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Mixology Issue #113 - München. Jetzt.

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1/ 2023 — 21. Jahrgang<br />

Einzelverkaufspreis: [D] 11,00 € — [A, LUX] 12,00 € — [CH] 12,50 CHF


AUF EIN GLAS MIT …<br />

Es gibt nicht viele wie Sigrid<br />

»Sigi« Schot, denn Barbesitzerinnen<br />

sind auch noch 2023<br />

die Ausnahme. Die gebürtige<br />

Passauerin, die seit elf Jahren<br />

in der Wiener »Hammond« –<br />

sechs davon als Eigentümerin<br />

– tätig ist, hat ihren Kosmos<br />

erweitert. Um ein Cocktail-<br />

Labor, so quirlig wie sie selbst.<br />

Bei einem Golden Cadillac<br />

gibt es die Details dazu.<br />

SOZIALER<br />

RAUM<br />

20


Text & Interview Roland Graf<br />

Fotos Tom Weilguny<br />

Der Tresen ist montiert, der Cold Dripper steht<br />

an seinem Platz und die Bücherregale sind bestellt.<br />

In der Glockengasse, natürlich ebenfalls<br />

im Zweiten Wiener Gemeindebezirk wie ihre Bar<br />

gelegen, startet dieser Tage das Hammond Lab.<br />

Aus einer spontanen Idee Sigi Schots wurde<br />

schnell »eine gefühlte zweite Firmengründung«.<br />

Denn an kreativen Einfällen mangelt es weder<br />

der Barchefin noch ihrem langjährigen Mitarbeiter<br />

und Sparringspartner Dominik Oswald,<br />

hausintern nur »Oberst« genannt. Laute Eigen-PR<br />

hingegen mag man weniger in der Leopoldstadt.<br />

»Passt scho’«, meint die 35-Jährige<br />

ganz wienerisch zum leisen, poppig-bunten<br />

Siegeszug ihrer hochdekorierten Bar, der aber<br />

auch damit zu tun hat, dass sie in einem Punkt<br />

ein »ziemliches Biest sein kann«. Ein Besuch<br />

zwischen Auftragsstimmung und klaren Worten<br />

– etwa zu Deko am Drink.<br />

Liebe Sigi, zu Jahresbeginn hast du mit dem<br />

»Hammond Lab« eine Erweiterung deiner Bar<br />

durchgeführt. Wie kam es dazu?<br />

Sigrid Schot: Das Hammond Lab ist eigentlich<br />

so entstanden, wie es immer bei mir im Leben<br />

ist: durch einen großen Zufall. Ich bin durch<br />

Zufall in der Gastronomie gelandet, durch<br />

Zufall in die Hammond Bar gekommen und<br />

durch Zufall hat mir der Vorbesitzer, der Gottfried,<br />

die Bar dann angeboten. Und irgendwie<br />

passt das »Lab« da hervorragend in diese Geschichte<br />

hinein. Denn eigentlich haben wir ein<br />

Lager gesucht. Das ist an sich ja die Katastrophe<br />

schlechthin, wenn du aus deinem Lager<br />

raus musst. Unser »Oberst« Dominik Oswald<br />

hat dann in der Glockengasse bei uns um die<br />

Ecke einen Zettel im Fenster entdeckt: Geschäftsräume<br />

zu vermieten. Das hat uns beim<br />

Besichtigen schon gut gefallen, war ein Altbau<br />

und auch baulich recht wenig zu machen.<br />

Nachdem das als Lager dann finanziell doch<br />

höher lag als unsere Kellerlager davor, haben<br />

wir uns überlegt, dass es ohnehin immer Anfragen<br />

für Cocktailkurse gab. Also haben wir<br />

uns überlegt, genau das anzubieten, um am<br />

Ende finanziell mit null auszusteigen. Ich habe<br />

dann mit Dominik gesprochen, wir wohnen ja<br />

auch im gleichen Haus, verbringen viel Freizeit<br />

zusammen und sind auch beste Freunde.<br />

Da wurde uns bewusst, dass wir die Perfektion<br />

in der Bar und die Umsetzung der Ideen<br />

im Lab zeitlich nicht schaffen werden. Also<br />

kamen wir überein, dass wir noch jemanden<br />

brauchen. Dann ist uns immer wieder Jakub<br />

»Kuba« Jarosiewicz eingefallen. Der hatte<br />

sich eine Auszeit von der Bar genommen und<br />

wir kennen uns auch schon zehn Jahre. Und<br />

wenn er in eine Bar gegangen ist, dann meist<br />

zu uns in die Hammond. Also haben wir ihn<br />

gefragt, ob er das nicht machen möchte. Und<br />

so ist der Kuba jetzt »Head of Hammond Lab«,<br />

der Dominik ist »Head of Hammond Bar« …<br />

… und du bist »Head of alle beide«?<br />

Ich bin die Putzfrau, ich bestelle auch das<br />

Klopapier (lacht). Nein, natürlich bin ich die<br />

Schnittstelle von allem und schau drauf.<br />

Lass uns zum Lab zurückkommen – was soll da<br />

genau passieren?<br />

Das Hammond Lab hat drei Säulen. Zum einen<br />

die Cocktailkurse, die wir für Endverbraucher<br />

anbieten wollen. Aber auch das im<br />

Hammond-Style, um die ganze Bandbreite der<br />

Mixologie zu zeigen. Also kein Negroni, kein<br />

Whiskey Sour, sondern eher mit Schäumen zu<br />

spielen, mit Fermentation etc., du weißt es ja<br />

selber, dass sich die Endverbraucher in Sachen<br />

Genuss wahnsinnig weitergebildet haben. Wir<br />

sind für Gruppen oder Einzelpersonen offen,<br />

aktuell gibt es eine Anfrage für einen Junggesellinnen-Abschied,<br />

da werden wir uns thematisch<br />

etwas einfallen lassen. Das Schöne<br />

ist ja, wir sind an nichts und niemanden gebunden<br />

in diesen drei, vier Stunden oder wie<br />

lange es dauert. Das Hammond Lab soll ein<br />

freier Ort für alle sein, was mich zum zweiten<br />

Punkt bringt: Wir machen jeden Montag einen<br />

Open Monday für die Wiener Bar-Szene. Kuba<br />

ist vor Ort und wer Lust hat, kann vorbeikommen.<br />

Wir haben ja auch einige Gerätschaften<br />

drüben wie einen Sous Vide, einen Soxhlet-Extraktor,<br />

es werden da auch im Laufe des Jahres<br />

noch welche dazukommen. Es gibt auch einen<br />

kleinen Experimentierschrank, der mit Sponsorware<br />

für die Open Mondays befüllt wird.<br />

Das kann auch etwas für einen Bartender sein,<br />

der schon 20 Jahre im Geschäft ist, aber in seiner<br />

Bar keinen Sous Vide hat und der das ausprobieren<br />

will. Dann kann er einen Vakuumbeutel<br />

nehmen und seine Idee probieren. Es<br />

ist auch eine große Fachbibliothek vorhanden.<br />

Du kannst aber auch vor einem Wettbewerb<br />

kommen und in Ruhe deinen Drink ausmixen.<br />

Wir sehen das ja: Seit der Oberst im Vorjahr<br />

die World Class gewonnen hat, kommen viele<br />

junge Bartender und fragen: »Willst du dir<br />

das Konzept von meinem Drink ansehen?« Das<br />

geht halt schlecht um 21 Uhr im laufenden<br />

Betrieb. Das Hammond-Bar-Team weiß außerdem<br />

bei Weitem nicht alles und hat auch nicht<br />

alle experimentellen Gerätschaften. Aber am<br />

Montag können Bartender ohne Vorurteile auf<br />

einen Kaffee vorbeikommen und zusammen<br />

verschiedene Themen diskutieren. Im Idealfall<br />

mixt man die Ideen gleich aus, wenn’s nicht so<br />

gelingt wie gewünscht, probiert man spontan<br />

etwas Neues. Oder aber jemand will für eine<br />

Veranstaltung zehn Liter Milk Punch machen,<br />

aber bloß nicht in der eigenen Küche. Auch<br />

alle Industriepartner oder kleine Spirituosenhersteller<br />

können den Montag nutzen, um ihr<br />

neues Produkt zu verkosten oder Drinks damit<br />

auszuprobieren. Denn zum Glück sind ja viele<br />

Markenbotschafter oder Sales Manager ehemalige<br />

Bartender.<br />

Aber es gibt ja auch eine dritte Säule …<br />

Ja, einmal im Monat wollen wir einen Bartender-Workshop<br />

ausrichten, für den wir uns<br />

mit Kuba gemeinsam schon viele Themen<br />

notiert haben. An vielen Themen davon sind<br />

auch Industriepartner interessiert, aber es werden<br />

Einsichten sein, die man vor und hinter<br />

der Bar brauchen kann. Früher war es ja so,<br />

dass Leute wie Simone Caporale oder Alex<br />

Kratena zwei Stunden vor Bartendern über<br />

ihre Konzepte gesprochen haben und das war<br />

sensationell. Heute wirst du eher auf eine<br />

Dachterrasse eingeladen, wo ein einstündiger<br />

PowerPoint-Vortrag läuft, dann wird am Aromarad<br />

herum gedreht und am Ende erklärt jemand,<br />

dass seine Spirituose besser ist als Campari.<br />

Okay, alles klar! Die jungen Bartender<br />

haben da nicht mehr dieses Wissensspektrum<br />

zur Verfügung. Wir haben etwa einen Fermentationsworkshop<br />

mit einer Fermentista, Marie<br />

Rausch (Rotkehlchen, Münster) wird eine<br />

Kräuterwanderung machen, es wird einen Molekular-Workshop<br />

mit Hubert Scheungraber<br />

21


FOOD & DRINK<br />

#1<br />

LE BIG TATAR!<br />

26


Für unseren Food-Kolumnisten<br />

wird es ein Jahr unter<br />

dem Motto: »Die Vielfalt<br />

in der Einheit«. Denn er<br />

nimmt sich in sechs Ausgaben<br />

sechs verschiedene<br />

Varianten eines der ganz<br />

großen Barfood-Klassiker<br />

vor – das Tatar. Und für alle<br />

Nörgler: Ja, den Anfang<br />

macht er vegetarisch.<br />

Text & Foto Stevan Paul<br />

Neulich also sitzen der Herr Chefredakteur<br />

und ich zusammen an der Bar des Restaurants<br />

Jing Jing in Hamburg, Chicken Wings in Karamell<br />

und Fischsauce werden aufgetragen, Papaya-Salat,<br />

Hähnchen mit heiligem Basilikum<br />

und Spiegelei, Red Curry mit gegrillter Ente<br />

… das Sharing-Menü mit modern interpretierter,<br />

dabei authentischer Thai-Küche scheint<br />

erfreulicherweise kein Ende zu nehmen. Barchef<br />

Freddie Knüll und sein Team servieren<br />

begleitend stimmige Eigenkompositionen,<br />

die die pointierte Würze und Schärfe der Gerichte<br />

wohlig umschmeicheln. Der Abend ist<br />

dem Anlass entsprechend perfekt gewählt:<br />

20 Jahre <strong>Mixology</strong>, im Jubiläumsheft findet<br />

sich zudem die 60. Folge der Barfood-Kolumne.<br />

Über einen Teller Rinder-Tatar mit nordthailändischer<br />

Gewürzpaste gebeugt, sprechen<br />

Nils Wrage und ich auch über Versäumtes: Nie<br />

habe ich in dieser Kolumne dem König des<br />

Barfoods die Ehre erwiesen, der sich in Varianz<br />

weltweit größter Beliebtheit erfreut: dem<br />

Tatar! In seiner ursprünglichsten Zubereitung<br />

ist in den Bars von Paris bis Saigon der Tatar<br />

(nur echt mit einem »r«) aus zartem Rinderoder<br />

Kalbsfleisch zubereitet – handgeschnitten,<br />

Ehrensache!<br />

SIE AHNEN ES, WIR<br />

MERKEN ES SELBST: ES IST ZEIT<br />

FÜR LE BIG TATAR!<br />

Gleichzeitig erlebt die edle Zubereitung gerade<br />

hierzulande eine Renaissance, gerät in Variation<br />

zur Hauptsache: Bereits 2019 eröffnete das<br />

Hamburger Courtyard by Marriott die erste<br />

Tatar-Bar der Hansestadt, u. a. mit Custom<br />

Tatar, individuell und frisch zubereitet. Im<br />

Frühjahr vergangenen Jahres überraschte<br />

Sternekoch Tohru Nakamura die Münchner<br />

mit der temporären Bar Tatar, servierte dort<br />

Schaumwein zum Forellentatar mit Salzzitrone,<br />

Karotten-Tatar mit Shiitake und Kreuzkümmel<br />

– und zum Klassiker (mit Miso und Ingwer, japanisch<br />

interpretiert) schmeckten »Spicy Mexican<br />

Mule« und »Bacon Whisky Soda«.<br />

In den kommenden Ausgaben serviere ich<br />

ein paar Tatar-Ideen, die sich in der Bar gut<br />

und einfach umsetzen lassen. Dem Rindertatar<br />

huldigen wir – Cliffhanger – in der kommenden<br />

Ausgabe und starten mit einem anderen,<br />

sozusagen modernen Klassiker: dem Rote-Bete-Tatar.<br />

Der hat den Vorteil, dass er nicht<br />

frisch zubereitet werden muss, sondern vorbereitet<br />

werden kann. Er ist zudem auch bei Gästen<br />

beliebt, die kein Fleisch essen. Individuell<br />

gelingt das elegante Upgrade mit Kaviar oder<br />

Lachs: Da kommt zusammen, was zusammengehört,<br />

denn der Rote-Bete-Tatar ist ein Kind<br />

des Nordens, bis hoch nach Skandinavien und<br />

zu den klaren Wassern des Baltikums.<br />

ROTE BETE MUSS KEIN RIND-<br />

FLEISCH NACHÄFFEN<br />

Immer wieder gibt es Versuche, den Rote-Bete-Tatar<br />

doch in die fleischige Richtung zu<br />

schubsen, da wird mit Paprika und Rauchsalz<br />

gearbeitet, mit Shoyu und Dashi. Dabei steht<br />

das Nordlicht, gerade wenn dazu auch Drinks<br />

serviert werden sollen, mit seinen herbsüßen<br />

bis erdigen Nuancen für sich selbst. Wichtig ist<br />

hier, nicht mit abgepackten und vorgekochten<br />

Beten zu arbeiten, die Knollen sollten im Ofen<br />

auf Salz garen. Sie lassen sich anschließend<br />

unfassbar schlecht aus der Schale pellen oder<br />

schälen (man darf mich verfluchen), Hauptsache,<br />

man nutzt dabei Einweghandschuhe.<br />

Der Lohn sind wasserreduzierte Beten, deren<br />

Geschmack intensiver und deren Konsistenz<br />

auch eine ganz andere ist. Die Handschuhe<br />

kann man direkt anlassen: so fein wie möglich<br />

gewürfelt, geht es in Richtung Tatar. Eine Abkürzung<br />

über den Mixer oder Wolf empfehle<br />

ich nicht, derart geschreddert hat der Tatar weder<br />

Stand noch Biss. Beim Würzen wiederum<br />

ist vieles möglich und denkbar. Im folgenden<br />

Rezept bleibe ich in der Würzung so klar wie<br />

möglich, extravagant erscheint nur die Zugabe<br />

von gehackten Datteln, eine echte Geheimwaffe:<br />

Sie unterstreichen die natürliche Süße der<br />

Bete und unterstützen den Stand. Angerichtet<br />

werden sollte bestenfalls mithilfe von Servierringen<br />

– hier legt man auch die Größe der Tatar-Portion<br />

fest und kann die Mengen exakt<br />

kalkulieren. Ob mit Frisée oder Schnittlauch<br />

ausgarniert, einem Klecks Crème fraîche und<br />

Toast dazu, Kapern, Senfkaviar, einem Wachtelspiegelei<br />

oder Kaviar – ihr bestimmt Aufwand<br />

und Anlass. Und den Drink dazu! __<br />

ROTE-BETE-<br />

TATAR<br />

für ca. 1 kg fertiges Tatar<br />

(ca. 90 Minuten Zeit zum Garen und 40 Minuten<br />

Zubereitungszeit)<br />

400 g grobes Meersalz<br />

(lässt sich mehrfach verwenden)<br />

1 kg ungeschälte, rohe Rote Bete<br />

(bei mir waren es 4 Beten)<br />

etwas Öl<br />

2 Schalotten<br />

80 g Datteln, ohne Stein<br />

½ TL fein abgeriebene Bio-Zitronenschale<br />

1 – 2 TL Balsamessig<br />

Salz<br />

Piment d’Espelette<br />

Den Ofen auf 180 °C heizen. Meersalz auf einem<br />

Blech mit Backpapier ausbreiten. Die Beten<br />

waschen, trocknen, mit Öl einreiben und auf<br />

das Salz setzen. Je nach Größe der Beten ca.<br />

90 Minuten garen. Fährt ein Schaschlik-Spieß<br />

mühelos durch die Beten, sind sie gar.<br />

Rote Bete abkühlen lassen, pellen, erst in dünne<br />

Scheiben, dann in dünne Streifen schneiden, fein<br />

würfeln. Die Schalotten pellen und halbieren,<br />

fein würfeln. Datteln fein hacken. Zitronenschale<br />

fein abreiben. Alles mit den Beten verkneten. Mit<br />

Balsamessig, Salz und Piment d’Espelette abschmecken.<br />

Nach Wunsch und Anlass anrichten<br />

und servieren.<br />

Mögliche Garnituren: Schnittlauch, Frisée,<br />

Crème fraîche, Kapern, Senfkaviar. Dazu<br />

frisches Brot oder Toast servieren.<br />

27


STADTGESCHICHTEN<br />

EINST WURDEN HIER GLOCKEN<br />

GEGOSSEN. HEUTE FLIESSEN<br />

IM THE FOUNDRY DRINKS UND<br />

CHAMPAGNER<br />

Foto: Christoph Grothgar<br />

30


JA.<br />

MÜNCHEN.<br />

MUSS.<br />

MAN.<br />

Text Nils Wrage<br />

31


SPIRITUOSE<br />

Illustrationen: Editienne<br />

40


Das Warten hat ein Ende. 2023 sind<br />

die eigenen Whiskeys neuer irischer<br />

Brennereien drei Jahre alt – und damit<br />

flügge. Bereit, einen Markt zu fluten,<br />

von dem sich erst zeigen muss, ob es ihn<br />

gibt. Vom Wachstum bis zur Blase war<br />

es in der Whisk(e)y-Welt nie weit. Dem<br />

deutschen Markt fällt dabei eine ebenso<br />

entscheidende Rolle zu wie der Akzeptanz<br />

des Irish Whiskeys an der Bar.<br />

Text Roland Graf<br />

Man ist jetzt wieder wer. Nicht die steuerschonend angelockten IT-Firmen<br />

liefern dem keltischen Tiger heute das Wachstum – 9,1 % jährliche<br />

Absatzsteigerungen verzeichnet ausgerechnet der irische Whiskey. Als<br />

schnellst-wachsende Spirituosenkategorie hat man mittlerweile auch den<br />

ewigen Rekord von zwölf Millionen Cases (zu neun Litern) übertroffen,<br />

die Irland im 19. Jahrhundert zur Whiskey-Großmacht pushten. Seit dem<br />

alttestamentarischen Blockbuster David gegen Goliath macht man mit<br />

diesem Drehbuch nichts falsch: Das Publikum liebt Geschichten von<br />

erfolgreichen Underdogs. Im Spirituosenbereich schreibt sie aktuell niemand<br />

so schön wie das kleine Irland. Dort, wo die Whiskey-Tradition<br />

noch 2010 von gerade mal vier Brennereien am Leben gehalten wurde,<br />

hat sich die Zahl der Destillerien zwölf Jahre später verzehnfacht. Ist<br />

doch schön! In Hollywood wäre jetzt der Film aus, Happy End, danke<br />

fürs Kommen! Auch das Märchenbuch des Irish Whiskeys darf man hier<br />

zuklappen. Dramaturgisch perfekt, am Ende des ersten Absatzes.<br />

DER LAZARUS DES GETREIDEBRANDS<br />

Das akklamierte Comeback dieser Spirituose endet schließlich nicht mit<br />

der Dachgleiche der neuen Brennereien. Sondern es beginnt erst Jahre<br />

später, wenn der erste, zumindest drei Jahre gelagerte Whiskey aus dem<br />

Fass in die Flasche kommt. In viele Flaschen. Denn allein Newcomer wie<br />

Slane sind auf eine Kapazität von 600.000 Cases angelegt. Und nicht nur<br />

Brown-Forman hat in Irland investiert: 1,5 Milliarden Euro wurden in<br />

der letzten Dekade in den Auf- und Ausbau von Whiskey-Kapazitäten<br />

der Emerald Isle investiert. 3,5 Millionen Fässer Irish Whiskey lagern zwischen<br />

Belfast und Kinsale. Doch im Halbdunkel der Lagerhäuser formt<br />

sich verstärkt auch eine neue Frage: Wer will und kann diese Flut trinken?<br />

41


COCKTAIL<br />

DUNKLE<br />

SPICED RUM KÄMPFT MIT SEINEM<br />

EIGENEN WESEN: EIGENTLICH GIBT<br />

ES IHN GAR NICHT, DENNOCH IST ER<br />

IMMER UND IMMER MEHR DA. AUCH<br />

IN GUTEN BARS, WO ER LANGE ZEIT<br />

EHER ALS BESCHÄMTE PFLICHT-<br />

ÜBUNG ZUR MISCHUNG MIT COLA<br />

BEREITSTAND. UNSER AUTOR ORDNET<br />

DAS PERIODENSYSTEM.<br />

Gramm Zucker je Liter gesüßt werden darf und<br />

Zuckerkulör ausschließlich der Farbgebung<br />

dient. Gut möglich, dass in dieser Verordnung<br />

auch die Keuschheit von Priestern und die<br />

Goldpreisbindung des Bitcoin geregelt wird.<br />

Leider haben Rum-Produzenten durch einen<br />

oft kreativen Umgang mit Altersbezeichnungen<br />

und Aromatiken viel zu einem berechtigten<br />

Misstrauensvorschuss beigetragen<br />

(deshalb eben die EU mit der vor knapp zwei<br />

Jahren eingeführten Zucker-Obergrenze), aber<br />

gerade deshalb sollte man auch nicht zu voreilig<br />

den Stab über den Spiced Rum brechen.<br />

ZOMBIE<br />

ADAPTIERT VOM DON<br />

CARIBICO, BEILNGRIES<br />

3 cl Tiki Lovers Dark<br />

3 cl The Kraken Black<br />

2 cl Old Pascas 73 %<br />

2 cl Luxardo Maraschino<br />

2 cl frischer Limettensaft<br />

1 BL Absinth<br />

1 cl Granatapfelsirup<br />

2 Dashes Angostura<br />

4 cl frischer Grapefruitsaft<br />

4 cl frischer Ananassaft<br />

Auf Eiswürfeln schütteln und auf<br />

Crushed Ice in den Tiki Mug abseihen.<br />

Nach Belieben garnieren.<br />

Text Martin Stein<br />

Fotos Jule Frommelt<br />

Drink-Design Robert Schröter<br />

Spiced Rum ist die dunkle Materie des Periodensystems<br />

der flüssigen Elemente: Seine<br />

Existenz wird vorausgesetzt, aber so ganz genau<br />

weiß eigentlich keiner, was das überhaupt<br />

ist. Als Small-Talk-Thema rangiert Spiced Rum<br />

zwischen Picasso und Islam, jeder kann auch<br />

ohne tiefere Einblicke immer ein bisschen<br />

mitreden. Eine offizielle Kategorie ist es allerdings<br />

nicht; im Oxford Companion to Spirits<br />

& Cocktails findet sich nicht einmal ein kleiner<br />

Eintrag dazu, und so bleibt das Thema ein<br />

misstrauisch beäugter Verwandter, bei dem<br />

man sich noch nicht sicher ist, ob er an der<br />

Familientafel Platz nehmen darf. Die alte deutsche<br />

Spirituosenverordnung kannte immerhin<br />

noch den Flavoured Rum, die übergeordnete<br />

EU-Verordnung legt hingegen fest, dass<br />

Rum nicht aromatisiert, nur mit höchstens 20<br />

Die zwei Seiten der Würze<br />

»Tautologie!«, hört man es hinter dem Tresen<br />

herüberschreien, wo ja seit Menschengedenken<br />

mindestens vier Semester abgebrochenes<br />

Germanistikstudium versammelt sind: »Gewürzter<br />

Rum ist nichts anderes als ein weißer<br />

Schimmel oder ein großer Riese.« Tja, da wäre<br />

man wieder beim Misstrauensvorschuss. Wir<br />

kennen alle diese wundersamen Destillate,<br />

die ihren betörenden Geschmack erst durch<br />

die jahrelange Lagerung in Fässern aus dem<br />

Aromaholz des Schokovanillebaums erhalten<br />

haben. Wieso sollte man jetzt ausgerechnet<br />

dem Zunftvertreter, der das Gewürz immerhin<br />

im Namen trägt, die Ehrlichkeit verübeln? Das<br />

»Rum« fehlt ja mittlerweile ohnehin meistens<br />

in der Produktbezeichnung, weil es den neuen<br />

Regularien der EU-Verordnung nicht mehr genügt.<br />

»Was da unter dem Namen so angeboten<br />

wird, hat man natürlich oft in der Brennblase<br />

auf 97 % hochgejazzt und dann mit allen möglichen<br />

künstlichen Aromen und einem Haufen<br />

Zucker auf einen massentauglichen Geschmack<br />

gebracht. Das ist in der Herstellung<br />

superbillig, und jeder kann das im Grunde mit<br />

54


MATERIE<br />

ZOMBIE<br />

55


60


MIXOLOGY TASTE FORUM<br />

THE CLOCKWORK<br />

ORANGE CURAÇAO<br />

Text & Leitung des Tastings Nils Wrage<br />

Illustration Constantin Karl<br />

Erstmals seit über sechs Jahren<br />

wendet sich das Taste Forum<br />

wieder dem wichtigsten<br />

Mixlikör überhaupt zu: dem<br />

aus Orangen. Schnell zeigt<br />

sich, dass man es streng genommen<br />

mit zwei eigenständigen<br />

Kategorien zu tun hat. Und<br />

auch die sind in sich alles andere<br />

als geschlossen, sondern<br />

aufregend divers.<br />

Ohne Orangenlikör gäbe es die heutige moderne<br />

Cocktailkultur nicht so, wie wir sie kennen.<br />

Praktisch mit dem Beginn des klassischen<br />

Bar-Zeitalters in Form der ersten professionellen<br />

Bücher und Rezeptsammlungen ab Mitte<br />

des 19. Jahrhunderts wurde Orangenlikör zu<br />

dem Mixlikör überhaupt, neben Bitters und<br />

Zucker zum ersten wirklichen »Modifier« von<br />

Cocktails. Ein wenig Konkurrenz bekam er<br />

durch den kroatisch-italienischen Maraschino.<br />

Aber der Orangenlikör blieb auf Rang eins.<br />

Er war dabei, als aus dem Old Fashioned der<br />

»Fancy Whiskey Cocktail« wurde, er ist integraler<br />

Bestandteil von Brandy Crusta, Sidecar,<br />

White Lady, Margarita und später auch von<br />

Mai Tai und Cosmopolitan. Und auch in Salvatore<br />

Calabreses Breakfast Martini ist er dabei.<br />

Eine Systematik klassischer und neoklassischer<br />

Cocktails ohne Orangenlikör ist undenkbar.<br />

Da ist sie wieder, die Kolonialzeit<br />

Eine große Gemeinsamkeit hat Orangenlikör<br />

mit unendlich vielen anderen Bereichen und<br />

Produkten der Bar-Geschichte: sein koloniales<br />

Erbe. Wie so viele schöne Dinge, die für uns<br />

(noch) überall und jederzeit selbstverständlich<br />

sind, waren Zitrusfrüchte lange Zeit ein<br />

teures, seltenes Gut. Die Transportwege waren<br />

weit, die damit verbundenen Kosten und<br />

Risiken hoch. Zitrusfrüchte stammen in ihren<br />

ursprünglichen Wildarten höchstwahrscheinlich<br />

aus dem tropischen Südostasien. Was wir<br />

heute als Orangen kennen, geht nach aktuellem<br />

Forschungs-Konsens auf Züchtungen oder<br />

Kreuzungen zurück, die im vor-antiken China<br />

entstanden waren. Im Hochmittelalter kam<br />

die Bitterorange (auch Pomeranze oder Sevilla-Orange)<br />

in Südeuropa an, vermutlich als<br />

Beiwerk der Karawanen auf der Seidenstraße.<br />

Eines der zentralen Elemente der Kolonisierung<br />

der restlichen Welt durch europäische<br />

Staaten war es, dass europäische Siedler versuchten,<br />

Nutzpflanzen aus ihrer Heimat auch<br />

in besetzten Gebieten zu kultivieren. Das ging<br />

manchmal gut. Manchmal aber auch nicht.<br />

So wie im Fall der Bitterorange auf der karibischen<br />

Insel Curaçao. Die Insel wurde rasch<br />

nach der Entdeckung des amerikanischen Kon-<br />

tinents durch die spanische Krone annektiert.<br />

Frühe Siedler bauten offenbar auch Pomeranzen<br />

an. Entgegen ihrer Annahme gediehen<br />

die Pflanzen unter den dortigen Umständen<br />

jedoch nicht wie gewünscht, die Früchte galten<br />

als ungenießbar. Den Pflanzen jedoch war<br />

das egal und sie taten daher, was Pflanzen tun,<br />

wenn man sie lässt: Sie überlebten, verwilderten<br />

und es entstand eine eigene Unterart.<br />

Dass das klassische Thema Orangenlikör<br />

bzw. Curaçao indes ursprünglich keine spanische,<br />

sondern niederländische Angelegenheit<br />

ist, liegt in einem ganz einfachen Umstand<br />

begründet: Im Laufe ihres goldenen Zeitalters<br />

nahmen die Niederlande den Spaniern die Insel<br />

Curaçao ab – sie ist bis heute Teil des Königreichs.<br />

1726 findet sich die heute älteste Quelle<br />

dafür, dass die Schalen der Bitterorangen aus<br />

Curaçao offenbar gezielt nach Holland importiert<br />

wurden. Vermutlich wurden für die Likörherstellung<br />

bevorzugt die Schalen der Bitterorangen<br />

genutzt, weil die Frucht sich nicht für<br />

den eigentlichen Verzehr eignete. Die Urform<br />

aller heutigen Orangenliköre wird also aller<br />

Wahrscheinlichkeit nach ein gesüßtes Mazerat<br />

aus Kornbrand und getrockneten Pomeranzenschalen<br />

gewesen sein.<br />

Hell und dunkel – mehr als<br />

nur Farbe<br />

Heute ist die Orangenlikörwelt in zwei Großgattungen<br />

unterteilt. Wie unser Tasting weiter<br />

unten erneut zeigt, handelt es sich beinahe um<br />

zwei komplett verschiedene Kategorien: Man<br />

unterscheidet zwischen den farblosen, klaren<br />

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