Geld.<br />
Günstige (Bauern-)Märkte in Wien:<br />
Meiselmarkt (1150), Kutschkermarkt (1180),<br />
Viktor-Adler-Markt (1100), Brunnenmarkt<br />
(1160), Naschmarkt (1060)<br />
SCHON GEWUSST?<br />
Laut einer Studie des WWF entfallen 2,2 Milliarden<br />
Tonnen CO2 auf Lebensmittelabfälle. Das entspricht<br />
den Emissionen von 3,3 Milliarden Autos. Die Fläche,<br />
die dafür benötigt wird um diese Menge zu<br />
produzieren entspricht etwa der Größe Indiens!<br />
12 / SPECIAL /
© unsplash.com / Yasin Aribuga, unsplash.com/ Pawel Czerwinski unsplash.com/ Julietta Watson<br />
GUTE GEWOHN-<br />
HEITEN ZAHLEN<br />
SICH AUS<br />
Die richtige Lagerung von Lebensmitteln verhindert, dass<br />
gute Produkte schneller im Mist landen. Im Allgemeinen<br />
gilt bei Obst und Gemüse: Heimische Sorten mögen<br />
es kalt, Exoten brauchen keine Kühlung. Putze deinen<br />
Kühlschrank zudem regelmäßig, um Keimen vorzubeugen.<br />
Auch wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten<br />
ist, können Produkte genießbar sein. Vertraue auf deinen<br />
Geruchs- und Geschmackssinn, bevor Joghurt und Co.<br />
in den Mist kommen. Motiviere auch deine Liebsten und<br />
deine Mitbewohner dazu, mehr auf Müllvermeidung zu<br />
achten! Sammle Einkaufstaschen und wiederverwendbare<br />
Gläser an einem Ort, der für alle gut erreichbar ist. Investiere<br />
in Vorratsdosen, und verwende Büroklammern oder<br />
Clips um geöffnete Verpackungen dicht zu machen und<br />
den Inhalt länger haltbar zu machen.<br />
TIPP FÜR DEN KÜHLSCHRANK:<br />
Gemüse soll rein! Außer: Tomaten, Zucchini,<br />
Melanzani, Paprika, Kürbis und Kartoffeln<br />
Interessante Fakten und mehr Tipps<br />
für Abfallvermeidung findest du<br />
online bei Global 2000:<br />
AUS ALT<br />
MACH NEU<br />
Upcycling ist eine kreative Möglichkeit, aus Dingen<br />
das meiste herauszuholen, bevor sie im Mist landen.<br />
Aus Kaffeesatz lässt sich ein gutes Peeling für die<br />
Haut machen, alte Textilien kann man noch als<br />
Putzlappen verwenden, und alte Konservendosen<br />
machen auch als Stiftehalter für den Schreibtisch<br />
oder als Zahnbürstendose im Bad eine gute Figur.<br />
Vermeide Einwegplastik<br />
und kaufe stattdessen<br />
Produkte in Mehrwegverpackungen.<br />
Marmeladen-<br />
oder Gurkengläser<br />
lassen sich vielfältig im<br />
Haushalt wiederverwenden<br />
– als Trinkglas,<br />
Teelichthalter oder als<br />
Behälter für eine leckere<br />
Mahlzeit für Schule, Uni<br />
oder Büro sind sie noch<br />
lange verwendbar. Ein<br />
guter Tipp: Etikettenkleber<br />
lässt sich mit etwas<br />
Speiseöl und Natron ganz<br />
leicht entfernen!<br />
YALLA! EIN WEEKEND<br />
FÜR KLIMA- UND<br />
UMWELTSCHUTZ<br />
Du bist zwischen 18 und 24<br />
Jahre alt und willst Klimabotschafter:in<br />
für deine Community<br />
werden? Du willst<br />
mehr darüber erfahren, wie<br />
du Klimathemen für Podcasts,<br />
Videos und Social Media aufbereiten<br />
und verbreiten kannst?<br />
Dann komm zum GLOBAL 2000<br />
Yalla-Weekend, das vom <strong>23</strong>.–<br />
25.6.20<strong>23</strong> in Wien stattfindet!<br />
Kosten für Reise, Unterkunft<br />
und Verpflegung werden von<br />
uns übernommen.<br />
Weitere Infos und<br />
das Anmeldeformular<br />
findest du<br />
hier<br />
Dieses Nachhaltigkeitsspecial ist Teil des Projekts „Yalla Klimaschutz - Umweltbildung für alle!“ von GLOBAL 2000, das vom Bundesministerium<br />
für Klimaschutz und Umwelt gefördert wird. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei <strong>BIBER</strong>.<br />
/ SPECIAL / 13
DIE WUT,<br />
DIE ÜBER DEN<br />
TRÜMMERN<br />
HÄNGT<br />
© Bernat Armangue / AP / picturedesk.com<br />
Das Erdbeben in der Türkei Anfang<br />
Februar hat tiefe Wunden hinterlassen:<br />
Inmitten der Trauer bricht immer mehr<br />
Wut bei Betroffenen hervor – auch bei<br />
jenen, die in Österreich leben. Der Druck<br />
auf Präsident Erdoğan wird immer größer.<br />
Auf der Suche nach Verantwortlichen;<br />
zwischen Angst, Verzweiflung und Kritik,<br />
die man nicht immer äußern darf.<br />
Von Maria Lovrić-Anušić und Aleksandra Tulej<br />
Mitarbeit: Malina Köhn und Layla Ahmed, Collage: Zoe Opratko<br />
14 / POLITIKA /
© SAMEER AL-DOUMY / AFP / picturedesk.com<br />
Erdoğans Wählerschaft wurde<br />
in den letzten 22 Jahren mit<br />
Nationalismus, Religion und<br />
Angst berieselt. Er schuf<br />
dieses Bild von „Wir sind alleine, alle<br />
sind gegen uns.“ Und damit hat er Erfolg<br />
gehabt. Ich denke, ein kleiner Teil seiner<br />
Basis wird sich von ihm abkehren, aber<br />
viele Wählerstimmen wird er dadurch<br />
nicht verlieren, sondern einfach weiter<br />
mit der Strategie fahren, wie bisher“,<br />
erzählt Ali. Ali ist Kurde, 61 Jahre alt,<br />
Sozialarbeiter und lebt seit über 30<br />
Jahren in Wien. Er ist in Pazarcık in der<br />
Provinz Kahramanmaraş in der Türkei<br />
geboren und aufgewachsen. Einreisen<br />
darf er in die Türkei nicht mehr, aufgrund<br />
vergangener kritischer Äußerungen<br />
gegenüber dem türkischen Präsidenten<br />
Recep Tayyip Erdoğan. Ali selbst hat<br />
bei dem Erdbeben seine Tante, die eine<br />
Ersatzmutter für ihn war, und mehrere<br />
Freunde verloren.<br />
ERDBEBENSTEUER,<br />
LEERE VERSPRECHEN,<br />
KORRUPTION<br />
Das Erdbeben in der Türkei, in Kurdistan<br />
und in Syrien Anfang Februar hat<br />
bis dato 48.000 Menschen das Leben<br />
gekostet. Ganze Städte wurden dem<br />
Erdboden gleichgemacht. Zigtausende<br />
Menschen haben ihre Verwandten, ihre<br />
Häuser und ihre gesamte Existenz verloren.<br />
Eine Naturkatastrophe kann zwar<br />
niemand verhindern, ihre Folgen und das<br />
Ausmaß hätten in diesem Fall aber minimiert<br />
werden können, beklagen immer<br />
mehr Menschen. Die türkische Bevölkerung<br />
fühlt sich im Stich gelassen, es wird<br />
nach Verantwortlichen gesucht.<br />
Erdoğan gerät derzeit immer mehr<br />
unter Druck. Die Opposition wirft ihm<br />
Totalversagen vor. Ingeneuri:nnen<br />
werfen ihm vor, dass trotz Risiken Vorschriften<br />
zur Gebäudesicherheit ignoriert<br />
wurden, Wissenschafter:innen kritisieren,<br />
dass Warnungen nicht beachtet wurden.<br />
Die Reaktion der Regierung: Twitter wurde<br />
lahmgelegt, Erdoğan ließ Bauherren<br />
festnehmen, kritische Berichterstattung<br />
wird im Keim erstickt. So kursieren auf<br />
Social Media immer mehr Videos, bei<br />
denen Interviews des türkischen Staatsfernsehens<br />
mit Betroffenen unterbrochen<br />
werden, sobald diese sich kritisch<br />
gegenüber der Regierung äußern. Und<br />
Erdoğan? Er bezeichnet das Erdbeben als<br />
"Schicksal". Er steht mit seiner konservativen<br />
Partei Adalet ve Kalkınma Partisi<br />
(auf Deutsch: Partei für Gerechtigkeit<br />
und Aufschwung), kurz AKP, seit 20<strong>03</strong><br />
an der Spitze der Türkei. Er regiert schon<br />
so lange, dass man seine Reaktion auf<br />
andere Erdbeben im Land herbeiziehen<br />
kann: Im Jahr 20<strong>03</strong> zum Beispiel, als er<br />
erst Premierminister geworden ist, gab<br />
es ein Erdbeben in der Provinz Bingöl.<br />
Erdoğan versprach Konsequenzen, er<br />
wolle sich anschauen, wer sich beim<br />
Bau bereichert habe. Und er sagte, man<br />
könne das Beben "nicht als Schicksal<br />
abtun".<br />
So äußert sich auch die Grünen-<br />
Abgeordnete Berivan Aslan bei einer<br />
Gedenkveranstaltung für die Opfer des<br />
Erdbebens am 16. Februar am Wiener<br />
Stephansplatz: „Jeder stellt sich die<br />
Frage: Wie kann das sein? Der Mensch<br />
ist hilflos gegenüber Naturkatastrophen<br />
und wahrscheinlich wäre jedes Land mit<br />
dem Ausmaß dieser Katastrophe überfordert<br />
gewesen“, so die Juristin. „Aber<br />
es sind nicht nur die Bauherren dafür<br />
verantwortlich, dass sehr viele Menschen<br />
gestorben sind. Es ist auch die korrupte<br />
Politik verantwortlich. Aufgrund der<br />
Korruption sind sehr viele Menschen<br />
gestorben.“ Sie kritisiert die strukturellen<br />
Probleme und die mangelnden Präventivmaßnahmen:<br />
„Viele machen sich unbeliebt<br />
oder werden angefeindet, wenn sie<br />
strukturelle Probleme und auch diese<br />
Korruptionsprobleme ansprechen. Aber<br />
Antakya in Trümmern<br />
es kann nicht sein, dass Gebäude, die<br />
vor drei Jahren gebaut wurden, heute<br />
komplett in Schutt und Asche liegen. Es<br />
kann nicht sein, dass in einer Region, die<br />
zu den erdbebengefährdetsten Regionen<br />
der Welt gehört, so wenige Präventivmaßnahmen<br />
vorgenommen wurden.<br />
Seit 1999 gibt es in der Türkei die<br />
Erdbebensteuer. Diese wurde nach<br />
dem großen Erdbeben von Gölcük,<br />
bei dem über 17.000 Menschen ums<br />
Leben gekommen waren, eingeführt. Mit<br />
diesem Steuergeld sollte dafür gesorgt<br />
werden, dass Gebäude erdbebenfest<br />
gemacht werden. Dennoch sind viele<br />
Gebäude in den betroffenen Provinzen<br />
dem Erdboden gleichgemacht. Viele<br />
Bürger:innen in der Türkei fragen sich,<br />
was mit dem Geld passiert ist, wenn es<br />
nicht in die Erdbebensicherheit investiert<br />
wurde. Unter der AKP-Regierung hat die<br />
Türkei in den letzten 20 Jahren einen<br />
Bauboom erlebt, dabei haben vermehrt<br />
regierungsnahe Firmen die Aufträge<br />
bekommen. Seit Jahren ist die Rede<br />
von Nepotismus und Korruption. Die<br />
Gebäude, die im Zuge des Erdbebens im<br />
Es kann nicht sein, dass<br />
Gebäude, die vor drei<br />
Jahren gebaut wurden,<br />
heute komplett in Schutt<br />
und Asche liegen.<br />
/ POLITIKA / 15
Hatay: Viele Betroffene stehen vor dem Nichts und die Wut auf die Regierung wird immer größer<br />
Februar zusammengefallen sind, darunter<br />
auch Krankenhäuser oder Flughäfen,<br />
sind alle im staatlichen Auftrag gebaut<br />
worden. „Erdoğan hat seine Versprechen<br />
nicht eingehalten. Nichts hat er eingehalten<br />
und dabei stehen Menschen dahinter<br />
und glauben ihm. Nur so viel dazu: Diese<br />
Häuser sind ja nicht von heute auf morgen<br />
eingestürzt“, so Hatice Sahin İlter,<br />
stellvertretende Bundesvorsitzende der<br />
Organisation „freie-aleviten österreich“.<br />
BILLIGBAUTEN<br />
BESONDERS IN<br />
KURDISCHEN GEBIETEN<br />
Tausende von Menschen sind aufgrund<br />
von billig errichteten Wohnungen,<br />
die angeblich das Wohnungsproblem<br />
lösen sollten, gestorben. Insbesondere<br />
betroffen sind kurdische Menschen, die<br />
aufgrund von jahrzehntelanger militärischer<br />
Besatzung in die Städte und Vorstädte<br />
des Landes gezwungen wurden.<br />
Der Krieg, Naturkatastrophen und die<br />
systematische Verarmung haben dazu<br />
beigetragen, dass viele Menschen in die<br />
Provinzhauptstädte des Landes umgesiedelt<br />
wurden, wo die militärische und<br />
politische Kontrolle einfacher zu bewerkstelligen<br />
waren. Nach der Zerstörung<br />
vieler Dörfer in den 1990er Jahren war<br />
der billige Bauboom unter dem 20<strong>03</strong> an<br />
die Macht gekommenen Präsidenten eine<br />
schnelle, aber tödliche Lösung für viele<br />
kurdische Menschen, die keine andere<br />
Wahl hatten. Die charakteristischen<br />
mehrstöckigen Billigwohnbauten boten<br />
den Menschen zwar ein Dach über dem<br />
Kopf, zerstörten aber auch viele kurdische<br />
Gemeinschaften, deren politische<br />
Stärke gerade in ihrem Zusammenleben<br />
bestanden hatte.<br />
„Das war ein sprechendes Bild<br />
dafür, dass diese Menschenleben in<br />
den Augen des Staates weniger Wert<br />
haben“, erzählt Damla aufgebracht über<br />
die verspäteten Hilfeleistungen. Damla<br />
selbst stammt aus Istanbul und ist somit<br />
nicht direkt vom Erdbeben betroffen.<br />
Indirekt allerdings schon, denn ihre<br />
Familie ist jüdisch und somit zählt sie<br />
zu einer Minderheit in der Türkei. Die<br />
25-Jährige empfand ihre Heimat immer<br />
als unglaublich gastfreundlich und fühlte<br />
sich wohl, doch vor zehn Jahren begann<br />
sich ihre Sicht zu ändern. Die stiefmütterliche<br />
Behandlung von Minderheiten,<br />
und die Tatsache, dass einige Freunde<br />
ihrer Familie in der Türkei politisch<br />
Verfolgte sind, brachte sie immer wieder<br />
zum Nachdenken. Trotz alledem hätte<br />
sie niemals damit gerechnet, dass die<br />
Ersthilfe in den Gegenden wie Hatay, in<br />
denen viele Minderheiten leben so rar<br />
ausfallen würde. In einigen Gebieten der<br />
Türkei mussten Betroffene über hundert<br />
Stunden auf Hilfe warten. „Das türkische<br />
Volk hat sehr lange und stark an seine<br />
Führung geglaubt. Dass die Menschen<br />
dann so stark im Stich gelassen werden<br />
in solchen Momenten wie beim Erdbeben,<br />
ist einfach erschütternd.“ Damla hat<br />
die Hoffnung, dass wenigstens die Wahlen<br />
diesmal anders ausgehen werden,<br />
denn laut ihr seien selbst die Menschen,<br />
die an die AKP geglaubt haben, nun<br />
wütend. Ihre einzige Sorge ist jedoch, ob<br />
es Wahlkabinen im Raum rund um Hatay<br />
geben wird und die Betroffenen überhaupt<br />
zum Wählen kommen werden.<br />
„ICH HABE FRÜHER<br />
ERDOĞAN GEWÄHLT,<br />
ICH HABE DIE AKP<br />
UNTERSTÜTZT.“<br />
Nach der Katastrophe ist in der Türkei<br />
auch eine Diskussion darüber entbrannt,<br />
ob Präsident Erdoğan die Präsidentschafts-<br />
und Parlamentswahlen, die<br />
eigentlich für den 14. Mai angesetzt sind,<br />
verschieben wird.<br />
Laut aktuellen Prognosen liegt die<br />
AKP bei 35,7 %, die Umfragen wurden<br />
allerdings noch vor dem Erdbeben<br />
gemacht. Welche Auswirkung wird das<br />
Erdbeben auf die Wählerstimmen haben?<br />
Wer wird sich von ihm abwenden? Laut<br />
Meinungsumfragen, die noch vor den<br />
Erdbeben veröffentlicht wurden, muss<br />
sich Erdoğan auf einen harten Wahlkampf<br />
einstellen. Seine Beliebtheit hat<br />
unter anderem aufgrund steigender<br />
Lebenshaltungskosten und der schwächelnden<br />
Landeswährung Lira gelitten,<br />
auch die hohe Inflation sorgt für Unmut<br />
in der Bevölkerung. Nun wird Erdoğan<br />
dafür kritisiert, wie seine Regierung auf<br />
das verheerende Erdbeben reagiert hat.<br />
Laut der offiziellen Website des<br />
türkischen Wahlrats (YSK) waren bei den<br />
letzten Präsidentschaftswahlen in der<br />
Türkei im Jahr 2018 insgesamt 106.004<br />
türkische Staatsbürger:innen in Österreich<br />
wahlberechtigt. Dies entspricht<br />
etwa 3,4 % der insgesamt etwa 3,2<br />
Millionen wahlberechtigten Türk:innen<br />
weltweit.<br />
Eine von ihnen ist Ebru. Ebru ist 25<br />
Jahre alt und ist türkischstämmige Österreicherin<br />
und Muslima. „Ich habe früher<br />
Erdoğan gewählt, ich habe die AKP<br />
© YASIN AKGUL / AFP / picturedesk.com<br />
16 / POLITIKA /
unterstützt. Weil er in der eher laizistischen<br />
Türkei den Frauen, den kopftuchtragenden<br />
Frauen, die Freiheit bei der<br />
Ausübung der Religion anerkannt hat.“<br />
Ihre Einstellung hat sich aber im Laufe<br />
der letzten Jahre geändert. „Mittlerweile<br />
sehe ich das nicht mehr so: Ich bin kein<br />
Fan von seiner autoritären politischen<br />
Regierungsart und seiner zunehmend<br />
aggressiven Außenpolitik.“ Ebru sieht<br />
Erdoğans Politik als eine Bedrohung für<br />
die Demokratie in der Türkei und als Hindernis<br />
für die wirtschaftliche und soziale<br />
Entwicklung des Landes.<br />
„ICH HABE ANGST,<br />
AUF DEM RADAR DER<br />
TÜRKISCHEN REGIERUNG<br />
ZU LANDEN.“<br />
Seit Mitte Oktober 2022 existiert in der<br />
Türkei das Desinformationsgesetz. Ziel ist<br />
es, die Verbreitung von Fehlinformationen<br />
zu stoppen. Ein Teil der Bevölkerung<br />
sieht darin allerdings nur den Versuch,<br />
Regierungskritiker:innen einzuschüchtern.<br />
Wer vermeintliche Desinformationen<br />
verbreitet, muss mit bis zu drei<br />
Jahren Haft rechnen. Aus diesem Grund<br />
schlucken viele Bürger:innen ihre Wut<br />
runter, statt sie öffentlich auszusprechen.<br />
„Ich habe Angst, auf dem Radar der<br />
türkischen Regierung zu landen“, erzählt<br />
die Wienerin Sila nervös. Die 22-Jährige<br />
kommt aus Malatya, einer Stadt, die<br />
durch das Erdbeben fast vollständig zerstört<br />
wurde. Sie ist wütend und hätte viel<br />
an der Regierung zu kritisieren, allerdings<br />
gestaltet sich das nicht so einfach. Sila<br />
erzählt von türkischen Bürger:innen, die<br />
über Twitter Kritik äußerten und danach<br />
eine Klage am Hals hatten. „Erdoğan<br />
schränkte die Nutzung von Twitter und<br />
Instagram ein, mit der Begründung, dass<br />
Fehlinformationen verbreitet und eine<br />
falsche Angst geweckt werden würde.“<br />
Sie sieht diese Maßnahme Erdoğans<br />
als einen Versuch, nur Propaganda aus<br />
seinen eigenen Reihen an die Öffentlichkeit<br />
zu lassen. Sila berichtet von Videos,<br />
in denen die AKP-Regierung und Erdoğan<br />
gezeigt werden, wie sie Betroffene im<br />
Krankenhaus besuchen und erzählen,<br />
dass sie keinen im Stich lassen würden.<br />
„Sogar als viele Länder ihre externe Hilfe<br />
angeboten hatten, erklärte er, dass die<br />
Türkei keine Hilfeleistungen brauchen<br />
Präsident Recep Tayyip Erdoğan gerät<br />
immer mehr unter Druck<br />
würde. Die AKP-Regierung würde mehr<br />
als genug für die Bürger:innen tun.“ Laut<br />
der 22-Jährigen kursiert das Gerücht,<br />
dass Personen, die sich kritisch zu der<br />
Erdbebensituation oder der Erdbebensteuer<br />
äußern, früher oder später dafür<br />
bestraft würden, weshalb auch sie ihre<br />
Wut einfach runterschluckt. ●<br />
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Ihr Arbeitsmarktservice Wien.
Frau Thalhammer,<br />
wie oft wurden Sie<br />
beschattet?<br />
Wie viele Jahre<br />
wird es noch<br />
gedruckte<br />
Magazine<br />
geben?<br />
Wie viele Jahre<br />
wird es profil<br />
noch geben?<br />
Wie viele<br />
Politiker:innen<br />
sind aufgrund<br />
Ihrer Recherchen<br />
zurückgetreten?<br />
Interview in Zahlen:<br />
In Politik & Medien wird schon<br />
genug geredet. Biber fragt in<br />
Worten, die neue profil-Chefredakteurin<br />
Anna Thalhammer<br />
antwortet in Zahlen.<br />
10<br />
100<br />
3<br />
Von Simon Kravagna, Fotos: Franziska Liehl<br />
Investigativjournalistin Anna Thalhammer (37)<br />
wurde einmal beschattet.<br />
Die neue Profil-Chefredakteurin hat nicht nur Freunde:<br />
10 Politiker:innen sprechen nicht mit ihr.<br />
Wie oft wurden<br />
Sie aufgrund<br />
Ihrer Arbeit<br />
beschattet?<br />
Wie oft wurden<br />
Sie angezeigt?<br />
Wie oft wurden<br />
Sie verurteilt?<br />
Wie viele gute<br />
Investigativjournalist:innen<br />
hat Österreich?<br />
Wie viele<br />
Parteien haben<br />
Sie bereits in<br />
Ihrem Leben<br />
gewählt?<br />
1<br />
3<br />
0<br />
5<br />
3<br />
18 / POLITIKA /
Mit wie vielen<br />
Politiker:innen<br />
sind Sie per<br />
Du?<br />
Mit wie vielen<br />
Politiker:innen<br />
sind Sie<br />
befreundet?<br />
Wie viele<br />
Politiker:innen<br />
sprechen<br />
nicht mehr mit<br />
Ihnen?<br />
Wie oft<br />
mussten Sie<br />
eine Gegendarstellung<br />
bringen?<br />
Wie oft wurde<br />
versucht,<br />
Ihr Handy<br />
beschlagnahmen<br />
zu<br />
lassen?<br />
7<br />
0<br />
10<br />
4<br />
2<br />
Zweimal gab es vergebliche Versuche,<br />
ihr Handy beschlagnahmen zu lassen.<br />
Viermal musste sie eine medienrechtliche<br />
Gegendarstellung veröffentlichen.<br />
Wie viele<br />
Stunden pro Tag<br />
verbringen Sie<br />
auf Twitter?<br />
Wie viele<br />
Stunden pro<br />
Tag verbringen<br />
Sie auf TikTok?<br />
Wie viele<br />
Stunden<br />
arbeiten Sie<br />
pro Tag?<br />
Wie viele<br />
Stunden Schlaf<br />
brauchen Sie<br />
pro Nacht?<br />
Wie viele<br />
Stunden Schlaf<br />
bekommen Sie?<br />
4<br />
0<br />
14<br />
9<br />
6<br />
/ POLITIKA / 19
EIN<br />
JAHR<br />
KRIEG<br />
Am 24. Februar jährte sich die russische Invasion in der Ukraine zum<br />
ersten Mal. Betroffene mit Wurzeln in der Ukraine und Russland<br />
erzählen, wie sich ihr Leben und ihre Beziehungen zwischen Flucht,<br />
Fake News und Propaganda seither verändert haben.<br />
Von Nada El-Azar-Chekh, Illustrationen: Thomas Süß<br />
20 / POLITIKA /
Viele meiner ukrainischen Freunde haben das<br />
Gefühl, dass man zwar etwas für die Zukunft<br />
planen kann, vieles aber im nächsten Moment<br />
auch einfach keinen Sinn mehr machen kann.<br />
Das Leben ist so flüchtig geworden – du könntest einschlafen<br />
und zack, gibt es dich nicht mehr. Ähnlich wie bei dem<br />
Erdbeben in der Türkei und in Syrien kann von heute auf<br />
morgen alles weg sein“, sagt Olesya. Die 35-Jährige lebt seit<br />
2011 in Wien, wo sie als Modedesignerin arbeitet. Seit dem<br />
24. Februar 2022 ist die Welt nicht mehr dieselbe. An diesen<br />
Tag wird sie sich ihr ganzes Leben erinnern können. „Ich<br />
konnte nachts nicht schlafen und bin mit meinem Handy im<br />
Bett gelegen. Dann bekam ich um vier Uhr früh eine Nachricht<br />
von einer Freundin aus Kiew, dass Explosionen zu hören<br />
waren.“ Ihr Blick geht in die Ferne und sie stößt einen tiefen<br />
Seufzer aus. Bereits einen Monat vor Beginn der Invasion<br />
spürte sie eine große Nervosität angesichts der sich immer<br />
weiter zuspitzenden Lage. Russische Truppen formierten sich<br />
um die Grenzen der Ukraine für militärische Übungen. Olesyas<br />
Eltern leben in der Stadt Mikolayiv im Süden der Ukraine,<br />
die etwa 60 Kilometer von der Krim entfernt liegt. Sie erinnert<br />
sich daran, wie viel Überzeugungskraft es kostete, ihre<br />
Eltern dazu zu bringen, zumindest einen Notfallrucksack zu<br />
packen, bevor Russland den Überfall auf die Ukraine startete.<br />
„Mikolayiv war früher, neben Sankt Petersburg, die<br />
zweitwichtigste Schiffbaustadt in der Sowjetunion. Dort<br />
stehen große Fabriken, die teilweise heute immer noch in<br />
Betrieb sind. Man weiß, dass Russland Kontrolle über das<br />
Asowsche Meer will und weiter nach Transnistrien strebt“,<br />
so Olesya. Sie spürte von Anfang an, dass dies ein längerer<br />
Krieg werden würde und nicht eine kurze „militärische<br />
Spezialoperation“, wie von russischer Seite das Vorgehen<br />
der russischen Armee in der Ukraine bis heute genannt wird.<br />
Sie wusste, dass die Ukrainer nicht so<br />
schnell aufgeben würden. „Jeder lernt<br />
in der Schule über die Kosakenseele der<br />
Ukraine, es geht darum, seine Heimat<br />
zu verteidigen“, so die Modedesignerin.<br />
Sie kennt einige Männer persönlich, die<br />
vormals etwa in der IT gearbeitet haben,<br />
und nun in der Armee ihr Heimatland<br />
verteidigen müssen.<br />
Seit Beginn des russischen Überfalls<br />
sind über acht Millionen Flüchtlinge aus<br />
„<br />
Was in Butscha alles<br />
von jungen russischen<br />
Soldaten an Videos<br />
aufgenommen und auch<br />
vielfach geteilt wurde, ist<br />
einfach schrecklich.<br />
“<br />
der Ukraine in Europa registriert worden. Nach Angaben<br />
der Vereinigten Nationen sind 2,8 Millionen Flüchtlinge<br />
aus der Ukraine in Russland. Polen, Deutschland und die<br />
Tschechische Republik folgen zahlenmäßig als Hauptziele<br />
der jüngsten Fluchtbewegungen. Genaue Zahlen über die<br />
militärischen Verluste dieses Konflikts zu finden, ist schwer.<br />
Weder von ukrainischer, noch von russischer Seite gibt es<br />
hierzu verlässliche Zahlen. Offiziell hat der ukrainische Präsident<br />
Selenskyi zuletzt im Dezember 2022 von 10.000 bis<br />
13.000 verlorenen Streitkräften gesprochen. Die russische<br />
Regierung hat im September 2022 etwa 6.000 Verluste in<br />
der Armee gezählt. Im Westen geht man davon aus, dass<br />
es sich in Wahrheit um mehrere Zehntausend Getötete auf<br />
beiden Seiten handeln muss – zivile Opfer nicht mitgezählt.<br />
Zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 2. Jänner 20<strong>23</strong><br />
zählt die UNHCR etwa 6.919 zivile Todesopfer und 11.075<br />
Verletzte in der Ukraine alleine. Derzeit konzentrieren sich die<br />
Kämpfe auf den Osten der Ukraine, wo Russland im Februar<br />
20<strong>23</strong> eine weitere Großoffensive gestartet hat. Immer wieder<br />
wird die ukrainische Energieinfrastruktur von Russland bombardiert.<br />
„MEINE VERWANDTSCHAFT IN<br />
RUSSLAND IST VERLOREN.“<br />
Besonders prägend ist für Olesya das Gefühl, dass sich mit<br />
dem Krieg das Leben in zwei Teile geteilt hat – und das nicht<br />
nur im Sinne eines Lebens vor der Invasion und eines nach<br />
der Invasion.<br />
Mit ihren Freundinnen und Freunden aus Russland und<br />
Belarus ist sie in diesem Jahr noch enger zusammengewachsen.<br />
„Meine Verwandtschaft in Russland ist hingegen<br />
verloren – manche von ihnen haben sich bis jetzt nicht<br />
einmal bei mir gemeldet. Früher bin ich mit meiner Familie<br />
regelmäßig auf Besuch in Russland gewesen und es war<br />
normal, dass zwanzig Personen auf mich zukamen und mich<br />
abküssten.“ Sie schüttelt den Kopf und erzählt von einem<br />
engen Bekannten in der Familie, den sie Onkel nannte. „Seit<br />
er 18 Jahre alt war, war er in der russischen Armee. Natürlich<br />
habe ich versucht, mit ihm darüber zu reden, warum er<br />
sich für einen Lebensweg als Soldat entschieden hatte. Aber<br />
man muss verstehen, dass es in vielen Teilen Russlands<br />
verdammt hart ist, einen Lebensunterhalt zu verdienen und<br />
deshalb viele Männer aus Verzweiflung in die Armee gehen.<br />
Die russische Regierung hat das Leben vielerorts so hart<br />
gemacht, dass der einzige Ausweg aus der Armut die Armee<br />
ist. Russland investiert enorm viele Ressourcen in das Militär.<br />
Heute arbeitet er in einer Raketenbasis,<br />
von der aus mein Heimatland bombardiert<br />
wird.“<br />
BILDER AUS BUTSCHA<br />
Am meisten erschütterten sie die vielen<br />
Videoaufnahmen aus den besetzten<br />
Gebieten, die sich über das Internet<br />
verbreiteten. „Was dort alles von jungen<br />
russischen Soldaten an Videos aufgenommen<br />
und auch vielfach geteilt wur-<br />
/ POLITIKA / 21
de, ist einfach schrecklich.<br />
Vergewaltigungen, Folter<br />
und andere Dinge, über die<br />
meine Tanten in der Ukraine<br />
bis jetzt nicht einmal<br />
sprechen können“, sagt die<br />
35-Jährige bedrückt. „Als<br />
ich die Bilder aus Butscha<br />
sah, wusste ich sofort,<br />
dass die Meldungen wahr<br />
gewesen sind. Ich kenne<br />
doch diese Wälder, mit den<br />
langen, dünnen Tannenbäumen.<br />
Da kann mir niemand<br />
etwas vormachen.“<br />
HARTE STRA-<br />
FEN FÜR UNTER-<br />
STÜTZUNG DER<br />
UKRAINE<br />
Wie Olesya lebt auch die<br />
Russin Anna bereits seit<br />
2011 in Wien. „Der Krieg<br />
hat meine gesamte Familie<br />
gespalten. Mein Vater hat<br />
sich mit seinen Brüdern so<br />
sehr zerstritten, dass er den<br />
Kontakt zu ihnen abbrechen<br />
musste. Auch meine Mutter<br />
hat viele ihrer Freundinnen verloren“, so die 33-jährige<br />
Studentin aus Moskau. Durch Meinungsverschiedenheiten<br />
zum russischen Angriffskrieg hat Anna sehr viele Bekannte<br />
und Freunde in ihrem Heimatland verloren. „Heute weiß ich,<br />
dass es einfach viele Leute gibt, die nichts von dem wissen<br />
wollen, was um sie herum passiert“, so Anna.<br />
Sie erzählt, dass sie bereits einige Tage nach Beginn der<br />
Invasion auf Facebook ein Posting veröffentlichte, in dem<br />
sie den Krieg verurteilte. „Das politische Klima ist derzeit<br />
so angespannt, dass man sich nicht traut, kritisch über den<br />
Krieg zu sprechen, was zu einer großen Einsamkeit führt.<br />
Nicht nur, weil es für jegliche Unterstützung der Ukraine<br />
harte Strafen [siehe Infobox] gibt, sondern auch, weil in der<br />
Gesellschaft verrückte Sachen kursieren“, so Anna. Einige<br />
ihrer Kontakte in Russland warfen ihr vor, dass sie amerikanische<br />
Propaganda verbreiten würde, und rieten ihr, das<br />
Posting zu löschen. Von einer ihrer besten Freundinnen<br />
wurde sie kommentarlos blockiert. Jedoch bekam sie auch<br />
viel Zuspruch, vor allem von ukrainischen<br />
Freundinnen und Freunden, so wie auch<br />
von ihren Eltern. „Mein Vater rief mich an<br />
und er war sehr dankbar, dass ich meine<br />
Meinung öffentlich machte. Er meinte,<br />
dass man zu lange unterdrückt wurde,<br />
auch schon zu Sowjetzeiten, und dass<br />
es endlich an der Zeit ist, die Muster zu<br />
brechen“, so die gebürtige Russin.<br />
Im November 2022 emigrierten<br />
„<br />
Das politische Klima ist<br />
derzeit so angespannt,<br />
dass man sich nicht<br />
traut, kritisch über den<br />
Krieg zu sprechen.<br />
“<br />
22 / POLITIKA /<br />
Annas Eltern nach Bulgarien.<br />
Schätzungen zufolge<br />
haben etwa 900.000<br />
russische StaatsbürgerInnen<br />
ihr Heimatland verlassen.<br />
Hauptsächlich halten sich<br />
die Emigranten in Ländern<br />
wie der Türkei, Armenien,<br />
Georgien oder Serbien auf.<br />
„Ich bin froh, dass ich meine<br />
Eltern in einem sicheren<br />
Land besuchen kann, was<br />
viele russische Bürger nicht<br />
können. Aber was ist mit all<br />
den Dingen, die über Generationen<br />
in unserer Familie<br />
weitergegeben wurden? Mir<br />
tut es weh, dass sie alles,<br />
was die Geschichte unserer<br />
Familie ausmacht, in Moskau<br />
zurücklassen mussten“, so<br />
Anna.<br />
FAMILIENALLTAG<br />
IM INTERNET<br />
Für Maksim war ein Krieg bis<br />
zum Beginn der Invasion am<br />
24. Februar unvorstellbar.<br />
„Es war so unglaublich, dass<br />
ich es sogar für einen Bluff hielt, als mir meine ukrainischen<br />
Freunde von den russischen Truppen an der Grenze erzählten.“<br />
Er lebt seit 2012 in Wien, wo er als Dirigent arbeitet,<br />
und war zum letzten Mal in seiner Heimatstadt Moskau in der<br />
Woche vor Kriegsausbruch. Mit seiner Familie in Russland ist<br />
er nur noch über das Internet, über Whatsapp, Telegram und<br />
Facetime verbunden – bereits vor Kriegsbeginn war es in der<br />
Coronazeit schwer, seine Angehörigen zu sehen. „Das wird<br />
noch länger so sein“, befürchtet er.<br />
Kurz nach Kriegsausbruch wurde Maksim eine Absage<br />
für ein großes Konzert in Berlin erteilt, mit der Begründung<br />
der Agentur, dass man in dieser politischen Situation keinen<br />
russischen Dirigenten groß ankündigen könne. „Ich habe<br />
das nachvollziehen können – als Veranstalter will man sich<br />
auch nicht den Fragen aus dem Publikum stellen. Ich habe<br />
in diesem Jahr ehrlich gesagt mehr in Russland verloren, als<br />
ich hier in Österreich verloren habe. Hierzulande kenne ich<br />
niemanden, der diesen Krieg unterstützt. Die Protestkultur<br />
wurde in Russland hingegen erfolgreich<br />
erstickt – jegliche Oppositionelle<br />
sitzen im Gefängnis oder mussten das<br />
Land verlassen“, erklärt Maksim. Als<br />
männlicher Staatsbürger befürchtet er<br />
auch, von einer weiteren Mobilisierung<br />
in Russland betroffen zu sein. „Ich bin<br />
mir nicht sicher, ob ich dort überhaupt<br />
in dem System bin. Meine Mutter hat<br />
jedenfalls bis jetzt keinen Brief vom
örtlichen Militärkommissariat bekommen. Dieses Jahr sollte<br />
ich noch zwei Konzerte in Russland dirigieren – beide werde<br />
ich aber definitiv absagen. Auch wenn ich nicht in die<br />
Armee eingezogen werde, ist es durchaus möglich, dass<br />
ich nicht mehr aus Russland ausreisen kann“, so Maksim.<br />
Momentan herrscht unter Putin politische Willkür. Jeden<br />
Tag könnten neue Gesetze in Kraft treten, welche die Zivilbevölkerung<br />
weiter unterdrücken.<br />
PROPAGANDA: KRIEG IST FRIEDEN<br />
Die russische Staatspropaganda hat ihre Spuren auch in<br />
seiner Familie hinterlassen. „Wenn meine Mutter von der<br />
Arbeit nachhause kommt, läuft im Hintergrund der Fernseher,<br />
wo immer dieselben Geschichten erzählt werden.<br />
Irgendwann fragen sich die Leute da natürlich: Vielleicht<br />
stimmt das alles, was da im Fernsehen erzählt wird?“,<br />
meint Maksim. So ist sein Vater heute skeptisch dem<br />
Vorgehen der russischen Armee gegenüber, während seine<br />
Mutter es legitim findet.<br />
Ähnlich geht es auch dem gebürtigen Ukrainer Dmytro,<br />
der in Charkiw geboren und aufgewachsen ist. Seine<br />
Familie ist auf die Länder Russland und Ukraine aufgeteilt.<br />
Seine Mutter wurde in der Sowjetunion auf dem Gebiet<br />
des heutigen Russland geboren, sein Vater wurde in der<br />
ukrainischen Oblast Luhansk geboren und übersiedelte<br />
später nach Russland. Derzeit lebt nur noch seine Mutter in<br />
der Ukraine, denn sie will Dmytros Stiefvater nicht zurücklassen,<br />
der als unter 60-jähriger Mann das Land nicht<br />
verlassen darf. Der Maschinenbaustudent lebt derzeit in<br />
Fotos: shutterstock<br />
JETZT<br />
KURSE BUCHEN<br />
UND AK-BILDUNGS-<br />
GUTSCHEIN<br />
EINLÖSEN!<br />
WARUM IST ES IN RUSSLAND SO<br />
GEFÄHRLICH, DEN KRIEG IN DER UKRA-<br />
INE ZU VERURTEILEN?<br />
Mit Anfang März 2022 trat ein neues Paket an<br />
Gesetzen in der Russischen Föderation in Kraft,<br />
nach denen die „Diskreditierung der russischen<br />
Armee“, der „Aufruf zu Sanktionen gegen die<br />
Russische Föderation“ sowie die „Verbreitung von<br />
Falschnachrichten über russische Streitkräfte“ mit<br />
Geld- und Freiheitsstrafen geahndet werden. Bereits<br />
drei Monate nach dem Erlass der Gesetze wurden<br />
über 2.500 BürgerInnen zu Geldstrafen von insgesamt<br />
87,5 Millionen Rubel verurteilt. Prominente<br />
Fälle sind etwa die Verurteilung des Bloggers Ilya<br />
Yashin zu achteinhalb Jahren Strafkolonie wegen<br />
Aussagen über die Geschehnisse in Butscha, oder<br />
auch die Verurteilung des Journalisten Alexander<br />
Nevzorov für seine Kommentare über den Angriff<br />
einer Geburtsstation in der ukrainischen Stadt Mariupol.<br />
Nevzorov, der im März 2022 Russland verließ,<br />
wurde unter Abwesenheit von einem Moskauer<br />
Gericht zu acht Jahren Strafkolonie verurteilt. Selbst<br />
wenn er die Strafe absitzen würde, dürfte er weitere<br />
vier Jahre lang nichts im Internet veröffentlichen.<br />
Zeit für<br />
Erfolgserlebnisse<br />
Weiterbildung erhöht Ihre Einstiegs- und Aufstiegschancen<br />
im Berufsleben. Die Wiener Volkshochschulen<br />
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Bildung<br />
und Jugend<br />
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Hamburg. „Für mich war es sehr schwer zu sehen, wie Charkiw<br />
bombardiert wurde, und natürlich machte ich mir Sorgen<br />
um meine Mutter. Eine Rakete ist in das benachbarte Haus<br />
eingeschlagen, etwa 30 Meter entfernt von unserem. Man<br />
will sich das nicht einmal vorstellen“, so der <strong>23</strong>-Jährige.<br />
Das letzte Mal besuchte er seine Familie in Russland im<br />
Sommer 2021. „Ich habe zwar nicht bewusst ferngesehen,<br />
aber mir ist trotzdem untergekommen, was den Leuten dort<br />
so eingetrichtert wird.“ Dmytro erzählt, dass es in der Wohnung<br />
seiner Oma drei Fernseher gibt, für jedes Zimmer<br />
einen. Er verglich die Bildschirme mit jenen<br />
aus dem Buch „1984“ von George Orwell.<br />
So spricht Präsident Putin von einer „Befreiung<br />
der Ukraine von Nazis“ durch seine „militärische<br />
Spezialoperation“, frei nach dem Motto „Krieg<br />
ist Frieden“. Jegliche Fakten über den Konflikt<br />
werden verdreht und an die Ziele der russischen<br />
Regierung angepasst.<br />
„Jeden Tag haben solche Typen wie Soloviov<br />
und Kiseliov in Talkshows [siehe Infobox] auf verschiedenen<br />
Kanälen in irgendeiner Form negativ über die<br />
Ukraine gesprochen. Eine Stunde lang ging es darum, was<br />
alles an der Ukraine doof ist, als ob es im territorial größten<br />
Land der Welt keine anderen Probleme gäbe. Im Nachhinein<br />
macht es Sinn, wie die Bevölkerung ideologisch auf die heutige<br />
Situation vorbereitet wurde“, so der gebürtige Ukrainer.<br />
Das russische Staatsfernsehen kontrolliert gezielt die<br />
Wahrnehmung über den Krieg in der eigenen Bevölkerung.<br />
Unabhängige Medien werden dort schon seit Jahren verfolgt<br />
– seit Kriegsbeginn gilt jegliche Berichterstattung über den<br />
Krieg, die sich von der offiziellen Ideologie der russischen<br />
Regierung unterscheidet, als „Fake News“ und ist somit<br />
gesetzeswidrig.<br />
RUSSLANDS BEKANNTESTE<br />
P ROPAGANDISTEN<br />
Vladimir Soloviov (*1963) ist ein bekannter russischer<br />
Journalist und Moderator. Unter anderem in<br />
seiner Talksendung „Der Abend mit Vladimir Soloviov“<br />
verbreitet er seit vielen Jahren rigide Theorien über<br />
das politische Geschehen in Russland. So sollen die<br />
Vergiftungen der Oppositionellen Sergey Skripal und<br />
Alexey Navalny Produkte einer westlichen Provokation<br />
sein.<br />
Dmitrij Kiseliov (*1954) ist ein Journalist und<br />
Generaldirektor der von Präsident Putin gegründeten<br />
Medienagentur „Russland Heute“. Besonders<br />
bekannt ist er durch seine propagandistische Nachrichtenshow<br />
„Die Nachrichten der Woche“, die stets<br />
sonntags auf dem staatlichen Hauptsender „Rossija<br />
1“ zur Primetime läuft.<br />
HOFFNUNG AUF REVOLUTION<br />
So glaube seine Oma sehr stark an das, was im Staatsfernsehen<br />
über den Krieg berichtet wird. „Das hat mich<br />
schon sehr überrascht, weil ich zu Beginn dachte, dass die<br />
Tatsachen doch auf der Hand liegen würden. Man kann sie<br />
nicht überreden – beispielsweise ist das Argument, dass die<br />
Ukraine den ganzen Konflikt mit dem Donbass begonnen<br />
hätte, zu stark.“ Dmytro stritt sich so lange mit seiner Oma,<br />
bis er es aufgeben musste. Mit seiner Cousine, die im selben<br />
Alter ist wie er, sieht es jedoch anders aus. „Sie versteht,<br />
was passiert, wie viele jüngeren Leute eben auch. Sie lesen<br />
westliche Medien und wir kommen diesbezüglich miteinander<br />
gut klar.“ Viele seiner Freunde in der Ukraine, die muttersprachlich<br />
mit dem Russischen aufgewachsen sind, haben<br />
die Alltagssprache ins Ukrainische gewechselt. „Ich kann es<br />
nachvollziehen, aber in meinem Fall stellt sich die Frage, mit<br />
wem ich Ukrainisch sprechen soll, wenn doch fast meine<br />
ganze Familie – bis auf meine Mutter – in Russland ist.“<br />
Dmytro hofft, wie Maksim auch, dass vor allem die junge<br />
Generation in Russland für eine demokratische Zukunft<br />
kämpfen wird. „Irgendwann kommt die Revolution und dann<br />
auch der Bürgerkrieg. Anders kann ich mir das gar nicht<br />
vorstellen“, so Maksim. Olesya betont hingegen, wie wichtig<br />
ein Sieg der Ukraine ihrer Meinung nach für das politische<br />
Weltgeschehen wäre. „Russland darf damit einfach nicht<br />
durchkommen. Dieser Krieg hat eine Symbolfunktion für<br />
andere Konflikte auf der Welt: China und Taiwan oder auch<br />
Nordkorea und Südkorea. Wenn die Ukraine diesen Krieg<br />
verliert, ist das ein Zeichen dafür, dass völkerrechtswidrige<br />
Politik eine Zukunft hat. Das will doch niemand.“ ●<br />
24 / POLITIKA /
„Wir alle<br />
sind Wien!“<br />
Der „Waldhäusl-Sager“ sorgte<br />
für heftige Kritik in Politik,<br />
Medien aber auch unter<br />
Wiener Schüler:innen. Sie<br />
selbst hat Migrationshintergrund,<br />
kennt Diskriminierung<br />
und möchte deshalb jungen<br />
Migrant:innen in Wien Mut<br />
machen. Justizministerin<br />
Alma Zadić im Interview.<br />
Interview: Aleksandra Tulej,<br />
Foto: Franziska Liehl, Transkript: Layla Ahmed<br />
<strong>BIBER</strong>: Frau Zadić, FPÖ-Landesrat<br />
Gottfried Waldhäusl meinte letztens in<br />
einer TV-Sendung zu einer Schulklasse,<br />
dass „wenn weniger Menschen mit<br />
Migrationshintergrund in Wien leben<br />
würden, dann ‚wäre Wien noch Wien‘. In<br />
Österreich hat aber rund ein Viertel der<br />
Menschen einen Migrationshintergrund,<br />
in Wien ist es die Hälfte der Bevölkerung.<br />
Was für ein Wien wäre es denn, wenn<br />
diese Menschen alle nicht hier leben<br />
würden?<br />
ALMA ZADIĆ: Ich muss Herrn Waldhäusl<br />
leider ausrichten, dass er Geschichte<br />
lernen muss. Wien war immer bunt und<br />
vielfältig. Dass Wien zu den lebenswertesten<br />
Städten der Welt gehört, ist auch<br />
wegen der Menschen, die hier leben. Die<br />
Menschen machen diese Stadt aus und<br />
Wien war auch seit Generationen eine<br />
Einwanderungsstadt.<br />
Was würden Sie Jugendlichen, vor allem<br />
jenen mit Migrationshintergrund, sagen,<br />
die sich jetzt von diesem Sager angegriffen<br />
fühlen?<br />
Er greift damit nicht nur diese eine<br />
Schulklasse an, sondern Wien als Ganzes.<br />
Er greift damit Menschen an, die in<br />
Wien geboren sind, die in Wien aufgewachsen<br />
sind, die in Wien leben, und da<br />
möchte ich Menschen Mut machen und<br />
erstens sagen: „Bitte steht auf, wenn<br />
solche Sager kommen. Ihr seid Wien, wir<br />
alle sind Wien.“ Das haben zum Glück<br />
auch ganz viele getan. Es gibt so viele<br />
Menschen mit Migrationshintergrund, mit<br />
Migrationsgeschichte, mit Migrationsbiografie<br />
hier in Österreich. Daher - nicht<br />
ernst nehmen, Krone aufsetzen und<br />
mutig durch die Welt gehen. Es gibt eine<br />
ganz große Mehrheit, die hinter diesen<br />
Schüler:innen steht.<br />
Sie haben selbst Migrationshintergrund<br />
und haben in Ihrer Kindheit, Jugend und<br />
auch jetzt in Ihrer Laufbahn als Ministerin<br />
Diskriminierungserfahrungen gemacht.<br />
Was hat diese Aussage in Ihnen persönlich<br />
ausgelöst?<br />
Ich habe mich in eine Zeit zurückversetzt<br />
gefühlt, als ich selbst Jugendliche war.<br />
Ich kannte das damals gut: Man will zu<br />
der Gesellschaft, in der man aufwächst,<br />
dazugehören. Dieses Recht wird einem<br />
aber immer auf verschiedenen Ebenen<br />
abgesprochen. An ein Ereignis erinnere<br />
ich mich besonders gut. Damals war<br />
ich 13 Jahre alt: Ich bin zu einer Sporthalle<br />
gefahren und habe den Straßenbahnfahrer<br />
gefragt, ob das die richtige<br />
Straßenbahn zu dieser Sporthalle ist. Er<br />
hat mich angeschaut und geantwortet:<br />
„Tschuschen fahren da nirgends hin.“<br />
Das war so ein Rückschlag. Ich habe<br />
mich hingesetzt und habe geweint, weil<br />
ich es nicht verstanden habe, wieso mir<br />
das Recht, an dieser Gesellschaft teilzuhaben,<br />
abgesprochen wird. Das Gute ist,<br />
dass man im Leben auch viel Positives<br />
erfährt, dass man vielen Menschen<br />
begegnet, die einem Mut zusprechen,<br />
die einen als ein Teil der Gesellschaft<br />
sehen.<br />
Waldhäusl aber steht nach wie vor hinter<br />
seiner Aussage. Welche Konsequenzen<br />
könnte oder sollte es geben?<br />
Ich glaube, die wichtigste Konsequenz<br />
ist, dass viele Menschen aufstehen, weil<br />
sie sehen, dass diese Aussage rassistisch<br />
ist und Jugendlichen das Recht dazuzugehören<br />
abspricht. Es ist wichtig, die<br />
Mehrheit wachzurütteln und zu sagen,<br />
dass wir unsere Demokratie und Freiheit<br />
verteidigen müssen. Solche Aussagen,<br />
die der Herr Waldhäusl getätigt hat,<br />
sind bei uns in Österreich fehl am Platz.<br />
Natürlich gibt es eine Anzeige und die<br />
Staatsanwaltschaft wird auch diese<br />
Anzeige prüfen. Dann muss sich natürlich<br />
auch die Freiheitliche Partei überlegen,<br />
ob der Herr Waldhäusl wirklich die richtige<br />
Person in diesem Amt ist, zumal er<br />
auch Integrationssprecher ist und Integrationslandesrat.<br />
Das ist absolut zynisch.<br />
/ POLITIKA / 25
„ÖSTERREICH,<br />
WIESO BIN ICH<br />
EINE GEFAHR<br />
FÜR DICH?“<br />
Osama Abu El Hosna, der einstige „Held der<br />
Wiener Terrornacht“, darf kein Österreicher<br />
werden. Die Begründung? Osama stelle eine<br />
„Gefahr für Österreich dar“.<br />
Der haltlose Vorwurf? Er würde sich im Umfeld<br />
einer terroristischen Organisation bewegen. Jener,<br />
vor der seine Eltern aus Palästina nach Österreich<br />
geflohen sind. Der Staatenlose über sein Leben im<br />
Teufelskreis zwischen Behörden, Vorwürfen und<br />
Generalverdacht. Von Aleksandra Tulej, Fotos: Mala Kolumna<br />
Mir geht’s gerade extrem<br />
schlecht. Aber ich will<br />
mich trotzdem nicht<br />
demotivieren lassen“, sagt<br />
Osama Abu El Hosna gleich zu Beginn<br />
unseres Treffens. „Glaubst du, wenn ich<br />
ein Foto mit Bier in der Hand auf Social<br />
Media poste, bin ich dann integriert<br />
genug? Will mich Österreich dann?“,<br />
fragt sein Bruder Mansour lachend in<br />
die Runde. Aber gleich danach wird er<br />
ernst. „Ehrlich jetzt: Ich tue mir gerade<br />
schwer, noch auf irgendwas zu hoffen.“<br />
Wir treffen Osama und Mansour im Café<br />
Prückel im ersten Bezirk. Das Café, in<br />
dem wir sitzen, ist nur ein paar Minuten<br />
Fußweg vom Schwedenplatz entfernt<br />
– genau dort, wo Osama in der Wiener<br />
Terrornacht am 2. November 2020<br />
einem Polizisten das Leben gerettet hat.<br />
Dadurch wurde er in der breiten Öffentlichkeit<br />
bekannt. Medien titelten ihn als<br />
„Helden der Terrornacht“, er bekam von<br />
Wiens Bürgermeister Michael Ludwig die<br />
„Rettungsmedaille des Landes Wien“.<br />
Jetzt, über zwei Jahre später, ist Osama<br />
wieder in den Medien: Er darf kein österreichischer<br />
Staatsbürger werden, weil er<br />
eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche<br />
Sicherheit der Republik Österreich“<br />
darstellen würde. Für Osama wird die<br />
Lage immer absurder: „Ich will gar kein<br />
Held sein, ich brauche keine Ehrenmedaillen.<br />
Ich will einfach nur endlich ganz<br />
normal hier leben.“<br />
VOM HELDEN ZUM<br />
VERDÄCHTIGEN<br />
Osama lebt als anerkannter Flüchtling<br />
seit 2013 mit seiner Familie in Österreich<br />
– er ist in Gaza, Palästina, geboren und<br />
somit staatenlos. Der 24-Jährige machte<br />
hier seinen Schulabschluss und arbeitet<br />
heute als Manager in einer Wiener<br />
McDonalds-Filiale. Am Abend des Terroranschlags<br />
am 2. November 2020 befand<br />
26 / POLITIKA /
Mansour (l.) und Osama (r.) Abu El Hosna dürfen keine Österreicher werden.<br />
Osama sich zufällig mitten im Geschehen<br />
und leistete bei einem angeschossenen<br />
Polizisten Ersthilfe, obwohl der Attentäter<br />
immer noch vor Ort war. Osama wurde<br />
daraufhin als Held gefeiert, bekam eine<br />
Ehrenmedaille verliehen. Kurz darauf<br />
geriet er aber im Zuge der Operation<br />
Luxor, der Großrazzia im November<br />
2020, ins Visier der Staatsanwaltschaft<br />
Graz. Die Begründung? Osama war in<br />
einem Hilfsverein tätig, der dem Verdacht<br />
der Ermittler zufolge Spendengelder<br />
aus Österreich in ein „mögliches<br />
Einflussgebiet der terroristischen Vereinigung<br />
Hamas“ weitergeleitet hätte.<br />
Bei dem Verein handelt es sich um die<br />
Organisation „International Hope Association“,<br />
die Spendengelder für Menschen<br />
unter anderem in Palästina sammelt.<br />
Bei der Operation Luxor kam es österreichweit<br />
zu etwa 60 teils rechtswidrigen<br />
Hausdurchsuchungen - im Verdacht<br />
standen mehr als 100 Beschuldigte,<br />
Anhänger und Unterstützer der Muslimbruderschaft<br />
bzw. der Terrororganisation<br />
Hamas zu sein. Bis dato haben sich<br />
die Vorwürfe aber noch bei keiner der<br />
beschuldigten Personen als bestätigt<br />
erwiesen, die Verfahren wurden nach<br />
und nach eingestellt. So auch in Osamas<br />
Fall.<br />
Wir spazieren zum Schwedenplatz,<br />
Osama zeigt uns genau den Baum, hinter<br />
dem der Attentäter sich versteckt hatte,<br />
den Ort, an dem der Polizist angeschossen<br />
wurde, die Betonbank, hinter der er<br />
seine Mitarbeiter in Sicherheit gebracht<br />
hat. Hier erinnert er sich an die Szenen,<br />
die er schon zig Mal der Polizei, den<br />
Medien und den Behörden geschildert<br />
hat. „Das ist alles egal jetzt, ich habe<br />
einfach das getan, was ich für richtig<br />
gehalten habe. Aber ich frage mich nur:<br />
Wieso will mich Österreich zuerst als<br />
Held feiern, und dann bin ich plötzlich<br />
eine Gefahr? Wieso darf ich hier dann<br />
überhaupt leben?“ Osama wollte mit<br />
seiner Tätigkeit im Spendenverein Menschen<br />
helfen, aber es wurde ihm zum<br />
Verhängnis:<br />
„Ich bin in Gaza geboren, Gaza wird<br />
von der Hamas kontrolliert. Meine Eltern<br />
sind vor dem Krieg geflüchtet, das heißt,<br />
sie sind auch vor der Hamas geflohen.<br />
Ich habe weder was mit denen zu tun,<br />
noch will ich irgendwas damit zu tun<br />
haben. Wie absurd ist das alles eigentlich?“,<br />
fragt Osama. Alles, was er wollte,<br />
war, Menschen in seiner Heimat mit<br />
Spenden zu helfen, da er selbst weiß,<br />
wie schwer das Leben dort ist. „Dass das<br />
ein Einflussgebiet der Hamas ist, weiß ja<br />
jeder. Das ist kein Geheimnis. Aber die<br />
Zivilbevölkerung ist die, die dort wirklich<br />
leidet, und für die haben wir Spenden<br />
gesammelt“, erklärt er. Sein 26-jähriger<br />
Bruder Mansour, der gelernter Finanzbuchhalter<br />
ist und in einer Steuerberatungskanzlei<br />
arbeitet, muss auch mit<br />
denselben Schikanen seitens des österreichischen<br />
Staates kämpfen. Mansour<br />
wird die Staatsbürgerschaft aus demselben<br />
Grund verweigert. „Mich ärgert<br />
das so, wenn ich sehe, wie viel Geld, ja,<br />
auch Steuergeld, an die Operation Luxor<br />
(s. Infobox) verschwendet wurde, wem<br />
bringt das etwas?“, fragt Mansour.<br />
An seine Kindheit in Gaza erinnert<br />
Osama sich nur ungern zurück: „Dort ist<br />
es einfach schrecklich. Es wurden Familienmitglieder<br />
vor meinen Augen getötet,<br />
als ich noch ein Kind war.“ Eine Situation<br />
ist Osama besonders gut im Gedächtnis<br />
geblieben: „Einmal wollten wir einen Verletzten<br />
wegtragen, ich habe ihn an seinen<br />
Beinen gepackt – aber der Kopf ist<br />
nicht mehr mitgekommen, ich hatte nur<br />
seine Beine in der Hand. Der war einfach<br />
durchgetrennt. Damals war ich 14 Jahre<br />
alt.“ Diese Erlebnisse prägten ihn so<br />
stark, dass er zumindest von Österreich<br />
aus in Palästina helfen will – einreisen<br />
darf er nach Gaza nicht, sonst würde er<br />
seinen Status in Österreich verlieren.<br />
„KEINE KONKRETEN<br />
BEWEISERGEBNISSE“<br />
Was das alles aber mit ihm als Einzelperson<br />
zu tun hat, kann er nicht verstehen<br />
– weder auf bürokratischer, noch auf<br />
menschlicher Ebene. „Ich will jetzt nicht<br />
sagen ‚nur weil ich Palästinenser bin‘<br />
- ich weiß, wie schwierig die politische<br />
Lage ist. Aber ganz ehrlich: Wo bin ich<br />
bitte eine Gefahr für irgendwen?“, wundert<br />
sich Osama verärgert. Das sehen die<br />
Behörden anders:<br />
Das Landesamt für Verfassungsschutz<br />
und Terrorismusbekämpfung<br />
(LVT) hält in seinem Bericht fest,<br />
Osama Abu El Hosna würde „nach<br />
wie vor im Umfeld der terroristischen<br />
Gruppierung Hamas in Erscheinung“<br />
treten. Eine Verleihung der Staatsbürgerschaft<br />
würde daher „eine erhebliche<br />
Gefahr für die öffentliche Sicherheit der<br />
Republik Österreich“ darstellen. In der<br />
/ POLITIKA / 27
MA35 erklärte man, dass sich eine vollziehende<br />
Behörde an die Rechtsprechung zu halten habe:<br />
„Wenn eine Gefährdungsmeldung durch das<br />
Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung<br />
vorliegt, ist das ein Einbürgerungshindernis.“<br />
Dann begann die ewig lange bürokratische<br />
Odyssee, die kein Ende zu nehmen scheint.<br />
Es gebe „keine konkreten Beweisergebnisse“,<br />
„die die Annahme einer Mitgliedschaft bei<br />
der Hamas tragen würde“. Auch das Ermittlungsverfahren<br />
gegen den Verein wurde eingestellt.<br />
Die Landespolizeidirektion Wien äußerte<br />
daher noch im Herbst 2022 keine Bedenken<br />
bezüglich der Einbürgerung. Doch im Dezember<br />
wurde der Antrag dann abgelehnt.<br />
„MAN FORDERT JA IMMER<br />
INTEGRATION – UND GENAU<br />
DURCH SOWAS WIRD DIESE<br />
INTEGRATION UNMÖGLICH<br />
GEMACHT.“<br />
Osamas Rechtsanwältin, die ehemalige SPÖ-<br />
Staatssekräterin Muna Duzdar, übt heftige Kritik<br />
an der Entscheidung: „Die Vorgehensweisen<br />
sind reine Willkür.“ Duzdar fordert in einer<br />
Stellungnahme vom 31.1. die MA35 dazu auf,<br />
dass diese das LVT dazu auffordert, Beweise<br />
für diese haltlosen Vorwürfe offenzulegen.<br />
Das Verfahren gegen den Verein International<br />
Hope Association, bei dem Osama karitativ tätig<br />
war, wurde übrigens auch eingestellt. Duzdar<br />
sieht die Vorwürfe nicht ein und merkt an, dass<br />
Osamas Zukunft in Österreich dadurch deutlich<br />
erschwert werde: „Nur, weil er als Araber<br />
Lunchpakete in den Nahen Osten geschickt hat?<br />
Man fordert ja immer Integration – und genau<br />
durch sowas wird diese Integration unmöglich<br />
gemacht.“<br />
Das sieht auch Osama so: „Wenn das so<br />
weitergeht, dann werde ich aus Österreich wegziehen.<br />
Ich will endlich Staatsbürger sein und die<br />
Rechte, die mir zustehen, haben. Wenn nicht in<br />
Österreich, dann vielleicht in Deutschland. Ich<br />
müsste zwar wieder bei null anfangen, aber da<br />
kann ich zumindest die Sprache“ , resümiert er.<br />
Er hat letztes Jahr geheiratet, er würde gerne<br />
Kinder bekommen. „Aber nicht, solang das<br />
nicht alles geklärt ist, ich will niemandem so ein<br />
Leben zumuten“. ●<br />
Osama (l.) und sein Bruder Mansour (r.) beim Gedenkstein für<br />
die Opfer des Wiener Terroranschlags am 2.11.2020<br />
WAS IST DIE MUSLIMBRUDERSCHAFT?<br />
Die Muslimbruderschaft ist eine 1928 von Hasan al-Bannā in<br />
Ägypten gegründete islamistische Organisation. In der Ideologie<br />
der Muslimbruderschaft steht die Religion vor den von<br />
Menschen verfassten Gesetzen und auch die Trennung von<br />
Staat und Religion wird abgelehnt. Als Ziel sieht sie eine graduelle<br />
Islamisierung der Gesellschaft, welche zu einer von Koran<br />
und Sunna abhängigen Staatsordnung führen würde. In einigen<br />
Staaten des Nahen Ostens, wie beispielsweise in Ägypten, wird<br />
die Muslimbruderschaft klar als Terrororganisation eingestuft.<br />
WAS WAR DIE OPERATION LUXOR?<br />
Nach dem Terroranschlag in Wien im November 2020 wurde<br />
eine Großrazzia in Österreich durchgeführt. Ziel war es, mutmaßliche<br />
Anhänger und Unterstützer der Muslimbruderschaft<br />
oder der Terrororganisation Hamas ausfindig zu machen. Das<br />
Ergebnis: 60 teils rechtswidrige Hausdurchsuchungen, 106<br />
Beschuldigte, 31 Einstellungen, keine Anklagen und niemand<br />
kam je in Haft.<br />
WER IST FÜR DIE STAATSBÜRGERSCHAFT<br />
ZUSTÄNDIG?<br />
In Wien ist die MA35 für die Abwicklung der Anträge um<br />
die österreichische Staatsbürgerschaft zuständig. Für<br />
den Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen sind die<br />
Antragssteller:innen selbst verantwortlich. Die MA35 fragt<br />
nach unterschiedlichen Dokumenten, wie beispielsweise den<br />
Strafregisterauszug, auch bei den zuständigen Behörden nach.<br />
28 / POLITIKA /
Bezahlte Anzeige<br />
Fake Nägel<br />
statt Fake News.<br />
Gib Fake News keine Chance.<br />
Fake News oder Falschmeldungen haben nichts mit der Wahrheit<br />
zu tun. Sie werden bewusst verbreitet, um Menschen zu manipulieren<br />
und zu verunsichern. Pass deshalb besonders in Sozialen Medien auf,<br />
hinterfrage Inhalte kritisch und prüfe die Quelle. Informiere dich, wie<br />
du sicher im Internet surfen kannst!<br />
wien.gv.at/medien/fake-news<br />
/ POLITIKA / 29
DER COP UND DER<br />
TSCHETSCHENE<br />
Über 2,5 Millionen Klicks haben die beiden mittlerweile<br />
auf TikTok: Der Cop Uwe und der Tschetschene<br />
Ahmad beantworten Fragen rund um<br />
Strafen, Cannabisgebrauch, Motorradtuning und<br />
Polizeigewalt: Alles, was Jugendliche in Wien und<br />
Umgebung eben so beschäftigt. Aber wie sieht<br />
es ‚Behind the scenes‘ aus? Wie kam dieses Duo<br />
zustande, wie sieht die Dynamik zwischen den<br />
beiden aus, wie ist die Resonanz im jeweiligen<br />
Umfeld und wieso kommen die Videos so gut an?<br />
Hier geht‘s<br />
zu den<br />
Videos:<br />
Von Aleksandra Tulej, Fotos: Zoe Opratko<br />
30 / RAMBAZAMBA /
Ab wann geht man maya mit Cannabis?“, möchte<br />
der User „alex“ wissen. „Salam Aleikum, darf<br />
die Polizei einfach dein Handy wegnehmen und<br />
dich zwingen, es zu entsperren?“, beschäftigt<br />
User „ichkeria“. Alles Fragen, die die Jugendlichen einem<br />
Polizisten von Angesicht zu Angesicht wohl nicht stellen<br />
würden – auch weil sie erst gar nicht die Möglichkeit dazu<br />
hätten. Deshalb fragt Ahmad für sie: Ahmad ist <strong>23</strong> Jahre alt,<br />
Jugendarbeiter und tschetschenischer Aktivist mit bis dato<br />
negativen Erfahrungen mit der Polizei. Er steht gemeinsam<br />
mit dem 59-jährigen Polizisten Uwe in der Wiener Milleniumcity<br />
und liest vom Handy laut die Fragen der Jugendlichen<br />
vor, die Uwe dann beantwortet. Ahmad im Hoodie, Grätzlpolizist<br />
Uwe in Polizeiuniform – beiden ist es wichtig, nicht<br />
verstellt rüberzukommen. Sie stehen hier aus Überzeugung.<br />
Wusstet ihr, dass es für „Beamtenbeleidigung“ in Österreich<br />
gar kein Delikt gibt? Oder, dass für Cannabis keine Toleranzmengen<br />
existieren, wie oft behauptet wird? Das Format „Der<br />
Cop und der Tschetschene“ erfreut sich auf TikTok gerade<br />
bei Jugendlichen großer Beliebtheit – Ahmad und Uwe<br />
bekommen täglich Fragen gestellt, ihre Videos wurden über<br />
2,5 Millionen Mal geklickt. Die häufigsten Fragen werden<br />
in folgende Richtung gestellt: „Was passiert, wenn ich dies<br />
oder jenes mache? Was darf ich? Was darf die Polizei?“ Die<br />
Antworten darauf hätte Ahmad selbst gerne in seiner Jugend<br />
bekommen. Ahmad hatte in seiner Jugend Probleme mit<br />
dem Gesetz, saß sogar eine Zeit lang im Gefängnis - daraus<br />
macht er kein Geheimnis. „Ich hatte in meiner Vergangenheit<br />
ein paar Probleme mit der Polizei – oder die Polizei mit mir,<br />
das weiß ich nicht – aber es ist für mich einfacher geworden,<br />
einige Sachen zu verstehen, seitdem ich Uwe kennengelernt<br />
habe,“ beginnt Ahmad das erste Video auf seinem Kanal.<br />
„Wir beantworten eure Fragen zum Thema Polizei – stellt uns<br />
die Fragen in die Kommentare“, ergänzt Uwe. Sie versuchen,<br />
das ungleiche Machtverhältnis zumindest auf dieser Ebene<br />
zu brechen: durch TikTok.<br />
„AHMAD, WIE VIEL BEZAHLEN SIE DIR?<br />
BIST DU JETZT EIN BULLENFREUND?“<br />
Die Themen, die die Jugendlichen beschäftigten, sind breit<br />
gefächert, man liest etwa Fragen wie: „Warum kontrolliert<br />
ihr immer die Jugendlichen?“, „Was für eine Strafe kriege<br />
ich, wenn ich Gokart auf der Autobahn fahre?“, „Wie lange<br />
bleibt man im Knast, wenn man mit 15 bei einem Raubüberfall<br />
dabei war?“, „Wird meine Strafe höher, wenn ich von der<br />
Polizei weglaufe?“, „Darf ich unter meinem Niqab eine Maske<br />
tragen?“<br />
All diese Fragen stellt Ahmad, und Uwe beantwortet sie<br />
ausführlich. Er trifft sich einmal die Woche mit Ahmad, in<br />
einem Café in einem Wiener Gemeindebau im 20. Bezirk<br />
- das Lokal ist irgendwie so zu ihrem Treffpunkt geworden<br />
- und sie besprechen, wie die Resonanz auf die letzten<br />
Videos war, welche Fragen sie beantworten werden, wie die<br />
Gesetzeslage zu einzelnen Fragen ist und wie man am besten<br />
auf einzelne Themengebiete eingeht. Unterstützt werden<br />
sie dabei von Sozialarbeiter Fabian Reicher und Dominik<br />
Grabner, Social-Media-Manager der Wiener Polizei. Die<br />
Entstehungsgeschichte des Formats ist doch eher untypisch:<br />
Aus einem ursprünglichen Streitgespräch zwischen Uwe<br />
und Ahmad heraus beschlossen sie, gemeinsame Sache zu<br />
machen.<br />
ZIEMLICH BESTE FEINDE<br />
„Das ist doch safe gespielt, wie viel bezahlen sie dir,<br />
Ahmad?“ – so lautet schon einer der ersten Kommentare<br />
unter dem Video. Das wollen wir auch gleich zu Beginn wissen.<br />
„Die bezahlen mir gar nichts“, stellt Ahmad gleich am<br />
Anfang klar, als wir uns zum Interview in ihrem Stammlokal<br />
in Brigittenau treffen. „Ich mag die Polizei genauso wenig<br />
wie vorher. Ich bin immer noch kein Bullenfreund, damit das<br />
klar ist“, das ist ihm wichtig. „Wenn ich die Polizei von 1–10<br />
bewerten müsste, würde ich ihnen eine minus 4000 geben.<br />
Aber ich kann die Polizei als Struktur kritisieren, aber einzelne<br />
Menschen mögen, oder?“ So wie Uwe, der mit ihm am<br />
Tisch sitzt. Mit ihm versteht er sich gut. Ihre Kennenlerngeschichte<br />
war aber etwas holprig, um es milde auszudrücken.<br />
Im Rahmen der Initiative „Gemeinsam Sicher mit unserer<br />
Polizei“ veranstaltete die Polizei im Sommer mit Mitgliedern<br />
des Rates für Tschetschenen und Inguschen (Anm. d.<br />
Red.: Inguschetien ist eine autonome Republik in Russland)<br />
in Wien einen Workshop im Amtshaus Brigittenau. Das<br />
Treffen war als Pilotprojekt von Projektleiter Oberst Johann<br />
Golob und seinen Kolleg:innen initiiert und die Initiative als<br />
proaktive Zusammenarbeit mit der tschetschenischen Community<br />
erdacht.<br />
Das Ziel war es, gemeinsam Ideen zu sammeln und über<br />
Integration und Zusammenarbeit zu sprechen. Ahmad war<br />
auch vor Ort. Als er hörte, dass die Erwachsenen davon<br />
sprachen, ein Werbe-Video für Facebook aufzunehmen<br />
und gemeinsame Schach-Turniere mit tschetschenischen<br />
Jugendlichen zu planen, musste er laut lachen, wie er selbst<br />
sagt. „Ich habe dann ehrlich gefragt: Wen erreicht ihr so?<br />
Schaut’s euch mal an, uns erreicht ihr so sicher nicht.“<br />
Außerdem nervte es ihn, dass immer nur die Erwachsenen<br />
miteinander sprachen, und die Jugendlichen „die Schnauze<br />
halten mussten.“ Dabei sind sie es, um die es hier vorrangig<br />
geht. Ahmad schlug dann vor, doch ein Treffen mit<br />
Polizist:innen und tschetschenischen Jugendlichen im Park<br />
zu vereinbaren, um dort Videos zu drehen, auf denen man<br />
sich miteinander austauscht. Die anwesenden Jugendlichen<br />
hielten das für eine sehr gute Idee – der Rest, also die<br />
Erwachsenen, reagierten eher zögerlich. Doch dann kam<br />
Ahmad mit Uwe ins Gespräch. „Ihr Polizisten in Österreich<br />
habt doch eh nix zu tun, außer irgendwelche Kaugummidi-<br />
/ RAMBAZAMBA / 31
ebe aufzuhalten - und trotzdem reagiert ihr aggressiv auf<br />
Jugendliche“, warf er ihm vor. „In Deutschland oder Frankreich<br />
geht die Polizei viel sensibler auf junge Menschen zu,<br />
obwohl es dort wirklich Ghettos und arge Probleme gibt“,<br />
so Ahmad. „Glaubst du wirklich, dass wir so drauf sind?“,<br />
wehrte sich Uwe.<br />
„DU ORSCHGESICHT,<br />
DAS RECHT BIN ICH!“<br />
Ahmads Einstellung kommt nicht von Ungefähr: Seitdem er<br />
begonnen hat, alleine rauszugehen, wurde er immer wieder<br />
von Polizist:innen kontrolliert. „Du bist Tschetschene und<br />
hast keine Vorstrafen?“, hieß es seitens eines Beamten bei<br />
einer Polizeikontrolle, als Ahmad 14 war. Der Umgangston,<br />
die Beschimpfungen und die Art, wie mit ihm umgegangen<br />
wurde, prägten sich bei Ahmad<br />
negativ ein. Er informierte<br />
sich darüber, was die Beamten<br />
dürfen und was nicht.<br />
Als er einen Polizisten damit<br />
konfrontierte, dass er seine<br />
Rechte kenne, wurde ihm „Du<br />
Orschgesicht, das Recht bin<br />
ich!“ geantwortet. „Wenn du<br />
solche Erfahrungen machst,<br />
kriegst du dann natürlich jedes<br />
Mal Eierflattern, wenn du Polizisten<br />
siehst“, so Ahmad. Er<br />
versteht deshalb auch, warum<br />
vor allem Jugendliche mit Migrationshintergund<br />
kein gutes<br />
Verhältnis zur Polizei haben.<br />
Was Uwe zu solchen Vorfällen<br />
sagt? Er selbst würde nie so<br />
mit jemandem sprechen, wie<br />
er sagt – betont aber, dass es<br />
wichtig ist, dass von beiden<br />
Seiten respektvoll miteinander<br />
kommuniziert wird. „Wenn<br />
mein Gegenüber normal<br />
reagiert, reagiere ich auch<br />
normal, ganz einfach. Ich bin aber auch schon älter, seit 40<br />
Jahren im Dienst, da gehst du allgemein entspannter mit<br />
allem um.“ Allen Beteiligten des Projekts ist es aber wichtig,<br />
Authentizität zu bewahren, was sich auch in den Videos<br />
zeigt: „Wenn Polizisten einen Zivilisten beleidigen, gibt’s eine<br />
Richtlinienbeschwerde“, klärt Uwe auf. „Und die wird dann<br />
eingestellt“, entgegnet Ahmad schmunzelnd. „Nein, die wird<br />
nicht eingestellt, die wird verfolgt, und wurde schon sehr oft<br />
bestraft“, antwortet Uwe geduldig.<br />
Uwe und Ahmad sind mittlerweile zu<br />
richtigen TikTok-Stars geworden<br />
WAS SAGT DIE POLIZEI?<br />
„In Wien geraten vor allem marginalisierte Jugendliche<br />
sehr oft in Polizeikontrollen und werden dabei oft ziemlich<br />
schlecht behandelt. Wenn sie ihre Pflichten, vor allem aber<br />
auch ihre Rechte im Umgang mit solchen Situationen kennen,<br />
fällt es ihnen vielleicht leichter, sich nicht so leicht provoziert<br />
zu fühlen, aber sich auch nicht erniedrigen zu lassen.<br />
Denn davon hat im Endeffekt niemand was!“, fügt der Sozialarbeiter<br />
der Beratungsstelle Extremismus, Fabian Reicher,<br />
an. „Ein erfahrener Polizist und ein junger Tschetschene<br />
zeigen uns, wie es gehen kann. Nämlich mit gegenseitigem<br />
Interesse und Wertschätzung“, resümiert Oberst Johann<br />
Golob. „Dies ist für uns als Polizei eine neue Möglichkeit, mit<br />
Jugendlichen, die wir sonst nur schwer oder gar nicht erreichen<br />
würden, ins Gespräch zu kommen. Daher bewerten wir<br />
das auch nicht als klassische PR-Aktion, sondern als eine<br />
Erweiterung des Community Policing. Wenn wir es schaffen,<br />
damit aufzuklären, Ängste zu nehmen oder auch Vorurteile<br />
aus dem Weg zu räumen, dann hilft dies allen Beteiligten“,<br />
so Dominik Grabner von der LPD. Es ist nicht so, dass die<br />
Polizei Uwe explizit dafür ausgewählt hat, eher im Gegenteil.<br />
Das erste "Der Cop und<br />
der Tschetschene" Video<br />
entstand im November,<br />
damals noch ohne Wissen der<br />
Pressestelle der Polizei. Es hat<br />
gedauert, bis das Projekt von<br />
der Pressestelle wirklich ernst<br />
genommen wurde. Übrigens:<br />
Uwe bekommt für die Videos<br />
auch kein extra Honorar, sie<br />
sind jetzt Teil seiner Tätigkeit<br />
in seiner Arbeitszeit. Als<br />
Grätzlpolizist sieht Uwe sich<br />
als eine Art Sozialarbeiter bei<br />
der Polizei: Er schlichtet etwa<br />
Nachbarschaftsstreitigkeiten<br />
und „kleinere Probleme, mit<br />
denen man normalerweise<br />
nicht zur Polizei gehen würde.“<br />
Sein Umfeld reagierte anfangs<br />
skeptisch auf das Vorhaben<br />
mit dem Tik-Tok-Format:<br />
„Der Tenor bei meinen<br />
Kolleg:innen bei der Polizei<br />
lautete eher: ‚Machts halt<br />
mal, aber das wird eh nix!‘“,<br />
so Uwe lachend. Doch schon bald zeigte sich der Erfolg<br />
der Videos, Uwes Kinder und Freunde seiner Kinder waren<br />
begeistert. Heute wird Uwe, wenn er durch Brigittenau seine<br />
Runden dreht, immer wieder von Jugendlichen erkannt. „Sie<br />
sind doch der Polizist von TikTok, können wir ein Foto mit<br />
Ihnen machen?“ Solche Szenen erlebt er mindestens ein<br />
Mal die Woche. Auch Ahmads Freunde reagierten kritisch,<br />
als er von seiner Format-Idee erzählte: „Das passt doch gar<br />
nicht zu dir, was wird das da? Ist das dein Ernst?“, hieß es<br />
aus seinem Umfeld. Ahmad betont aber, dass er selbst als<br />
Jugendlicher genau so ein Sprachrohr, das er jetzt selbst<br />
verkörpert, gebraucht hätte. Die Resonanz ist auf alle Fälle<br />
da: „Stabile Aussage, Bruder“, solche Kommentare liest man<br />
unter den Videos auch immer öfter. Ob sie nun Ahmad oder<br />
Uwe gelten. ●<br />
32 / RAMBAZAMBA /
LIFE & STYLE<br />
Mache mir die Welt,<br />
wie sie mir gefällt<br />
Von Şeyda Gün<br />
LERNCAFÉ<br />
TIPP<br />
Mit dem Start ins Sommersemester<br />
habe ich für euch drei Cafés ausgewählt,<br />
die besonders gut als Lernplätze<br />
dienen. Ich persönlich genieße ruhige<br />
Kaffeehäuser, in denen ich gemütlich<br />
meine Zusammenfassungen im Laufe<br />
des Semesters erstellen kann.<br />
Hier findet ihr sie:<br />
Das café<br />
7. Bezirk, Burggasse 10<br />
MEINUNG<br />
Das Zeitalter der<br />
„Nichtsgönner“<br />
Café Caspar<br />
1. Bezirk, Grillparzerstraße 6<br />
CoffeePirates<br />
9. Bezirk, Spitalgasse 17<br />
© Zoe Opratko, unsplash.com/Toa Heftiba, Instagram @bathandbodyworksat, Ikea<br />
„Keiner gönnt einem mehr etwas heutzutage“<br />
– diesen Satz höre ich leider viel<br />
zu oft, egal ob im Bekanntenkreis oder<br />
Freundeskreis. Ich dachte viel über diesen<br />
Satz nach und beobachtete parallel<br />
dazu mein Umfeld. So kam ich auch zu<br />
der Erkenntnis, dass ich, wie es aussieht,<br />
in einem Nichtsgönner-Zeitalter lebe.<br />
Das Prinzip vom Nicht-Gönnen ist immer<br />
gleich: Der Erfolg von anderen wird heruntergespielt,<br />
Misserfolge werden betont,<br />
abwertende Vergleiche werden gezogen<br />
und aus unerklärlichen Gründen entsteht<br />
ein Konkurrenzverhalten. Stichwort: Neid.<br />
Es ist doch pure Missgunst, einem Menschen<br />
grundlos etwas nicht zu gönnen,<br />
weil man der Überzeugung ist, die Person<br />
hätte es nicht verdient. Wer entscheidet<br />
denn, ob etwas einer Person zusteht oder<br />
nicht? So viel ich beobachten konnte,<br />
ist es deine Community. Einzelne Personen,<br />
die sich das Recht nehmen, über<br />
das Leben anderer zu urteilen, ob etwas<br />
ihnen nun gegönnt sei oder nicht. Total<br />
absurd. Naja, vielleicht ist es auch in<br />
Wirklichkeit kein Nichtsgönner-Zeitalter,<br />
in dem ich lebe, sondern mein toxisches<br />
Umfeld, von dem ich mich dringend<br />
befreien sollte.<br />
guen@dasbiber.at<br />
Mashallah<br />
RAMADAN<br />
BEI IKEA<br />
Laternen, Teelichthalter, Deko,<br />
Geschirr, Kissen und Teppiche in<br />
einem Mix aus osmanischen Elementen<br />
und dem typisch skandinavischen<br />
Design: Die neue limitierte IKEA-Kollektion<br />
GÖKVALLÅ ist dem Fastenmonat<br />
Ramadan gewidmet. Die Kollektion<br />
feiert Kultur, Spiritualität und Vielfalt<br />
– egal, ob ihr Ramadan feiert oder<br />
nicht, die Kollektion ist einfach super<br />
stimmungsvoll. Die Auswahl findet ihr<br />
auf www.ikea.at<br />
BATH & BODY<br />
ZAUBER<br />
Endlich gibt es auch in Österreich<br />
bath & body works – im<br />
Donauzentrum und in der<br />
Shopping City Süd (Vösendorf).<br />
Was es dort alles gibt?<br />
Duschgel, Körper Lotionen,<br />
fancy Hand-Sanitizer<br />
und Duftkerzen. Falls ihr<br />
eure Familie, Freund:innen<br />
oder eure:n Partner:in mit<br />
guten Düften beschenken<br />
wollt, ist bath & body works<br />
der ultimative Tipp!<br />
/ LIFESTYLE / 33
Die Autorinnen<br />
Evelyn Shi,<br />
Filloreta Bennett<br />
und Emilija Ilić<br />
(v.l.n.r.)<br />
34 / EMPOWERMENT SPECIAL /
DU<br />
BESTIMMST<br />
IMMER.<br />
PUNKT.<br />
Geschlechterrollen durchbrechen, eigene Träume und Leidenschaften<br />
verfolgen, ohne sich dem Druck aus der Familie hinzugeben:<br />
Weibliche Selbstbestimmung hat viele Gesichter und kann<br />
auf unterschiedlichen Wegen passieren.<br />
Drei starke, junge Autorinnen aus verschiedenen Communitys<br />
erzählen von ihren persönlichen Revolutionen und was sie dafür<br />
in Kauf nehmen mussten. Über veralterte Erziehungsmuster, das<br />
Erwachsenwerden und die Bringschuld gegenüber den Eltern. Sie<br />
kommen in diesem Empowerment-Special selbst zu Wort.<br />
Mit Beiträgen von Emilija Ilić, Filloreta Bennett und Evelyn Shi.<br />
© Zoe Opratko<br />
Das Projekt „Du bestimmst IMMER. Punkt!“ findet im Rahmen des Aufrufs „Maßnahmen<br />
zur Stärkung von Frauen und Mädchen im Kontext von Integration“ des Österreichischen<br />
Integrationsfonds statt. Dieses Projekt wird durch den Österreichischen Integrationsfonds<br />
(ÖIF) finanziert. Die redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber.<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 35
WARUM ICH<br />
KEINE LUST<br />
HABE, EINEN<br />
TYRANNEN<br />
ZU ERZIEHEN.<br />
Die Ehre der Familie und das Gesicht zu<br />
wahren, sind das Alpha und auch das Omega.<br />
Nicht aufzufallen und den Namen der<br />
Familie in den Schmutz zu ziehen, sind deshalb<br />
die ersten Gebote der balkanischen<br />
Erziehung. Schluss damit, sagt Filloreta:<br />
Und erzieht ihren Sohn ganz anders, als sie<br />
es selbst erlebt hat.<br />
Von Filloreta Bennett, Fotos: Zoe Opratko<br />
36 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Als wir vor der Armut flohen,<br />
war ich drei Jahre alt. Wir<br />
waren Wirtschaftsflüchtlinge.<br />
Meine Eltern hatten<br />
Angst, dass uns das neue Land vergessen<br />
lässt, dass wir Kinder aus dem<br />
Kosovo kommen und wir somit auch die<br />
Kultur, Traditionen und Sitten verlieren<br />
würden. Im Grunde genommen ähnelt<br />
die albanische Kultur in vielen Dingen<br />
anderen Ländern des Balkans, deshalb<br />
erlaube ich mir es auch, in diesem Artikel<br />
über die balkanische Erziehung und ihre<br />
Stolpersteine zu schreiben.<br />
Warum Stolpersteine? Nun, das habe<br />
ich auch erst begriffen, als ich selbst<br />
Mutter geworden bin. Erst seit ich mich<br />
mit der Erziehung meines eigenen Sohnes<br />
auseinandersetze, sehe ich all diese<br />
erzieherischen Missstände, unter denen<br />
ich und viele andere Balkankids leiden<br />
mussten. Kinder sollten keine Angst<br />
vor ihren Eltern (vor allem den Vätern)<br />
haben, um zu lernen, was Respekt<br />
bedeutet. Sie müssen nicht mit Sprüchen<br />
wie „Wenn du nicht das machst, was ich<br />
will, bist du kein gutes Kind” manipuliert<br />
werden. Vor allem sollten sie aber nicht<br />
in eine Position der Bringschuld gebracht<br />
werden, dass sie für das Seelenheil<br />
der gesamten Familie zuständig wären.<br />
Wenn wir funktionierten, dann funktionierten<br />
alle. Und genau diese Missstände<br />
meine ich, die ich seit zehn Jahren<br />
immer wieder in unterschiedlichen<br />
Situationen wiedererkenne.<br />
ERZWUNGENE<br />
UNTERWÜRFIGKEIT<br />
Wieso begrüßt du deine Tante nicht?<br />
Wieso gibst du deinem Onkel keinen<br />
Begrüßungskuss? Ich wurde immer<br />
gezwungen, alle Verwandten, egal ob<br />
ich sie kannte oder nicht, zu umarmen,<br />
oder Bussis auf die Wangen zu geben,<br />
nur damit meine Eltern voller Stolz sagen<br />
können: Ja, meine Kinder wissen, wie sie<br />
sich zu benehmen haben, und wissen,<br />
wem sie Respekt zollen müssen.<br />
Einmal verweigerte ich die Bussis<br />
und Umarmungen und wurde dafür,<br />
nachdem wir vom Besuch zurückgekommen<br />
waren, geschlagen. Ich hätte<br />
mich respektlos den anderen gegenüber<br />
verhalten – schließlich muss ich immer<br />
auf meine Eltern hören und den Älteren<br />
gegenüber Respekt zeigen. So wurde<br />
es mir, wie vielen anderen Kindern vom<br />
Balkan, von klein auf eingetrichtert. Aber<br />
dass ich da genötigt werde, als Kind lieb<br />
und nett zu sein, weil ich es muss und<br />
nicht, weil ich es will, hat niemanden<br />
interessiert. Der erzwungene und falsche<br />
Respekt, aber auch diese „Unterwürfigkeit“<br />
gegenüber Älteren, Männern und<br />
auch Frauen, ist schlichtweg falsch!<br />
Damit bringst du deinem Kind nur bei,<br />
dass es erst was wert ist, wenn es<br />
erwachsen ist, andere unterdrückt und<br />
vielleicht auch das richtige Geschlecht<br />
hat.<br />
Das erste Mal wurde es mir mit etwa<br />
18 Jahren bewusst. Als ich es nicht<br />
mehr aushalten konnte, mich selbst als<br />
wertlos, unwichtig und Objekt zu sehen.<br />
Ich habe es damals auch geschafft, aus<br />
diesem Muster auszubrechen, aber nur<br />
für vier Monate. Durch die balkanische<br />
Erziehung hatte ich immer das starke<br />
Gefühl von Schuld und habe mich dann<br />
wieder untergeordnet. Auch hat man mir<br />
beigebracht, dass ich die Familie zusammenhalten<br />
muss, indem ich als gutes<br />
Beispiel vorangehe und immer für sie<br />
da bin, egal ob es mir guttut oder nicht.<br />
Ich hatte irgendwann so einen Druck<br />
auf meinen Schultern, dass ich geglaubt<br />
habe, dafür verantwortlich zu sein, dass<br />
wir als Familie funktionieren. So lernte<br />
ich, meine Bedürfnisse hintanzustellen,<br />
oder noch besser gesagt, die Bedürfnisse<br />
meiner Eltern als meine eigenen<br />
anzusehen.<br />
Kinder am Balkan haben schon sehr<br />
früh Verantwortung zu tragen und müssen<br />
funktionieren. Indem sie im Haushalt<br />
helfen, sich um die jüngeren, aber auch<br />
älteren Geschwister kümmern. Zusätzlich<br />
mussten wir die Bildungsdefizite<br />
unserer Eltern kompensieren, indem wir<br />
bürokratische Dinge wie Anträge stellen<br />
erledigen mussten. Wir hatten keine Zeit,<br />
unsere Kindheit zu genießen und wurden<br />
von Anfang an mit der Last von Verantwortung<br />
beladen.<br />
„<br />
Wenn du nicht das<br />
machst, was ich<br />
will, bist du kein<br />
gutes Kind.<br />
“<br />
HARTE MÄNNER,<br />
BRAVE MÄDCHEN<br />
Lange Zeit hielt ich es für normal, dass<br />
meine Erziehung auch physische Gewalt<br />
beinhaltete. Ich sah auch keinen Anlass,<br />
mit jemandem darüber zu sprechen.<br />
Mit 16 hatte ich das Glück, in Wien in<br />
die Schule zu gehen. Dort habe ich das<br />
erste Mal mit anderen Jugendlichen, die<br />
auch einen balkanischen Migrationshintergrund<br />
haben, echte Freundschaften<br />
geschlossen. Erst dort konnte ich mich<br />
mitteilen. Ohne Scham konnte ich einer<br />
Freundin anvertrauen, was ich alles<br />
erlebt habe. Die meisten Mädchen und<br />
ihre Geschwister hatten das Gleiche wie<br />
ich erlebt. Man hat uns beigebracht, still<br />
zu sein, zu gehorchen, Verantwortung für<br />
unsere kleineren Geschwister, aber auch<br />
für die gesamte Familie zu übernehmen.<br />
Wir hatten keine lange Kindheit, nein,<br />
auch die Burschen mussten früh lernen,<br />
was es alles braucht, ein gestandener<br />
Mann zu sein, der seine Macht über die<br />
Jüngeren, aber auch Mädchen oder<br />
Frauen ausüben kann.<br />
Jungs wird beigebracht, dass Emotionen<br />
Schwäche sind, indem man sie etwa<br />
fürs Weinen mit Liebesentzug bestraft,<br />
oder sie schlägt, damit sie „einen richtigen<br />
Grund haben, zu weinen“. Genauso<br />
werden sie – sogar von den Älteren –<br />
schikaniert, wenn sie liebevoll mit anderen<br />
umgehen. Dann kommt meistens der<br />
Spruch: „Du hast ja keine Eier. Bist du<br />
jetzt zu einer Frau geworden oder warum<br />
bist du so liebevoll?”<br />
Ich beobachte immer wieder, wie<br />
Männer eine abweisende Haltung ihren<br />
Kindern gegenüber haben. Sie haben es<br />
so von ihren eigenen Vätern erlebt und<br />
machen es nun selbst. Sie sind in diesem<br />
Teufelskreis gefangen, weil es verständlicherweise<br />
auch gar nicht so leicht ist,<br />
alles, was man kennt, zu hinterfragen<br />
und anders zu machen. Sich einzugestehen,<br />
dass die eigenen Eltern was falsch<br />
gemacht haben, ist, meiner Meinung<br />
nach, im balkanischen Raum noch viel<br />
schwieriger. Es ist schwierig, weil wir<br />
nach außen hin eine glückliche, funktionierende<br />
Familie präsentieren wollen. Für<br />
meine Mutter und meinen Vater ist es<br />
heute noch sehr wichtig, was die anderen<br />
Verwandten über uns denken. Es wurden<br />
so viele Emotionen unterdrückt, nur damit<br />
niemand schlecht über uns spricht.<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 37
Erst nachdem Filloreta<br />
selbst Mutter wurde,<br />
wurden ihr die Missstände<br />
ihrer eigenen balkanischen<br />
Erziehung bewusst.<br />
Mädchen wird hingegen anerzogen,<br />
wie sie den Haushalt führen, wie sie<br />
kochen, wie sie sich benehmen und<br />
wie sie den künftigen Ehemann, die<br />
Schwiegermutter, den Schwiegervater<br />
und die ganze Familie ihres Zukünftigen<br />
respektieren sollen. Dabei geht es gar<br />
nicht darum, dass uns selbst gegenüber<br />
auch Respekt widerfährt. Nein, es geht<br />
darum, den Kopf geduckt zu halten und<br />
zu hoffen, dass der zukünftige Ehemann<br />
oder die Schwiegermutter oder die<br />
gesamte Familie ab und zu ein wenig<br />
Freiheiten gewährt. Sie lernen, dass sie<br />
genau nichts zu melden haben, es sei<br />
denn, man erteilt ihnen das Wort. Im<br />
Grunde werden wir Mädchen zu Sklavinnen<br />
erzogen, die keinen freien Willen<br />
haben dürfen.<br />
Wenn einem als Mädchen beigebracht<br />
wird, vor Männern ehrfürchtig zu<br />
sein und immer einen Platz, der in der<br />
Hierarchie relativ unten ist, anzunehmen,<br />
hast du es später wirklich schwer, als<br />
erwachsene Frau für dich einzustehen.<br />
Du lernst durch Angst und Furcht, andere<br />
zu respektieren, weil du eben nicht die<br />
Konsequenzen tragen willst, und lernst<br />
dabei aber nie, dich selbst wertzuschätzen<br />
und zu respektieren.<br />
NIEMAND SOLL VON DEN<br />
PROBLEMEN ERFAHREN<br />
Mein Papa und ich hatten einmal einen<br />
heftigen Streit, ich war damals gar nicht<br />
mehr so klein, ich war 16 Jahre alt. Ich<br />
hatte meiner Mama anvertraut, dass ich<br />
mich in einen Jungen verliebt hatte. Sie<br />
ging damit zu meinem Vater, weil sie<br />
Sorge hatte, ich würde meine Jungfräulichkeit<br />
– also das Einzige, was den<br />
Wert einer Frau auszumachen scheint<br />
– verlieren. Also war es besser, wenn ich<br />
dafür gemaßregelt werde und so, ihrer<br />
Meinung nach, zur Vernunft komme. Ich<br />
wurde lauter und schrie meinen Vater<br />
an. Sie nennen es Pubertät, ich nenne<br />
es aber Mut, für sich einzustehen. Meine<br />
Mutter war aber nur in Sorge darüber,<br />
was die anderen von uns denken würden,<br />
wenn sie mein Schreien auf dem<br />
Gang hören. Niemand soll von unseren<br />
Problemen in der Familie erfahren.<br />
Das Bild, von außen eine normale und<br />
gesunde Familie zu sein, war wichtiger,<br />
als die ganzen Probleme, die wir zu lösen<br />
hatten. Die Ehre der Familie und das<br />
Gesicht zu wahren, sind das Alpha und<br />
auch das Omega. Nicht aufzufallen und<br />
den Namen der Familie in den Schmutz<br />
zu ziehen, sind deshalb die ersten Gebote<br />
der balkanischen Erziehung.<br />
Seit ich meinen Sohn habe, bin ich<br />
dahinter, diese Erziehungsmuster zu<br />
durchbrechen. Um das zu schaffen,<br />
muss ich aber selbst lernen – und das<br />
täglich – was eine gesunde Erziehung<br />
überhaupt ist. Und das mache ich, indem<br />
ich mich mit anderen Müttern und Eltern<br />
austausche, Erziehungsratgeber lese und<br />
gelesen habe, aber auch einfach reflektiere,<br />
wie meine Erziehung war und was<br />
daran besser hätte sein können.<br />
„Dein Sohn ist kein richtiger Albaner.<br />
So wie du dein Kind erziehst, wird<br />
er noch homosexuell. Warum erziehst<br />
du ihn zu einem Schlappschwanz? Du<br />
bringst ihm die falschen Werte bei. Du<br />
hast dein Kind entwurzelt. Wieso erziehst<br />
du dein Kind österreichisch?“ sind<br />
Sätze, die ich von meinen Verwandten,<br />
Angehörigen und sogar Freunden gehört<br />
habe. Aber ich sehe kein Problem darin,<br />
dass mein Sohn gegebenenfalls homosexuell<br />
oder zu feminin sein könnte, warum<br />
dann ihr? Es ist so, als wollten alle bei<br />
jeder Gelegenheit ihre Probleme zu meinen<br />
machen.<br />
MEIN SOHN SOLL<br />
SEINE SANFTE SEITE<br />
(AUS-)LEBEN<br />
Ich wollte und will eben keine toxische<br />
Erziehungsmethode anwenden, um<br />
meinen Sohn zu einem Tyrannen zu<br />
machen. Es geht bei der balkanischen<br />
Erziehung nämlich in erster Linie darum,<br />
dass Familie alles und man selbst ohne<br />
Familie nichts wert ist. Um aber in dieser<br />
Familie einen Wert zu haben, muss man<br />
alle Bedürfnisse und Erwartungen von<br />
ihnen erfüllen. Die beste Strategie, um<br />
das durchzusetzen, ist mit Angst, Gewalt,<br />
Schuldgefühlen und Manipulation zu<br />
arbeiten.<br />
38 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Mein Sohn – genau dafür liebe ich<br />
ihn so sehr – hat mich mal Folgendes<br />
gefragt: „Warum sollte ich denn irgendwen<br />
respektieren, wenn diese Person<br />
mich nicht respektieren kann? Nur weil<br />
ich ein Kind bin, heißt das nicht, dass ich<br />
keinen Respekt verdient habe!“ Ich muss<br />
zugeben, dass ich selbst durch meinen<br />
Sohn auf Muster und Fehler aufmerksam<br />
gemacht werde, die mir selbst nicht<br />
bewusst waren.<br />
Ich beobachte, wie sich mein Sohn<br />
seit seiner Geburt entwickelt, und ich<br />
wusste schon sehr früh, dass dieses Kind<br />
voller Gefühle, Empathie und Liebe ist.<br />
Deshalb habe ich ganz bewusst entschieden,<br />
die Erziehung, die ich erlebt<br />
habe, nicht anzuwenden. Für meinen<br />
Sohn wollte ich etwas anderes. Ich wollte<br />
und will, dass er seine Emotionen kennenlernt.<br />
Er soll eine sanfte Seite erleben<br />
und vor allem ausleben dürfen.<br />
Mein Sohn ist einmal auf die Idee<br />
gekommen, sich die Nägel zu lackieren,<br />
da war er gerade mal acht Jahre alt.<br />
Während ich ihm diese nun in Pink (weil<br />
das seine Lieblingsfarbe ist) lackierte,<br />
erklärte ich ihm, wie er sich gegen<br />
dumme Sprüche wehren sollte. Als er am<br />
Abend zurückkam, sagte er voller Stolz:<br />
„Ein paar Kinder haben zwar versucht,<br />
mich zu ärgern, und auch die Lehrerin<br />
hat komisch geschaut, aber ich meinte<br />
zu ihnen, am Nagellack steht nichts<br />
davon, dass Nagellack nur für Mädchen<br />
ist, also kann ich das auch tragen. Und<br />
es gefällt mir.“<br />
Ein paar Tage später besuchten wir<br />
dann mit den Nägeln auch noch meine<br />
Eltern. Meine Mutter war schockiert. Sie<br />
hatte die Sorge, dass er homosexuell<br />
ist und ist dann richtig sauer auf mich<br />
gewesen. Sie befürchtete, dass meine<br />
Erziehung ihm seine Männlichkeit rauben<br />
würde. Ich habe mit ihr lange und mehrmals<br />
darüber sprechen müssen und ihr<br />
erklärt, dass ich der Meinung bin, dass<br />
Kinder frei und ohne unnötige Verbote<br />
und Strenge aufwachsen sollten. Es<br />
hat lange gedauert, dass meine Mutter<br />
gelernt hat, meine Erziehung zu akzeptieren<br />
und sich wirklich bemüht, diese<br />
auch umzusetzen, wenn mein Sohn bei<br />
ihnen ist.<br />
Männliche Verwandte meinten<br />
oft zu mir, dass mein Sohn zu soft für<br />
diese Welt wäre, er mich durch meine<br />
„<br />
Du hältst dich für<br />
etwas Besseres,<br />
weil du deinen<br />
Sohn anders als<br />
wir erziehst.<br />
“<br />
Erziehung nie respektieren wird und ich<br />
schuld wäre, wenn er kein richtiger Albaner<br />
wird. Und das Schlimmste: Er würde<br />
so seine Wurzeln nicht kennenlernen.<br />
Viele dieser Männer wissen aber selbst<br />
nicht, was einen richtigen Menschen<br />
ausmacht. Nicht die Herkunft, nicht die<br />
Wurzeln und auch nicht die Sprache. Ein<br />
richtiger Mensch kennt seine Bedürfnisse,<br />
seine Gefühle, kann sich in die<br />
Gefühle seiner Mitmenschen versetzen<br />
und weiß vor allem, wie er mit seinen<br />
Emotionen umgeht.<br />
ALTE MUSTER<br />
DURCHBRECHEN<br />
Einmal sagte eine Cousine zu mir: „Du<br />
hältst dich für etwas Besseres, weil du<br />
deinen Sohn anders als wir erziehst.“ Ich<br />
musste darauf lächeln und sagte: Nein,<br />
ich habe nur keine Lust, einen Tyrannen<br />
großzuziehen. Er soll lernen, dass Frauen<br />
den gleichen Wert haben wie ein Mann.<br />
Er soll lernen, dass vor allem er genauso<br />
ein wertvoller kleiner Mensch ist. Ich will<br />
aber auch nicht, dass er irgendwann vor<br />
einer Autoritätsperson steht und sich<br />
total kleinmacht, nur um geduldet zu<br />
werden. Sei es im Job oder im Privatleben.<br />
Es ist mir wichtig, dass er für das,<br />
was er ist, geschätzt wird und sich nicht<br />
verstellen muss, um angenommen zu<br />
werden.<br />
Ich habe eine balkanische Erziehung<br />
„genossen“ und heute kann ich mich<br />
keinem Balkanier nähern, ohne in die<br />
antrainierten Muster zu fallen: dem Mann<br />
gehörig zu sein, ihm alles nachzutragen<br />
und meinen Selbstwert über Bord zu<br />
werfen.<br />
Ich bin in meinem Umfeld die Erste<br />
gewesen, die diese alten Muster der<br />
Erziehung durchbrochen hat – und<br />
manchmal ist es noch immer schwer,<br />
richtig zu handeln. Auch ich habe<br />
manchmal wie meine Eltern gehandelt.<br />
Zwar ohne physische Gewalt, aber ich<br />
Filloretas Sohn soll auch seine<br />
sanfte und feminine Seite ausleben<br />
können – ohne Vorurteile.<br />
neige dazu, wenn ich überfordert bin,<br />
cholerisch zu sein, und das tut dem Kind<br />
genauso wenig gut.<br />
Es geht mir gar nicht darum, perfekt<br />
zu sein. Sondern darum, zu reflektieren<br />
und zu unterscheiden, welcher Anteil<br />
meiner Erziehungsmethoden zu mir<br />
gehört, und welcher mir von meinen<br />
Eltern anerzogen wurde. Was hat mir<br />
in der Erziehung damals gutgetan und<br />
was nicht? Wo leide ich heute noch<br />
darunter und wie kann ich dieses Muster<br />
durchbrechen? Es geht nicht darum,<br />
seine Kultur zu verleugnen. Ich liebe die<br />
balkanische Kultur, die Musik, unsere<br />
Geschichte, das Essen und dieses<br />
Beisammensitzen und dabei andere zu<br />
bekochen und gastfreundlich zu sein.<br />
Aber nicht, weil ich es muss, sondern<br />
weil ich es will. Ich will mich dafür<br />
entscheiden können, ohne die Angst zu<br />
haben, dass ich anders gar nicht anerkannt<br />
werde. ●<br />
Filloreta ist 35 Jahre alt, hat albanischen<br />
Background, arbeitet als diplomierte<br />
Sozialbegleiterin und Integrationscoach<br />
und interessiert sich für intersektionalen<br />
Feminismus.<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 39
ZU STUR, ZU STARK,<br />
ZU SELBSTBESTIMMT<br />
40 / EMPOWERMENT SPECIAL /
„Du bist eine Frau. Du bist noch zu jung. Du bist nicht von hier. Du wirst<br />
auch nie von hier sein.“ Sätze wie diese – von der serbischen Community,<br />
von Lehrer:innen und anderen Österreicher:innen– begleiten Emilija schon<br />
ihr ganzes Leben lang. Viel zu lange hat sie sie wirklich geglaubt. Damit ist<br />
jetzt Schluss.<br />
Von Emilija Ilić, Fotos: Zoe Opratko<br />
Du bist eine Frau. Du bist<br />
noch zu jung. Du bist nicht<br />
von hier. Du wirst auch<br />
nie von hier sein.“ Sätze<br />
wie diese - von der serbischen Community,<br />
von Lehrer:innen und anderen<br />
Österreicher:innen - begleiten mich<br />
schon mein ganzes Leben lang. Viel zu<br />
lange habe ich sie wirklich geglaubt.<br />
Damit ist jetzt Schluss.<br />
Als ‚Migrakid‘ in Wien aufzuwachsen,<br />
ist schon schwer genug. Mit meiner ‚zu<br />
großen Klappe‘, wie man mir immer einreden<br />
wollte, wäre es auch nicht leichter.<br />
Ich war allen immer zu stur, zu nervig<br />
und schlichtweg zu frech. Als junge Frau<br />
eine eigene Meinung zu haben und diese<br />
auch deutlich zu äußern, wird vor allem<br />
in Teilen der migrantischen Community<br />
ungern gesehen. „Du kannst nicht immer<br />
machen, was du willst. Welcher Mann<br />
soll dich später so heiraten?“<br />
Du wirst erst als ‚gute Frau‘ gesehen,<br />
wenn du kochen, putzen und zu allen<br />
Männern „Ja und Amen“ sagen kannst.<br />
Du bist erst eine gute Frau, wenn du alle<br />
anderen an erste Stelle stellst und dich<br />
selbst an letzte. Wenn du jedem nach<br />
der Nase tanzt und dich dem Bild der<br />
„typischen Hausfrau“ fügst. Sich anpassen,<br />
unterordnen und seiner Familie alles<br />
recht machen zu wollen, habe ich schon<br />
längst aufgegeben. Den eigenen Kopf<br />
durchzusetzen und die Meinungen seiner<br />
Liebsten zu ignorieren, tut manchmal<br />
weh. Doch obwohl ich erst 21 Jahre alt<br />
bin, musste ich früh lernen, dass das<br />
Leben viel zu kurz ist, um es für andere<br />
zu leben.<br />
PLÖTZLICH ERWACHSEN<br />
Als ich 16 Jahre alt war, ist meine kleine<br />
Schwester an Krebs gestorben. Eigentlich<br />
ist sie meine Cousine, aber wir<br />
sind wie Geschwister aufgewachsen.<br />
Wir haben 1½ Jahre gekämpft. Etliche<br />
Krankenhausbesuche, Therapien (diese<br />
scheiß Chemo war am schlimmsten),<br />
Gebete, Hoffnung – sie hat es nicht<br />
geschafft. Dieser Schicksalsschlag<br />
hat meine Familie und mich unendlich<br />
schwer getroffen, und dieses Gefühl<br />
lässt sich weder in Worte fassen noch<br />
zu Papier bringen. Und ich wünsche niemanden,<br />
das jemals erleben zu müssen.<br />
In dieser Zeit blieb nicht viel Raum für<br />
mich selbst. Als erstes Enkelkind, älteste<br />
Tochter und Cousine musste ich meiner<br />
Familie Halt geben. Es fühlte sich an, als<br />
hätte ich von einen auf den anderen Tag<br />
erwachsen werden müssen. Ich musste<br />
miterleben, wie schnell das Leben vorbei<br />
sein kann. Und wie verdammt unfair es<br />
manchmal ist.<br />
Dieser Schicksalsschlag hat mich<br />
sehr geprägt. Ich habe angefangen,<br />
mir Gedanken über meine Zukunft zu<br />
machen. Die Erwartungen und Wünsche<br />
der Menschen in meinem Umfeld an<br />
mich zu hinterfragen. Mich mit mir selbst<br />
auseinanderzusetzen und zu verstehen,<br />
wer ich bin und was ich vom Leben<br />
möchte. Das war die beste Entscheidung,<br />
die ich treffen konnte. Auch wenn ich mir<br />
oft anhören musste, dass ich egoistisch<br />
sei. Ich habe beschlossen, meine Wünsche<br />
umzusetzen und Dinge zu tun, die<br />
sich für MICH richtig anfühlen.<br />
Trotz der Skepsis und dem fehlenden<br />
„<br />
Du kannst nicht<br />
immer machen, was<br />
du willst. Welcher<br />
Mann soll dich<br />
später so heiraten?<br />
“<br />
Verständnis für viele meiner Handlungen<br />
haben meine Eltern mir den Raum<br />
gegeben, meine eigenen Entscheidungen<br />
zu treffen. Es war nicht immer einfach,<br />
sich gegen sie zu stellen. Es tut weh, die<br />
Enttäuschung in ihren Augen zu sehen,<br />
wenn ich wieder nicht auf sie höre. Es tut<br />
weh, dass sie sich schützend vor mich<br />
stellen müssen, wenn Familienmitglieder<br />
meine Lebensweise kritisieren. Ich weiß,<br />
dass sie sich Sorgen um mich machen.<br />
FALSCHE<br />
ENTSCHEIDUNGEN?<br />
Die Kraft und der Ehrgeiz seine eigenen<br />
Entscheidungen zu treffen, lässt spätestens<br />
dann nach, wenn außenstehende<br />
Personen dir den Mut dazu absprechen.<br />
Ob Lehrkräfte, die dir davon abraten,<br />
die Matura zu machen und lieber eine<br />
Lehre anzufangen, oder Eltern, die dich<br />
daran hindern möchten, dein Studium<br />
hinzuschmeißen, obwohl du selbst weißt,<br />
dass es nichts für dich ist – oder auch<br />
Familienmitglieder, die deine Partnerwahl<br />
kritisieren.<br />
Oft kommt es zu Konflikten und<br />
vielleicht gehen auch manche Menschen<br />
aus deinem Leben, weil sie deine<br />
Entscheidungen nicht akzeptieren. Aber<br />
ganz ehrlich: Das müssen sie auch nicht.<br />
Und das ist vollkommen in Ordnung.<br />
Meine Eltern konnten viele meiner<br />
Entscheidungen nicht verstehen und wir<br />
haben immer viel gestritten. Doch auch<br />
wenn ich selten nachgebe, stärken sie<br />
mir trotzdem den Rücken und sind für<br />
mich da. Dafür werde ich ihnen auf ewig<br />
dankbar sein.<br />
Aber ich werde mich weder ihren<br />
noch den Vorstellungen anderer anpassen.<br />
Ich wollte nie etwas anderes als<br />
Unabhängigkeit und Freiheit. Ich möchte<br />
selbstbestimmt leben. Losgelöst von<br />
allen Erwartungen meiner Community,<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 41
den gesellschaftlichen Normen und den<br />
dummen Klischees, die mich als junge<br />
migrantische Frau betreffen. Ich muss<br />
gar nichts. Und du auch nicht.<br />
ENDLICH FREI<br />
Genau an meinem 18. Geburtstag trug<br />
ich mich in einem Wohnungsportal ein,<br />
um rechtzeitig eine Wohnung zu bekommen.<br />
Ich fing an zu arbeiten und machte<br />
alle möglichen Jobs, einfach nur um von<br />
niemanden finanziell abhängig zu sein.<br />
Auszuziehen war schon lange ein großer<br />
Traum von mir – nicht, weil ich unbedingt<br />
schnell erwachsen werden wollte.<br />
Ich wollte nach meinen eigenen Regeln<br />
leben. Im Laufe meines Studiums habe<br />
ich endgültig mein Elternhaus verlassen –<br />
und ich genieße das Privileg, unabhängig<br />
und selbstbestimmt leben zu können, in<br />
vollen Zügen.<br />
„Dein ‚Jugo-Vater‘ lässt dich mit 19<br />
ausziehen? Da muss aber was schiefgelaufen<br />
sein.“ Nein, da ist alles genau<br />
richtig gelaufen. Nach viel Überzeugungsarbeit<br />
und Diskussion hat es<br />
geklappt. Für ihn war es besonders<br />
wichtig, dass ich Verantwortung für mich<br />
und meine Zukunft übernehmen kann.<br />
Ich fühlte mich bereit dazu. Durch den<br />
Verlust meiner Cousine wusste ich schon<br />
früh, was es heißt, Verantwortung übernehmen<br />
zu müssen – wie schwer kann<br />
dann schon alles andere im Leben sein?<br />
TRÄUME WERDEN<br />
MANCHMAL DOCH WAHR<br />
Mein Herzenswunsch Moderatorin zu<br />
werden, wurde immer belächelt. Eine<br />
junge Frau mit Migrationshintergrund, die<br />
aus einer Arbeiterfamilie kommt – „Was<br />
für Moderatorin?“ Die besten Voraussetzungen<br />
um dem nachzugehen, hatte ich<br />
in Österreich nicht unbedingt. Doch nach<br />
der „Biber Summer School“ kam schnell<br />
der Wunsch auf, mich als Journalistin<br />
zu verwirklichen. Ich hielt an meinem<br />
Traumberuf fest und versuchte, mich<br />
neben meinen Nebenjobs weiterzubilden.<br />
Mittlerweile arbeite ich als freie Journalistin<br />
und Social-Media-Managerin. Die<br />
„Biber Akademie“ hat mir hierfür den<br />
Weg geebnet – hier fand ich meinen<br />
Safe Space, um beruflich zu wachsen.<br />
Die ganze Arbeit und all der Selbstzweifel<br />
haben sich doch gelohnt.<br />
„Ich musste viele Leute davon überzeugen, dass ich es doch eh kann. Auch<br />
in jungen Jahren, auch ohne Mann, auch wenn ich nicht von hier bin.“<br />
NICHT ALLES IMMER SO<br />
ERNST NEHMEN<br />
Meine Geschichte klingt so, als hätte<br />
ich meinen „Shit together“ und wäre<br />
immer verantwortungsbewusst. Aber das<br />
stimmt nicht und das will ich auch nicht<br />
sein. Auch wenn ich in jungen Jahren<br />
viel Verantwortung übernehmen muss/<br />
darf/will – ich will auch jung bleiben.<br />
Und dazu gehört auch, Fehler zu machen<br />
und nicht immer alles im Griff zu haben.<br />
Du kannst dir noch so viele „that girl“<br />
Videos auf TikTok reinziehen – es entspricht<br />
nicht der Realität. Wir alle haben<br />
mal richtig schlechte Zeiten, kommen<br />
morgens nicht aus dem Bett, isolieren<br />
uns von Freund:innen, räumen wochenlang<br />
nicht auf und haben unser Uni- und<br />
Arbeitsleben nicht unter Kontrolle. Been<br />
there, done that. Sich manchmal überfordert<br />
zu fühlen und an sich selbst zu<br />
zweifeln – ist okay.<br />
Es gehört auch dazu, falsche<br />
Entscheidungen zu treffen und sie zu<br />
bereuen. Und dabei ist vollkommen egal,<br />
was andere von dir halten und in welche<br />
Schubladen auch immer sie dich dafür<br />
stecken möchten. Am Ende zählt, dass<br />
du weißt, wer du bist und was du von dir<br />
selbst hältst. Wichtig ist, dass du an dich<br />
und deine Fähigkeiten glaubst. Und dass<br />
du Vertrauen in dich hast.<br />
Ich musste viele Leute davon überzeugen,<br />
dass ich es doch eh kann. Auch<br />
in jungen Jahren, auch ohne Mann, auch<br />
wenn ich nicht von hier bin. Lass auch<br />
du dir von niemanden einreden, dass<br />
du etwas nicht kannst. Auch wenn es<br />
schwer ist, sich gegen die Erwartungen<br />
anderer zu stellen und seinen eigenen<br />
Kopf durchzusetzen. Glaub mir - das<br />
Leben ist viel zu kurz, um es nicht für<br />
dich selbst zu leben. ●<br />
Emilija ist 21 Jahre alt, hat serbischen<br />
Background, studiert Medienmanagement<br />
und ist als freie Journalistin sowie<br />
Social-Media-Redakteurin tätig. In ihrer<br />
Arbeit befasst sie sich mit Themen wie<br />
Feminismus, Gleichbehandlung und<br />
Gesellschaftskritik<br />
42 / EMPOWERMENT SPECIAL /
<strong>BIBER</strong><br />
SUCHT<br />
DICH!<br />
Du möchtest lernen, wie man richtig<br />
recherchiert und gute Geschichten<br />
schreibt? Du hast es satt, wie über<br />
Migrant:innen geschrieben wird und<br />
möchtest wissen, wie die österreichische<br />
Medienlandschaft tickt? Dann<br />
bewirb dich für ein Stipendium an der<br />
biber-Akademie. Die Stipendiat:innen<br />
erhalten eine zweimonatige journalistische<br />
Grundausbildung. Workshops mit<br />
externen Medienschaffenden, Diskussionsrunden<br />
über gesellschaftlich relevante<br />
Themen und Ausflüge in die großen<br />
Redaktionen Wiens stehen genauso<br />
auf dem Programm wie das Erarbeiten<br />
eigener Geschichten, Mobile Reporting<br />
und Beratungsstunden für den weiteren<br />
Berufsweg. Das Ziel der Akademie ist<br />
es, die kommende Mediengeneration<br />
zu rekrutieren und auszubilden. Das<br />
Stipendium ist mit 836 Euro brutto laut<br />
Kollektivvertrag monatlich dotiert. Bist<br />
du interessiert und zwischen 18 und 28<br />
Jahre alt? Schick uns deinen Lebenslauf<br />
und schreib uns in einem Motivationsschreiben,<br />
warum du das Stipendium<br />
bekommen solltest, welche drei<br />
Geschichten du gerne schreiben würdest<br />
und sende uns eine Textprobe.<br />
Alle Bewerbungsunterlagen an:<br />
redaktion@dasbiber.at<br />
AKADEMIE
WIE VIEL SCHULDE<br />
ICH MEINEN ELTERN?<br />
Evelyn ist ist 27<br />
Jahre alt und Klubvorsitzende<br />
der Neos<br />
in Döbling. Sie hat<br />
chinesischen Migrationsbackground<br />
und<br />
befasst sich mit Themen<br />
wie psychische<br />
Erkrankungen und<br />
mentale Gesundheit.<br />
Den eigenen Weg zu gehen, ist für eine Tochter chinesischer Eltern<br />
keine Selbstverständlichkeit - besonders, wenn erwartet wird, dass<br />
man die Eltern bis ins hohe Alter pflegen sollte. Evelyn Shi ist dabei zu<br />
lernen, Grenzen zu setzen. Dennoch fragt sie sich, wie viel Fürsorglichkeit<br />
sollte drin sein? Und wie viel schuldet sie ihren Eltern wirklich?<br />
Von Evelyn Shi, Foto: Mafalda Rakoš<br />
44 / EMPOWERMENT SPECIAL /
Du hast kein Gewissen“ ist<br />
ein Satz, den ich oft gehört<br />
habe, wenn ich meinen<br />
Eltern widersprochen habe.<br />
Ich glaube, wenn man mit strengen<br />
Eltern aufwächst, wird man entweder<br />
ganz gefügig oder ganz rebellisch. Mein<br />
Bruder wuchs in die gefügige Rolle und<br />
ich in die rebellische. Es ist nicht selbstverständlich,<br />
dass ich meinen eigenen<br />
Weg gegangen bin und nicht dem Plan<br />
meiner Eltern folgte. Ich war immer<br />
eifersüchtig auf meine Freund:innen, die<br />
viel Freiheit von ihren Eltern bekommen<br />
haben. Ich durfte nicht ausgehen, nicht<br />
bei anderen übernachten, weil ich sonst<br />
ein Kind wäre, das „nichts Gutes wolle“.<br />
Das werfe ich meinen Eltern nicht vor,<br />
denn sie haben ihr Bestes gegeben – nur<br />
sind wir in und mit einer anderen Kultur<br />
aufgewachsen als sie, und das hat alles<br />
schwieriger gemacht.<br />
Meine Eltern sind beide in den 80ern<br />
von China nach Wien emigriert. Aufgewachsen<br />
in Armut haben sie die 10-jährige<br />
Kulturrevolution in China überlebt, wo<br />
mein Vater in der Mine gearbeitet hat,<br />
während meine Mutter nicht in die Schule<br />
gehen konnte, da "Bildung der Feind"<br />
war. Meine Eltern haben es schließlich<br />
rausgeschafft, was damals gar nicht<br />
selbstverständlich war. Mein Vater hat in<br />
Wien studiert, und meine Mutter ist mit<br />
der Transsibirischen Eisenbahn gekommen.<br />
Davon hat sie einige witzige Storys<br />
und wenn ich sie höre, bewundere ich<br />
sie immer für diese Reise, wo sie sich mit<br />
Händen und Füßen verständigt hat und<br />
im Zug sogar irgendwie einen Pelzmantel<br />
gegen chinesische Seidenprodukte<br />
eingetauscht bekommen hat. Mein Vater<br />
fuhr immer wieder per Anhalter nach<br />
Ungarn, um dort Lippenstifte zu verkaufen.<br />
Ich weiß nicht, woher er sie hatte,<br />
aber sie waren zu der Zeit anscheinend<br />
in Mode und gut zu verkaufen. Sie<br />
standen täglich auf Flohmärkten und verkauften<br />
Seide, Tigerbalsam und andere<br />
Produkte aus China.<br />
Meine Eltern hatten damals auch<br />
einen großen Kinderwunsch. Oder besser<br />
gesagt: einen Wunsch nach einem Sohn.<br />
In China nimmt der Sohn eine wichtige<br />
Stellung ein. Er gibt den Familiennamen<br />
weiter und erbt das Vermögen. Er wird<br />
das Familienoberhaupt und kümmert sich<br />
um die anderen. In China werden daher<br />
viele weibliche Föten abgetrieben. Die<br />
mittlerweile abgeschaffte Ein-Kind-Politik<br />
diente dazu als weiterer Katalysator – sie<br />
war aber nicht der einzige Grund für diese<br />
medizinischen Eingriffe. Viele kämpf(t)<br />
en mit ihren finanziellen Situationen,<br />
weswegen es sich oft nicht „auszahlt“,<br />
ein Mädchen zu bekommen. Die Tochter<br />
wird ja schließlich in eine andere Familie<br />
eingeheiratet und führt die andere<br />
Familienlinie weiter. Eine Frau sollte so<br />
früh wie möglich heiraten. 27-jährige<br />
unverheiratete Frauen werden „shèn<br />
nü“ genannt, übersetzt „übergebliebene<br />
Frauen“. Kurz nach meiner Geburt<br />
zog mein Vater zurück nach China, wo<br />
er genug Geld verdienen konnte, um<br />
mich, meinen Bruder und unsere Mutter<br />
zu versorgen. Er entschied sich also für<br />
die Familie, indem er von der Familie<br />
wegzog.<br />
DIE VERLORENE<br />
EIGENSTÄNDIGKEIT IST<br />
MEINE SCHULD<br />
Meine Mutter zog uns in Wien auf und<br />
musste das alleine neben ihrer Arbeit<br />
und den Fahrstunden arrangieren. Die<br />
Sprache konnte sie nicht. Sieben Jahre<br />
lang – bis mein Bruder die chinesische<br />
Samstagsschule begann – hatte sie auch<br />
keine Freund:innen. Aus der Frau, die<br />
alleine von China nach Österreich gereist<br />
ist – ihre erste Auslandsreise – war eine<br />
Frau geworden, die im Wartezimmer<br />
des Arztes eine Stunde auf mich warten<br />
muss, damit ich für sie ein einfaches<br />
Kontrollgespräch übersetze. Von der<br />
Eigenständigkeit und dem Mut, den sie<br />
früher hatte, sehe ich mittlerweile wenig.<br />
Und ich sehe mich mitschuldig daran,<br />
weil ich dazu beigetragen habe, dass sie<br />
ihre Eigenständigkeit verloren hat. Diese<br />
Schuldgefühle kamen von ganz alleine,<br />
durch meine Erziehung. Das ist eine<br />
Last, mit der ich mir sehr schwertue. Ich<br />
möchte fürsorglich für meine Mutter da<br />
sein – aber ich fühle oft die Sorge, dass<br />
meine Mutter vereinsamt, unglücklich<br />
ist oder ihren Alltag nicht auf die Reihe<br />
kriegt. Ich mache mir Sorgen um sie, wie<br />
eine Mutter sich Sorgen um ihre Kinder<br />
macht.<br />
Es ist zu einer Selbstverständlichkeit<br />
geworden, unseren Eltern ihre Aufgaben<br />
abzunehmen. Mittlerweile geht es hier<br />
nicht mehr nur um Übersetzungen bei<br />
Arzt- oder Behördenbesuchen, sondern<br />
auch um einfache Sachen wie kopieren,<br />
Medikamente holen – Alltagssachen<br />
also, die sie grundsätzlich auch alleine<br />
bewältigen könnten. Wenn sie sich nicht<br />
schon so daran gewöhnt hätten, dass wir<br />
das für sie erledigen. Was auch bedeutet,<br />
dass sie es uns vorwerfen, wenn<br />
es nicht erledigt wird. Wenn ich meine<br />
Woche plane, muss ich also immer auch<br />
Zeit einplanen für Erledigungen für meine<br />
Eltern. Was grundsätzlich okay ist, was<br />
aber in Kombination mit meinen psychischen<br />
Erkrankungen – Depressionen<br />
und Borderline – auch Energie und Zeit<br />
fordert, die ich nicht habe.<br />
KEIN „ENTWEDER – ODER“<br />
Lange Zeit hielt ich es für meine Schuld,<br />
wenn irgendetwas nicht funktionierte<br />
oder Konflikte in der Familie entstanden.<br />
Weil ich den einen Termin nicht rechtzeitig<br />
ausgemacht hatte. Oder einen Brief<br />
nicht rechtzeitig abgeschickt hatte. Weil<br />
ich immer noch dieses eine Dokument<br />
nicht kopiert und ihr gebracht hatte. So<br />
Aufgaben, die man öfters nach hinten<br />
schiebt, nur sind es nicht Aufgaben für<br />
mich, sondern es hängt von mir ab, dass<br />
die Aufgaben meiner Mutter gemacht<br />
werden. Viele meinen, ich solle mich<br />
einfach unabhängig machen von meinen<br />
Eltern und mein eigenes Leben führen,<br />
dann wäre ich auch den Streit und die<br />
Last los. Aber das kommt vor allem von<br />
Menschen, die hier aufgewachsen sind<br />
und ein anderes Verständnis von Familie<br />
und Verantwortung für die Familie<br />
haben. Sie verstehen nicht, dass es kein<br />
Entweder-Oder sein sollte.<br />
Heute weiß ich: Ich schulde meinen<br />
Eltern nichts. Das bedeutet ganz und gar<br />
nicht, dass es nicht meine Aufgabe sein<br />
sollte, für sie zu sorgen. Diese Fürsorge<br />
hat aber ihre Grenzen und sollte unter<br />
normalen Umständen keine grundlegende<br />
Sorge um sie sein. Ich kann nur<br />
mein Bestes geben, sie in ihrem Alltag<br />
zu unterstützen, ohne meine eigenen<br />
Interessen vollkommen hintanzustellen.<br />
Ich kann nur mein Bestes geben, indem<br />
ich ihnen meine Grenzen zeige und mich<br />
nicht für Sachen darüber hinaus verantwortlich<br />
fühle. Auch mein Mitleid muss<br />
sich daher in Grenzen halten, weil ich<br />
sonst Gefahr laufe, mich mehr um sie zu<br />
sorgen als um mich selbst. ●<br />
/ EMPOWERMENT SPECIAL / 45
KAMPF<br />
DEM<br />
PATRIARCHAT<br />
46 / RAMBAZAMBA /
In keinem anderen europäischen Land werden so viele Frauen getötet wie in<br />
Österreich. Die Zahl steigt immer weiter an und das Gefühl der Fassungslosigkeit<br />
und Ohnmacht bleibt. Seit Generationen leben wir in Strukturen, die diese Gewalt<br />
zulassen. Doch damit ist jetzt Schluss: Kann die jüngere Generation das Bild toxischer<br />
Geschlechterrollen brechen? Atilla, Adam, Ewa und Jasmin machen den Anfang und<br />
sagen: Wir dürfen nicht mehr schweigend zusehen.<br />
Von Emilija Ilić, Fotos: Atila Vadoc<br />
Wenn ein Mann eine<br />
Frau schlägt, ist er in<br />
meinen Augen kein<br />
Mann.“ Atilla nimmt<br />
seine Sturmhaube ab und setzt sich auf<br />
einen heruntergekommenen Schreibtischsessel<br />
im Jugendzentrum. Er ist 17<br />
Jahre alt und hat türkischen Migrationshintergrund.<br />
Er erzählt von Situationen,<br />
in denen er sich gegen gewalttätige<br />
Personen in seinem Umfeld, auch gegen<br />
ihm fremde, gestellt hat. Dabei ging es<br />
immer um eines: Gewalt an Frauen.<br />
Österreich macht dem Namen „Land<br />
der Femizide“ mittlerweile alle Ehre. Im<br />
Jahr 2022 wurden allein 29 Frauen von<br />
Männern getötet. Damit liegt Österreich<br />
im Vergleich zu den Einwohner:innen-<br />
Zahlen innerhalb der EU an einer traurigen<br />
Spitze.<br />
Atilla ist einer von acht Jugendlichen,<br />
die sich bei „Bro & Kontra“, einem<br />
Online-Filmprojekt, das jungen Männern<br />
Alternativen zu toxischen Männlichkeitskonstruktionen<br />
zeigen soll, engagieren.<br />
Im Wiener Jugendtreff JUVIVO.21 sind<br />
sie groß geworden und auch mit dessen<br />
Unterstützung wollen sie in ihrer fiktiven<br />
Geschichte auf Gewalt an Frauen aufmerksam<br />
machen.<br />
Als Atilla und Adam kürzlich unterwegs<br />
waren, bekamen sie einen Angriff<br />
mit, der zu eskalieren drohte. „Ich habe<br />
einen Mann gesehen, der zwei kopftuchtragende<br />
Frauen mit Kindern angreifen<br />
wollte“, erinnert sich Atilla zurück. „Wenn<br />
man so etwas sieht, muss man immer<br />
eingreifen. Für mich hat es keine Rolle<br />
gespielt, dass es eine Muslima oder eine<br />
Frau meiner Herkunft ist. Das ist egal –<br />
es ist eine Frau, die Hilfe braucht. Wir<br />
haben den Mann zur Rede gestellt, bis<br />
die Polizei gekommen ist.“<br />
Der 17-jährige Adam schüttelt bei<br />
dieser Geschichte den Kopf. Er versteht<br />
nicht, wie Männer so gewalttätig werden<br />
können. „Väter müssen ihren Söhnen<br />
beibringen, dass man Frauen mit Respekt<br />
behandelt. Und vor allem, dass man sie<br />
nicht schlägt. Streiten gehört in einer<br />
Beziehung dazu, aber Schlagen geht<br />
einfach zu weit“, erzählt er. Er hat schon<br />
live miterlebt, dass ein guter Freund von<br />
ihm gegenüber seiner Partnerin gewalttätig<br />
wurde. Nachdem Adam eingriff und<br />
die Polizei verständigte, stellte sich das<br />
Mädchen schützend vor ihren Partner.<br />
Dieser wies jegliche Schuld von sich<br />
und die Beamten kümmerten sich nicht<br />
weiter darum.<br />
Seit diesem Ereignis beschäftigt<br />
er sich noch intensiver mit der Sicherheit<br />
von Frauen. „Es ist wirklich traurig.<br />
Normalerweise sollten Frauen von<br />
Männern erwarten können, dass sie von<br />
ihnen beschützt und unterstützt werden.<br />
So habe ich das jedenfalls beigebracht<br />
bekommen. Dass sie von Männern im<br />
nächsten Umfeld Gewalt und sogar noch<br />
„<br />
Väter müssen ihren<br />
Söhnen beibringen,<br />
dass man Frauen mit<br />
Respekt behandelt.<br />
“<br />
Schlimmeres erleben müssen, ist einfach<br />
nicht normal.“<br />
SPIELT DAS GESCHLECHT<br />
EINE ROLLE?<br />
Besonders das weibliche Geschlecht<br />
ist überproportional oft von Gewalt<br />
betroffen. Dabei gibt es unterschiedliche<br />
Gewaltformen, unter denen Frauen<br />
leiden müssen. Laut Statistik Austria hat<br />
jede dritte Frau zwischen 18 und 74 Jahren<br />
bereits körperliche und/oder sexuelle<br />
Gewalt erlebt. Auch psychischer Druck,<br />
sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz<br />
oder Stalking sind Gewaltformen, von<br />
denen Frauen besonders häufig betroffen<br />
sind. Oft erfahren sie von denjenigen<br />
Männern Gewalt, die ihnen am nächsten<br />
stehen – ihren (Ex-)Partnern.<br />
Expert:innen sprechen immer wieder<br />
von hohen Dunkelziffern, wenn es um<br />
Gewalt an Frauen geht. Dies lässt sich<br />
in Österreich vor allem auf schlecht erhobene<br />
staatliche Statistiken zurückführen.<br />
Auch der Umgang mit betroffenen Frauen<br />
innerhalb von Behörden, könnte dazu<br />
beitragen. Von Betroffenen erfordert es<br />
viel Kraft, gewaltsame Vorfälle polizeilich<br />
zu melden. Oft fühlen sie sich nicht ernst<br />
genommen und werden dadurch entmutigt,<br />
sich an öffentliche Institutionen zu<br />
wenden. Ein in sich nicht funktionierendes<br />
System, das im schlimmsten Fall zu<br />
einem Femizid führt. Dieser beschreibt<br />
den Mord an einer Frau aufgrund ihres<br />
Geschlechtes. Obwohl die Mordkriminalität<br />
weltweit zurückgeht, bleiben die<br />
Morde an Frauen in vielen Ländern gleich<br />
– oder steigen sogar.<br />
/ RAMBAZAMBA / 47
Die fünfzehnjährigen Mädchen Ewa<br />
und Jasmin zeigen sich schockiert<br />
über die grausamen Vorfälle und die<br />
immer weiter steigenden Zahlen. Die<br />
beiden Mädchen setzen sich wie Atilla<br />
und Adam bei dem Online-Filmprojekt<br />
ein. „Uns ist es wichtig, dass Gewalt an<br />
Frauen endlich aufhört. Ich bin überzeugt<br />
davon, dass sich in unserer Generation<br />
gerade etwas ändert. Wir Jüngeren sprechen<br />
viel offener über das Thema und<br />
auch durch unser Filmprojekt hoffen wir,<br />
vor allem Jungs zu erreichen, damit sie<br />
vielleicht ihre Denkweise ändern“, erzählt<br />
Jasmin. Sie ist der Meinung, dass alle<br />
Frauen dieselbe <strong>Ansicht</strong> teilen: Frauen<br />
verdienen keine Gewalt. Es liege an den<br />
Männern, ihre Denkweise zu ändern.<br />
GESCHLECHTERROLLEN,<br />
TOXISCHE MÄNNLICHKEIT<br />
UND TIKTOK<br />
Auch Ewa ist aufgebracht über die<br />
traditionellen Rollenbilder von Mann und<br />
Frau, die sie selbst noch immer miterlebt.<br />
„Wenn ich später Kinder habe,<br />
Toxische und gewalttätige<br />
Beziehungen<br />
werden in ihrer Generation<br />
vor allem auf<br />
TikTok verherrlicht<br />
und propagiert.<br />
werden beide Geschlechter die gleichen<br />
Rechte haben. Ich finde, kein Mensch hat<br />
mehr vom Leben verdient, nur weil er ein<br />
Mann ist. Eine Frau kann genauso stark<br />
sein."<br />
Das klischeehafte Bild des „starken“<br />
Mannes, der über der „schwachen“ Frau<br />
steht, ist gesellschaftlich noch immer<br />
fest verankert. Viele Männer sehen<br />
Frauen und Mädchen als ihren Besitz an.<br />
Durch traditionelle Rollenbilder werden<br />
Frauen aufgrund ihres Geschlechtes in<br />
vielen Aspekten vernachlässigt. Seinen<br />
Privilegien als Mann ist sich Atilla<br />
bewusst: „Wir leben in einer Welt, in<br />
der Männer stärker als Frauen gezeigt<br />
werden. Dadurch habe ich als Mann<br />
keine Angst. Ich wurde so sozialisiert,<br />
dass Männer immer stärker sein müssen.<br />
Aber es macht mich wütend. Wenn ich<br />
als Türke mitbekomme, dass ein anderer<br />
Türke seine Frau schlägt, finde ich das<br />
einfach nur scheiße. Sobald ich dazwischen<br />
gehe, reagiert mein Umfeld oft<br />
mit Unverständnis. Sie verstehen nicht,<br />
warum ich mich für sie einsetze, weil es<br />
„ja eh nur“ eine Frau ist. In meiner Kultur<br />
wird es oft noch normal gesehen, dass<br />
ein Mann über der Frau steht. Dahinter<br />
stehen wir als junge Generation gar nicht<br />
mehr.“ Atilla und Adam haben es satt,<br />
in eine Schublade gesteckt zu werden.<br />
Sie erzählen betroffen von rassistischen<br />
Lehrkräften und Arbeitskollegen, die<br />
ihnen wegen ihrer Herkunft unterstellten,<br />
Frauenschläger und -mörder zu<br />
sein. Dabei gab es in der Türkei, ihrem<br />
Herkunftsland, letztes Jahr über 300<br />
Femizide. „Mir wurde von klein auf beigebracht,<br />
dass ich respektvoll zu Frauen<br />
sein soll. Und dann kommt mein Lehrer<br />
und sagt mir, dass meine Herkunft mich<br />
zu einem Frauenschläger mache“, sieht<br />
Adam frustriert zu Boden.<br />
Aber selbst die junge, scheinbar so<br />
aufgeklärte Generation, entflieht den<br />
alten Rollenbildern nicht. Toxische und<br />
gewalttätige Beziehungen werden in<br />
ihrer Generation vor allem auf TikTok verherrlicht<br />
und propagiert. Diverse Trends<br />
und unkontrollierbare Inhalte beeinflussen<br />
die Denkweise vieler Jugendlicher.<br />
„Durch TikTok werden solche Werte stark<br />
verbreitet. Auf der Plattform sind Jungs,<br />
die Tipps geben, wie „schlecht“ man<br />
seine Freundin behandeln müsse. Sie<br />
behaupten dann, dass sie einem niemals<br />
von der Seite weichen würde. Es gibt<br />
natürlich auch Frauen, die eine toxische<br />
Art von Beziehung und krankhafte Eifersucht<br />
verherrlichen. Man bekommt das<br />
Gefühl, Frauen geht es nur noch um Geld<br />
und Status“, behauptet Adam. Sozialarbeiterin<br />
Pamina Gutschelhofer bestätigt,<br />
dass es an Aufklärung fehle und<br />
Jugendliche oft nicht wüssten, wohin sie<br />
sich wenden können. Aus diesem Grund<br />
möchten Atilla, Adam, Ewa und Jasmin<br />
ihr Online-Filmprojekt in den sozialen<br />
Medien verbreiten und ein Gegenpol zu<br />
toxischen Bewegungen bieten. ●<br />
Jasmin und Ewa setzen sich für mehr Aufklärung<br />
von Gewalt gegenüber Frauen ein.<br />
48 / RAMBAZAMBA /
Das „Bro & Kontra“ -Team dreht Kurzvideos um toxische Männlichkeitsvorstellungen zu brechen.<br />
ÜBER DAS PROJEKT:<br />
Was ist Bro & Kontra?<br />
Bei dem Online-Filmprojekt beteiligen sich Jugendliche<br />
mit unterschiedlicher Herkunft, Religion und Geschlecht.<br />
Bereits 2020 behandelte das Team in Kurzvideos die<br />
Ausschreitungen der „Grauen Wölfe“ auf eine kurdische<br />
Demonstration in Wien Favoriten. Aufgrund der hohen<br />
Gewaltrate an Frauen und der zahlreichen Femizide in<br />
Österreich, möchten sie in ihrer neuen Staffel #KeineEinzigeSchwesterMehr<br />
auf patriarchale Strukturen<br />
und toxische Männlichkeitsvorstellungen aufmerksam<br />
machen.<br />
Wer ist beteiligt?<br />
Mit Unterstützung des Jugendtreffs JUVIVO.21 und der<br />
bOJA (Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit)<br />
setzen die Jugendlichen ihre fiktive Geschichte um.<br />
Mit Hilfe eines Creative Art Directors (Calimaat) lassen<br />
sie die Story in Kurzvideos aufleben und sind auch selbst<br />
Protagonist:innen. Um das Projekt umsetzen zu können,<br />
wird es vom „Zukunftsfonds Österreich“ gefördert.<br />
Was ist das Ziel?<br />
Die zahlreichen Workshops während des Projektes und das<br />
digitale Endprodukt sollen jungen Männern Alternativen zu<br />
toxischen Männlichkeitskonstruktionen bieten, mit denen<br />
sie sich auch identifizieren können. Jugendliche, die sonst<br />
schwer zu erreichen sind, sollen von den Online-Inhalten<br />
abgeholt werden und sich mit dem Thema „Gewalt an Frauen<br />
und Mädchen und Femizide“ auseinandersetzen. Die<br />
Jugendlichen betonen, dass es ihnen besonders wichtig<br />
ist, dass betroffene Frauen und Mädchen wissen, wohin<br />
sie sich bei Bedarf wenden können. Ihr großes Ziel ist es,<br />
dass toxische Denkweisen und traditionelle Männerbilder<br />
hinterfragt werden.<br />
/ RAMBAZAMBA / 49
TECHNIK & MOBIL<br />
Alt+F4 und der Tag gehört dir.<br />
Von Adam Bezeczky<br />
MEINUNG<br />
Im Silicon<br />
Valley ist die<br />
Party (vorerst)<br />
vorbei<br />
Die IT-Branche in den USA hat zur<br />
Zeit einen schweren Stand. Praktisch<br />
alle großen IT-Firmen haben<br />
massenhaft Mitarbeiter:innen<br />
entlassen. Pandemie und Lockdowns<br />
sorgten für eine ungeheure<br />
Nachfrage, die jetzt wieder<br />
- auch aufgrund der Mega-Inflation<br />
- geringer wird. Unter dem<br />
Stichwort “downsizing” versteht<br />
man das Schrumpfen von Unternehmen,<br />
um noch profitabler<br />
zu werden. Wer sich darüber in<br />
unseren Breitengraden empört,<br />
möge aber auch daran denken:<br />
Die geteilten Netflix-Accounts,<br />
der Werbeblocker im Browser<br />
und am Handy sind auch Gründe,<br />
warum Menscentlassen werden<br />
müssen. Außerdem: Hire & Fire<br />
ist in den USA eine übliche Praxis,<br />
und nur uns in Europa erscheint<br />
es barbarisch - großteils werden<br />
den abgebauten Mitarbeiter:innen<br />
anständige “Packages” also Abfindungen<br />
mitgegeben.<br />
bezeczky@dasbiber.at<br />
paprikap0w3r<br />
EINE KI<br />
VERÄNDERT DIE WELT<br />
Mit ChatGPT ist eines der einflussreichsten<br />
Chatbots in aller Munde. Tatsächlich ist das<br />
Programm in der Lage, auf alle möglichen Fragen<br />
erstaunliche Antworten zu liefern. Schon<br />
liest man allerlei Nachrichten, die Welt würde<br />
von der KI übernommen werden. In Panik<br />
sollte man aber noch nicht verfallen: Momentan<br />
kann man Fehler, die die KI macht, noch<br />
leicht erkennen. Dennoch sollte bereits jetzt<br />
eine ernsthafte Diskussion darüber<br />
beginnen, wie wir mit einer extrem<br />
fortgeschrittenen KI in unserer<br />
Gesellschaft umgehen werden.<br />
GOLDENEYE FÜR<br />
SWITCH UND XBOX<br />
VERÖFFENTLICHT<br />
Apple<br />
schaltet<br />
geheime<br />
Funktion<br />
in Lautsprecher<br />
frei<br />
Bond ist zurück - das kultige Game<br />
von 1997 von der Nintendo 64<br />
Konsole hat es auch auf die aktuelle<br />
Konsolengeneration geschafft und ist bei Microsoft im Game Pass<br />
und auf Nintendo Switch Online bereits enthalten. Einfach ausprobieren<br />
und in Erinnerungen schwelgen oder mit Freunden neue<br />
Multiplayer-Erinnerungen schaffen!<br />
Überraschung! Apple hat<br />
per Software-Update bisher<br />
unbenutzte Sensoren bei<br />
den Apple HomePod Mini<br />
Lautsprechern freigeschaltet.<br />
Die Temperatur- und<br />
Luftfeuchtigkeitsfühler<br />
arbeiten mit Apples<br />
hauseigenem Smart Home<br />
“HomeKit” zusammen.<br />
Jetzt fragt sich alle Welt<br />
natürlich, in welchen Geräten<br />
wohl noch versteckte<br />
Features enthalten sind.<br />
© Marko Mestrovic, Apple Inc., unsplash.com / Antenna, Nintendo<br />
50 / TECHNIK /
Bezahlte Anzeige<br />
Spar ein daheim!<br />
12 Energiespar-Tipps für dein Zuhause.<br />
Schon mit kleinen Handgriffen und einfachen Änderungen<br />
im Alltag kannst du deinen Energieverbrauch deutlich senken.<br />
Das spart Geld und ist gut fürs Klima. Fang also gleich damit an!<br />
Alle 12 Energiespar-Tipps für deinen Haushalt findest du jetzt unter:<br />
wien.gv.at/energiesparen<br />
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KARRIERE & KOHLE<br />
Para gut, alles gut<br />
Von Šemsa Salioski<br />
MEINUNG<br />
Unser Bildungssystem ist<br />
wie ein toxischer Ex, der<br />
"sich ja eh ändern will".<br />
Ende Jänner bemerke ich, dass viele<br />
Prüfungen, anders als in den letzten<br />
Pandemiejahren, weder online noch<br />
im Open-Book-Format stattfinden. Bei<br />
einer LV zum breit gefächerten Thema<br />
Migration hat mich Letzteres besonders<br />
gestört, da diese sich eigentlich hervorragend<br />
als Open-Book-Prüfung geeignet<br />
hätte. Leider war das Auswendiglernen<br />
der 20 Texte voller Namen und Jahreszahlen,<br />
wie schon so oft, das Ziel. Noch<br />
absurder machen das aktuelle Schlagzeilen<br />
wie “ChatGPT hat Abschlussprüfung<br />
an Elite-Uni geschafft“, die eine<br />
Diskussion über veraltete Lehrmethoden<br />
losgetreten haben. Zugegeben, anfangs<br />
wurden Open-Book-Prüfungsformate<br />
kritisiert, weil die Fragen wegen erlaubter<br />
Hilfsmittel komplexer waren. Nach<br />
der Umgewöhnungsphase wurde aber<br />
klar, dass sie dem Zeitgeist besser<br />
entsprechen, da wir in einer Welt der<br />
unendlichen Recherchemöglichkeiten<br />
leben. Aufgaben im Berufsleben sind im<br />
Grunde Open-Book-Prüfungen, in denen<br />
man Wissen anwenden und Zusammenhänge<br />
herstellen muss, statt Fakten zu<br />
reproduzieren. Und trotzdemb bleiben<br />
reguläre Prüfungsmethoden die Norm.<br />
Die Welt verändert sich eben und unser<br />
Bildungssystem scheint nicht Schritt<br />
halten zu können.<br />
salioski@dasbiber.at<br />
FOMO („FEAR OF MISSING OUT“)<br />
WAR GESTERN!<br />
Dich zieht es auf die Uni, Fachhochschule<br />
oder auf‘s Kolleg, aber du hast noch keine<br />
Matura? Keine Panik hier – die VHS got<br />
your back! Mit der Berufsreife- oder Studienberechtigungsprüfung<br />
qualifizierst du<br />
dich für den weiteren Bildungsweg. Für die<br />
Berufsreifeprüfung (BRP) musst du keine<br />
besonderen Voraussetzungen mitbringen,<br />
außer deine Motivation. Anders als bei der<br />
der Studienberechtigungsprüfung (SBP)<br />
– hier musst du einen Nachweis einer<br />
beruflichen oder außerberuflichen Vorbildung<br />
sowie ein Mindestalter vorweisen.<br />
Alle Infos findest du aber unter<br />
www.vhs.at/de/info/brp sowie www.vhs.<br />
at/de/info/sbp.<br />
„SCI-HUB“<br />
Die Schattenbibliothek,<br />
die ihr natürlich<br />
nieeeemals nutzen dürft.<br />
Unter dem Motto „knowledge belongs to all<br />
mankind“ hat Alexandra Elbakyan aus Kasachstan<br />
„Sci-Hub“ 2011 ins Leben gerufen.<br />
Ziel ist es, den kostenfreien Zugang zu allen<br />
existierenden wissenschaftlichen Zeitschriften<br />
und Büchern zu ermöglichen. Urheberrechte<br />
werden damit natürlich ignoriert. Um<br />
zur gewünschten Publikation zu gelangen,<br />
muss man nur die DOI (Digital Object Identifier<br />
– eine digitale Signatur, die direkt mit<br />
einem Text verbunden ist) eingeben und hat<br />
den Volltext sofort auf dem Bildschirm. Und<br />
jetzt bloß nicht den folgenden Link im Netz<br />
suchen: sci-hub.ru/<br />
Die AK<br />
schafft Fakten:<br />
Literatur und<br />
Beratung für Studis<br />
Ab April bietet die AK Wien<br />
in der faktory direkt neben<br />
dem NIG kostenlos Service,<br />
Infos und Beratung für<br />
Studierende an. Praktisch:<br />
Gleich daneben gibt’ in der<br />
faktory-Buchhandlung bei<br />
einem guten Kaffee auch die<br />
passende Fachliteratur fürs<br />
Studium zu kaufen.<br />
Kennt ihr schon<br />
„Migrapreneur“?<br />
Das Unternehmen wurde von<br />
Ana Alvarez gegründet und<br />
arbeitet mit Migrant:innen<br />
aus Deutschland, Österreich<br />
und der Schweiz zusammen.<br />
Ana selbst ist vor sieben<br />
Jahren alleine von Costa<br />
Rica nach Deutschland<br />
gekommen und hat trotz<br />
über 200 Bewerbungen keine<br />
fixe Anstellung bekommen.<br />
Nun unterstützen sie und<br />
ihr Team andere bei ihrem<br />
Neustart, durch Beratung,<br />
Netzwerkbildung und finanziellen<br />
Förderungsmöglichkeiten.<br />
Ihre Spezialgebiete sind<br />
finanzielle Allgemeinbildung,<br />
finanzielle Inklusion, Unternehmertum,<br />
Diversität &<br />
Inklusion, Migrationsthemen,<br />
Digitalisierung und Governance.<br />
Mehr Infos unter:<br />
migrapreneur.org<br />
© Zoe Opratko, unsplash.com, Migrapreneur<br />
52 / KARRIERE /
DIE LEHRLINGE DER SPAR-AKADEMIE UND<br />
DER ÖSTERREICHISCHEN<br />
BUNDESGÄRTEN PRÄSENTIEREN DIE<br />
AUSSTELLUNG<br />
Exotische<br />
P F L A N Z E N<br />
UND FRÜCHTE<br />
11. – 19. MÄRZ 20<strong>23</strong><br />
UNSERE<br />
LEHRLINGE<br />
RÄSENTIEREN!<br />
GROSSES PALMENHAUS SCHÖNBRUNN<br />
Infos zur<br />
Veranstaltung<br />
PRÄSENTATIONEN &<br />
VERKOSTUNGEN:<br />
täglich, 10:00 – 12:00 Uhr<br />
und 13:00 – 15:00 Uhr<br />
Diese Sonderausstellung ist<br />
zu den normalen Eintrittspreisen<br />
zu besichtigen.<br />
ÖFFNUNGSZEITEN:<br />
10:00 – 16:30 Uhr<br />
UNSERE<br />
LEHRLINGE<br />
ZEIGEN WAS<br />
SIE KÖNNEN!<br />
Weitere Infos zur Veranstaltung:<br />
spar.at/regionales/wien/<br />
exotische-pflanzenundfruechte<br />
EINTRITTSPREISE:<br />
€ 8,– (€ 5,– ermäßigt)
Selbermacherin<br />
„Mein Ziel ist es,<br />
dass mein Lokal ein<br />
traditionsreiches<br />
Familienrestaurant<br />
wird, das ich auch an<br />
die nächste Generation<br />
weitergeben kann.“<br />
Gehobenes Flair und<br />
moderne chinesische<br />
Küche: Bei „One<br />
Night in Beijing“<br />
schlägt das Gourmet-<br />
Herz gleich höher.<br />
Von Nada El-Azar-Chekh,<br />
Fotos: Zoe Opratko<br />
Direkt am Nußdorfer Platz kann<br />
man in Wien authentische und<br />
moderne chinesische Küche in<br />
einem geschmackvollen Ambiente genießen:<br />
Wir befinden uns im Lokal „One Night<br />
in Beijing“, das im Dezember 2018 von der<br />
Wiener Unternehmerin Weny Sun eröffnet<br />
wurde. „Wir legen hier großen Wert auf<br />
guten Service, was es in vielen Chinarestaurants<br />
nicht gibt. Oft setzt man eher auf<br />
die Quantität, mit Buffets oder All-You-Can-<br />
Eat-Konzepten“, verrät sie. Insgesamt 15<br />
Mitarbeiter:innen sorgen für das Wohl ihrer<br />
Gäste. „In der westlichen Küche gibt es<br />
stets einen Küchenchef und viele Küchenhilfen.<br />
Nicht so bei uns. Wie in China, hat<br />
jede Station ihren Meister: Wir haben einen<br />
Sushi-Meister, einen Enten-Meister, einen<br />
Wok-Meister, und so weiter“, erklärt die<br />
Unternehmerin.<br />
Kulinarische<br />
Reise nach<br />
Beijing<br />
HIGHLIGHT PEKING-ENTE<br />
Absolute Spezialität des Hauses ist die<br />
Pekingente, die auf der Karte als Signature<br />
Dish geführt wird. Die Pekingente ist<br />
zwar eines der bekanntesten Gerichte in<br />
der chinesischen Küche, aber aufgrund<br />
ihrer komplexen Zubereitung in Wien kaum<br />
zu finden. Die Pekingente wird in einem<br />
24-stündigen Prozess mariniert und eingelegt,<br />
dann wird mit einem Kompressor<br />
die Haut aufgeblasen, sodass sie sich vom<br />
Fleisch löst, und anschließend getrocknet,<br />
und dann mit heißem Öl übergossen, bis die<br />
Haut knusprig wird.<br />
Weny Sun kam mit ihrer Familie im Alter<br />
von sechs Jahren nach Wien und wuchs –<br />
wie viele Chinesinnen und Chinesen – im<br />
Restaurant ihrer Eltern auf. Mit 18 Jahren<br />
machte sie sich selbstständig und führt seither<br />
verschiedene Unternehmen, wie etwa<br />
auch die Miss Moda Boutique in der Wiener<br />
54 / KARRIERE /
Lugner City. „Dieses Lokal hier ist aber mein<br />
Baby“, so die Gastronomin. Die Liebe zum<br />
Detail macht sich belohnt: Im Jahr 2021<br />
wurde „One Night in Beijing“ unter anderem<br />
vom Restaurantguide Gault-Millau mit einer<br />
Haube ausgezeichnet.<br />
Sonntags wird ein Brunch-Buffet<br />
angeboten, wo es neben der Reissuppe<br />
Congee – die in China typisch zum Frühstück<br />
gegessen wird – auch Dim Sum und<br />
Maki-Kreationen nach Art des Hauses gibt.<br />
Einmal im Monat wird auch ein künstlerischer<br />
Themenabend veranstaltet. „Wir<br />
haben schon chinesisches Neujahr mit<br />
Tänzerinnen und Masken hier gefeiert, oder<br />
auch eine Modenschau veranstaltet. Im<br />
Vordergrund steht aber immer die Kulinarik,<br />
sodass unsere Gäste ihr Essen neben<br />
der Unterhaltung genießen können“, so die<br />
zweifache Mutter Sun.<br />
FAMILIENBETRIEB VON MORGEN<br />
Ganz so wie in China zu speisen, funktioniert<br />
in Österreich aber nicht ganz. „In<br />
China essen Leute zu zehnt und sitzen an<br />
einem runden Tisch. Alle Speisen werden<br />
dabei miteinander geteilt, sodass nicht<br />
eine einzige Person einen ganzen Fisch<br />
oder einen Teller Gemüse alleine isst. Hier<br />
kommen Gäste aber eher zu einem romantischen<br />
Dinner zu zweit, daher haben wir die<br />
Gerichte so angepasst, dass Beilagen immer<br />
dabei sind und die Portionen bewältigbar<br />
sind“, erklärt Sun. Wer hierher zum Speisen<br />
kommt, sollte zudem unbedingt das fluffige<br />
Matcha-Tiramisu mit Grüntee probieren.<br />
One Night in Beijing<br />
Nußdorfer Platz 8, 1190 Wien<br />
Beim köstlichen Peking-Entenmenü dürfen<br />
gedämpfte Reisfladen, Porree, Mango,<br />
Jungzwiebel und Hoisin-Sauce nicht fehlen.<br />
WKO-WIEN HILFT<br />
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WKO-Wien kann man bei<br />
einem Beratungsgespräch<br />
alle Fragen stellen, die die<br />
Gründung eines Unternehmens<br />
betreffen. Im Vorhinein<br />
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Amtswege oder<br />
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Die Selbermacher-Serie ist<br />
eine redaktionelle Kooperation<br />
von das biber mit der<br />
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WOHIN AUF<br />
DER BEST³<br />
MESSE?<br />
Was soll aus mir werden? Studium, Lehre,<br />
oder doch gleich rein in das Jobleben?<br />
Auf der BeSt 3 Messe hat man die Qual<br />
der Wahl: Interessierte jeden Alters<br />
können hier in jeden Berufssektor<br />
oder Studiengang reinschnuppern.<br />
Für Uni-Interessierte ist hier<br />
genauso viel zu finden,<br />
wie für angehende<br />
Facharbeiter:innen. Wir<br />
geben euch einen Überblick.<br />
Von Layla Ahmed<br />
WO: Wiener Stadthalle, Roland-<br />
Rainer-Platz 1, 1150 Wien<br />
WANN: Donnerstag, 02.<strong>03</strong>.20<strong>23</strong> bis<br />
Sonntag, 05.<strong>03</strong>.20<strong>23</strong>. Geöffnet ist<br />
am Donnerstag, Freitag und Samstag<br />
jeweils von 9 bis 18 Uhr und am<br />
Sonntag von 9 bis 17 Uhr.<br />
WIE: Der Eintritt ist frei<br />
FÜR WEN: Schüler:innen, Auszubildende,<br />
Studierende, Eltern<br />
von ebendiesen, Lehrkräfte und<br />
Schulabbrecher:innen die sich weiterbilden<br />
möchten.<br />
WAS: Die BeSt³ Messe informiert<br />
über Beruf, Weiterbildung und Studium<br />
in den verschiedensten Bereichen.<br />
Um die 340 Aussteller bieten<br />
jede Menge Angebote an, die Fragen<br />
beantworten und Interessierte<br />
informieren sollen. Es gibt Vorträge,<br />
Workshops, Anregungen zur Berufsund<br />
Studienwahl sowie Einblicke in<br />
aktuelle Bildungsthemen.<br />
Mehr Infos findest du hier:<br />
www.bestinfo.at<br />
WORK-<br />
SHOP<br />
TIPPS:<br />
→ WIE FINDE ICH MEIN<br />
STUDIUM?<br />
Donnerstag 2.3. 11:00 Uhr<br />
Freitag 3.3. 11:00 Uhr<br />
Samstag 4.3. 11:00 Uhr<br />
Sonntag 5.3. 12:15 Uhr<br />
Hier bekommst du von der ÖH Studienvertretung<br />
Tipps, welcher Studiengang am<br />
besten zu dir passt.<br />
→ WELCHE BILDUNGSCHANCEN HAST<br />
DU GEERBT?<br />
Freitag 3.3. 12:15 Uhr<br />
Assal Badiyi von Teach For Austria erklärt<br />
dir, wie du deinen Lebensweg ändern<br />
kannst.<br />
→ TRAUMJOB? JOURNALISMUS!<br />
Donnerstag 2.3. 14:45 Uhr<br />
Sonntag 5.3. 14:45 Uhr<br />
Die Journalisten Erich Kocina und Michael<br />
Köttritsch von „Die Presse“ geben Einblicke<br />
in das Leben als Journalist: in, beantworten<br />
Fragen zu Ausbildung, Jobchancen und<br />
Berufsalltag.<br />
56 / MIT SCHARF /
EIN BOT, DER (BALD) ALLES KANN?<br />
„Kannst du mit mir Spanisch üben?“, „Ich habe folgenden Code geschrieben. Wo ist der Fehler?“,<br />
„Kannst du mir einen Essay zum Thema Feminismus schreiben?“ – All das sind Fragen, die das<br />
Programm ChatGPT in sekundenschnelle beantworten kann. Beängstigend und cool zugleich.<br />
Von Malina Köhn<br />
Auf TikTok wird versprochen, dass<br />
Hausaufgaben ab sofort mit Hilfe von<br />
ChatGPT in Sekunden erledigt sind.<br />
Das Schockierende: Es stimmt. Auch<br />
das Jura-Examen der Universität von<br />
Minnesota in den USA hat der Chatbot<br />
bestanden. Wer glaubt, alle Studierenden<br />
oder Schüler:innen würden nun mit<br />
Hilfe des Bots immer den gleichen Text<br />
abgeben, der liegt falsch. ChatGPT liefert<br />
verschiedene Fließtexte auf die gleiche<br />
Frage, Plagiate werden so also vermieden<br />
bzw. können nicht überprüft werden.<br />
Nun stellt sich die Frage, wie werden<br />
Lehranstalten in Zukunft mit ChatGPT<br />
und anderen KIs umgehen?<br />
Von der künstlichen Intelligenz<br />
ChatGPT dürfte inzwischen wohl jede:r<br />
gehört haben. Die Medien überschlagen<br />
sich förmlich vor Aufregung und auch<br />
in den Universitäten und Schulen ist der<br />
Chatbot in aller Munde. Die Anwendung<br />
mit ChatGPT ist simpel. Man tippt einfach<br />
eine Aufgabe oder eine Frage ein und die<br />
künstliche Intelligenz löst bzw. beantwortet<br />
diese blitzschnell. Dies gelingt, da das<br />
Programm Zugriff auf alle öffentlichen<br />
Datenbanken hat. Es geht jedoch auch<br />
andersherum. In einem Selbstversuch<br />
habe ich das ChatGPT gefragt, ob es mit<br />
mir Spanisch üben kann, und es lieferte<br />
mir prompt einige Fragen zum Üben,<br />
die ich auf Spanisch beantworten sollte.<br />
Essays für die Uni, komplizierte Rechenaufgaben,<br />
Codes zum Programmieren,<br />
Recherche und einiges mehr sind dank<br />
dieses Programms in Sekunden bis wenigen<br />
Minuten erledigt. Cool und unheimlich<br />
zugleich. Wieviele Berufe werden<br />
dadurch in Zukunft überflüssig?<br />
DARIN IST DER MENSCH JEDOCH<br />
(NOCH) ÜBERLEGEN<br />
In einigen Punkten ist der Mensch dem<br />
Chatbot jedoch überlegen – zumindest<br />
jetzt noch. Zum einen liefert ChatGPT<br />
keine Quellen, was sich jedoch in Zukunft<br />
natürlich noch ändern könnte. Die Richtigkeit<br />
der Angaben, die ChatGPT liefert,<br />
kann momentan folglich nicht überprüft<br />
werden. Es bleibt abzuwarten ob und<br />
wann sich diese Tatsache ändern wird<br />
und wie Konkurrenzunternehmen wie<br />
beispielsweise Google, die ihre neue KI<br />
„Bard“ bald öffentlich zugänglich machen<br />
wollen, dies lösen. Zum anderen sind<br />
die Texte sehr herzlos, eben maschinell<br />
und ohne Kreativität oder eigenem Stil<br />
geschrieben, was hoffen lässt, dass das<br />
Texten von Menschen für Menschen<br />
nicht gänzlich schwinden wird. ●<br />
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Wiener IT ganz neu!<br />
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Auf Nummer sicher gehen –<br />
mit einem Job in der IT!<br />
Mit einer Ausbildung in der IT am Puls<br />
der Zeit sein und perfekte Jobchancen<br />
wahren. Das Berufsfeld entwickelt<br />
sich laufend weiter. Rund 24.000 IT-<br />
Fachkräfte werden aktuell in Österreich<br />
gesucht.<br />
Wie einsteigen? Es gibt verschiedene<br />
Wege für Interessierte, in die IT zu<br />
kommen. Ob über eine Lehrausbildung<br />
zum App-Entwickler, zum System- oder<br />
Betriebstechniker. Oder den Besuch<br />
einer HTL mit Informatik-Schwerpunkt.<br />
Oder die Entscheidung für ein<br />
IT-Studium an einer Fachhochschule<br />
oder Uni. Eine Ausbildungsdatenbank<br />
mit Übersicht zu IT-Ausbildungen in<br />
Österreich entsteht gerade. Mehr Infos<br />
unter https://it-ausbildung.wien/<br />
Was macht IT? Heute ist alles vernetzt!<br />
IT-Fachkräfte sind Schnittstellen. Es<br />
geht um Hard- und Software und auch<br />
um Sicherheit – IT-Security, also um<br />
Maßnahmen, um Daten vor Cyber-<br />
Angriffen zu schützen. Dazu kommen<br />
weiters Big Data & Cloud Computing:<br />
IT-Fachkräfte sind Träger dieser<br />
Zukunftstechnologien.<br />
IT-Jobs für Mädchen? Ja sicher! Die<br />
Flexibilität und vielen Arbeitsbereiche<br />
der IT-Branche bieten für Mädchen<br />
gute Berufsaussichten – und bei<br />
entsprechender Weiterbildung auch<br />
spannende Aufstiegschancen.
KULTURA NEWS<br />
Klappe zu und Vorhang auf!<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
MEINUNG<br />
Schluss mit<br />
den Biopics!<br />
Marilyn Monroe, Elvis Presley, Freddie<br />
Mercury, Amy Winehouse, Robert<br />
Oppenheimer, Whitney Houston und<br />
selbst die Kaiserin Sisi hat man nicht<br />
ruhen lassen: Das sind alles nur einige<br />
Persönlichkeiten, denen in den letzten<br />
Jahren fulminante Filmbiografien<br />
gewidmet wurden, bzw. die uns noch<br />
bevorstehen. Der Grund dafür, dass<br />
immer mehr Biopics im Blockbusterformat<br />
unsere Kinoprogramme fluten,<br />
liegt dabei auf der Hand: Für die Produktionsfirmen<br />
geht man hier inhaltlich<br />
(und finanziell) auf „Nummer sicher“<br />
und für die Hauptdarsteller:innen winkt<br />
auch oft der eine oder andere Golden<br />
Globe oder Oscar für ihre angeblich<br />
lebensverändernde Performance. Eine<br />
runde Sache, oder nicht? Doch ich<br />
bin offen und ehrlich: Ich kann keine<br />
Biopics mehr sehen – okay, ich mache<br />
eine Ausnahme für „Oppenheimer“,<br />
doch das liegt alleine am Hauptdarsteller<br />
Cillian Murphy. Wo sind all<br />
die neuen, aufregenden Storys hin,<br />
welche die Kinobesucher inspirieren<br />
und welche Geschichten erzählen, die<br />
zum Träumen veranlassen? Ich warte<br />
sehnsüchtig auf originelle Drehbücher<br />
und neue Perspektiven. Ihr auch?<br />
el-azar@dasbiber.at<br />
Ausstellungstipp:<br />
THE FEST<br />
Die Ausstellung „The Fest“<br />
untersucht das Feiern quer<br />
durch Kultur und Kunst: vom<br />
Maskenball bis zum Rave. Die<br />
große Festschau an rauschenden<br />
Abenden, politischen<br />
Straßenfesten, ausgefallenen<br />
Outfits, knallenden Korken,<br />
Exzessen und Feuerwerken<br />
wird von einem breiten Programm<br />
mit Führungen, Talks<br />
und Workshops begleitet.<br />
Bis 7. Mai 20<strong>23</strong> im<br />
MAK zu sehen.<br />
Non-Stop<br />
Kino!<br />
Mit dem neuen Kino-Abo können<br />
z. B. alle unter 26 Jahre für nur<br />
22 Euro im Monat österreichweit<br />
Vorstellungen in 18 Programmkinos<br />
erleben – ganz ähnlich wie bei<br />
einem Abo bei einem Streamingdienst.<br />
Nach dem Abostart am<br />
9. März bekommt man mit einer<br />
Mitgliedskarte an der Kinokassa eine<br />
Freikarte. Mit diesem Projekt sollen<br />
heimische Kinos nach der Coronapandemie<br />
unterstützt<br />
werden.<br />
Alle Informationen<br />
zum Kino-Abo<br />
findest du hier:<br />
Buchtipp:<br />
Identitti<br />
Mithu Sanyals Debütroman handelt<br />
von der jungen Studentin Nivedita<br />
Anand, die „Intercultural Studies“<br />
in Düsseldorf studiert und die PoC-<br />
Professorin Saraswati, eine führende<br />
Expertin auf dem Gebiet des Rassismus,<br />
regelrecht vergöttert. Nivedita,<br />
die selbst indisch-deutscher Herkunft<br />
ist, hat in Professor Saraswati eine<br />
Vorbildfigur gefunden – bis sich herausstellt,<br />
dass sie gar keine Person of<br />
Color ist, sondern sich nur zu dieser<br />
Identität hingezogen fühlt. Ein witziger<br />
Roman, der auch viel Autobiografisches<br />
verarbeitet.<br />
„Identitti“ von Mithu Sanyal,<br />
Hanser Verlag, 432 Seiten, 22 Euro<br />
(Hardcover)<br />
© Zoe Opratko, A. & A. Ostier, Minitta Kandlbauer, Hanser Literaturverlage<br />
58 / KULTURA /
© Schande<br />
3 FRAGEN AN…<br />
SEBA KAYAN<br />
Seba Kayan ist eine DJ mit kurdischen<br />
Wurzeln aus Wien, die in ihren Performances<br />
orientalische Klänge mit<br />
Technobeats neu denkt. Bekannt ist sie<br />
auch für ihre „Carpet Concerts“, die<br />
regelmäßig stattfinden.<br />
<strong>BIBER</strong>: In deinen DJ-Sets verbindest du orientalische Musik mit<br />
Techno - warum holt das auch so viele Menschen ab, die selbst<br />
nicht mit dieser Musik aufgewachsen sind?<br />
SEBA KAYAN: Ich<br />
denke, dass die Kombination<br />
von „orientalischer“<br />
Musik mit<br />
Techno, abseits von<br />
der klassischen westlichen<br />
Zwölftonmusik<br />
Leute anders abholt,<br />
weil beispielsweise die<br />
typisch orientalischen<br />
Maqams – also Melodien,<br />
die auf dem arabischen<br />
Tonsystem basieren –<br />
und Vocals nicht in der<br />
europäischen Musik zu<br />
finden sind. Durch elektronische<br />
Musik verliert<br />
es den sogenannten<br />
folkloristischen Aspekt,<br />
erhält einen neuen Vibe<br />
und wird neu kontextualisiert.<br />
Technobeats<br />
sind den Wiener*innen<br />
ja bekannt, und somit lege ich ihnen einen Teppich, den sie<br />
kennen und auf dem sie sich wohl fühlen.<br />
Inwiefern betreibst du mit deiner Musik Aktivismus?<br />
Ich sehe „Oriental Techno“ auch konzeptuell. Es geht hier<br />
auch darum wie der sogenannte „Orient“ und „orientalische“<br />
Musik aus einer eurozentristischen Perspektive wahrgenommen<br />
wird. Ein neues Narrativ soll erzählt werden, welches das<br />
gewiss verzerrte und stereotype Bild des „Orients“ hinterfragt,<br />
und zu dekonstruieren versucht. Es ist auch eine Soundsuche,<br />
die ja auch zu meiner eigenen Heritage führt, denn Identitäten<br />
sind fluid, wie meine auch. Zusätzlich verwende ich<br />
Sampling als Tool um politische Themen in meinen Sets zu<br />
thematisieren, hör- und spürbar zu machen.<br />
Was ist deine musikalische „Guilty Pleasure“?<br />
In der Musik gibt es keine Guilty Pleasure bei mir, weil ich<br />
von jeder Musikrichtung etwas mitnehmen kann. Alles geht,<br />
querbeet sozusagen. Aber meine (guilty) Pleasures gehen von<br />
Britney bis Balkan.<br />
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2022<br />
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MARCO POGO<br />
IN ZAHLEN<br />
+<br />
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VERSUCHSKANINCHEN<br />
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WIENS VERGESSENE JUGEND<br />
OKTOBER<br />
+<br />
IRANISCHE<br />
REVOLUTION IN WIEN<br />
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LIEBE ZU DRITT<br />
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2022<br />
NEWCOMER<br />
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GLATTAUER IN ZAHLEN<br />
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GASTRO IN DER KRISE<br />
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BEIRUT IM DUNKELN<br />
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WIR FAHREN NICHT<br />
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EDITION<br />
WINTER 2022/<strong>23</strong><br />
WENN DAS HEIMATDORF DER ELTERN AUSSTIRBT<br />
„DU HEIRATEST EINEN<br />
VON UNSEREN LEUTEN!“<br />
WENN DIE ELTERN DER LIEBE IM WEG STEHEN<br />
Wir schicken dir Biber 7x pro Jahr in dein<br />
Postkastl. Du musst uns weder deine Seele<br />
verkaufen, noch wollen wir dir dein letztes<br />
Hemd rauben. Das Beste an der ganzen<br />
Sache ist nämlich: DU entscheidest, wie<br />
viel das kosten soll.<br />
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Which Side<br />
Are You On?<br />
Rajkamal Kahlons große Schau<br />
in der Kunsthalle Wien im<br />
Museumsquartier verbindet<br />
oftmals Schreckliches mit<br />
Schönem: Wie mit gekonnten<br />
Pinselstrichen unsere Perspektive<br />
herausgefordert werden kann.<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
Jeden Sonntag um 16 Uhr<br />
gibt es mit gültigem Ticket<br />
eine kostenlose Führung<br />
durch die Ausstellung.<br />
Noch bis 9. April 20<strong>23</strong><br />
in der Kunsthalle Wien<br />
Museumsquartier zu sehen.<br />
Die US-amerikanische Künstlerin Rajkamal<br />
Kahlon zeigt die Grausamkeiten des<br />
Kolonialismus in all ihren Facetten: In<br />
ihren Werken verwandelt sie ethnografische<br />
Bücher aus dem 19. Jahrhundert<br />
in Panoramen der kolonialen Gewalt:<br />
Abgetrennte Gliedmaßen, Verstümmelungen<br />
und Bandagen sind wiederkehrende<br />
Motive, welche die Position der<br />
Betrachter*innen hinterfragen sollen.<br />
Kahlon, die in Berlin lebt und arbeitet,<br />
verbindet nicht selten dabei Schreckliches<br />
mit Schönem: So können auch<br />
Eingeweide kunstvoll drapiert sein und<br />
Wunden in satten Rot- und Pinktönen<br />
strahlen. Ausgebeutete und exotisierte<br />
Bewohner*innen ferner Länder bekommen<br />
mit moderner Kleidung und mit<br />
Waffen ein Stück Handlungsfähigkeit und<br />
Würde zurück.<br />
UNSICHTBARE VERBINDUNGEN<br />
AUFZEIGEN<br />
Nicht umsonst trägt die große Einzelschau<br />
in der Kunsthalle Wien Museumsquartier,<br />
die Arbeiten aus über<br />
zwanzigjähriger Praxis zeigt, den Titel:<br />
„Which Side Are You On?“ Welche<br />
rassistischen Publikationen nehmen wir<br />
heute immer noch als wissenschaftlich<br />
hin? Wie viel politische Gewalt steckt in<br />
unseren Archiven? Und welche Verbindungen<br />
lassen sich zwischen dieser<br />
Geschichte und den Diskriminierungen<br />
von Bevölkerungsgruppen in der heutigen<br />
Zeit spannen? All diese Fragen wirft<br />
die Kunst von Rajkamal Kahlon auf, in der<br />
Malerei gerne auch mit Fotografie oder<br />
mit Skulptur kombiniert wird.<br />
© Rajkamal Kahlon<br />
60 / KULTURA /
WAS GIBT’S NEUES AM BALKAN?<br />
Von Dennis Miskić<br />
MEIN OPA, DER PIONIER.<br />
„Dein Dedo war der erste Gastarbeiter in Österreich!“,<br />
hat meine Oma immer mit funkelnden<br />
Augen erzählt. Mein Großvater war natürlich<br />
nicht der erste Gastarbeiter in Österreich, aber<br />
einer der ersten aus unserer Heimatstadt. Er<br />
hat sich dazu entschieden, sein Zuhause, seine<br />
Familie und all das, was er sich über die Jahrzehnte<br />
aufgebaut hatte, zurückzulassen und<br />
in ein fremdes Land zu gehen. Diese Reise ins<br />
Fremde war nicht nur mutig und riskant, sondern<br />
hat auch das Fundament für die nächsten<br />
Generationen unserer Familie gelegt.<br />
Genau deshalb war er immer<br />
viel mehr als nur ein „Gastarbeiter“.<br />
Er war ein Pionier. Ein Vorreiter.<br />
Jemand, der seine Heimat verlässt<br />
und sich auf die Reise ins Unbekannte<br />
begibt, um ein neues Leben, eine<br />
neue Heimat aufzubauen. Nicht wissend,<br />
wie ihn das Unbekannte, das<br />
Fremde, aufnehmen wird.<br />
IHR HABT UNS GERUFEN,<br />
WIR SIND GEBLIEBEN<br />
Wie kann ich ihn in Anbetracht all dessen als<br />
Gastarbeiter bezeichnen? Ein Wort, das in seinem<br />
Wesen negativ konnotiert ist. Ein Wort, das<br />
suggeriert, dass mein Opa nur ein „Gast“ war.<br />
Ein Gast, der sich bitte so schnell wie möglich<br />
wieder dorthin schleicht, „von wo er hergekommen<br />
ist“. Ein Arbeiter, der sich die Hände<br />
schmutzig macht und anpackt, Wien wieder<br />
mit aufzubauen. Österreich wollte Arbeitskraft.<br />
Haben sie sich Menschen erwartet? Österreichische<br />
Politiker sprechen heute davon, dass<br />
Kolumnist Dennis Miskić<br />
hat seinen Auslandsdienst<br />
in Srebrenica<br />
geleistet und engagiert<br />
sich in verschiedenen<br />
NGOs zum Thema Westbalkan<br />
und Migrationspolitik.<br />
In seiner Kolumne<br />
hält er euch über Politisches<br />
& Kulturelles vom<br />
Balkan am Laufenden.<br />
ohne den Migranten Wien noch Wien geblieben<br />
wäre. Ernsthaft? Wer hätte euch unter solchen<br />
Lebensumständen die Büros und Straßen<br />
gebaut? Ihr habt uns gerufen. Wir sind geblieben.<br />
In Österreich ist mein Opa nicht geblieben.<br />
Nach einer Verletzung auf der Baustelle ist er in<br />
seine Heimat, in das Bekannte, zurückgegangen<br />
und auch dort an den Folgen dieser Verletzung<br />
gestorben. Erinnerungen an ihn habe ich nicht.<br />
Ich sehe lediglich die alten Bilder, in denen er<br />
mich in seinen Armen hält.<br />
Dafür lausche ich umso aufmerksamer,<br />
wenn bei unseren Familienfesten<br />
Erzählungen über meinen Opa<br />
durch die Runde gehen und entdecke<br />
stückweise meine eigene Identität<br />
in den Geschichten über ihn. Über<br />
meinen Opa, den Pionier.<br />
Ich habe es mir zur Gewohnheit<br />
gemacht, das Grab meiner Großeltern<br />
in Bosnien zu besuchen. Jedes Mal,<br />
wenn ich vor ihrem Doppelgrab stehe, erinnere<br />
ich mich an den Stolz meiner Großmutter und<br />
den Mut meines Großvaters. Und ich kann nicht<br />
anders als zusammenzubrechen und zu weinen.<br />
Tränen, weil ich es bedauere, ihn nicht gekannt<br />
zu haben. Nie die Möglichkeit hatte, mich mit<br />
ihm über das Leben auszutauschen. Aber eines<br />
habe ich mir und ihnen versprochen: Seinen<br />
Mut, seine Opferbereitschaft und sein Durchhaltevermögen<br />
immer in mir und weiter zu tragen.<br />
Das Versprechen, meine Oma mit dem gleichen<br />
Stolz zu erfüllen, wie sie der Stolz über meinen<br />
Opa erfüllt hat. ●<br />
© Zoe Opratko<br />
/ MIT SCHARF / 61
DER QUOTEN-ALMANCI<br />
ALLE WEGE FÜHREN RAUS AUS WIEN<br />
Von Özben Önal<br />
Für diejenigen, die sich zurecht nicht<br />
trauen zu fragen: Ja, mein Name ist<br />
Özben Önal und ich bin mehr „Alman“<br />
als ich manchmal zugeben mag. Und<br />
ich spreche dabei nicht nur von meinem<br />
fast zwanghaften Drang, pünktlich<br />
zu sein und dem innerlichen Stress,<br />
dem ich ausgesetzt bin, wenn ich meinen<br />
Zeitplan nicht einhalten kann. Aber eben nicht<br />
nur „Alman“. In der Türkei, in der ich immer<br />
noch jedes Jahr meine Familie und Freund:innen<br />
besuche, bin ich ein „almanci“. Eine in Deutschland<br />
lebende Person mit türkischen<br />
Wurzeln, die sich Gebräuche und<br />
Verhaltensweisen der deutschen<br />
Gesellschaft angeeignet hat. Das<br />
bedeutet konkret, ich gebe mir größte<br />
Mühe, meinen Akzent im Türkischen<br />
zu verstecken, wenn ich frage „Abi,<br />
wie viel?“ und zahle auf dem Bazaar<br />
trotzdem den vierfachen Preis.<br />
VON DER QUOTENTÜRKIN<br />
ZUR QUOTENALMANCI<br />
Nachdem ich mich meine gesamte<br />
Jugend über in einer mehrheitlich<br />
weißen Kleinstadt in Nordrhein-<br />
Westfalen unfreiwillig als die Quotentürkin<br />
behauptete, bin ich nun mehr<br />
als freiwillig der Quoten-Almanci<br />
und Piefke in einer österreichischen<br />
Redaktion. Das heißt aber nicht, dass<br />
ich euch in Zukunft ausschließlich<br />
darüber informiere, was im geliebten<br />
(ehemaligen) Nachbarland so vor sich<br />
geht – ich werde auch über verschiedene<br />
gesellschaftliche und politische Konstrukte<br />
sowie zwischenmenschliche Phänomene lästern<br />
und mich voranging auf mein „Anderssein“<br />
berufen, indem ich über das Leben mit doppelter<br />
Identität spreche. Es wird also eine bunte<br />
Mischung – lasst euch positiv überraschen oder<br />
eben enttäuschen.<br />
Einen kleinen Haken gibt es bei der<br />
Sache allerdings – ich werde aus der<br />
Stadt wegziehen, die ich nun knapp<br />
zweieinhalb Jahre mein Zuhause<br />
genannt habe. Ich weiß, ich weiß. Wie<br />
komme ich auf die Idee, das Gras könne<br />
irgendwo grüner sein als in der „lebenswertesten<br />
Stadt der Welt“? Um mir diese Frage<br />
zu beantworten, habe ich eine Pro und Contra<br />
Liste angefertigt, die ich euch nicht vorhalten<br />
möchte:<br />
Pro Wegziehen:<br />
• nicht mehr zwanghaft und<br />
aufgesetzt alte Omis und Opis<br />
angrinsen aus Angst vor ihrem<br />
potenziellen Grant-Angriff<br />
• Ich darf wieder Tüte statt<br />
Sackerl und Brötchen statt<br />
Semmel sagen.<br />
• Kein Small Talk mehr auf Ausstellungen,<br />
auf denen sich eh<br />
niemand für die Kunst, sondern<br />
lediglich für ‚free drinks‘ und<br />
Selbstinszenierung interessiert<br />
(inklusive mir).<br />
• (im besten Fall) Menschen, die<br />
Hochdeutsch sprechen<br />
• Zigaretten im Supermarkt kaufen<br />
können (auch nach 20 Uhr)<br />
• Lebensmittel einkaufen an<br />
einem Samstag nach 18 Uhr<br />
• Österreichs Politik<br />
Contra Wegziehen:<br />
• „Das geht sich nicht aus“<br />
nicht mehr verwenden können<br />
und mir „eh“ und „ur“<br />
abgewöhnen<br />
• Nicht mehr durch die Straßen<br />
schlendern können und jedes<br />
Mal aufs Neue überwältigt<br />
sein von der Schönheit und<br />
Ästhetik der Stadt.<br />
• den Sommer nicht in Wien<br />
verbringen<br />
• Spritzer bestellen und<br />
komisch angeschaut werden<br />
• sich Altbau nicht mehr leisten<br />
können<br />
• Ich kann nicht alle geliebten<br />
Menschen überreden mitzukommen.<br />
• Deutschlands Politik<br />
Ihr seht also, es war auch für mich keine leichte<br />
Entscheidung. Aber getroffen habe ich eine –<br />
vorerst. Klar ist, wenn ich nicht zurückkomme,<br />
bleibt Wien für mich eine meiner Heimaten, die<br />
ich mit der euphorischen Vorfreude eines Kindes<br />
immer wieder besuchen werde. ●<br />
© Zoe Opratko<br />
62 / MIT SCHARF /
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