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Leseprobe "Alek - Kein Held unserer Zeit"

Ende der 70-er Jahre beginnt für den jungen Alek eine Schussfahrt durch drei wilde Phasen, die der Autor selbst durchlebt hat und in seinem Roman inszeniert: Zwei Jahre als Soldat und Ausbilder der Infanterie, lange Streifzüge durch Asien und Südamerika, mehrere Jahre als Reiseleiter u.a. in der Karibik und Ostafrika. In ihm schwelt eine seelische Verwandtschaft mit den Romanhelden Dostojewskijs und Lermontows, doch seine Jagd nach Herausforderungen, schnellem Geld und exotischen Liebesabenteuern treibt Alek in eine Abwärts-Spirale, die in afrikanischen Drogen und Ausschweifungen zu enden droht. Von einem plötzlich auftauchenden Freund davor bewahrt, folgt er dem Ruf einer einstigen Geliebten in die USA ... um dort eine noch größere, schicksalhafte Überraschung zu erfahren. Ein Zitat von Oliver Stone steht dem Roman gleichsam als Losung voran: „Wer sich noch daran erinnert, wie es ist, neunzehn oder zwanzig zu sein, weiß, wie gefährlich diese Zeit sein kann.“ Link zum Buch bei AMAZON: https://www.amazon.de/dp/B0BRH2F83Z

Ende der 70-er Jahre beginnt für den jungen Alek eine Schussfahrt durch drei wilde Phasen, die der Autor selbst durchlebt hat und in seinem Roman inszeniert: Zwei Jahre als Soldat und Ausbilder der Infanterie, lange Streifzüge durch Asien und Südamerika, mehrere Jahre als Reiseleiter u.a. in der Karibik und Ostafrika. In ihm schwelt eine seelische Verwandtschaft mit den Romanhelden Dostojewskijs und Lermontows, doch seine Jagd nach Herausforderungen, schnellem Geld und exotischen Liebesabenteuern treibt Alek in eine Abwärts-Spirale, die in afrikanischen Drogen und Ausschweifungen zu enden droht. Von einem plötzlich auftauchenden Freund davor bewahrt, folgt er dem Ruf einer einstigen Geliebten in die USA ... um dort eine noch größere, schicksalhafte Überraschung zu erfahren.

Ein Zitat von Oliver Stone steht dem Roman gleichsam als Losung voran:
„Wer sich noch daran erinnert, wie es ist, neunzehn oder zwanzig zu sein, weiß, wie gefährlich diese Zeit sein kann.“

Link zum Buch bei AMAZON: https://www.amazon.de/dp/B0BRH2F83Z

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Alek -

Kein Held

unserer Zeit

Horst Knappe


Alek -

Kein Held unserer Zeit

Horst Knappe


billig, aber es hat sich gelohnt! Laura ist ein heißer Feger im Bett.“

Dann verfinstert sich kurz seine Miene. „Jetzt muss ich ihr nur noch

ausreden, ihre ganze Familie hierher zu holen. Die fressen mir jetzt

schon die Haare vom Kopf, halten mich anscheinend für einen Millionär.“

In den nächsten Tagen verlässt Alek das Haus nur, um vor seinem

Abflug noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Was braucht er auf

Jamaika? Zum Beispiel einen neuen Kassettenrekorder. Und noch

etwas, das ihm bei der Vorstellung wichtig erscheint, welchen Gefahren

man auf einer Karibikinsel begegnen könnte: Eine Pistole. Eine

scharfe Waffe kann er nirgendwo kaufen und will es auch gar nicht.

In Belgien gibt es angeblich Flohmärkte, wo man Pistolen bekommt;

aber die wurden meist schon bei Verbrechen benutzt, so dass man

schon Handschellen angelegt bekäme, falls sie bei einem gefunden

würden. Nein, Alek kauft eine Gaspistole, für die man keinen Waffenschein

benötigt, und reichlich Munition. Er hat gehört, dass Experten

durch Aufbohren des Laufs die Waffe gefährlicher machen

könnten, doch dazu fehlt ihm erstens die Zeit und zweitens der letzte

Entschluss. Und dann kauft er noch einen Bausatz mit Einzelteilen,

aus denen man ein mittelgroßes Spielzeugauto basteln kann.

Er sitzt im Flugzeug nach Montego Bay. Den Kassettenrekorder

hat er wieder zusammengeschraubt, nachdem er in seinem Innenleben

und im Batteriefach den Schlagbolzen, weitere Kleinteile und

die Munition seiner Gaspistole versteckt hat. Im Koffer, den er aufgegeben

hat, befinden sich der Griff und die größeren Teile der Pistole,

alle hübsch unter den Spielzeug-Bausatz gemischt. Wie erwartet

schöpft niemand Verdacht. Bei seiner Ankunft registriert Alek, dass

Einreisende nach Jamaika praktisch gar nicht, Ausreisende dafür

umso gründlicher gefilzt werden.

Sein Begrüßungskomitee besteht mit zwei Frauen bereits aus der

kompletten Firmenpräsenz auf der Insel: Eine kleine, schlanke und

nicht mehr junge Norddeutsche mit blonden Strähnen und großen

Schweißflecken auf ihrer Khaki-Uniform. Sie ist seine Chefin, heißt

Connie und streckt ihm forsch die Hand hin, wobei sich die scharfen

Linien unter ihren Nasenflügeln kaum zu einem Lächeln heben. Im

Kontrast dazu wirken ihre Lippen wie zum Kuss geschürzt, doch ihre

kalten Augen vertreiben jeden Gedanken daran.

241


Die andere Kollegin heißt Ruth und ist der Prototyp eines kalifornischen

Supermodels, groß und blond, makellos gebräunt und

umgeben von einer Aura der Stärke. Bevor sie Alek die Hand gibt,

nimmt sie noch einen Zug von ihrer Zigarette und tritt sie dann aus.

Durch ihre Sonnenbrille fixiert sie ihn wie ein Reptil seine Beute,

doch dann zeigt sie ihre weißen Zähne. „Du bist also meine Ablösung,

na dann!“ Sie nickt und verabschiedet sich. „See you in Ocho

Rios! Ich muss zu meinem Bus.“

Ruth betreut die Resorts im Osten von Jamaika, in ihrem Transferbus

dorthin warten schon die neuen Gäste. Für sie geht es hundert

Kilometer die Küste entlang, was in der Hitze eine schweißtreibende

Fahrt ist. Eine Woche später wird Alek Ruths Revier übernehmen

und nach Ocho Rios umziehen.

Die Neuanreisen für Montego Bay und Negril werden von einem

Jamaikaner der Agentur begleitet. Connie betreut die Hotels, ihre

Begrüßungscocktails hält sie aber erst am nächsten Tag ab. Sie

bringt Alek zum Montego Bay Club, wo er im achten Stock ein großes

Apartment bezieht. „Nur für ein paar Tage, bis sich der Sturm gelegt

hat, hoffentlich!“

„Welcher Sturm?“ fragt Alek, als sie später in der Lobby sitzen.

„Du hast wirklich keine Ahnung?“ Connie wirft ihm einen abschätzigen

Blick zu, um ihn gleich darauf mit einem gezwungenen Lächeln

zu versöhnen. „Gar nicht auf Jamaika vorbereitet? In Deutschland

interessiert sich wohl niemand dafür. Hört man nichts in den

Nachrichten?“

„Nichts, gar nichts. Was ist los?“ Alek trinkt einen Fruchtmix.

Connie nippt an ihrem Daiquiri und klärt ihn auf: Es stünden Wahlen

bevor, Michael Manley und seine regierende PNP hätten mit ihrer

Planwirtschaft das Land praktisch ruiniert. Enteignungen, Verstaatlichungen,

es drohe das Ende des Tourismus und der Abbruch

aller Beziehungen mit den USA. Um dies abzuwenden hätte Amerika,

genauer gesagt die CIA die Opposition JLP gestärkt und buchstäblich

aufgerüstet. In der Hauptstadt Kingston und an weiteren

Brennpunkten herrsche bereits eine Art Bürgerkrieg. Als mögliche

Rettung habe man nun die Wahlen vorgezogen, auf morgen. Und

das hieße, im ungünstigen Fall eines Sieges der PNP wäre alles aus,

die Freiheit in Jamaika und der komplette Tourismus – sie würden

242


alle kurzfristig ihre Koffer packen und abreisen müssen. Doch wenn

die JLP gewänne, was wahrscheinlicher sei, gäbe es endlich die erhoffte

„Deliverance“, so ihr Schlachtruf, nämlich „Befreiung“ und

ein Ende der Kämpfe.

Alek schnalzt mit der Zunge. „Dann hoffen wir mal das Beste.“ Ihn

beschleicht der Verdacht, dass man ihm mit Jamaika weniger einen

Wunsch erfüllt als ihn bewusst wieder in ein Krisengebiet geschickt

hat. Hier konnten bald Kämpfe ausbrechen, denen der Tourismus

zum Opfer fallen würde. Obwohl er sich bereits ausmalt, was das

konkret bedeutete, empfindet er keine Scheu. Connie meinte, das

Szenario wäre unwahrscheinlich. Aber selbst wenn es zur Katastrophe

käme, hätte das sicher seinen Reiz. „Verlässt Ruth deshalb die

Insel? Sie machte auf mich keinen ängstlichen Eindruck.“

Connie spitzt wieder ihre Lippen. „Nein, das ist es wirklich nicht.

Jedenfalls nicht direkt. Sie wird dir am besten selbst erzählen warum

sie aussteigt.“

„Aussteigt?“

„Ja, sie hört auf. Hat das große Los gezogen. Aber wie gesagt, das

wird sie dir schon verraten.“ Connie trinkt aus. „Wir haben hier kein

Büro, mein Apartment ist das Büro. Morgen um neun erwarte ich

dich, Zimmer 305. Wir fahren zu den Cocktails, dann erkläre ich

dir die Administration, und am Nachmittag beten wir alle vor dem

Fernseher für einen Wahlsieg der JLP.“

Alek, der bei Jamaika bisher nur an Bob Marley und Peter Tosh

gedacht hat, schaltet in seinem Apartment einen Nachrichtensender

ein. Und tatsächlich, dort wird live von den Unruhen in Kingston

berichtet, dann von Schüssen in Falmouth und Straßenschlachten

in vielen anderen Städten, auch von Plünderungen in Montego Bay

und anderen Strandresorts. Die Wut der PNP-Anhänger über ihre

absehbare Wahlniederlage entlädt sich in Aggressionen gegen Ausländer,

gegen Touristen und generell gegen alle Weißen. Der Kommentator

rät allen mit weißer Hautfarbe, vorerst besser nicht auf die

Straße zu gehen. Alek setzt seine Pistole zusammen und versteckt sie

im Zimmer. Dann verlässt er das Hotel.

Er könnte niemandem erklären warum er ständig Gefahren sucht.

Dabei ist er gar nicht darauf aus bedroht zu werden oder in Schwierigkeiten

zu geraten. Seine Neugier zwingt ihn Grenzen auszuloten

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und dorthin zu gehen, wohin sich noch niemand vorwagte. So ein

Moment ist jetzt, er muss auf die Straße und selbst herausfinden wie

gefährlich die Lage ist. Die Einschätzung des Fernsehkommentators

kümmert ihn wenig.

Die Rezeptionistin, eine hübsche Jamaikanerin in dunkelblauer

Uniform, fragt ihn beim Hinausgehen, ob er ein Taxi benötige,

doch er will laufen. „No, thank you!“ Die Straßen sind leer, erst im

Park zwischen Meer und Stadtzentrum hört er Rufe, doch nur von

Jugendlichen, die auf einem Betonplatz Fußball spielen. Alle sind

dunkelhäutig, die meisten von ihnen barfuß. Sie werfen Alek schräge

Blicke zu, konzentrieren sich aber schnell wieder auf ihr Spiel.

Ab der Harbour Street klingt der Lärm aus Richtung Innenstadt

aggressiver. Obwohl noch weit weg, ist deutlich das Klirren von Glas

zu hören, dazwischen immer wieder Geschrei. Aber Alek kann davon

noch nichts sehen. Geschäfte, Banken und Kirchen sind geschlossen,

zum Teil mit Brettern verrammelt. Kioske sind geöffnet, und

davor gibt es Streitereien. Keine großen Schlägereien, eher Rangeleien

unter Betrunkenen. Die Namen der Parteien werden gebrüllt,

sonst kann man im Durcheinander wenig verstehen. Manche packen

sich am Kragen, Bierflaschen gehen zu Bruch, und weil alle mit sich

selbst beschäftigt sind, nimmt keiner von Alek Notiz. Um es dabei zu

belassen schlägt er einen Bogen über die Union Street zurück in die

ruhige Zone.

Aus einem Musikladen wummern die Bässe eines Reggae-Songs,

davor stehen LPs in einem Karton in der Sonne. Die Bands kennt

Alek nicht, trotzdem hat er Mitleid mit den Platten, die sich in der

Hitze bereits verformen. Als er aufschaut nähert sich von der Seite

eine Handvoll Jamaikaner, die eindeutig nicht an Musik sondern an

Alek interessiert sind. Er geht ruhigen Schrittes weg, kommt aber

nicht weit, weil sich ihm plötzlich jemand in den Weg stellt, ein extrem

dunkler Muskelprotz in Unterhemd. Er ist kahlköpfig und sagt

nichts, steht einfach im nur Weg, die anderen sind hinter Alek stehengeblieben.

In anderen Situationen hätte er „Was gibt´s?“ oder

„Was ist euer Problem?“ gefragt, aber er ist unbewaffnet und hält

den Mund.

Der Riese trägt eine Armeehose, aus ihrer Beintasche schaut der

Knauf eines Colts. „You don´t talk to black men?“ zischt er endlich.

244


„Aber klar doch, brother, natürlich rede ich mit dir. Ich bin doch

kein weißes Arschloch!“ Alek täuscht Gelassenheit vor.

Der Jamaikaner grinst kurz, dann kommt er einen Schritt näher.

„Willst du Marihuana kaufen? Ein Mädchen? Oder einen Jungen?“

Pause. „Nein? Scheiße! Was suchst du dann hier auf Jamaika?“ Die

anderen sind nähergekommen und bilden jetzt einen Halbkreis.

„Ich arbeite auf eurer schönen Insel. Ich bin auch nur ein armes

Schwein, das von Touristen lebt. Ich mag Jamaika und will, dass es

aufwärts geht.“

Die Umstehenden kichern blöde, doch der Anführer bleibt ernst

und zieht seelenruhig seinen Colt aus der Tasche, dreht ihn ein paar

Mal in seinen Händen und steckt ihn zurück. Seine Haut und die dicken

Adern auf seiner Brust sind schwarz wie Tinte. „Na dann stelle

ich dir mal eine einfache Frage: Wer gewinnt morgen die Wahl?“

Alek realisiert, dass der Moment der Wahrheit gekommen ist.

Nichts an den Typen lässt darauf schließen, für welche Partei sie

kämpfen. Falls er das Falsche sagt, ist er geliefert. Sollten sie Anhänger

der PNP sein, gäbe er das perfekte Opfer ab. Also was? Er muss

sich entscheiden – und ruft den Schlachtruf der JLP: „Deliverance!“

Ringsum leuchten die Gesichter auf, Glück gehabt. „Deliverance!“

blöken jetzt auch die Jamaikaner und recken ihre Fäuste in die Luft.

Jemand klopft Alek auf die Schulter, der Riese grinst fröhlich und

tritt zur Seite. „Bitte weitergehen, und einen schönen Tag noch, Sir!

Morgen gewinnt die JLP, und dann geht es aufwärts – für dich und

für mich!“

Am nächsten Morgen fährt er mit Connie in ihre Hotels und merkt

sich Daten und Fakten ihrer Begrüßungsreden. Besonders tief

schreibt er dabei in sein Gedächtnis, was Connie ihm auf der Autofahrt

erklärt: „Jamaika ist keine freundliche Insel, seine Einwohner

waren vor langer Zeit praktisch alle versklavt. Daher der tief verwurzelte

Hass und die Sehnsucht, sich an der weißen Herrenrasse

irgendwie zu rächen. Die ganze Reggae-Musik ist nicht anderes als

ein rhythmischer Aufruf zur Vergeltung. Heute gibt es keine Sklaverei

mehr, auch keine echte Unterdrückung der Schwarzen, aber die

führen immer noch einen mentalen Guerillakrieg gegen alle Weißen.

Auf Jamaika leben extrem reiche und gebildete Einheimische, aber

die Mehrheit, mit der du es auf der Straße und in den Hotels zu tun

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haben wirst, leitet aus ihrer Hautfarbe das Recht ab, Weiße grundsätzlich

zu betrügen und zu bestehlen. Natürlich gibt es Ausnahmen,

aber es gibt auch eine Regel, nimm das als gutgemeinten Rat!“

Dass Wahltag ist wird immer deutlicher. In den abgeschirmten

Resorts bekommt man davon nichts mit, doch unterwegs herrscht

selbst in kleinen Dörfern Chaos. Wie aufgescheuchte Hühner rennen

die Einwohner über Straßen und Plätze und schreien sich an,

als würde es um ihr Leben gehen. Was aus sicherer Distanz wie Karneval

anmutet, ist aus der Nähe ein bösartiges Volksfest, bei dem

überall aus dem Nichts Menschen aufeinander losgehen und sich

prügeln. In Montego Bay haben sich derweil echte Fronten gebildet.

Eine Straßenseite bekämpft die andere, ein Block verschanzt sich gegen

die Angriffe des benachbarten, und nur Connies mutigem Fahrstil

und ihrer Dauerhupe ist zu verdanken, dass sie heil zum Hotel

zurück gelangen.

Selbst Alek hält es für vernünftig, ihre Festung an diesem Tag nicht

mehr zu verlassen. Was er im Fernsehen sieht, die Opfer von Schießereien,

auf Landstraßen überfallene Autofahrer, Raub und Plünderungen,

also blanke Gewalt, die mit Politik oder Wahlen nichts zu

tun hat, reicht vollkommen, um seine Neugier zu befriedigen. Aus

diesen ersten Bildern von Jamaika gewinnt Alek genau jenen Eindruck,

den Connie mit latenter Aggression meinte und den er in den

nächsten Monaten bestätigt findet. Beim Blick aus dem Fenster kann

er einen entfesselten Mob dabei beobachten, wie er aus Tobsucht

irgendetwas kurz und klein schlägt. Das ist keine Revolution, kein

Kampf gegen Unterdrückung – das ist der Rausch der Zerstörung,

von Alkohol und Marihuana kräftig befeuert.

Am späten Nachmittag kommen die ersten Hochrechnungen, denen

zufolge die JLP mit ihrem Kandidaten Edward Seaga die Wahl

haushoch gewinnt. Alek fragt sich, wie man in diesem Chaos überhaupt

Hochrechnungen anstellen konnte. Ist Manipulation oder

Wahlbetrug im Spiel? Möglich, aber der Ausgang war auch vorher

schon eindeutig. „Deliverance!“ brüllt man im Fernsehen und draußen

auf den Straßen. Unten vor dem Hotel wird Feuerwerk abgebrannt,

eben noch verfeindete Randalierer liegen sich in den Armen

und überschütten sich mit Bier, manche geben Schüsse in die Luft ab,

sogar Polizisten tanzen mit und greifen nicht ein, wenn aus purem

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Übermut noch ein paar Scheiben eingeworfen werden. Alek hat irgendwann

genug von dem Schauspiel und zieht die Vorhänge zu,

schaltet den Fernseher aus und legt etwas von Jimi Hendrix in seinen

Kassettenrekorder. Immerhin steht fest, dass jetzt Jamaika mit

den USA und dem Rest der Welt wieder vernünftige Beziehungen

aufnehmen wird, dass der Tourismus wieder aufleben wird – und

dass Alek hier bleibt.

Als sich am nächsten Tag die Rauchschwaden verzogen haben, sitzt

er mit Connie erst beim Frühstück und dann in ihrem Apartment,

das sie zur Hälfte als Büro nutzt. Sie weist ihn in den Schreibkram

ein, übergibt ihm die Verträge und Abrechnungsmodalitäten mit

den Hotels, die Forecasts der nächsten Wochen und eine Liste mit

Firmen und Kontaktpersonen. Alek macht sich Notizen, da er bald

allein auf der anderen Seite der Insel arbeiten wird und Connie nicht

für jede Kleinigkeit anrufen kann. Ihre Hintergrundinformationen,

mit welchen Agenturen und sonstigen Partnern er gut oder besser

nicht kooperieren sollte, sind besonders wertvoll, und für einen kurzen

Moment findet er sie sogar attraktiv. Nicht wirklich anziehend,

aber reif und mit den herben Linien in ihrem Gesicht irgendwie

herausfordernd. Gerade, als Connie ein Telefonat führt und er ihre

Beine taxiert, schließt jemand die Tür auf, und herein kommt eine

elegant gekleidete Jamaikanerin, die ungezwungen ins angrenzende

Schlafzimmer geht und ihnen Küsschen zuwirft.

Seine Chefin legt auf. „Das ist Jackie, meine Lebenspartnerin. Wir

wohnen zusammen. Das stört dich doch nicht, oder?“

Nein, es stört Alek nicht. Er muss nur schmunzeln, weil er eben

noch an etwas anderes dachte, als er einen Blick unter Connies Rock

erhaschte.

Sie heftet die Unterlagen in einen Aktenordner und schiebt ihn

Alek zu. „Soweit sind wir durch für heute. Ich denke, morgen kannst

du nach Ocho Rios aufbrechen. Im Hilton ist ein Zimmer reserviert,

eigentlich hast du das ganze leere Hotel für dich, zumindest unser

komplettes Kontingent. Da wohnt kein Mensch seit der Krise. Dort

triffst du dich mit Ruth, und solange sie noch auf Jamaika ist, findet

ihr zusammen vielleicht schon ein Apartment für dich. Du kriegst

eine Wohnung, das mit dem Hilton ist nur für den Übergang.“ Connie

steht auf. „Ach ja, fast vergessen: Du brauchst auch noch ein Auto,

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einen Mietwagen. Wir haben Sonderkonditionen bei AVIS, Treffen

um drei Uhr nachmittags in der Lobby, okay? Denk an deine Papiere!“

Alek hat eine Idee: „Wenn Ruth die Insel verlässt, soll ich dann

nicht einfach ihren Wagen übernehmen?“

Darauf muss Connie lachen. „Ruth fährt einen Jaguar, der ihr gehört!“

Später bekommt Alek einen älteren Toyota und sogar einen eigenen

Parkplatz vor dem Hotel. Mit Connie ist er wegen seiner Vollmachten

zu einer Bank gefahren und hat sich bei der Gelegenheit an

den Linksverkehr gewöhnt. Danach bricht er zu einem neuen Rundgang

durchs Zentrum von Montego Bay auf. Die Stadt gleicht einem

Schlachtfeld, dem lediglich die Gefallenen fehlen. Schaufenster und

Hauseingänge sind zertrümmert, auf den Straßen liegen Möbel, die

man aus den Fenstern geworfen hat, an manchen Ecken schießt

Wasser aus demolierten Hydranten, und aus verbrannten Reifenstapeln

und Autowracks steigt noch Rauch auf.

Irgendwie bizarr ist die allgemeine Siegesstimmung, so als hätten

alle Jamaikaner für die JLP gestimmt, man bejubelt die USA und sogar

die kürzlich noch verhassten Weißen. Wildfremde Typen, denen

Alek über den Weg läuft, zeigen ihm jetzt ihren erhoben Daumen.

Aus allen Kneipen dröhnt Musik und der Lärm von Verbrüderung.

Mehr als einmal muss Alek Einladungen zum Saufen höflich ablehnen.

In einem Torweg nahe dem Plattengeschäft entdeckt er die

Bande des schwarzen Riesen, kann aber rechtzeitig abdrehen, bevor

er von ihnen gesehen wird.

„Fahr nicht durch Falmouth!“ schärft Connie ihm ein, als er nach

Ocho Rios aufbricht. Falmouth liegt auf direktem Weg an der Küste,

war früher Sitz der weißen Sklavenhalter mit ihren Herrenhäusern

und umliegenden Zuckerrohrplantagen. Aber nicht deshalb, sondern

wegen fanatischer PNP-Anhänger, die hier ihr Nest haben, ist

die Stadt berüchtigt. Neben Kingston gab es in Falmouth die blutigsten

Kämpfe im Vorfeld der Wahlen. Gerüchten zufolge kochte

es dort noch immer, weil die PNP ihre Niederlage nicht anerkenne.

Laut Karte könnte er die Stadt südlich umfahren, doch Alek entscheidet

sich anders. Er fährt auf der Rodney Street direkt Richtung

Zentrum, die auf der anderen Seite auch wieder hinausführt, als er

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sich plötzlich in einer immer enger werdenden Gasse befindet. Mit

rostigen Fässern hat man die Straße zu einer immer schmaleren

Spur verengt, in der nach hundert Metern jeder Wagen steckenbleiben

muss. Alek erkennt, dass er geradewegs in eine Falle steuert,

und schon geht das Theater los: Rechts und links wird die Gegend

lebendig, Rufe und Pfiffe ertönen, und in den Fenstern der Häuser

sowie auf der Straße werden Köpfe sichtbar, die ein ungutes Geheul

anstimmen. Man hat ihn als Weißen erkannt, als jemanden, der laut

PNP für alle Missstände Jamaikas verantwortlich ist, der ein Ausbeuter

sein muss und somit ihr erklärter Feind! Von irgendwoher

fliegen Steine, die das Auto jedoch verfehlen. Dafür kommen die Angreifer

näher und formieren sich hinter den Fässern, vorsichtig Deckung

suchend, als erwarteten sie einen Schusswechsel. Alek denkt

natürlich an seine Gaspistole, lässt die Idee aber sofort fallen, weil

er kein Selbstmörder ist. Stattdessen konzentriert er sich ganz auf

seinen Rückspiegel, denn ihm ist klar, dass er vorwärts aus dieser

Falle niemals herauskommen wird. „Weißes Schwein, steig aus und

ergib dich!“ ist einer der Rufe, die er versteht. „PNP! PNP!“ dröhnt es

aus anderen Richtungen, und am schlimmsten ist, dass alles näher

kommt. Ein Schuss fällt, dann noch einer – und das ist der Moment,

in dem Alek den Rückwärtsgang einlegt und langsam aber kräftig die

Kupplung kommen lässt. Der Wagen schießt zurück, Alek hält das

Steuer gerade und gibt einfach nur Gas. Die Gasse wird wieder breiter,

er hat keines der Fässer gerammt, dafür rennen jetzt von allen

Seiten Typen auf die Straße, die er beinahe umfährt. In einer Lücke

wagt er das Wendemanöver, es fallen neue Schüsse, und etwas knallt

in die Front des Wagens. Alek gibt Vollgas und jagt in einer Staubwolke

aus Falmouth hinaus.

Der Motor funktioniert, die Scheibe und die Reifen haben nichts

abbekommen, also fährt er durch bis zum Hilton, das bei den Dunn´s

River Falls kurz vor Ocho Rios liegt. Im Schatten des Portals lehnt

Ruth an einem überdimensionalen Blumenkübel und raucht. Alek

parkt direkt davor. Sie wirft ihre Zigarette fort und kommt näher,

um die Front des Toyotas zu inspizieren. Zusammen mit Alek stellt

sie fest, dass ein Scheinwerfer zerstört ist und daneben zwei weitere

Einschusslöcher sind.

„Warst du in Falmouth?“ Ruth trägt ein weißes Etuikleid und wirkt

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darin wie ein Filmstar, straff und selbstsicher. Ihr Lächeln ist voller

Genugtuung, mit ihrer Vermutung richtig zu liegen.

„Sieht so aus. Das wird Connie nicht gefallen. Und AVIS noch weniger.“

Alek öffnet den Kofferraum. „Aber nach der Wahl geht wenigstens

der Tourismus weiter. Das ist wohl wichtiger.“

„Richtig. Jamaika hat eine neue Chance, du hast eine neue Destination,

und eine Werkstatt kenne ich auch, die das wieder hinbekommt.“

Wobei sie auf den Wagen zeigt. „Wenn du dein Zimmer

bezogen hast, treffen wir uns hier unten, ich warte an der Poolbar.“

Alek checkt ein und muss sich unter der Dusche gestehen, dass ihm

Ruth gefällt. Nicht im Sinne von Anziehung, sondern von Ausstrahlung.

Sie verkörpert das, was er auf seiner rastlosen Jagd durchs

Leben erst noch zu erreichen sucht: Einen Zustand inneren Gleichgewichts

gepaart mit ausreichend Stärke, nichts als den eigenen Willen

zu akzeptieren. Egoismus wäre der falsche Ausdruck dafür, Zielstrebigkeit

träfe es besser. Genau! Was ihm selbst an Zielstrebigkeit

oder überhaupt an Zielen fehlt, scheint jemand wie Ruth erreicht zu

haben. Alek freut sich auf ihre Zusammenarbeit, auch wenn sie nur

von kurzer Dauer sein wird.

„Hast du schon gegessen? Ich habe einen Bärenhunger.“ Ruth hat

ihren Cocktail mitgenommen und lotst Alek auf die schattige Terrasse

des Restaurants. „Hier im Hilton essen wir übrigens auf Kosten

des Hauses, habe ich mit dem Manager so ausgemacht. Er ist

Deutscher, heißt Neuhaus und bekommt von meinen Master Bills

wöchentlich eine Garantiezahlung, obwohl sämtliche Zimmer unseres

Kontingents seit Wochen leer stehen.“

„Mit der Firma so abgesprochen?“

„Nein, das geht nur mich und Connie etwas an, und jetzt dich. Du

solltest das beibehalten. Neuhaus ist ein netter Kerl, du wirst sehen.“

Sie wählen ein paar exklusive Vorspeisen und als Hauptgang einen

ganzen Lobster, den sie sich teilen. Dazu gibt es kalifornischen

Weißwein und als Dessert hausgemachten Kuchen einer Wienerin,

die im Hilton für ihre Spezialitäten berühmt ist. Dabei erzählt Ruth

über ihre Arbeit und von ihren Resorts, die sie Alek am nächsten

Tag zeigen wird. Wegen ihrer royalen Erscheinung wird sie von allen

Gästen angestarrt, doch Alek registriert als weitere Qualität an ihr,

dass sie das nicht im geringsten interessiert oder stört. Sie ist daran

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gewöhnt und verschwendet keine Energie an Reaktionen. Ruth ist

wegen Alek hier und konzentriert sich ganz auf ihr Gespräch. „Wo

warst du vorher?“

„Jugoslawien, Rumänien, Spanien ... nichts Besonderes.“

„Nun, etwas Besonderes hast du wohl schon bewiesen, sonst hätte

man dich nicht hierher geschickt. Jedenfalls nicht in der Krise. Hier

braucht es Einzelkämpfer mit guten Nerven. Hast du die?“

Alek gefällt ihre Art zu fragen – und zu handeln. Denn Ruth wartet

nicht auf den Kellner, sondern zerlegt selbst den Lobster, zertrümmert

mit einem dafür gedachten Kantholz die Scheren und teilt das

Fleisch brüderlich mit Alek. Ihre letzte Frage hat er mit einem Nicken

beantwortet. „Und du, was ist deine Story? Warum steigst du

aus?“

Ohne romantische Ausschmückungen oder große Worte beschreibt

Ruth es so: Sie ist seit drei Jahren bei der Firma und war in verschiedenen

Destinationen, das letzte halbe Jahr in Ocho Rios. Auf

Empfängen des Tourismusministeriums, wo sie mit Sicherheit der

Blickfang war, lernte sie einen jungen Jamaikaner kennen, der gebildet

und stinkreich war. Seiner Familie gehörten außer einem

Great House mit etlichen Hektar Land auch noch die Aktienmehrheit

der Bauxit Mining Company und einige Grundstücke entlang

der Nordküste. Die beiden wurden ein Paar, und nachdem Ruth in

ihrem Bungalow einmal von Einbrechern angegriffen wurde, die sie

jedoch selbst in die Flucht schlagen konnte (Details will sie nicht erzählen),

ist sie bei ihrem Geliebten, der inzwischen ihr Verlobter ist,

im Great House eingezogen. Aufgrund drohender Verstaatlichungen

hat die Familie inzwischen ihren gesamten Besitz aufgelöst, alle Aktien

abgestoßen und die Grundstücke verkauft. Ihr zukünftiger Ehemann

ist Multimillionär, der sein Vermögen soeben nach London

transferiert hat und dort mit Ruth eine neue Existenz gründen wird.

Obwohl auf Jamaika die JLP gewonnen hat und sich die Lage beruhigt,

werden Ruth und er ihre Zelte endgültig hier abbrechen und in

England heiraten.

„Willst du ihn kennenlernen? Er spielt Polo, und sein Team hat

heute Nachmittag ein Match. Ganz in der Nähe im Drax Hall Club,

wir könnten zu Fuß hingehen, aber auf Jamaika geht kein Weißer zu

Fuß.“ Ruth isst ihren Kuchen. „Man würde uns für verrückt halten,

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Anhänger der PNP könnten uns mit Steinen bewerfen.“

Sie fahren mit dem Jaguar ein paar hundert Meter durch Drax Hall

zum Polo Club, wo das Match bereits im Gange ist. Die Spieler jagen

mit ihren Pferden über das Feld, schlagen mit ihren langen Hölzern

den Ball hin und her. Ab und zu fliegen Erdklumpen ins Publikum,

und Alek kann dem Sport nichts abgewinnen. In Ruths Gesicht liest

er den gleichen Mangel an Begeisterung, doch als sie ihren Verlobten

entdeckt, feuert sie ihn an.

Später, nachdem ihr Held sich gewaschen hat und ohne Helm, dafür

mit frischem Hemd und Shorts aus den Clubräumen kommt, gibt

er Ruth einen Kuss und drückt Alek die Hand. Er heißt Francis und

ist ziemlich hellhäutig, spricht britisches Englisch und hat auffallend

gute Manieren. „Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann auf

Jamaika und es in meiner Macht steht, kommen Sie bitte jederzeit

auf mich zu!“ Francis steigt in einen verchromten Land Rover und

fragt Ruth, wann sie „nach Hause“ käme.

„Gleich Darling, ich fahre Alek noch ins Hotel und komme dann

nach.“

Alek wendet ein, dass er auch allein ins Hilton zurück fände. Doch

Ruth hält an ihrem Prinzip fest, dass Weiße hier nicht zu Fuß herumlaufen

sollten.

Den Rest des Tages verbringt er am Hotelstrand, der ungewöhnlich

breit wirkt, weil hier kaum Menschen sind. Unter den Strohpilzen

auf der Poolterrasse hocken nur vereinzelt Urlauber. Von seinen 180

Zimmern sind im Hilton nur wenige belegt, der Kasten wirkt wie

ausgestorben. Den kleineren Hotels in der Gegend scheint es nicht

besser zu gehen. Alek sitzt am Ufer und beobachtet das Farbenspiel

der Bucht, das ihn mit seinen Abstufungen von Dunkelblau zu Türkis

an Bali erinnert. Er denkt an Asiens Strände, an einige seiner Begegnungen

dort, an Susan und seine Unrast, nie wirklich irgendwo

zu sein, sondern immer nur auf der Durchreise. Wie kommt er darauf?

Ganz einfach: Bei seiner Verabschiedung hatte der Jamaikaner

Ruth gefragt, wann sie nach Hause käme. Was Alek kurz überlegen

ließ, wo eigentlich sein „Zuhause“ sei. In Deutschland? Nein. Hat er

überhaupt ein Zuhause?

Vor der Küste kreuzt ein Windsurfer, der jetzt an Land kommt und

sein Board einfach am Ufer liegen lässt, bevor er zu einem Schuppen

252


marschiert. Dort lagern ordentlich gestapelt weitere Bretter und Segel,

von denen momentan keines benutzt wird. In Gedanken noch

beim Thema Zuhause und der Frage, ob man eigentlich eins brauche,

gesellt sich Alek zum Windsurfer.

„Hi, gerade neu angekommen?“ fragt ihn der braungebrannte Athlet

mit amerikanischem Akzent. „Du bist noch so weiß. Willst du surfen?“

„Nein danke, ich habe noch nie auf einem Brett gestanden.“ Alek

erzählt von seinem Job und dass er seinem Freund Erik auf Mallorca

nur dabei zugesehen hätte.

Jimmy kommt von den Virgin Islands und spitzt die Ohren, als

Alek von seiner Arbeit erzählt. „Hör mal, du musst mir deine Gäste

schicken! Hier kann man wunderbar surfen, und wer es noch nicht

kann, dem bringe ich es bei.“

„Klar, aber die Urlauber müssen erst wieder nach Jamaika kommen.

Momentan ist hier anscheinend nichts los.“

„Ich weiß,“ brummt Jimmy. „Die Unruhen haben alle verschreckt.

Die Geschäfte gehen schlecht, in den Hotels und auch bei mir. Ich

kann mich nur schwer über Wasser halten ...“ Nach einer Pause

springt er plötzlich auf. „Aber die Zeiten werden besser! Apropos

über Wasser halten – los komm!“

Alek weiß nicht was Jimmy meint, aber er folgt ihm ans Ufer. Der

Amerikaner zeigt auf das Surfbrett und befiehlt: „Also los Deutscher,

rein damit ins Meer und balancieren!“

Alek schüttelt den Kopf und lacht. Aber außer Jimmy ist hier niemand,

der sich über ihn lustig machen könnte. Was soll´s? Schließlich

wuchtet er das Brett ins knietiefe Wasser und schleift das Segel

hinterher.

Jimmy bleibt an Land und treibt ihn noch weiter hinaus. „Jetzt

kannst du aufsteigen, ohne das Schwert zu demolieren. Keine Sorge,

du wirst hundert Mal vom Brett fallen, bevor du das Segel zum

ersten Mal ganz aus dem Wasser bekommst und fährst. Aber das ist

nur der Anfang, danach wirst du heiß darauf und kannst mir deine

Touristen schicken!“

Zum Glück herrscht kaum Wellengang, und das Balancieren fällt

Alek nicht schwer. Wie er es bei Erik beobachtet hat, reißt er das Segel

mit einem Ruck aus dem Wasser, packt Mast und Gabelbaum ...

253


und fährt ein gutes Stück vom Ufer weg, bevor er ins Meer katapultiert

wird. Als er wieder hochkommt und zurück aufs Brett klettert,

springt Jimmy am Strand auf und ab und ruft: „Das gibt es nicht!

Du bist ein Naturtalent, das habe ich noch nie gesehen, beim ersten

Versuch! Jetzt zeig mal, dass es auch in die andere Richtung geht!“

Er gibt Anweisungen, Alek zieht das Segel zur anderen Seite hoch

und kommt problemlos wieder zurück.

Jimmy hatte Recht: Alek weiß nicht ob er begabt ist, aber er ist auf

den Geschmack gekommen und erkundigt sich nach Training. Jimmy

ist sofort einverstanden und zählt darauf, dass Alek ihm dafür

fleißig Kunden schickt. Sie besiegeln das später mit ein paar Drinks.

Am nächsten Morgen stößt er zu Ruth, die in der Lobby des Hilton

ihre erste Sprechstunde abhält. Nur auf dem Papier, denn es gibt

keine Gäste. Ruth sitzt allein am Schreibtisch und nippt an einem

Fruchtcocktail. Wie sie ihrem Aktenkoffer ein goldenes Feuerzeug

entnimmt und sich damit eine Rothman´s anzündet, wirkt vollkommen

unschuldig und gerade deshalb irgendwie lasziv. „Tja, eigentlich

waren wir mit Herrn Neuhaus verabredet, dem Direktor.

Ich wollte euch einander vorstellen, aber er musste nach Kingston.

Vielleicht erwischen wir ihn am Nachmittag. Also erzähle ich dir ein

paar Sachen zu den Hotels, die wir gleich abfahren werden.“

Alek, der seine Zigaretten im Zimmer vergessen hat, nimmt einfach

eine aus Ruths Schachtel und bittet um Feuer. Sie hebt nur kurz ihre

Augenbrauen und grinst. Dann gehen sie die Liste mit den Besonderheiten

ihrer Hotels durch. Für die Tour nehmen sie Ruths Jaguar,

„damit man meinen neuen Kollegen mit seinem zerschossenen

Auto nicht für James Bond hält.“

Sie halten vor dem Inn On The Beach, einem kleinen Haus im

Zentrum von Ocho Rios, wo nur wenige Gäste wohnen, die alle am

Strand sind und nichts von der Reiseleitung wollen. Die fettleibige

Managerin des Hotels erscheint mit Krümeln um den Mund und gibt

Alek gelangweilt die Hand. „Ich habe zu tun, sorry!“ Sie verschwindet

um weiter zu essen.

Im Intercontinental Ocho Rios herrscht dafür reger Betrieb. Am

langen Pier davor hat am Morgen ein Kreuzfahrtschiff angelegt, dessen

amerikanische Passagiere die Hotelshops belagern, um sich mit

Souvenirs einzudecken. Ruth und Alek stellen auf einem Desk am

254


anderen Ende der Lobby ihr Firmenschild auf. Es erscheinen tatsächlich

einige deutsche Gäste, die sich nach Kleinigkeiten erkundigen.

„Wie steht es mit Ausflügen?“ Alek ist aufgefallen, dass weder Ruth

noch Connie bisher das Thema ansprachen.

„Kann man vergessen. Es gab Touren nach Kingston und Mandeville,

zur Krokodilfarm, auf die Plantagen, Floßfahrten und so weiter,

aber als die Unruhen ausbrachen ist alles eingestellt worden. Die

Agentur wollte ihre Kleinbusse nicht riskieren, und wir nicht das Leben

unserer Gäste. Vielleicht kannst du alles neu ankurbeln, wenn

sich die Lage beruhigt hat. Du magst ja Herausforderungen.“

Der Manager des Interconti, ein hochgewachsener Jamaikaner im

weißen Anzug, kommt zu ihnen und gibt Alek die Hand. Small Talk,

Scherze über die Souvenirjäger, gute Wünsche für steigende Umsätze,

dann schwebt er wieder davon. Ruth kommentiert das so: „Er

interessiert sich nicht für unsere deutschen Gäste, das Kontingent

unserer Firma ist zu klein. Das Hotel lebt von den Amerikanern,

unsere Paxe hat er früher gnadenlos ausquartiert, wenn sein Haus

überbucht war.“

Sie fahren weiter zu den kleinen Resorts Hibiscus Lodge und Sans

Soucis, weniger Hotels als Prachtvillen, zu denen die Namen passen.

Im ersten Haus wuchert haushoher Hibiskus in allen Farben über

die Terrassen und Gärten, wo sie der Manager zu Cocktails und Fingerfood

einlädt und darüber klagt, dass keines seiner Zimmer belegt

ist. Im Sans Soucis, das auf einer Klippe über dem Karibischen Meer

liegt, ist die Belegung nicht besser, eine junge Angestellte führt sie

herum und macht Alek schöne Augen. Ruth, die das bemerkt, zitiert

später aus einem Gangsterfilm: „Stecke nie deinen Füller in die Tinte

deiner Geschäftspartner!“ Der Spruch amüsiert Alek, aber er nimmt

ihn nicht ernst.

An der Auffahrt zum Couples Ocho Rios ist eine Schranke, neben

der ein uniformierter Wachposten steht. Ruth kann sich legitimieren,

aber das Okay für Alek kommt erst nach Rücksprache mit der

Direktion. „All-inclusive!“ klärt Ruth auf. „Wer einmal drin ist, kann

alles essen und trinken was er will, alle Sportangebote nutzen, Jet-

Ski fahren und so weiter. Darum gibt es keine Besucher, nur Hotelgäste

und Angestellte, was streng kontrolliert wird.“ Der Name

255


Couples besagt, dass hier nur Paare buchen können, was scheinbar

ein Erfolgsrezept ist. Denn im Gegensatz zu den anderen Resorts auf

Jamaika ist dieses komplett belegt.

Der Manager, ein kugelrunder Brite mit Schweinsaugen, liefert

Alek Beweise: „Niemand schlägt hier über die Stränge, es wird weder

übermäßig getrunken noch gegessen, und die üblichen Probleme

heißblütiger Urlauber haben wir auch nicht. Bei Paaren passt immer

einer auf den anderen auf. Es wird viel getrunken, aber nicht zu viel,

denn die Partner sind immer dabei.“ Später klagt er sein Leid, zu wenige

deutsche Gäste zu haben. Amerikaner schätzten indessen schon

immer die Sicherheit in einem geschlossenen Resort. Die meisten

seiner Gäste setzten nie einen Fuß vor die Schranke. Beim Blick in

die Verträge fallen Alek sofort die astromisch hohen Preise im Couples

auf, die er bei Gelegenheit neu verhandeln will. Zunächst erhält

er eine unterschriebene Visitenkarte des Managers als Legitimation

für seine nächsten Besuche.

Die Agentur Blue Danube liegt an der Ortseinfahrt von Ocho Rios,

das niedrige Gebäude erinnert an einen Geräteschuppen und ist von

einer rotbraunen Staubschicht überzogen. Ruths geparkter Jaguar

trägt nach ein paar Windstößen die gleiche Farbe. Drinnen rotieren

zwei riesige Ventilatoren, und im eiskalten Luftstrom fällt Alek zum

ersten Mal auf, wie heiß es dagegen draußen ist. Er hat sich schon

daran gewöhnt, schwitzt eben, aber genau wie Ruth misst er der Hitze

und der hohen Luftfeuchtigkeit kaum Bedeutung bei. Auch bei

Blue Danube wird über die Flaute geklagt, es finden keine Ausflüge

statt, außer für ein paar Transfers benötigt man weder Busse noch

einheimische Guides. Alle Räder stehen still, und wie einen Messias

bittet man Alek um Abhilfe. Er soll Touren organisieren, Gäste animieren

und so weiter – und er gelobt sein Bestes zu geben, sobald

endlich wieder Urlauber eintreffen.

Am Nachmittag fahren sie durch Ocho Rios, am Hilton vorbei und

hinter St. Ann´s Bay zum Runaway Bay Hotel. Dort treffen sie ihre

einzigen beiden Gäste, die das Hotel praktisch für sich allein haben.

Sie sind rundum glücklich, weil sie auch den zum Hotel gehörenden

Golfcourt unbegrenzt nutzen können.

Auf der Terrasse am Meer sitzen Alek und Ruth später unter einem

Baldachin aus weißem Leinen, die Teakholz-Möbel sind neu und

256


verströmen einen angenehmen Geruch. Bei einem Eiskaffee besprechen

sie ihre dienstlichen Angelegenheiten. Es gibt keinen strengen

Zeitplan, nach dem Ruth ihre Hotelbesuche ausrichtet, auch Alek

kann hier flexibel planen und wird wegen unregelmäßiger An- und

Abreisen bezüglich Transfers improvisieren müssen. Er hat keine

Bedenken, das Revier nahtlos übernehmen zu können. Sobald der

Touristenstrom anschwellen sollte, müsste er sowieso alles neu organisieren.

„Wie lange bleibst du noch?“ fragt er Ruth.

„Offiziell bin ich seit deiner Ankunft schon weg. Aber das ging natürlich

nicht, also habe ich noch ein paar Tage.“ Jetzt nimmt sie eine

von Aleks Zigaretten, die er sich vom Kellner bringen ließ. „Schade,

dass ich den Aufschwung nicht mehr mitbekommen werde. Nächste

Woche fliegen Francis und ich nach London, es ist schon alles vorbereitet.“

„Wirst du Jamaika vermissen?“

„Ich glaube nicht. Hier gibt es großartige Menschen, so wie Francis

und seine Familie, die Projekte und Schulen unterstützen. Aber

sonst herrschen überall Armut, Neid und Kriminalität, und je mehr

Einfluss jemand hat, desto korrupter und brutaler wird das Ganze.

Nein, ich bin ehrlich gesagt froh, bald hier wegzukommen.“ Sie sortiert

ihre Papiere, einen Teil übergibt sie Alek, den anderen steckt sie

wieder in ihren Aktenkoffer. „Aber ich glaube, dass du zurecht kommen

wirst. Bald wird es einen neuen Boom geben, und dann kriegst

du deine Action!“

Auf der Rückfahrt durch St. Ann´s Bay biegt Ruth hinter dem

Markt in ein Wellblech-Viertel ab und hält an einer Tankstelle. Sie

lässt volltanken und fragt dann nach Alex. „Ist nur ein Namensvetter

von dir, sonst seid ihr euch nicht ähnlich.“ meint sie zu Alek. Aus einer

Lagerhalle, in der man Autos auf Hebebühnen sieht, kommt ein

grauhaariger Jamaikaner und humpelt auf Ruth zu.

„Hi Alex, mein neuer Kollege hat ein kleines Problem mit seinem

Toyota. Kannst du dir das mal ansehen?“

„Sicher doch, Lady. Soll vorbeikommen.“ Und zu Alek: „Wann immer

Sie wollen. Wir bringen alles in Ordnung!“

„See you!“ Man verabschiedet sich mit dem Victory-Zeichen der

JLP.

257


Vor dem Hilton bleibt Ruth mit laufendem Motor stehen. „Mit

Direktor Neuhaus kannst du auch allein sprechen. Er weiß von mir,

dass du der neue Repräsentant bist.“

„Sehen wir uns morgen?“

„High Noon bei Blue Danube, wegen der Transfers und dem Rest,

ab übermorgen bist du hier der Boss.“ Als Alek aussteigt hebt Ruth

noch einmal kurz ihre Sonnenbrille, wie für einen letzten prüfenden

Blick. Dann gibt sie sportlich Gas.

An der Rezeption erfährt Alek, dass Mister Neuhaus wieder in seinem

Office sei und sich in einer Stunde auf seinen Besuch freue. Das

gibt ihm Zeit für eine Dusche und ein frisches Hemd und eine kurze

Durchsicht seiner Hilton-Unterlagen. Die dunkelhäutige Empfangschefin

mit Namen Wilma bringt ihn darauf zu einem Büro, auf

dessen Messingschild „General Manager“ steht.

„Hallo Mister Kolb, freue mich Sie kennenzulernen. Bitte nehmen

Sie Platz!“ Neuhaus ist von kräftiger Statur, etwa vierzig Jahre alt

und gebräunt. Für seine Position trägt er die blonden Haare ungewöhnlich

lang, was nur auf den ersten Blick lässig wirkt, auf den

zweiten liest Alek darin eine gewisse Wildheit.

Sie setzen sich in Ledersessel gegenüber, der Raum ist klimatisiert,

und wie auf Knopfdruck erscheint ein Page. Neuhaus fragt: „Was

möchten Sie trinken? Einen Rumpunsch, einen Scotch auf Eis?“

„Nein danke, ein Kaffee wäre prima.“ Alek will einen klaren Kopf

behalten.

„Großartige Idee, wir haben hier den besten Kaffee, Blue Mountain.“

Wenig später bringt der Angestellte zwei Portionen in Silberkännchen.

Nach dem Kennenlernen und ein paar informellen Fragen

kommt der Manager zu seinem ersten Anliegen: „Ich bin sicher, dass

wir genauso gut zusammenarbeiten werden wie es mit ihrer Vorgängerin

der Fall war. Hat Ruth Sie zu unserem internen Abkommen ins

Bild gesetzt?“

„Ja, hat sie bereits. Es gibt keinen Grund, weshalb wir es nicht

fortführen sollten. Derselbe Basisbetrag geht wöchentlich an Ihr

Haus, auch wenn keine oder weniger Gäste unser Kontingent belegen.

Nennen wir es ‚Bereitstellungsgebühr’ oder lassen es namenlos,

das wird unsere Firma verschmerzen.“ Alek trinkt. „In der Tat ein

besonderer Kaffee!“

258


„Ganz Ihrer Meinung, sowohl was den Kaffee als auch was unsere

Vereinbarung betrifft. Vielen Dank!“ Neuhaus lehnt sich zurück.

„Wir alle, Sie vermutlich auch, hoffen natürlich, dass sich die Lage

bald ändert. Und wenn ich die Zeichen richtig deute, wird schon bald

eine starke Nachfrage in Sachen Jamaikaurlaub einsetzen. Amerikaner

und Europäer, die wegen der Unruhen bisher nicht buchten,

aber eigentlich hierher kommen wollten, werden in Kürze die Sonderangebote

nutzen. Was meiner Meinung nach zu einem regelrechten

Ansturm führen wird.“

Alek stimmt ihm zu und hebt seine Tasse. „Auf bessere Geschäfte!“

Neuhaus nickt freundlich und leitet geschickt zu seinem eigentlichen

Anliegen über: „Sie machen auf mich einen klugen Eindruck,

einen flexiblen, was in unserer Branche sehr nützlich ist. Sind Sie

flexibel?“

„Wenn Sie mir verraten, was Sie darunter verstehen ...“

„Nun, angenommen der große Ansturm kommt, und er wird kommen,

darüber sind sich alle einig. Ihre deutschen Gäste werden je

nach Kontingent in die gebuchten Hotels in Ocho Rios strömen und

sich dort um die Zimmer mit den Amerikanern prügeln. Nicht direkt

prügeln, aber die Hoteliers werden sich vor lauter Euphorie ganz sicher

überbuchen – und wenn es dadurch mehr Gäste als Zimmer

gibt, werden sie nicht die Amerikaner, sondern die Deutschen ausquartieren,

weil ihnen deren Proteste nicht so wichtig sind. Können

Sie mir folgen?“

Alek gefällt die Vorhersage überhaupt nicht, doch er muss zugeben,

dass sie plausibel klingt. „Und es wird darauf ankommen, wie ich das

drohende Chaos abwende, den Hoteliers die Hölle heiß mache und

meine Gäste besänftige – oder andere Lösungen finde. Meinten Sie

das mit ‚flexibel’?“

„Genau, aber schon in Verbindung mit meinem Lösungsvorschlag.

Überbuchungen passieren ja nicht mit einem Schlag, sondern bahnen

sich bereits Tage vorher an, wenn Sie Ihre Anreisen mit den freien

Kapazitäten Ihrer Häuser abgleichen. Also Sie sehen das Unheil

frühzeitig kommen, will ich damit sagen.“ Neuhaus schaut, als wäre

er besorgt und zugleich erleichtert, weil er den Ausweg kennt: „Wohin

mit den Überbuchungen? Sie müssten krampfhaft nach Alternativen

suchen, Preise verhandeln und Transfers für jeden einzelnen

259


Gast organisieren, der in ein anderes Hotel gebracht werden muss.

Abgesehen vom Ärger mit Ihren Urlaubern!“ Kurze Pause, dann

breitet er die Arme aus. „Und jetzt stellen Sie sich vor, sorgenfrei

jeden überbuchten Gast mit Weitsicht und gutem Gewissen in einem

der schönsten Hotels Jamaikas unterbringen zu können – im

Hilton!“

Ausreichend Zimmer hätte das Haus, Planungssicherheit wäre

auch nicht zu verachten, doch Alek will sich nicht sofort darauf einlassen.

Warum sollte er?

„Ich will Ihnen einen triftigen Grund liefern: Für jedes umgebuchte

Zimmer zahle ich Ihnen, ja Ihnen ganz persönlich eine hübsche Provision,

wenn es dazu kommt.“ Neuhaus mit seinen langen Haaren

wirkt wie ein Abenteurer, aber wie einer, der seine Kräfte einzuteilen

weiß, und das macht ihn Alek sympathisch.

Trotzdem schlägt er noch nicht ein, sondern bittet um Bedenkzeit.

Mit Ruth will er sich nicht dazu beraten, mit Connie schon gar nicht.

Er muss allein über den Vorschlag nachdenken, und weil er nicht

unter Druck steht, darf er sich mit einer Antwort ruhig Zeit lassen.

Das sagt er Neuhaus so offen wie dieser sein Angebot unterbreitet

hat. „Ich werde mich rechtzeitig melden, wenn sich die Dinge entwickeln.“

In St. Ann´s Bay verfährt sich Alek am nächsten Tag in der Wellblechsiedlung

und erntet misstrauische Blicke, als er sich zur Tankstelle

durchfragt. Dort erkennt ihn der hinkende Jamaikaner wieder

und sieht sich seinen Toyota an. Der fasst die Schäden kurz und trocken

so zusammen: „Einen neuen Scheinwerfer kann ich auftreiben

und von mir aus übermorgen einbauen. Aber mit den Einschüssen

in der Front müssen Sie leben, eine neue Motorhaube dieses Typs

kriege ich nirgendwo.“

Alek sieht sein Problem nur halb gelöst. So kann er den Wagen

AVIS nicht zurückgeben, er wird sich etwas einfallen lassen müssen.

Der Alte wird ungeduldig. „Also machen wir es so? Fünfzig Mäuse

im Voraus bitte! Seien Sie froh, dass die Schüsse nicht den Motor

gekillt haben.“

„Oder mich.“ ergänzt Alek, der spürt, dass dem Alten das völlig egal gewesen

wäre. Er zahlt in Jamaika-Dollar und fährt zu Blue Danube, wo

er mit Ruth verabredet ist. Sie erledigen den restlichen Schreibkram.

260


Danach meint sie, eine Überraschung für ihn zu haben. Mehr will sie

nicht verraten, sondern fährt nur voraus zur Coconut Grove, wo sie

vor dem exklusiven „Chez Martin“ parken.

„Willst du mich zum Essen einladen?“

„Nein, besser! Vielleicht kommt dabei für dich eine Luxuswohnung

heraus.“ Sie durchqueren das Lokal zur angrenzenden Terrasse, dabei

folgen Ruth die Blicke aller männlichen Gäste. In einem kleinen

Paradiesgarten plätschert ein künstlicher Wasserfall, während versteckte

Düsen kühlenden Nebel versprühen.

Ein Kellner eilt herbei, der Ruth erkennt. „Ich habe Mister Wallace

schon Bescheid gesagt, möchten Sie die Karte oder etwas trinken?“

„Noch nicht, danke!“ Ruth erklärt Alek warum sie hier sind: Bob

Wallace, der Inhaber dieses und weiterer Restaurants, sei ein guter

Freund von Francis und seiner Familie; nicht ganz so reich, aber

wohlhabend. Er hätte sein Vermögen in Immobilien investiert, vorwiegend

in die Apartment-Anlage Columbus Heights. Dort habe

kürzlich eine Mieterin aus Angst vor dem Ausgang der Wahlen ihre

Zelte abgebrochen und sei auf die Cayman Islands gezogen. Als Bob

ihren Verlobten nach einem möglichen Nachmieter fragte, hätte jener

sofort an Alek gedacht. „Darum sind wir hier.“

„Sehr nett von Francis, aber das klingt teuer. Ob die Firma dabei

mitspielt? Kennst du den Preis?“

Ruth schüttelt den Kopf, aber bevor sie etwas erwidern kann tritt

Mister Wallace an ihren Tisch. Er ist Brite mit Krawatte und aristokratischem

Auftreten. „Willkommen Ruth, willkommen Mister ...“

„Kolb, doch nennen Sie mich bitte Alek.“ Sie geben sich die Hand.

Bob Wallace setzt sich zu ihnen und lässt den Kellner frischen

Fruchtcocktail bringen. Ohne Umschweife kommt er sofort auf

den Punkt: Columbus Heights am Ortsrand von Ocho Rios ist eine

vornehme Anlage mit Bungalows und zweistöckigen Häusern mit

eigenem Pool und Gärten, die von fleißigen Angestellten gepflegt

werden, der Parkplatz wird Tag und Nacht bewacht. Es gibt einen

Einkaufs- und Wäscheservice und allerlei Extras, die Wallace nicht

alle aufzählen möchte. Die Wohnung, um die es geht, ist komplett

eingerichtet und sofort bezugsfertig. „Wollen wir sie uns einmal ansehen?“

Sie fahren hin und atmen schon beim Aussteigen die besondere

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Luft der „Kolumbushöhen“, die deutlich frischer ist als unten in

Ocho Rios. Zwischen hohen Palmen und einer üppigen Vegetation

liegen schneeweiße Wohneinheiten um einen großen ovalen Pool,

von jeder Terrasse hat man freien Blick auf die Küste. Die betreffende

Wohnung ist lichtdurchflutet und angenehm kühl, weil die Fensterfronten

nach Norden liegen und man auf poliertem Marmor geht.

Es gibt zwei Schlafzimmer und eine moderne Küche sowie überall

Klimaanlagen. Das Einzige, was nicht perfekt ist, scheint die hohe

Miete zu sein, die Bob Wallace verlangt. „Sorry, aber die ist nicht zu

verhandeln.“ meint er steif wie ein englischer Lord.

Alek streckt seinen Rücken. „Well Sir, ich werde mit meiner Firma

darüber sprechen und Sie eine Antwort wissen lassen.“ Er will hier

einziehen.

7

Zwei Wochen später haben die Buchungen merklich angezogen.

Connie entnahm das bereits den Forecasts, und auch die Zentrale

in Deutschland hat freudig registriert, dass die Saison auf Jamaika

noch lukrativ zu werden verspricht. Unter diesem Aspekt hat man

schließlich zugestimmt, dass Alek sein teures Apartment in Columbus

Heights bezieht. Dort hat er sich häuslich eingerichtet und führt

ein recht unbeschwertes Leben. Seit Ruths Abreise ist er der alleinige

Vertreter seines Unternehmens auf dieser Seite der Insel. Mit

Connie steht er in ständigem Kontakt, sieht sie jedoch nur einmal

wöchentlich am Flughafen Montego Bay, und auch dort immer nur

zwischen den Transfers. Von den Unruhen und den Nachwehen der

Wahl ist nichts mehr zu spüren, Jamaika kehrt zu seinem Rhythmus

zurück, der hauptsächlich aus Nichtstun und Klagen darüber

besteht, dass die reichen Weißen nichts verschenken. Auch Alek ist

kurzzeitig versucht in Müßiggang zu verfallen, da er kaum Arbeit hat

und seine freie Zeit am liebsten am Hilton-Strand verbringt, wo er

hauptsächlich windsurft. Seine jungen Gäste eifern ihm darin wie

erwartet nach, was Jimmy´s Geschäft kräftig angekurbelt hat.

Mit steigenden Buchungen ergeben sich schließlich Veränderungen.

Er muss ein paar Ausflüge organisieren. Nicht nur Blue Danube

und Connie sitzen ihm im Nacken, er selbst spürt die Notwendigkeit.

262


Und so erweckt er zunächst die bekannten Attraktionen Jamaikas

zu neuem Leben: Dunn´s River Falls, die Plantagen, Mandeville und

kleine Bootsfahrten. Seine Gäste nehmen alles dankbar an, doch er

selbst findet nichts davon spannend. Außer der Krokodilfarm, zu der

er eines Tages sogar allein fährt, um den Ort ungestört zu besuchen.

Er könnte nicht sagen warum. „Trespassers will be eaten!“ steht am

Tor. „Eindringlinge werden gegessen!“ Man kennt Alek und lässt

ihn die Farm durchstreifen, jedoch nur in Begleitung eines bulligen

Rangers. Verzweigte Pfade führen durch eine Sumpflandschaft mit

braunen Tümpeln, die unter mächtigen Mangrovenwurzeln liegen.

Das Wasser ist trübe und vollkommen still, doch unter seiner Oberfläche

kann man die Umrisse riesiger Reptilien erkennen, die dort

auf der Lauer liegen. Wie flink und angriffslustig sie sind erlebt man

bei Führungen, wenn Ranger Hähnchenschenkel ins Wasser werfen

und die Monster darum kämpfen. Manchmal schießen sie dabei bis

auf die Wege, und für Alek war es einmal ein Schlüsselerlebnis zu

beobachten, wie sie über einen fallengelassenen Eimer mit Fleisch

herfielen. Ist es das, was diesen Ort so anziehend für ihn macht?

Die Gefahr, die Nähe eines Angriffs? Oder die Möglichkeit, dass

der Ranger an seiner Seite für einen solchen Fall die Waffe benutzt,

die er immer bei sich trägt? In einem Schuppen hängen Fotos des

ehemaligen Farmbesitzers. Vor ein paar Jahren hatte man auf Jamaika

einen James Bond Film gedreht, in dem der fliehende Held

einen Tümpel voller Krokodile mit Sprüngen von Rücken zu Rücken

überquert. Der Inhaber doubelte Roger Moore in der Szene, stürzte

jedoch ins Wasser, wo die Krokodile seine Beine zerfleischten. Erst

einem Profi-Stuntman glückte später ein neuer Versuch, wie man

auf anderen Fotos sieht.

Dass bestimmte Ereignisse die Psyche eines Menschen beeinflussen

können ist hinlänglich bekannt. Aber dass der Mechanismus

auch umgekehrt funktioniert ist für Alek eine interessante Entdeckung.

Denn nur so kann er sich später erklären, dass seine Gedanken

einmal die dazu passenden Ereignisse auslösten. Er sitzt im

„Park Restaurant“ in der Gabelung der Ortseinfahrt von Ocho Rios.

Das preiswerte Essen ist gut, und der asiatische Kellner drängt einem

für gewöhnlich keine Gespräche auf. Alek ist der einzige Weiße

im Restaurant und überlegt seit einer Weile angestrengt, wie er die

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Ausflüge für seine Gäste spannender machen könne, wo es neue Attraktionen

gäbe und so weiter ... als ein Mann mit Baseballkappe den

Laden betritt und sich umschaut. Auch er ist weiß, aber nicht deshalb

steuert er auf Aleks Tisch zu und fragt, ob er sich setzen dürfe.

Erst auf Englisch, dann auf Deutsch!

Alek deutet ihm mit der Hand, dass er nichts dagegen habe. „Kennen

wir uns?“

Der Mann setzt die Kappe ab und wischt sich damit den Schweiß

erst von der Stirn und dann von seinem unrasierten Kinn. „Ich glaube

nicht, aber ich denke, Sie sind der deutsche Reiseleiter, der in

Columbus Heights wohnt, korrekt?“

„Könnte sein, wenn Sie mir auf die Sprünge helfen, wer Sie sind?!“

Alek mag etwas nicht an dem verschlagenen Blick des Mannes. Er ist

wesentlich älter als er und erinnert ihn an jemanden, der ein ähnlich

langes Gesicht hatte und ein Krimineller war: Rekrut Seyppel mit

seinen tätowierten Punkten im Gesicht. Es ist, als säße ihm dessen

gealterter Zwillingsbruder gegenüber.

„Mein Name ist Snyder, und eigentlich bin ich kein Unbekannter

in Ocho Rios. Ich mache die berühmten Snyder-Tours – noch nie

davon gehört?“

„Nein, wie auch? Bis vor kurzem gab es hier nicht mal Touristen.“

Alek nimmt einen Schluck von seinem Red Stripe Beer.

Snyder winkt dem Asiaten und bestellt noch zwei Flaschen. „Gar

nicht neugierig? Vielleicht könnten wir gute Geschäfte miteinander

machen!“ Nur Rekrut Seyppel konnte vergleichbar hinterlistige Blicke

verschießen.

„Na gut, dann lassen Sie mal hören, wie das aussehen sollte.“

Snyder besteht darauf, dass sie zuerst auf das „Du“ anstoßen. „Ich

habe drei Jeeps, mit denen ich echte Abenteuertouren mache, nicht

diesen Kinderkram wie deine Agentur. Du weißt schon, Fotos rechts

und links, bloß kein Risiko, dann Souvenirs kaufen und zurück ins

Hotel. Mit mir kann man wirklich etwas erleben fürs Geld!“

„Und was?“

„Wir fahren auf eine Farm und schlagen Bananen mit der Machete,

dann geht es in die Slums von Kingston, wo ich Leute kenne. Die

spielen Reggae in einem Schweinestall und schießen auf Blechdosen,

einer von denen hat eine Giftschlange. In Spanish Town gehen wir in

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eine Stripper-Bar und besuchen eine Schwarzbrennerei im Busch.

Wer will, kann sich an einem Seil über den Fluss hangeln oder Ganja

direkt von den Farmern kaufen. Na?“ Snyder leckt sich die Lippen.

Alek ist unschlüssig, ob er seinen Gästen so etwas empfehlen will.

Falls sich jemand dabei verletzte, hätte er den Ärger. Aber das Programm

reizt ihn, obwohl Snyder einer der unsympathischsten Menschen

ist. „Und konkret?“

„Konkret mache ich dir folgendes Angebot, mein Freund: Die Tour

kostet fünfzig Dollar pro Kopf, Green Money, also US-Dollar. Für

jeden Mitfahrer, den du mir schickst, gibt es fünfzehn auf die Hand.

Wie klingt das?“

„Bescheiden. Peanuts, die sich nicht lohnen.“ Das meint Alek ernst.

Aber Snyder lässt nicht locker und schiebt einen Zettel über den

Tisch, auf dem seine Telefonnummer steht. „Denk mal nach. Ich fahre

jeden Tag, habe drei Jeeps, kann bis zu fünfzehn Leute mitnehmen.“

Im Rechnen ist Alek schnell, aber er weiß auch, dass er Snyder

nicht täglich Touristen vermitteln kann, falls er das überhaupt will.

Schnell ist er übrigens auch mit seinem Entschluss, die Sache zu testen.

„Zwanzig pro Kopf, und wir sind im Geschäft.“

„Du ruinierst mich, ha ha!“ Snyder trinkt und verschluckt sich.

Zum Glück kann er rechtzeitig seinen Kopf drehen, bevor er Bierschaum

auf den Boden spuckt. „Abgemacht! Und als Erstes musst du

eine Tour mitmachen und beweisen, dass du Mumm in den Knochen

hast!“

Die Bemerkung nimmt Alek als Beleidigung, aber er lässt sich

nichts anmerken. Snyder trinkt noch ein Red Stripe und bezahlt die

gesamte Rechnung, worauf Alek seinem Gerede weiter zuhört. Er ist

ein Rassist und stolz darauf, seine schwarzen Angestellten, auch seine

jamaikanische Freundin mit Schlägen zu züchtigen. „Man muss

sie erziehen, mit guten Worten läuft da nichts. Die müssen Angst

haben, sonst schneiden sie einem die Kehle durch. Nur so funktioniert

das mit dem Gehorsam, manchmal schlage ich sie ohne Grund,

einfach so. Du solltest dir ein Beispiel daran nehmen, sonst bist du

auf Jamaika erledigt!“

In der Folgezeit füllen sich die Kontingente, und mutigen Gästen

empfiehlt Alek auch Snyders Touren. Er selbst fährt nicht mit, aber

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er lässt sich jedes Mal ihre Abenteuer schildern. Manche von ihnen

sind schockiert, doch die meisten berichten anschließend stolz, das

„echte Jamaika“ kennengelernt zu haben. Also macht Alek weiter

und verdient sich ein Taschengeld, bis eines Tages die Sache ein jähes

Ende nimmt: Rückkehrer erzählen von einem Unfall. Snyder,

der einen der beiden Jeeps fuhr, habe zum Beweis, dass Marihuana

vollkommen ungefährlich sei, auf der Ganja-Farm einen Joint nach

dem anderen geraucht. Später sei er im Fern Gully von der Straße

abgekommen und mit seinen Leuten in einen Graben gestürzt. Er

selbst habe sich das Bein gebrochen, die anderen seien mit kleinen

Schrammen davongekommen. Ein Gast habe den Jeep durch ein

Flussbett zurück auf die Straße gesteuert und Snyder ins Hospital

von St. Ann´s Bay gebracht.

Alek versichert sich, dass keiner seiner Gäste verletzt ist und niemand

Forderungen an sein Reiseunternehmen stellt. Es hätte auch

anders ausgehen können. Darum beschließt er, sofort jeden Kontakt

zu Snyder abzubrechen. Er ruft ihn nicht mehr an, die Touren sind

gestorben. Wochen später sieht er ihn noch einmal durch Ocho Rios

hinken, spricht ihn aber nicht an. Manche Dinge erledigen sich von

selbst.

Inzwischen ist die Prophezeiung eingetroffen, dass sich viele der

Hotels im ansteigenden Urlauberstrom überbucht haben. Und wie

erwartet quartiert man vorwiegend deutsche Gäste einfach aus,

die amerikanischen Touristen gegenüber eine untergeordnete Rolle

spielen. Alek hat sich rechtzeitig darauf eingestellt und Manager

Neuhaus im Hilton noch einmal aufgesucht.

„Steht Ihr Angebot noch? Ich würde gern darauf zurückkommen.“

„Freut mich sehr, Herr Kolb. Sie haben die Gäste, ich habe die

Zimmer. Jetzt müssen wir uns nur noch auf die Konditionen einigen.“

Während alle seine Angestellten in der militärischen Hilton-

Uniform stecken, trägt Neuhaus ein Hawaiihemd und Bermudas.

Alek listet die Zimmerpreise auf, die seine Firma den anderen Hotels

bei normaler Belegung zahlen würde. Es handelt sich um unterschiedlich

hohe Beträge. Und Neuhaus bietet eine unkomplizierte Regelung

an: In Aleks Abrechnung bleibt alles unverändert, die Gelder

für umgebuchte Zimmer fließen jedoch komplett auf das Konto des

Hilton. Mit der internen Vereinbarung: „Zehn Prozent davon gehen

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an Sie auf ein Provisionskonto. Einverstanden?“

„Nicht ganz.“ Alek lässt sich von der freundschaftlichen Atmosphäre

nicht täuschen. Ein Direktor verschenkt nichts, sondern macht

sein geizigstes Angebot. „Zwanzig Prozent gefielen mir besser.“

„Das glaube ich Ihnen gern, aber irgendwo ist ein Limit.“ Neuhaus

steht auf und will den Eindruck erwecken, er sei beschäftigt.

Alek bleibt sitzen und streicht seine Unterlagen zusammen. Unaufgeregt

meint er dabei: „Ein Limit, genau davon spreche ich.“

Sie treffen sich bei fünfzehn Prozent aller Umsätze, die Alek ab diesem

Moment zum Hilton umleitet. Weder Connie noch die Zentrale

in Deutschland wird davon etwas erfahren. Auf den Transfers vom

Flughafen nach Ocho Rios informiert Alek persönlich seine Gäste,

die es betrifft, über ihr „außergewöhnliches Glück, statt der gebuchten

Häuser ohne Aufpreis im luxuriösen Hilton wohnen zu dürfen“.

Die Abrechnungen steuert er allein, und nachdem er ein Konto eröffnet

hat, übertreffen die darauf eingehenden Neuhaus-Provisionen in

den nächsten Monaten sein Festgehalt um ein Vielfaches.

Mit der Zeit ist Alek in Ocho Rios bekannt, außer in den Hotels jetzt

auch auf der Straße, wo er tagsüber und besonders in der Dunkelheit

einer der wenigen Weißen ist. Souvenirhändler und Bettler laufen

nicht mehr hinter ihm her, wie es anfangs der Fall war. Und auch

die vielen Prostituierten im Ort haben mittlerweile begriffen, dass er

keine Beute ist. Sie rufen ihm „Have a nice day!“ und zum Spaß auch

ihre professionellen Sprüche nach, aber nie frech, weil Alek immer

respektvoll bleibt und ihre Scherze erwidert. Die Girls sind zum Teil

sehr hübsch und einige von ihnen sicher minderjährig, aber Alek

verspürt keinen Appetit.

Merkwürdigerweise fühlt er sich von Jamaikanerinnen allgemein

nicht angezogen. So interessant die Schattierungen ihrer Haut sind,

so blasse und langweilige Persönlichkeiten scheinen sich darunter

zu verbergen. Junge Hotelangestellte, die Girls von Blue Danube,

Zufallsbekanntschaften in Shops und Restaurants bewohnen in seinen

erotischen Phantasien alle dieselbe Schublade mit der Aufschrift

„Muss nicht sein.“ Natürlich gibt es Ausnahmen, elegante Ladies im

Polo Club und im „Chez Martin“, aber Alek ist in diesen Kreisen definitiv

nicht unterwegs. Er besucht die einfachen Restaurants und

verbringt seine Abende oft nur mit Pink Floyd und Black Sabbath auf

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der Terrasse. Und wenn von der Straße unter den Columbus Heights

laute Bässe seinen Kassettenrekorder übertönen, geht er hinunter

zu den Jerk Pork Partys. Einheimische und Rastafarians, mitunter

auch reiche Nachbarn aus der Bungalowanlage belagern dort einen

großen runden Stand, in dessen Mitte Jerk Pork zubereitet wird: Auf

glühendem Pimentholz, mit Pfeffer und anderen teuflischen Zutaten

gewürzt, schmoren dicke Batzen Schweinefleisch, die kurz vor

dem Verkohlen in Streifen geschnitten und auf schmutzigen Tellern

serviert werden. Nur zusammen mit großen Mengen Brot und noch

größeren Mengen Bier ist das überhaupt zu genießen. Und auch

Alek hat gelernt, dass Jerk Pork zwei Mal ätzt: Beim Essen und beim

Verlassen des Körpers. An den vier Ecken des Jerk Pork Platzes stehen

meterhohe Lautsprechertürme, aus denen monotoner Reggae-

Sound in die Eingeweide fährt. Unterhaltungen beschränken sich

daher nur auf laute Zurufe, Bestellungen und Handzeichen, ob alles

okay ist oder nicht. Im Halbdunkel drum herum wird getanzt und

getorkelt, und noch tiefer in den Büschen liegen oft welche, die bereits

schlafen oder miteinander fummeln. Alek schließt hier keine

Freundschaften, grüßt nur seine Nachbarn und schaut zu, weil an

Schlaf erst zu denken ist, wenn der Lärm in der Nacht irgendwann

abflaut.

Sein Job hat sich zu einer positiven Routine entwickelt. Er hat sich

mit den Hoteliers angefreundet, denen er wegen ihrer Überbuchungen

und Ausquartierungen keine Schwierigkeiten macht, wie sie es

eigentlich erwartet hätten. Er lässt sie über ihre Kontingente frei verfügen,

wofür man ihm mit kleinen Geschenken dankt, ihn zum Essen

einlädt und so weiter. Und im Hilton duzt er sich inzwischen mit

Manager Neuhaus, der ebenfalls gerne windsurft und seine freien

Nachmittage bei Jimmy am Strand verbringt.

„Hast du kein Mädchen?“ wird er einmal von ihm gefragt. Worauf

Alek sein jüngstes Fiasko mit einer Jamaikanerin erzählt, das nicht

allgemeingültig ist, aber zu seinem bisherigen Klischee passt:

An einem regnerischen Tag war er mit seinem Wagen auf dem

Rückweg von der Runaway Bay gewesen. Es goss in Strömen, als am

Straßenrand eine junge Frau mit ausgestrecktem Daumen stand.

Obwohl sie mit ihren nassen Sachen garantiert den Sitz seines Autos

verdrecken würde, ließ er sie einsteigen. Sie war weder hässlich noch

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hübsch, aber ungezogen, weil sie sofort ein Tuch vom Rücksitz nahm

und sich damit abzutrocknen begann, auch ihre schlammigen Flip

Flops. Statt „Danke!“ oder etwas in der Art zu sagen befahl sie Alek

nur wie einem Taxifahrer: „Ocho Rios!“ Ein wenig perplex gab er

Gas und wollte sie im Zentrum absetzen, doch sie kommandierte:

„Nicht hier, weiter hoch Richtung Fern Gully!“ Es juckte ihn sie

zu ohrfeigen oder wenigstens zurechtzuweisen, doch dann begann

ihn die Situation zu amüsieren. Gehorsam fuhr er die Milford Road

hoch, bis das Girl auf Höhe einiger Hütten plötzlich „Stop!“ rief.

Im selben Ton antwortete er mit „Raus!“ und öffnete die Beifahrertür.

Doch schon gab es die nächste Überraschung:

„Nein Sir!“ bellte ihn die Jamaikanerin an, der immer noch das

Wasser aus den Haaren lief. „Gib mir Geld!“

„Warum, bist du wahnsinnig? Ich habe dich mitgenommen, bis

nach Haus kutschiert, und jetzt willst du auch noch Geld?“

„Na klar, du bist weiß, du hast Geld und ich nicht. Also schuldest

du mir was, los!“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und verschoss

böse Blicke.

Im selben Moment war Alek vollkommen ruhig geworden, wie häufig

in Konfliktsituationen. Mit einer Hand hielt er den Arm der Frau

fest, mit der anderen griff er blitzschnell unter ihren Po und wuchtete

sie mit kräftigem Schwung aus der geöffneten Tür. Sie stieß sich

dabei den Kopf und landete unsanft im Matsch, aber ihr Geschrei

hörte Alek schon nicht mehr, weil er bereits wendete und wegfuhr.

Jimmy und Neuhaus haben ähnliche Szenen erlebt und heißen

Alek im Club weißer Männer auf Jamaika willkommen. „Aber man

sollte darüber nicht vergessen, dass es auch Ausnahmen gibt!“ Wie

wahr diese beiläufige Äußerung ist, wird Alek bald intensiver erfahren

als er sich jemals hätte träumen lassen.

Sein Vermieter Bob Wallace feiert Geburtstag im geschmückten

„Chez Martin“ und hat auch Alek dazu eingeladen. Alle Gäste haben

sich in Schale geworfen, wie es der Stil des Lokals und der Anlass gebieten,

denn Bob legt wert auf Etikette. Es gibt französischen Champagner

und ein erlesenes Menü, das an runden Tischen mit weißen

Tüchern und silbernem Tafelbesteck serviert wird. Einige der Gäste

kennt Alek, es sind Nachbarn, Leute aus dem Polo Club, Hoteliers

in Begleitung ihrer Gattinnen. Man führt Gespräche, lobt das

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vorzügliche Essen und lässt Bob Wallace hochleben, der von Tisch zu

Tisch geht und sich um das Wohl seiner Freunde kümmert. Schräg

gegenüber aber zu weit entfernt, um eine Konversation anzufangen,

sitzt eine junge und sehr hellhäutige Jamaikanerin mit feinen Zügen,

ihre und Aleks Blicke treffen sich manchmal zufällig. Sie ist ohne

Begleitung, gehört aber offensichtlich zum Kreis der Hoteliers, mit

denen sie sich angeregt unterhält. Auf Befragen seines Tischnachbarn

erfährt Alek, dass die junge Dame das Plantation Inn leite, ein

exklusives Resort außerhalb von Ocho Rios, das ihrer Familie gehöre

und das Alek nicht kennt. Nach einem längeren Blickwechsel heben

sie gemeinsam ihre Gläser und trinken sich zu, und als das Menü

beendet ist und man im angrenzenden Saal zu Cocktails übergeht,

sucht Alek ihre Nähe.

Bob Wallace spricht gerade mit der jungen Schönheit und nutzt die

Gelegenheit, sie miteinander bekannt zu machen: „Marjorie Jones,

die bezaubernde Seele des Plantation Inn – und Alek, mein europäischer

Nachbar, der deutsche Urlauber nach Jamaika bringt.“

„Nicht wirklich hierher bringt, sie aber die schöne Insel genießen

lässt.“ ergänzt Alek und verfolgt die Regungen in Marjories Gesicht.

Sie lächelt und antwortet mit „Sehr erfreut!“, dann wirkt sie für

einen Moment irritiert. „Seit wann sind Sie schon auf Jamaika?“

Es beginnt ein vorsichtiges Gespräch, in dem Alek nicht viel über

Marjorie erfährt. Lediglich ihre Art, die zugleich vornehm und engagiert

ist, zieht ihn zunehmend in ihren Bann. Sie flirten nicht, sie

sprechen über den Tourismus und Jamaikas Zukunft unter einer

neuen Regierung. Alek ist neugierig auf das Plantation Inn, und Marjorie

scheint kaum erwarten zu können, ihm das Resort zu zeigen –

wie so vieles mehr, das Gegenstand ihrer Unterhaltung wird. Das

Spektrum ihrer gemeinsamen Interessen ist groß, ihre Arbeitsfelder

ergänzen sich und bieten zahllose Gesprächsthemen – was im Laufe

des Abends zu einer Vertrautheit führt, die zunächst rein beruflicher

Natur ist. Marjorie ist wunderschön, wie sich Alek erst bewusst wird,

als er zulässt, sie als begehrenswerte Frau zu betrachten. Ihre Augen

leuchten, wenn sie mit ihm spricht. Ihre Haare sind modern frisiert,

ihre Haut ist wie Milchkaffee, und ihre Züge sind eine edle, nicht

leicht zu beschreibende Mischung aus europäischen, asiatischen

und jamaikanischen Zutaten. Selten zuvor hatte Alek das Gefühl,

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bei einer Frau so vor einem Rätsel zu stehen. Nach einer Weile wird

Marjorie von einer Freundin entführt, die ihr unbedingt jemanden

vorstellen will.

Auch Alek wird von Bobs Frau abgelenkt, die ihn fragt, wie er in Columbus

Heights zurechtkommt. Später beobachtet er Marjorie noch

einmal aus einem anderen Winkel des Saals, verfolgt ihre Bewegungen

und Gesichtszüge und fragt sich, ob er das Rätsel, das sie ihm

aufgibt, lösen möchte. Er denkt an Gregor in Singapore, der von sich

behauptete, alle Menschen binnen kürzester Zeit zu durchschauen

– worin er eine Parallele zu sich selbst entdeckte. Doch bei dieser

Jamaikanerin schweigt sein Orakel, er kann sie keiner bekannten

Kategorie zuordnen, was ihn reizt aber zunächst vor allem wundert.

Zu später Stunde löst sich die Gesellschaft auf, manche Gäste haben

zu tief ins Glas geschaut und werden von ihren Gattinnen beim

Hinausgehen gestützt. Auch Bob Wallace hat vom vielen Anstoßen

Schlagseite und hält sich an der Theke fest. Die meisten, darunter

Marjorie und eine Gruppe Hoteliers, mit denen sie den Saal verlässt,

sind allerdings nüchtern und verabschieden sich fröhlich. Und auch

Alek, der die Gelegenheit ergreift, sie noch einmal anzusprechen, ist

vollkommen klar und entschlossen ihrem Rätsel nachzuspüren. Sie

verabreden, dass Marjorie ihm ein paar Tage später ihr Resort zeigt.

Als er zur vereinbarten Zeit mit seinem Toyota vor der Schranke

des Plantation Inn hält, beäugt ein schwarzer Wächter misstrauisch

die Front des Wagens. Statt ihn durchzulassen bedient er in seinem

Unterstand eine Sprechanlage: „Hier ist jemand in einem Auto mit

Einschusslöchern, der zu Miss Jones will.“ Einige Sekunden herrscht

Funkstille, dann öffnet der Mann die Schranke und brummt „Willkommen

Sir!“

Marjorie scheint sich aufrichtig über seinen Besuch zu freuen, sie

trägt einen hellen Leinenanzug und Sandaletten. „Appetit auf Tee?

Oder Kaffee? Oder möchten Sie erst einmal das Resort sehen?“

Er folgt ihr an den Tennisplätzen vorbei zu zweistöckigen weißen

Gästekomplexen, die im Schatten hoher Palmen liegen. Durch die

sonnendurchflutete Halle des Haupthauses gelangen sie zu einer

großen Terrasse, die sich zum Pool und zum dahinter liegenden

Privatstrand öffnet. Wann immer sie auf Bedienstete treffen, wünschen

diese einen schönen Nachmittag. Marjorie beschreibt Alek die

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