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Leseprobe "Der finale Weg"

Jede dieser zwölf Erzählungen ist ein Lockruf, sich auf das Unerklärliche einzulassen, fremdes Terrain zu betreten und Bedrohungen standzuhalten. Der Lohn ist ein wah-rer Hagelsturm an Beweisen für das Credo von Jorge Luis Borges: Nichts ist wie es scheint! Der finale Weg führt zu konkreten und metaphysischen Abgründen, vor denen der Leser seiner eigenen Seelenstärke überlassen bleibt. Alltägliche Situationen eskalie-ren ins Surreale, Dämonen lauern in fiktiven Unterwasserwelten, in Fragmenten des Vietnamkrieges, in Alpträumen und in den Seelen russischer Literaten auf einem To-tenschiff. Und allgegenwärtig verfolgt einen die Frage, wo sie eigentlich verläuft, die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn – und ob es sie überhaupt gibt. Eine Antwort darauf kann nicht gegeben, sie muss selbst erfahren werden. Der finale Weg liefert den nötigen Anreiz, sich an diese mentale Front vorzuwagen und jede Norma-lität anzuzweifeln. Link zum Buch bei AMAZON: https://www.amazon.de/dp/B08SH41XLN

Jede dieser zwölf Erzählungen ist ein Lockruf, sich auf das Unerklärliche einzulassen, fremdes Terrain zu betreten und Bedrohungen standzuhalten. Der Lohn ist ein wah-rer Hagelsturm an Beweisen für das Credo von Jorge Luis Borges: Nichts ist wie es scheint!
Der finale Weg führt zu konkreten und metaphysischen Abgründen, vor denen der Leser seiner eigenen Seelenstärke überlassen bleibt. Alltägliche Situationen eskalie-ren ins Surreale, Dämonen lauern in fiktiven Unterwasserwelten, in Fragmenten des Vietnamkrieges, in Alpträumen und in den Seelen russischer Literaten auf einem To-tenschiff. Und allgegenwärtig verfolgt einen die Frage, wo sie eigentlich verläuft, die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn – und ob es sie überhaupt gibt. Eine Antwort darauf kann nicht gegeben, sie muss selbst erfahren werden. Der finale Weg liefert den nötigen Anreiz, sich an diese mentale Front vorzuwagen und jede Norma-lität anzuzweifeln.

Link zum Buch bei AMAZON: https://www.amazon.de/dp/B08SH41XLN

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Der finale Weg

Horst Knappe


Der finale Weg

Horst Knappe

12 Stationen


INHALT

Vorwort

Wer den Zeitwind sät 9

Tauchgang 17

Black Celebration 35

Unter Palmen 39

Sarah 55

Déjà-vu 63

Schlechter Prophet 75

Oblomows Alptraum 94

The Tempest 125

Das Totenschiff 147

War Box 187

Der finale Weg 197


Tauchgang

Cole erwachte in einem kahlen, weiß getünchten Hotelzimmer mit

einem Fensterschlitz, der auf den Hinterhof zeigte. Mombasa, in den

Seitenstraßen hupten Matatus, die Stadt pulsierte schon in der Hitze

des Morgens, während Cole nur langsam zurück ins Bewusstsein

fand. Standbilder in seinem Kopf wechselten sich mit Sequenzen ab,

die keinen Sinn ergaben, Szenen ruckten vor und zurück wie einem

defekten Film, blieben stehen, wurden schwarz, um dann in Zeitlupe

weiter zu kriechen.

Hinter geschlossenen Lidern zogen im Gegenlicht die Segel von

Dhows vorüber, im alten Hafen das Wasser wie Gold, der Gewürzmarkt,

er hörte die Rufe der Muezzine. Cole sah sich selbst im weißen

Safarianzug an einem der Spieltische, Black Jack, dieses schlanke Girl

an seiner Seite, schwarz in rotem Kleid. Vogelperspektive aus einem

Heißluftballon, galoppierende Gnus in einer Staubwolke, die Flamingos

wie ein rosa Teppich auf dem Lake Nakuru, er war allein, das

Girl verschwunden. Wie war noch ihr Name? Hatte sie einen Namen?

In einer neuen Szene stieg er wieder aus diesem Pool im Governors

Camp, am nahen Flussufer hob ein massiger Alligator seinen Kopf

aus dem Schlamm und steuerte erst träge, dann unglaublich schnell

auf ihn zu. Mister bwana, msuri sana ... Singsang einer fernen Tonspur,

Giriama tanzten um ein nächtliches Feuer, es erlosch, die Löwen

gingen auf Jagd.

Das Girl war also weg, stellte Cole fest, als er das nächste Mal blinzelte,

das Geld auf dem Nachttisch auch. Er tastete nach seinen Schuhen,

fand sie, das Versteck im doppelten Boden war unberührt, alles

in Ordnung. Auf dem Rücken liegend folgten seine Augen eine Weile

den langsam rotierenden Flügeln des Deckenventilators. Das war

nicht sein Strandbungalow, nur ein Zimmer mit Bett und Dusche im

Mombasa. Cole hatte schon miserabler übernachtet. Für seinen Automobilkonzern

sollte er Pollman´s, Kenias größten und mächtigen

Tourenveranstalter, gefühlvoll aber nachdrücklich davon überzeugen,

den gesamten Fuhrpark zu erneuern. Eine Armee von Kleinbussen,

Jeeps, Firmenwagen, am besten auch die großen Reisebusse

für Transfers und Stadtrundfahrten. Takis, Grieche und Boss von

17


Pollman´s, Spitzname Onassis, hatte selbst um ein Angebot gebeten.

Doch jetzt, kaum dass Cole im Land war, machte er sich rar und war

nie zu sprechen.

Cole wohnte eigentlich am Bamburi Beach, zehn Meilen nördlich

von Mombasa. Die Strecke entlang der Küste war er schon dutzende

Male gefahren, bei Tag und bei Nacht, durch tiefe Schlammpfützen

nach Wolkenbrüchen, nüchtern und stockbetrunken, und immer

unbeschadet, trotz Linksverkehr und mörderischer Schlaglöcher auf

Höhe des Zementwerks, wo die Schwerlaster einbogen und sich der

Asphalt in eine Kraterlandschaft verwandelt hatte.

Er hatte Takis ein neues Angebot vorgelegt, besser gesagt einem

seiner Untertanen in Pollman´s Imperium auf der Moi-Avenue. Beim

Thema Inzahlungnahme der alten Fahrzeuge hatte es sich schlicht

um eine neue, höhere Schmiergeldsumme gehandelt. Und wie es

schien, waren dadurch die Verhandlungen endlich auf einem Weg,

der irgendwo hin führte, statt wie bisher nur im Kreis. Darum hatte

er ein paar Leute zum Essen eingeladen, war im Florida Spielcasino

gelandet und schließlich mit diesem Girl im Hotel. Ohne Kater, ohne

Bargeld, ohne Frühstück fuhr er zurück nach Bamburi und faxte seiner

Zentrale einen Bericht.

Im nahen Strandresort der Hotels Plaza Beach und Severin Sea

Lodge war Cole Stammgast. Nach einer kleinen Mahlzeit streckte er

sich auf einer Liege am Swimming Pool aus und bestellte einen Espresso.

Mit zwei deutschen Tauchlehrern, die im Hotel ihre Schule

betrieben, hatte er vorige Woche Freundschaft geschlossen. Cole war

ein guter Schwimmer und Windsurfer, aber unter Wasser war ihm der

Indische Ozean, der vor der Küste abrupt in große Tiefen abfiel, nicht

geheuer. „Du musst tauchen!“ hatten Klaus und Uwe beschlossen, um

ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Mehrfach hatten sie ihn schon mit

Hotelgästen, die einen Kurs belegten, in den Hotelpool gelockt und

mit den Geräten vertraut gemacht. Ein harmloser Zeitvertreib, aber

auf den abschließenden Tauchgang im Ozean war er überhaupt nicht

scharf. Wenn es soweit war, wollte Cole Termine vorschieben, um

sich davor zu drücken.

Als sein Kaffee kam, klangen von der anderen Seite des Pools laute

Stimmen und Geklapper herüber. Trainer und Touristen schleppten

Tauchausrüstungen aus einem Schuppen. Cole wollte sich zurückzie-

18


hen, aber Klaus hatte ihn schon entdeckt: „Halt, stehenbleiben, you

are arrested!“

Cole realisierte, dass er der scherzhaften Verhaftung nicht entkommen

konnte. Der Deutsche stellte einfach eine weitere Ausrüstung

und Sauerstofflaschen vor ihm ab und verkündete feierlich, dass heute

sein großer Tag wäre.

„Charly fährt uns raus, die Wellen sind okay. Du wirst sehen, das

wird dein unvergesslicher erster Tauchgang. Los, anziehen!“

Cole überwand seinen Widerwillen und gehorchte, alle Taucher

schlüpften in ihre Anzüge und kletterten an Bord eines Bootes, in

dem sie Bleigürtel, allerhand Gerät und Sauerstoffflaschen sorgfältig

verstauten. Er checkte, dass er vermutlich der Älteste in der Gruppe

war, bis auf Charly, der das Boot steuerte, ein hellhäutiger Kenianer

mit langen Haaren und Vollbart, Typ Robinson Crusoe.

Charly war es auch, der auf Befragen, warum die Frontscheibe seines

Schiffes praktisch fehlte und nur noch ein paar Splitter im Rahmen

hingen, freimütig erzählte: „Vorgestern fuhr ich mit anderen

Tauchern hinter das Riff, schätzte am Nadelöhr das Zusammentreffen

zweier Wellen falsch ein, und schon krachten ein paar Tonnen

Wasser auf uns runter. Die Scheibe war hin, aber ich hielt das Steuer

fest.“ Er drehte seinen Arm und präsentierte stolz eine lange Schnittwunde,

vom Wasser hässlich aufgequollen. „Zwei Leute flogen über

Bord, aber die konnte ich wieder einsammeln. Schicksal, alles Schicksal,

immer kann was passieren, Hauptsache, man bleibt am Leben,

oder?“ Weil aus den verdutzten Gesichtern der Tauchschüler keine

Antwort kam, heulte er einmal kurz auf und legte seinen Kopf in den

Nacken wie ein Kojote.

Sie tuckerten durch ruhiges Wasser, die Tauchlehrer lobten die

guten Bedingungen und richteten abwechselnd ihre Daumen auf.

Doch je länger sie fuhren, desto näher kamen sie jener Linie, die vom

Strand aus wie eine schmale Spur Puderzucker ausgesehen hatte. Das

Riff, etwa drei Kilometer vor der Küste, erhob sich aus einem sonst

makellosen Meer. Und im Näherkommen schwoll auch ein Geräusch

an, das anfangs wie Plätschern klang, dann wie starke Dünung und

schließlich wie das Inferno, das sich wahrhaftig dort abspielte. Die

Wucht, mit der Steilwände aus Wasser unaufhörlich ins Riff stürzten,

ließ alle an Bord, die das zum ersten Mal erlebten, in Ehrfurcht

19


erstarren. Noch befanden sie sich in sicherer Entfernung, nirgendwo

schien eine Lücke zu sein, und Cole hoffte, sie würden das Schauspiel

nur eine Weile verfolgen und dann umkehren. Aber Charly beriet sich

schon mit Klaus und Uwe und zeigte in wechselnde Richtungen, man

konnte nur ahnen, was sie ausheckten. Irgendwann schrie jemand:

„Das Nadelöhr!“

Auch Cole erkannte, dass es in diesen Gebirgen aus Wasser tatsächlich

eine Passage gab, wo die Korallen nicht bis an die Oberfläche

ragten. Auf einer Breite von vielleicht hundert Metern gab es

keine Gischt, dafür blickte man dort abwechselnd hinab in den grünschwarzen

Schlund des Ozeans und hinauf zu mörderischen Wasserwalzen,

die sich nach tausend Kilometern Anlauf durch diesen Engpass

quetschten. Besagtes Nadelöhr, dessen Macht sie überwinden

mussten, um hinter das Riff zu gelangen. Cole wurde schlecht, er beachtete

die anderen im Boot überhaupt nicht, konzentrierte sich nur

auf Charly, der Steuer und Gashebel fest umklammert hielt. Wieder

wurde die Passage voraus zu einem olivfarbenen Schlund. Um sich

gleich darauf wie ein erwachender Riese zunächst auf Augenhöhe,

dann immer höher zu einer dunkelgrünen Steilwand aufzurichten.

Ohnmächtig im Bann ihrer Winzigkeit hatte niemand Charlys

Schrei gehört oder wahrhaben wollen. „Jeeetzt!“ Erst als das Boot unter

Vollgas erzitterte und sich auf der Monsterwand empor arbeitete,

merkten alle, dass ihr Schicksal allein von dessen Schub abhing. Die

grüne Walze erhob sich über ihnen zu einem steilen Berg, an dem

das Boot wie ein Insekt klebte und um sein Leben kletterte. Unmöglich!

Der Winkel wurde immer spitzer, ein Bootsmotor heulte bereits

ins Leere, während rechts und links der Wellengigant brach und ins

Bodenlose donnerte. Niemals zuvor hatte Cole so fest geglaubt, im

nächsten Moment zu sterben. Doch als er eine Sekunde später die

Augen hob, hatte das Boot tatsächlich den Kamm der Welle erreicht

und glitt wie ein Schlitten hinab in ruhiges Wasser. Sie waren außer

Gefahr.

Charly steuerte das Boot noch ein gutes Stück weiter, um sie außer

Reichweite der Unterströmung zu bringen, die alles zurück in die

Walzen des Riffs riss. Als Klaus und Uwe den Anker über Bord hievten,

riefen sie aus: „Dreißig Meter, optimal.“ Während auf ein Zeichen

alle damit begannen, ihre Montur anzulegen und sich gegenseitig die

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Sauerstofflaschen auf den Rücken zu schnallen, erzählte Charly, vor

etwa zwei Wochen wäre genau hier im Nadelöhr ein Tauchboot verunglückt.

Wrackteile wären erst nach Tagen angespült worden, an einem

weit entfernten Strand. Von den Tauchern und dem Bootsführer

fehlte jede Spur, es gäbe auch keine Hoffnung mehr. „Hier draußen

gibt es Haie und Muränen. Vielleicht findet ihr da unten ja noch Teile

der Ausrüstung, Knochen oder Zeug, das die Fische wieder ausgespuckt

haben.“

„Schluss damit!“ fuhr Uwe dazwischen. „Alles klar zum Abtauchen!

Klaus geht als Erster, dann einer nach dem anderen, ich als Letzter.

Wir treffen uns unten, viel Spaß! Masken auf und los!“

Cole zog sich die Brille übers Gesicht, biss auf Gummi, atmete Sauerstoff

und ließ sich rücklings über den Bootsrand kippen. Schnell zog

ihn sein Bleigürtel tief unter Wasser, er griff nach der abwärts führenden

Leine und folgte den Knoten nach unten, den anderen Körpern

hinterher. Doch kaum hatte er seinen Atemrhythmus gefunden,

kam ihm von unten etwas entgegen, ein Taucher, einer der Schüler,

der vermutlich Panik bekommen hatte und zurück an die Oberfläche

strampelte. Cole wich aus, wurde aber trotzdem von einer Flosse

an der Maske getroffen, Wasser drang ein, in Nase und Augen, und

er musste das Ding freiblasen. Leine loslassen, Rückenlage, Wasser

überall, dann blasen, bloß keine Panik. Es funktionierte, er konnte

wieder sehen, fand zur Leine zurück. Ohrenschmerzen mahnten zum

regelmäßigen Druckausgleich. Fähnchen an der Leine zeigten die Tiefe,

er war bei 15 Metern, allmählich wurde es dunkler, von unten stiegen

Luftblasen auf, dort mussten schon die anderen sein. Cole zog sich

weiter hinab, nächster Druckausgleich bei 20 Metern, immer noch

kein Grund in Sicht, nur Dunkelheit. Wie mochte es sich anfühlen, für

immer hier unten zu bleiben? Dann sah er die 25-Meter-Marke, unter

ihm zeichneten sich Konturen ab, manche davon bewegten sich.

Der Boden kam in Sicht, gar nicht so dunkel wie vermutet, da waren

Felsformationen, Turbulenzen in Richtung Riff. Und zur anderen Seite,

abfallend in noch größere Tiefen, Sand und einzelne Korallenstöcke

in grellen Farben. 30 Meter, Cole war unten, neben schwarzen

Fächerkorallen, die größer waren als er selbst, umgeben von einem

Schwarm bunter Fische, die ihn neugierig musterten. Er fühlte sich

augenblicklich wohl hier unten, fast heimisch. Abseits sammelten

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sich die anderen Taucher. An seinem Bart erkannte er Uwe, der die

Gruppe durch Handzeichen formierte und aufforderte ihm zu folgen.

Die Taucher schwammen in loser Formation zu einem großen Korallenstock,

wo sich viele exotische Fische tummelten. Unterhalb eines

Felsens stocherte Uwe mit seiner Harpune in einem Spalt herum.

Er neckte eine kleine Muräne, die sich dort versteckt hielt und

angriffslustig immer wieder hervorschnellte und nach der Harpune

schnappte. Cole, der hinter den übrigen zurückgeblieben war, erblickte

hinter einem anderen Felsen eine ungewöhnlich große, ebenmäßige

Wölbung in glänzendem Perlmutt. Eine Riesenmuschel? Eine

Meeresschnecke? Uwe und die restliche Gruppe zogen weiter, Cole

schlug neugierig die entgegengesetzte Richtung ein.

Im Näherkommen wurde seine Entdeckung größer als erwartet und

immer rätselhafter. Hinter Felsen und Korallen ragte ein mannshohes

Schneckengehäuse aus dem Sand, außen grau und pockennarbig,

innen glattrosa und ebenmäßig rund, wie ein weit geöffneter Mund.

Cole fragte sich, ob ein Wesen darin wohnte, eine Riesenschnecke?

Wohl kaum, aber er musste nachsehen, schwamm bis zur Wölbung

und kam im Eingang zum Stehen. Dahinter machte das Gehäuse

eine scharfe Kurve, der Cole folgte, ohne sich bücken zu müssen, der

Gang war gigantisch groß. Bei jedem Schritt wurde es dunkler, doch

furchtlos tastete er sich vorwärts und folgte den nächsten Windungen.

Ein bläuliches Licht schimmerte plötzlich in der Dunkelheit, das

heller wurde, je weiter Cole vordrang. Dann sah er es und erstarrte

vor Schreck:

Der Gang war zu Ende, er befand sich vor einer Felswand, in der

auf Schulterhöhe, verrostet aber deutlich erkennbar, eine Art Tastatur

eingelassen worden war, und darüber, was den Lichtschein erklärte,

auf einem Display in blauer Leuchtschrift die Wörter „ENTER

CODE“. Er riss den Kopf herum um zu checken, ob hier noch weitere

Überraschungen lauerten, aber Cole war allein, es gab nichts außer

dieser Anzeige. Das konnte doch nicht sein! Was war das? Im Ozean,

dreißig Meter tief, in einem Schneckengehäuse. Das konnte einfach

nicht möglich sein! Cole atmete schneller als zuvor, dachte an seinen

Sauerstoffvorrat. Sollte er die anderen rufen? Nein, noch nicht,

das war seine Entdeckung, seine Herausforderung. Er zwang sich zu

ruhiger Atmung, doch der Aberwitz der Situation machte ihn nervös

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und hektisch.

„ENTER CODE“ befahl ihm die Anzeige, und spontan tippte er

ein paar Zahlen ein, er konnte vier Stellen wählen. Cole wählte viermal

die Null, nichts geschah. Dann tippte er die Zahlen 1-2-3-4 ein,

auch nichts, in der umgekehrten Reihenfolge ebenfalls Fehlanzeige.

Nichts rührte sich, jede Taste erzeugte zwar einen Ton, aber nichts

geschah, die Anzeige leuchtete unbeeindruckt weiter. Cole wurde

wütend, versuchte andere Kombinationen, viermal die 1, viermal die

2 und so weiter, ohne Erfolg. Er donnerte auf das Display, drückte

mehrere Tasten gleichzeitig, willkürliche Kombinationen. Alles vergeblich,

bis auf die Tatsache, dass seine Atmung schwerer wurde. Er

verbrauchte zu viel Sauerstoff und realisierte, dass bald der Moment

kommen musste, in dem die Flasche leer wäre und er die Reserve

öffnen müsste, die genau bis zum Auftauchen reichen würde. Aber

er gab noch nicht auf. Cole drückte jetzt die Buchstabentasten, tippte

„H-E-L-P“ ein und „F-U-C-K“ und noch ein Dutzend Wörter mit vier

Buchstaben, die alle gleich sinnlos waren. Nur unterschiedlich helle

und dumpfe Töne erzeugte er damit, und Cole konnte beim besten

Willen kein System erkennen. Seine Sinne begannen zu schwinden,

er sah nicht mehr klar, schnappte nach Luft, wollte aber das Öffnen

der Reserve so lange wie möglich hinauszögern.

Dann wurde es kritisch, er drohte ohnmächtig zu werden, sein Gehirn

brauchte Sauerstoff. Im Gegensatz zu anderen Tauchern, die in

diesem Zustand schon nicht mehr denken konnten und ihre Reserve

glatt vergaßen (und ertranken), griff Cole in buchstäblich letzter Sekunde

nach dem Hahn und drehte das Ding bis zum Anschlag auf.

Er kam wieder zu sich, erkannte, was er hier tat, und musste sich

unbedingt entscheiden: Raus hier und hoch an die Oberfläche – oder

noch ein paar Versuche riskieren? Niemand konnte ihm helfen, die

anderen seiner Gruppe öffneten sicher auch gerade ihre Reserven

und begannen mit dem Auftauchen.

Cole tippte weiter Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben ein,

während ihm die Luft ausging, woran er nicht denken wollte. Doch

er spürte es. „ENTER CODE“ stand höhnisch auf dem Display. Und

bereits leicht benebelt dünkte Cole, man müsste vielleicht das Wort

„C-O-D-E“ eingeben. Er tat es, natürlich geschah nichts, aber er registrierte

beim Drücken drei dumpfe Töne und ein hohes Pfeifen.

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Bei Wiederholung erklang der gleiche Akkord. Vielleicht waren drei

Buchstaben richtig, einer falsch? Was konnte beim Wort CODE richtig

und was falsch gewesen sein? Seine Sicht begann sich weiter zu

trüben, er wusste, dass er von hier nicht mehr lebend an die Oberfläche

kommen würde, doch der Dämmerzustand war so angenehm,

so wohlig, dass Cole ihn zuließ. Ein verrückter Gedanke schoss ihm

durch den Kopf: War er in einer Werbung für Coca Cola gelandet

und wurde gefilmt? Lautete der richtige Code vielleicht „C-O-K-E“?

Er probierte es, doch natürlich lag er falsch und musste über seine

eigene Dummheit hysterisch lachen, wobei er den letzten Rest Sauerstoff

verbrauchte. Aber was war das? Die Töne beim Tippen von

„C-O-K-E“ waren identisch gewesen mit denen von „C-O-D-E“, drei

richtige, ein falscher Buchstabe ... aber was spielte das jetzt noch für

eine Rolle? Er war verloren, hatte nur noch ein paar verschwommene

Sekunden zu leben, sackte auf die Knie. Ein letztes Mal, schon ohne

Gehirnfunktion, zog er sich an der Wand hoch und stieß die restlichen

Luftblasen aus. Seine Hand tastete über die Buchstaben und drückte

nacheinander seinen Namen: „C-O-L-E“.

Im selben Augenblick öffnete sich unter ihm ein Schacht, eine Falltür,

durch die er ins Leere stürzte. Es folgte ein langer, sehr langer

freier Fall, bei dem er aus seinem nassen Element, von seiner Luftnot

und seinem Körper befreit wurde ... und sich als Zuschauer im Saal

eines großen Theaters wiederfand, in dem er allein den einzigen Platz

besetzte. Wie bei einer Vorführung teilte sich vor seinen Augen der

schwere Vorhang und gab den Blick frei auf die Welt des apokalyptischen

Marktes. Es war eine Landschaft wie jede andere, mit Dörfern,

Wäldern und Seen, Schnellstraßen, Großstädte mit Bürotürmen und

Parks, doch irgendwie leblos, ohne Bewohner, ohne das geringste

Anzeichen von Bewegung, von menschlichem oder sonstigem Leben.

Coles Blick zoomte heran und entlarvte die Bauten als Attrappen,

künstliche Nachahmungen einer Welt, wie er sie kannte. Dahinter,

besser gesagt darin eingerollt wie in der String-Theorie verbargen

sich die wahren Dimensionen.

Je genauer er hinsah, desto mehr neue Perspektiven erwachten

schillernd zum Leben, sich entfaltend wie eine sich öffnende Knospe.

Jede davon war eigenständig und verschieden, in ihrer Gesamtheit

schienen sie jedoch einen komplexen Organismus zu bilden, der

24


seltsam instabil und dadurch unberechenbar wirkte. Er wechselte

ständig seine Form, eigentlich sein Volumen, und Cole erkannte, dass

er gleichzeitig Beobachter und eingeschlossen war von etwas, das ihn

tiefer hineinzog, sobald er seinen Blick darauf richtete.

Als erste Facette erregte ein Labyrinth aus Glas und Chrom seine

Aufmerksamkeit, eine Art Skyline, im Näherkommen ein futuristischer

Umschlagplatz. Der Bahnhof erklang eine Stimme in seinem

Kopf, als wäre das völlig normal. Eine weibliche, überaus freundliche,

ja sinnliche Stimme. Cole beobachtete, wie dort Menschen in

transparenten Kapseln blitzschnell über große Entfernungen schossen.

Sammeltaxis auf erleuchteten Bahnen, auch einzelne Personen,

die in kleinen Blasen blitzartig in Wände einzutreten schienen, um

an anderen, weit entfernten Orten zeitgleich wieder auszutreten. Ein

Gewirr von Bewegung und Geschwindigkeit, in welchem das Muster

ihrer Bahnen eine perfekte, reibungslose Fortbewegung garantierte.

Wo immer zwischen Leitstrahlen und Tunnelwänden Freiraum blieb,

prangten grelle Leuchtschriften „Hurry Up!“ und „Time Is Money!“

und „Faster!“ Man lief oder flog buchstäblich auf Licht, der ganze

Komplex war Licht und Geschwindigkeit. Cole musste seinen Blick

abwenden, um nicht in den Strudel gerissen zu werden. Dieselbe

weibliche Stimme beantwortete seine Fragen, noch bevor er sie stellte.

Der Bahnhof verknüpft Dimensionen auf sichtbarer Ebene und

noch ein wenig altmodisch. Der Datenaustausch findet im virtuellen

Raum statt, aber wo Personen tatsächlich noch physisch reisen, verlassen

sie vorübergehend ihren Platz, was ihre Produktivität mindert!

Sofern unvermeidbar, muss das so schnell wie möglich gehen.

Cole folgte mit seinem Blick einem Mann im grauen Anzug, der

wie ferngesteuert durch eine Röhre schwebte und lautlos in einer

verspiegelten Wand verschwand ... aber doch nicht verschwand, weil

Cole seiner Bahn gefolgt war und mit ihm durch dasselbe Wurmloch

schlüpfte. Er brach in ein neues Bild: In einem Raum, groß wie ein

Fußballstadion, saßen dicht an dicht in winzigen Parzellen Angestellte

vor ihren Bildschirmen, Männer und Frauen, ausnahmslos mit Headsets.

Niemand sprach, alle lauschten nur und bedienten mit flinken

Fingern Tastaturen, das Klicken ein permanentes Hintergrundrauschen,

das manchmal, wie von magischer Regie geführt, rhythmisch

anschwoll und wieder leiser wurde, bevor es zurück in Entropie fiel.

25


Die Muskeln unseres Handels. Die Broker! Wir brauchen sie, das

können Vektoren noch nicht übernehmen, obwohl wir bereits daran

arbeiten. Cole fragte sich, wie viele Menschen hier lebten, denn

sie kamen nicht „zur Arbeit“, sondern wohnten und schliefen in ihren

Parzellen, in deren Böden jeweils ein Bett, Wasch- und Verpflegungseinheiten

eingelassen waren. Wie zur Antwort auf seine Frage

öffnete sich das Dach der Arena, durch das Coles Blick gleich dem einer

aufsteigenden Drohne über eine Landmasse glitt, die nahtlos mit

identischen Stadien überzogen war, was eine Schätzung der gesamten

Belegschaft unmöglich machte.

Verstört zoomte er zum Ausgangspunkt zurück, versuchte den

Mann wiederzufinden, dem er gefolgt war. Er ist im Gehirn. Nur Abteilungsleiter

müssen manchmal reisen. Während die Broker an ihrem

Platz leben und sterben, ist der persönliche Kontakt zwischen

Department-Heads zuweilen nötig. Dein Mann war auf Geschäftsreise.

Cole vollzog den Gedanken nach. Was sollte das heißen, der

Mann wäre im Gehirn? Ein höheres Level. Schau her!

Nichts erklärte, wo er sich in der nächsten Sekunde befand. Vor Cole

entrollten sich lange Korridore in gedimmtem, warmem Licht. Er vernahm

eine leise Melodie, die wie ein Schlaflied klang, niemand war zu

sehen, alle Türen in sich verzweigenden Gängen waren verschlossen.

Aus einer Laune heraus wollte Cole irgendwo anklopfen oder eine Tür

öffnen, als sich die Stimme warnend meldete. Nichts anfassen, nur

schauen! Erstmals fragte er sich, warum zum Teufel er hier war, wo er

überhaupt war und was das alles bedeutete. Ruhig, schön ruhig, hier

schlafen gerade die Abteilungsleiter. Pro Tag reichen ihnen wenige

Minuten, doch die sollten wir ihnen gönnen. Warte ab ...

Und schon verstummte die Hintergrundmusik, Türen öffneten sich,

und Cole bemerkte, dass sich ab jetzt alles – auch seine eigene Wahrnehmung

– in erhöhter Geschwindigkeit vollzog. Wie im Zeitraffer

überstürzten sich die Ereignisse: Männer in Anzügen erschienen und

verschwanden wieder, in ihren Händen Papiere, mehrere Telefone, in

die sie abwechselnd und gleichzeitig sprachen, alle waren korrekt gekleidet,

aber kreidebleich, mit Gesichtszügen wie Verfolgte, sie wirkten

nicht verzweifelt, eher resigniert. Zwischen ihnen huschten auch

Frauen in dunklen Kostümen durch die Korridore, ebenso geschäftig

und bemüht, weder Blicke auf sich zu ziehen noch auszutauschen.

26


Cole versuchte zu verstehen, was sie eigentlich taten. Doch schon war

offenbar Essenszeit, auf wundersame Weise tauchten Sandwiches

und Trinkbecher in den Händen der Leute auf, die ihren Trab nicht

verlangsamten. Das sind unsere Genies, zusammen sind sie unser

Gehirn. Und plötzlich erkannte Cole den Mann wieder, dem er zuvor

mit Blicken gefolgt war. Er rannte ihm nach bis in dessen Büro.

Statt moderner Sterilität, wie sie bisher überall geherrscht hatte,

erblickte Cole im Reich dieses Mannes überraschend Konservatives:

Einen Orientteppich, einen massiven Schreibtisch, darauf ein Telefon

mit schwarzer Schnur, Stifte, einen Schreibblock und sogar das gerahmte

Foto einer Frau mit Kind. Beim genauen Hinsehen, das heißt

als beide Männer den Raum betraten und im selben Moment auch

schon wieder verließen, stellte sich jedoch das Dekor als pure Illusion

heraus. Sie durchschritten eine Projektion und gelangten dahinter in

eine fensterlose Zelle, in der sich mehrere bequeme Drehsessel befanden

und auf deren Wänden, die komplett aus Bildschirmen bestanden,

unaufhörlich grüne Zahlenkolonnen über schwarzen Grund

flossen. Nehmen Sie Platz! Eine männliche Stimme, ein neuer Unbekannter

in seinem Kopf.

Cole meinte, eine Logik in den Zahlreihen zu erkennen, eine gewisse

Ähnlichkeit mit den Reports, die er selbst für seinen Konzern

erstellte. Nicht ganz korrekt, meldete sich die weibliche Stimme zurück.

Hier laufen keine Börsenticker, das ist HUMAN RESOURCES.

Bildlich gesprochen das Kraftwerk von Apokalyptia, die humane

Energiequelle. Cole sah genauer hin, las in der obersten Spalte „NET

PROFIT“ und daneben eine Zahl mit circa zwanzig Stellen. Darunter

führten Verzweigungen zu diversen Clustern, in denen weitere Untergruppen

ständig rotierten und flimmerten und schließlich, wenn man

nur beharrlich genug immer weiter vergrößerte, wie es der Mann an

Coles Seite gerade tat, auf winzige Porträtfotos einzelner Broker stieß,

neben denen in gleicher Spalte deren persönliche Umsätze aufleuchteten.

Real Time. Der Mann tippte auf eine Zeile, und in nochmaliger

Vergrößerung wurden in einem Aufklappmenü Statistiken genau dieses

einen Mitarbeiters sichtbar, Vergleichszahlen, seine Performance

an beliebigen anderen Tagen, Monaten, im vorigen Jahr und so weiter

... und natürlich eine prozentuale Evaluierung in Plus oder Minus.

Farblich unterlegt wiesen positive Zahlen seine Produktivität im

27


grünen Bereich aus, in einem gelben Balken oder – falls über längere

Zeit negativ – auf knallrotem Grund. Verkleinerte man die Ansicht,

blinkte neben dem Foto des Mitarbeiters (ohne Namen, hier trug niemand

einen Namen) entweder ein grünes Dollarzeichen, ein gelbes

Fragezeichen oder ein lustiger, roter Galgen. Der Job des Mannes an

Coles Seite bestand darin, den Algorithmus dieser millionenfachen

Auswertung so anzupassen, dass Spalten mit länger blinkenden Galgen

durch exakt jene Zahl neuer Mitarbeiter ersetzt wurden, die an

einer anderen Wand aus einem schier unerschöpflichen Pool von

Nachfolgern ausgespuckt wurden.

Im Hinausgehen fiel Coles Blick noch auf eine weitere Projektion im

Vorzimmer des Mannes. Teil der altmodischen Büroeinrichtung war

der Schreibtisch einer Sekretärin, die eine lange Reihe von Wartenden

abfertigte. Ohne aufzusehen legte sie einem nach dem anderen

im Schein einer alten Lampe immer das gleiche Entlassungsformular

vor („Hier unterschreiben!“) und heftete die Blätter ohne Ordnungskriterien

ab. Wie gesagt, es gab keine Namen. Cole erkannte das Gesicht

eines Brillenträgers wieder, der gerade unterschrieb. Er war das

Beispiel in der Vergrößerung gewesen, neben seinem Foto hatte ein

roter Galgen geblinkt. Doch bevor er mitbekam, wohin die Gefeuerten

anschließend verschwanden, driftete er selbst aus der Projektion

und fand sich im Flur wieder.

Noch immer spielte sich dort alles im Zeitraffertempo ab, ein ganzer

Tag war verstrichen, oder waren es schon zwei? Die Hektik in den

Gängen, der Strudel von Gehetzten mit Akten und Telefonen und

Trinkbechern verursachten Cole Schwindelgefühle, er verlor die Orientierung.

Schließlich stieß er eine Tür auf, über der ein Display das

„Reich der Stille“ verhieß. Dahinter war nichts. Cole sah nichts, hörte

nichts, nahm keinerlei Reize wahr. So musste sich der Tod anfühlen,

sofern man überhaupt noch etwas spürte. Dann erwachte unter seinen

Füßen der Boden in diffusem Licht, er stand auf einer Glasfläche

oder auf einem anderen Material, unter dem sich erst unklar, dann

immer deutlicher die Umrisse zahlloser Büros abzeichneten. Wie

unter Wasser erstrahlte das ganze Ausmaß des juristischen Imperiums

von Apokalyptia. Hier regierten die Götter der Rechtsabteilung,

die ohne Eile, dafür in größtmöglicher Ruhe und Konzentration ihre

Aufgaben erfüllten. Die Stille war paradiesisch im Vergleich zu den

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anderen Abteilungen. Auch optisch herrschte hier Postkartenidylle:

Das weitläufige Areal wurde ringsum gesäumt von einem Bergpanorama,

dessen schneebedeckte Gipfel in der untergehenden Sonne gerade

majestätisch aufglühten.

Leisen Schrittes zog er sich zurück, bemüht niemanden zu stören.

Dabei erlosch der letzte Rest Tageslicht, und nirgendwo gab es Anhaltspunkte,

wie er zur Eingangstür zurückfinden konnte. In völliger

Dunkelheit, ohne einen Laut zu vernehmen drehte er sich einige Male

um die eigene Achse und blieb dann stehen. Wo bin ich, was tue ich

an diesem Ort? Dies ist kein Ort. Die sinnliche Stimme meldete sich

zurück. Es ist ein Zustand. Cole hörte die Sätze, doch er verstand sie

nicht. Ein Zustand ...

Plötzlich saß er wieder im Theater, was er als Warnung verstand,

keinesfalls einzugreifen, sondern nur zuzuschauen. Erneut teilte sich

der Vorhang, und Cole formulierte in seinem Kopf die Frage, wie das

Stück eigentlich hieße. Eine Weltkugel erschien auf dem Bildschirm,

der Blaue Planet in der schwarzen Weite des Alls, er blickte aus dem

Fenster eines sich nähernden Raumschiffs. Die Erde hatte jedoch einen

Ring wie der Saturn. Nein, das war kein Ring, den gesamten Planeten

umschloss ein breites Band, eine goldene Schleife. Zu langsamer

Rotation ertönte jetzt Musik, die Cole vertraut war, die Melodie

eines Vorspanns. Und als ihn von der Leinwand schließlich ein Löwe

anbrüllte, erkannte er das MGM-Label. Der Filmtitel „GLOBALISIE-

RUNG“ prangte giftgrün auf schwarzem Grund.

Ein Zustand, ein Film? Milliarden unkenntlicher Kreaturen umkreisten

die Weltkugel, tauchten in die Meere, zerrten an den Kontinenten,

schleuderten ihren Auswurf die Hemisphäre, einen spiralförmigen

Schleier bildend, der zunehmend verkrustete. Cole stürzte

wie ein Meteorit hindurch, geradewegs auf einen der Ozeane zu, den

Indischen Ozean, für einen Sekundenbruchteil erkannte er die Küste

Kenias und das Bamburi-Riff ... bevor der Einschlag kam.

In ihm erwachten neue Bilder, eine endlose Wüste, in der rostrote

Schlote vor einem flimmernden Horizont aus dem Sand ragten. Wie

groß mochten die darunterliegenden Areale sein, was enthielten sie?

Globalisierung hat keine räumliche Ausdehnung, sie ist überall, aber

nirgendwo greifbar. Die Stimme war zurück. Was du siehst, existiert

nicht, ist weder sichtbar noch messbar. Aber Cole sah etwas! Dienten

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seine Trugbilder und Paradoxe zur Erklärung oder waren sie Teil einer

Wahrheit, die keiner Rationalität unterlag?

Auf einer sanften Rutschfahrt glitt er durch den Treibsand und betrat

eine Zone, die man den VERY-FAST-FOOD-TRAKT nannte. Die

Stimme in seinem Kopf schien sich zu amüsieren: Sieh dich genau um,

all das gibt es gar nicht. Das macht es so wertvoll. Ein leises Lachen

folgte. Dann schwoll der Lärm zu einem Tornado von Geschirrklappern

und Schreien und Maschinenstampfen an. Menschen in weißen

Kitteln, die zwischen gigantischen Apparaturen und Laufbändern wie

Zwerge wirkten, hantierten mit Töpfen, Wannen und Behältern aller

Art, die teils auf Schienen glitten, teils an Haken von der Decke hingen

und mit großer Geschwindigkeit ihre Bahnen zogen. Irgendwo

wurden die Küchenzutaten, denn darum musste es sich handeln, in

tiefe Becken gekippt, die wie Whirlpools brodelten, um von diversen

Abflüssen und Röhren in wieder andere Silos geschleust zu werden.

Unmöglich, in den Abläufen dieser Hallen, die sich aneinander reihten

wie Perlen einer Kette, ein System zu erkennen, Cole konnte nur

ahnen, dass hier permanent Fast Food in zahllosen Rationen produziert

wurde. Das sind die Privilegierten. Nahm er durch den Lärm

wahr. Der Mob ist hier!

Ein Level tiefer wurde Cole von Menschenmassen in die Ecke gedrängt,

die gruppenweise von verschiedenen, breiten Laufbändern

Portionen griffen und diese nach Durchqueren der Hallen in wieder

andere Verteilersysteme stopften. Tausende Arbeiter, schiebend

und drängend, in langen Hemden, die unter einer Patina von Fett

und Schweiß jede Farbe verloren hatten. Cole wurde an Bilder aus

Mekka erinnert, an Millionen Pilger, die gleichzeitig den Schwarzen

Stein umkreisten, am Rande der Ohnmacht. Ein kollektives, lautes

Stöhnen untermalte die Qual dieser Arbeiter, deren Augen ins Leere

starrten, während sie sich unablässig ihren Weg von einem Schalter

zum nächsten bahnten und Fast Food in automatische Klappen schoben,

von wo die Portionen in jeden Winkel, an jeden Arbeitsplatz in

Apokalyptia befördert wurde. In jeder der riesigen Hallen befanden

sich Wasserspender, unter deren Strahl die Menschen abwechselnd

und mit überraschender Disziplin ab und zu ihre geöffneten Münder

hielten. Und genau hier war es, wo Cole den Mann mit Brille wiedererkannte,

der kürzlich seine Entlassung unterschrieben hatte. Ihre

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Blicke trafen sich, und es war der wohl traurigste Gedankenaustausch,

den man sich vorstellen konnte.

Schon hatte er den Mann aus den Augen verloren, der Mahlstrom

floss stöhnend weiter. Cole klammerte sich an die Hoffnung, dass all

dies gar nicht existierte, sondern nur MGM-Kulissen wären. Schlimm

genug, Globalisierung, ein idiotischer Filmtitel. Was wollte man damit

anprangern? Sklaverei, Ausbeutung im Very-Fast-Food-Trakt?

Die unterste Stufe, das schmutzige Ende einer Zivilisation? Es reichte,

Cole hatte genug.

Nein, nicht genug, es geht noch schlimmer. Hauchte die Stimme.

Er wollte protestieren, doch die Unsichtbare insistierte. Ganz unten

ist die Kloake. Wieder fiel das Licht aus, worauf eine Art Notbeleuchtung

ansprang, bläuliches Dämmerlicht, in dem Cole erkannte,

dass er besser keine unvorsichtigen Schritte unternahm. Er lief oder

schwebte auf einem der Deiche zwischen breiten, endlos verzweigten

Abwasserkanälen, über denen Faulgase schwelten. Höllengestank

ließ keine Zweifel offen, was in diesen Kanälen schwamm. Doch Cole

blieb gefasst. Überall gab es Kanalisationen, folglich auch in Apokalyptia.

Allerdings schien diese, je weiter er vordrang, Überraschungen

bereitzuhalten.

Hinter einer Biegung stolperte er über Leiber, die am Boden lagen

und bei Berührung Laute wie das Glucksen großer Frösche von sich

gaben. Cole konnte im Halbdunkel nur schwer erkennen, dass es sich

um Menschen handelte, es waren in Lumpen gehüllte Lebewesen,

die einfach hier lagen, nicht tot waren, jedenfalls machte es den Anschein.

Bettler, Inzucht, die Vergessenen. Haben seit Generationen

kein Tageslicht gesehen, sind ausnahmslos blind. Er bemühte sich,

nicht auf sie zu treten, was ihm schwerfiel. Hier und dort richtete sich

einer auf, Mann oder Frau oder Kind? Gluckste, kroch vorwärts. Jemand

streckte die Hand aus, lief ein paar Schritte, fiel in einen Kanal,

ertrank.

Weiter hinten kam er einem Lichtschein und der Quelle metallischer

Geräusche näher. Cole hörte das Schürfen und Rangieren schwerer

Baufahrzeuge, dazwischen menschliche Rufe. In einer Talmulde, die

hinter komplizierten Schleusen lag, fingen riesige Siebe die festen Bestandteile

der Kloake auf. Bagger schaufelten unaufhörlich Kot auf

kilometerlange Fließbänder, die den Abraum zu einer Höhle beför-

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derten. Dort loderte ein ewiger Höllenschlund. Die Energiezentrale.

In großer Hitze und unbeschreiblichem Gestank verrichteten auch

dort unzählige Arbeiter ihren Job. Die meisten bedienten unbekannte

Vorrichtungen, manche hantierten mit langen Stangen, andere trugen

Waffen. Wann immer sich ein Bettler in ihre Nähe verirrte, wurde

er kurzerhand auf ein Förderband geworfen. Cole hörte Gelächter.

Er wich in die entgegengesetzte Richtung aus und musste über

armdicke Stromkabel am Boden springen, aus denen zuweilen Funken

schossen, wobei sie unberechenbar zuckten. Auch hier lagen stille

Bündel auf dem Weg, durch Stromschläge getötete Bettler.

Am Ende seines Weges durch Tod und Verwesung erreichte er den

Schwarzmarkt. Hier lebten die Outlaws, die keine Versorgung mit

Fast Food genossen, keine Funktion hatten und trotzdem überlebten.

Ein undurchsichtiges Gewirr von Menschen am Rande der Latrinen,

geduckte Gestalten im Fackelschein. Huren, Gambler und Dealer ...

regelmäßig dezimiert von Killern, die sich willkürlich nahmen, was

sie brauchten. Auch hierhin verirrten sich zuweilen Bettler, die mit

ausgestreckten Händen durch die Menge liefen, aber nichts sahen.

Niemand gab ihnen etwas, niemand tat ihnen etwas an. Man warnte

sie aber auch nicht, wenn sie geradewegs in den nächsten Graben

liefen und darin ertranken. Die Outlaws wohnten in Hütten aus gebrannten

Kot-Ziegeln, wie Cole am bestialischen Gestank der Behausungen

erkannte. Er hütete sich aber davor, einen Blick hinein

zu werfen. Überhaupt vermied er hier unten jeden Blickkontakt. Allmählich

hatte er nur noch einen Wunsch, der sein gesamtes Denken

beherrschte: Raus hier!

Aber ich sagte doch, dass dies kein Ort ist, den man so einfach

verlassen kann. Nie hatte die Stimme so süß geklungen. Du bist Teil

einer Idee, du selbst bist das Phänomen. Auch wenn ich das gar nicht

sein will, nichts damit zu tun haben will? Tja, dein Wille ist leider

auch relativ. Du glaubst etwas zu wollen, aber vielleicht will jemand

anderes, dass du es willst? Das Wesen des Paradoxen ist wie das

des Universums: Wenn Du seine äußerste Grenze erreicht hast, fragt

sich, was dahinter liegt. Bist du sicher, real zu sein? Coles Blick trübte

sich, er schien rückwärts aus der Kloake zu driften, die Feuerstellen

wurden kleiner und verblassten schließlich. Im Grunde war ihm völlig

egal, wo die Grenze zur Realität verlief, sein Verstand suchte nur

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noch danach, wie er dem Ganzen entkommen könnte. Aber die Stimme

ließ ihn nicht von der Angel. Du bist Teil der Maschine, dein Land

ist unser Land. Die Zeit des Akzeptierens ist gekommen, oder hast

du gemeint, Globalisierung wäre nur ein regionales Phänomen? Vor

Coles Augen erschien jetzt eine lebendige Collage wechselnder Formen

und Farben. Du hattest gefragt, warum du eigentlich hier bist.

Nun, die Antwort ist bereits in der Frage enthalten: Weil du HIER

bist! Dein Codewort ist dein Name, deine Existenz. Du musst nichts

mehr beweisen, dies alles ist auch dein Werk, auch deine Schöpfung

durch die pure Tatsache, dass du darin bist. Leise Musik setzte ein,

wie in Fahrstühlen gegen Klaustrophobie. Doch Cole war weit von

jeder Beruhigung entfernt.

In ihm erwachte ein Instinkt, für den es keinen Namen gab. Eine

Art Aufbäumen gegen das Schicksal, so mächtig es auch sein mochte.

War er ein Teil davon, konnte er es mitbestimmen! Die Stimme ließ

unterdessen ein fröhliches Lachen erklingen, als wollte sie seine Gedanken

verhöhnen. Vielleicht auch aus Vorfreude auf seine nächste

Erniedrigung. Doch Cole fuhr dazwischen: Raus hier, habe ich gesagt!

Er rieb sich die Augen, vertrieb die Stimme aus seinem Hirn, rüttelte

an etwas, das seine Hände zu fassen bekamen. Es waren die Lehnen

seines Theatersessels, die ihn einzwängten. Er war angeschnallt,

nein gefesselt, an seinen Gurten klemmten Schlösser und Haken und

merkwürdige Schläuche. Was vor ihm auf der Bühne oder Leinwand

ablief, war ein Stakkato von durchlebten Bildern und Schreien. Latrinen,

grüne Zahlenkolonnen, der stumme Hilferuf des Brillenträgers,

Fast Food für Milliarden Broker, das MGM-Label, in dem ein blinder

Bettler brüllte, die Feuer der Hölle, Ziegel aus Kot. Er sah einen Lichtschein

aus einer dieser Hütten, und diesmal wagte sich Cole hinein ...

Gegen den Gestank ankämpfend stand er geduckt in einem Iglu aus

Scheiße, in dem um ein Feuer gruppiert Menschen in vorzeitlichen

Fellen saßen und ihn fragend anschauten. Es waren: Seine Eltern,

seine verstorbene über alles geliebte Großmutter, sein unehelicher

fünfjähriger Sohn, eine Frau, die einzige, nach der er sich seit ihrer

Trennung unsterblich sehnte, und dahinter im Halbdunkel noch weitere

Personen, in denen er Freunde und Kollegen, sogar seinen Chef

wiedererkannte, und dahinter noch weitere Reihen von Menschen,

die unmöglich alle in dieser Hütte Platz finden konnten, aber darin

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waren und ihn alle stumm, mit erwartungsvollen, fragenden Blicken

musterten. Es war, als öffnete sich der Raum zu einer weiten Steppe

bei Nacht, erleuchtet nur von diesem einen Feuer. Darüber breitete

sich der Sternenhimmel aus, Cole atmete klare frische Luft, während

er die Augen schloss und zu verstehen begann. Keine Zweifel, keine

Fragen mehr, keine fremden Stimmen. Er hatte verstanden.

Die Haken und Gurte, mit denen er gefesselt schien, erkannte er

wieder. Auch die Nässe, die ihn schlagartig umgab. Er hatte Schläuche

gesehen, wo waren sie? Cole fand sie und zog sie zu sich heran,

ertastete das Mundstück und nahm die nächsten tiefen Atemzüge.

Seine Maske saß immer noch dicht. Da waren diese Felsen, Korallen,

das Gehäuse einer Riesenschnecke, woher war er gekommen? Unweit

trieben die Schatten anderer Taucher, die Luft wurde knapp. Cole erreichte

das Seil, legte den Hebel seiner Reserve um und stieß sich vom

Meeresgrund ab. Knoten um Knoten zog er sich aus der Tiefe empor

und erblickte irgendwann Sonnenlicht und Charlys bärtiges Gesicht

über dem Bootsrand.

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