142_Ausgabe Mai 2015
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Vorwort<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
vor einem Jahre, beim Gedenken an den Beginn<br />
des I. Weltkrieges 100 Jahre zuvor, kamen<br />
die Ursachen dieser „Urkatastrophe des<br />
20. Jahrhunderts“ endlich wahrheitsgetreu<br />
zur Sprache: Alle beteiligten Großmächte verfolgten<br />
eigene geopolitische Eroberungsinteressen,<br />
um ihre wirtschaftliche und militärische<br />
Macht auszudehnen und Konkurrenten<br />
auszuschalten. Dieses Eingeständnis in dieser<br />
Klarheit war längst fällig gewesen. Leider<br />
hatten die Zeitzeugen nichts mehr davon.<br />
Sie lebten nicht mehr. Auch zehntausende<br />
Görlitzer hatten nach 1918 mit Reparationen,<br />
Inflation, Bürgerkriegen, Weltwirtschaftskrise<br />
die Folgen des Versailler Friedensvertrages<br />
zu verkraften, der sich auf die Behauptung<br />
stützte, Deutschland sei einziger Kriegsschuldiger<br />
gewesen. Ohne diese Lüge wäre auch<br />
unseren Familien vieles erspart geblieben –<br />
politische Radikalisierung, diktatorische Herrschaftstrukturen,<br />
Revancheforderungen und<br />
Aufrüstung. Immerhin haben die Urenkel die<br />
Genugtuung, daß die Wahrheit doch irgendwann<br />
ans Licht kommt. Heute, 70 Jahre nach<br />
dem Ende des II. Weltkrieges, erfahren Görlitzer<br />
Schüler, Zeitungleser und Fernsehzuschauer<br />
immer noch, daß allein Deutschland<br />
den Kriegsausbruch von 1939 zu verantworten<br />
habe, und erleben fast täglich unterwürfige<br />
Selbstbezichtigungen führender Politiker.<br />
Längst ist jedoch bekannt und hat sich<br />
nach 1945 bestätigt, welche Ziele andere zur<br />
Schwächung Deutschlands hatten – England,<br />
Frankreich, die USA, Polen, die UdSSR und<br />
die Tschechoslowakei, um nur einige beim<br />
Namen zu nennen. Wird es auch diesmal<br />
erst 100 Jahre nach 1939 den Mut zur vollen<br />
Wahrheit geben? Wir letzten Zeitzeugen werden<br />
es nicht mehr erleben. Nun feiern Politiker<br />
und Medien die „längste Friedensperiode<br />
nach Kriegsende“. Mit Recht? Gab es da nicht<br />
Hiroshima und Nagasaki, die französischen<br />
Kolonialkriege in Vietnam und Nordafrika,<br />
die Massenvertreibungen aus den deutschen<br />
Ostgebieten, Deportationen in Internierungslager<br />
der Besatzungsmächte, später Serien<br />
von Kriegen gegen Serbien, den Irak, Afghanistan,<br />
Libyen? Noch immer stehen ausländische<br />
Truppen mit Kernwaffen in Deutschland.<br />
Überall in der Welt Kriege und Bürgerkriege.<br />
Nein, auch wir hatten nicht das Glück, in der<br />
längsten Friedensperiode zu leben, denn wir<br />
erlebten im Kalten Krieg Abschottung, Geheimdienstaktivitäten,<br />
Haßpropaganda auf<br />
beiden Seiten, Wettrüsten zu Lasten wirtschaftlicher<br />
und sozialer Fortschritte. Noch<br />
immer gibt es in der Stadt keine Gedenkstätten<br />
für Kriegswitwen und Kriegswaisen, für<br />
die Flüchtlings- und Vertriebenenströme, die<br />
durch Görlitz zogen, für das Umerziehungslager<br />
Jägerkaserne. Wir kamen mit dem Leben<br />
davon, konnten lernen, studieren, arbeiten,<br />
aufbauen, mitgestalten. Aber wie vor 70 Jahren<br />
blieben Wunsch und Entschlossenheit, die<br />
Kriegstreiber zu entlarven, zu bekämpfen und<br />
irgendwann in ferner Zukunft zu besiegen.<br />
Dies bleibt das Vermächtnis der Görlitzer Zeitzeugen<br />
aus 70 Jahren nach dem <strong>Mai</strong> 1945. Zu<br />
ihnen gehört auch<br />
Ihr Ernst Kretzschmar<br />
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Einleitung<br />
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