Das Tanzen bleibt - Unterwegs mit den Ballets Jooss. Das Album der Tänzerin Bé 1924-1956
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Martin Lobigs<br />
»<strong>Das</strong> <strong>Tanzen</strong> <strong>bleibt</strong>.«<br />
<strong>Unterwegs</strong> <strong>mit</strong> <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Album</strong> <strong>der</strong> <strong>Tänzerin</strong> <strong>Bé</strong><br />
<strong>1924</strong> –<strong>1956</strong><br />
Henschel
Martin Lobigs<br />
»<strong>Das</strong> <strong>Tanzen</strong> <strong>bleibt</strong>.«<br />
<strong>Unterwegs</strong> <strong>mit</strong> <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Album</strong> <strong>der</strong> <strong>Tänzerin</strong> <strong>Bé</strong><br />
<strong>1924</strong>–<strong>1956</strong>
Inhalt<br />
9 Zwei weltumspannende Geschichten.<br />
Ein Vorwort.<br />
13 Von Java zu <strong>Jooss</strong>:<br />
Die Geschichte von Beatrijs Vitringa<br />
14 <strong>1924</strong><br />
»Eine zweite Pawlowa wer<strong>den</strong>«.<br />
Aufwachsen auf Java.<br />
18 1939<br />
England – ein kurzer Traum<br />
22 1940<br />
Zurück auf Java<br />
25 1942<br />
Im Internierungslager<br />
30 1945<br />
Befreit<br />
35 1947<br />
Wie<strong>der</strong> in England<br />
41 Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
42 Kurt <strong>Jooss</strong>
47 Die Tournee <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
im Zweiten Weltkrieg<br />
48 1940<br />
Nordamerika<br />
48 Startschuss<br />
53 Von Kuba bis Kanada<br />
55 Aufbruch ins Neuland<br />
58 1940–1941<br />
Südamerika<br />
58 Die Trudi-Schoop-Affäre<br />
59 Startschwierigkeiten<br />
63 Aufstieg<br />
64 Freu<strong>den</strong>taumel<br />
69 »Ein Tanz für Menschen, die <strong>den</strong>ken«<br />
74 »<strong>Das</strong> Zentrum des mo<strong>der</strong>nen Tanzes«<br />
75 Enttäuschungen<br />
77 Freundschaften und Opferbereitschaft<br />
83 1942<br />
<strong>Das</strong> Ende in New York<br />
91 Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> in Essen<br />
92 1950<br />
Tanztheater möglich machen<br />
92 »<strong>Jooss</strong> nicht im Stich lassen«
95 1951<br />
»Auftakt zu einer neuen und<br />
glanzvollen Epoche«<br />
98 »Den ganzen Körper in Bewegung umsetzen«<br />
100 »Fröhliche Gemeinschaft«<br />
101 »Essen: Stadt des Tanzes«<br />
106 »Eine wun<strong>der</strong>bare <strong>Tänzerin</strong> und Freundin«<br />
108 1951–1952<br />
»Die Wie<strong>der</strong>geburt einer<br />
großen Vergangenheit«<br />
110 Ein nie<strong>der</strong>ländischer Star<br />
115 »Was ich gerne tue, das ist tanzen«<br />
116 Der »aufstrebende Stern«<br />
119 1953<br />
Ein stürmisches Jahr<br />
121 »Du bist fantastisch gut gewor<strong>den</strong>«<br />
122 Abschied<br />
123 Und noch ein Abschied<br />
125 1953–<strong>1956</strong><br />
»<strong>Das</strong> <strong>Tanzen</strong> <strong>bleibt</strong>«<br />
129 Was <strong>bleibt</strong>.<br />
Ein Nachtrag
137 Anhänge<br />
138 Frühere Studierende <strong>der</strong> Tanzabteilung<br />
<strong>der</strong> Folkwangschule<br />
139 Brief von Cornelius Conyn<br />
140 <strong>Bé</strong>s Diplom, ausgestellt von Herta Ruth Brod<br />
141 Otto Mandls Empfehlungsschreiben<br />
an Arnold Haskell<br />
142 Kurt <strong>Jooss</strong>’ Empfehlungsschreiben für <strong>Bé</strong><br />
143 Verlängerung des Vertrags <strong>mit</strong><br />
dem Folkwang-Tanztheater<br />
144 Brief von Frank McLoughlin<br />
146 Scheidungsantrag von Frank<br />
147 <strong>Bé</strong>s Zeugnis <strong>der</strong> Folkwangschule<br />
148 Bemerkungen des Autors<br />
150 Anmerkungen<br />
155 Personenregister<br />
158 Bildnachweise
Von Java zu <strong>Jooss</strong>:<br />
Die Geschichte von<br />
Beatrijs Vitringa<br />
13
<strong>1924</strong><br />
»Eine zweite Pawlowa wer<strong>den</strong>«.<br />
Aufwachsen auf Java.<br />
Am 7. Juli <strong>1924</strong> wird in Bandoeng (heute Bandung) auf Java ein Mädchen<br />
geboren: Beatrijs Vitringa, die von allen bald nur noch liebevoll<br />
»<strong>Bé</strong>« genannt wird. Bandoeng gilt damals als eine aufstrebende Stadt<br />
auf <strong>der</strong> zu Nie<strong>der</strong>ländisch-Indien gehören<strong>den</strong> Insel; von <strong>den</strong> etwa<br />
200 000 Einwohnern sind ein Zehntel europäischer Abstammung.<br />
Bei <strong>den</strong> Vitringas schätzt man Kunst und Kultur, die Eltern gehören<br />
zu <strong>den</strong> 848 Mitglie<strong>der</strong>n des sogenannten Kunstkreises (Kunstkring).<br />
Der Vater William Adrian Vitringa ist Chefingenieur <strong>der</strong> Bandoeng-<br />
Wasserkraftwerke, Mutter Theodora Vitringa, geborene Jürrjens, ist<br />
gelernte Krankenschwester. Theodora ist 1894 als uneheliches Kind<br />
auf die Welt gekommen, ihr biologischer Vater ist nicht bekannt. Sie<br />
besucht eine französische Schule in Brüssel, danach Schulen in <strong>den</strong><br />
Nie<strong>der</strong>lan<strong>den</strong> und England. Als ihre Mutter 1910 stirbt, wird sie von<br />
ihrem Stiefvater zur Familie <strong>der</strong> Mutter nach Amsterdam geschickt. Sie<br />
macht ihren Abschluss als Krankenpflegerin und lernt William kennen,<br />
einen Ingenieur, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Universität in Delft studiert hat. Beide<br />
heiraten 1921. William wird von <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländischen Regierung die<br />
Leitung <strong>der</strong> Wasserwerke auf Java anvertraut – und Theodora geht <strong>mit</strong><br />
ihm gemeinsam diesen großen Schritt: Sie ziehen nach Bandoeng.<br />
Die bei<strong>den</strong>, die sich nur Wim and Thea nennen, gehen liebevoll <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong><br />
um, obwohl Thea in <strong>der</strong> Regel das Familienleben bestimmt<br />
und Wim sich <strong>den</strong> Wünschen seiner Frau unterordnet. 1922 wird <strong>Bé</strong>s<br />
ältere Schwester Johanna (»Jo«) geboren.<br />
Für Thea ist es von Anfang an wichtig, ihre Kin<strong>der</strong> so zu erziehen, dass<br />
sie auf eigenen Beinen stehen und im Leben etwas erreichen. Sie sieht,<br />
dass ihre jüngste Tochter Talent zum <strong>Tanzen</strong> hat, und arrangiert für sie<br />
Unterricht. Schon nach einer Woche weiß <strong>Bé</strong>, dass sie zum <strong>Tanzen</strong><br />
bestimmt ist – sie träumt davon, wie sie später berichtet, »eine zweite<br />
Pawlowa o<strong>der</strong> Markowa zu wer<strong>den</strong>«. Sie ist noch keine fünf Jahre alt,<br />
als sie Anna Pawlowa tatsächlich auf <strong>der</strong> Bühne sieht: Die russische<br />
Wim und Thea Anfang <strong>der</strong> 1920er Jahre<br />
Primaballerina tritt im Rahmen ihrer Welttournee im Dezember 1928<br />
auf Java auf. In <strong>der</strong> Hauptstadt Batavia (dem heutigen Jakarta) führt<br />
<strong>der</strong> Andrang zu einem Verkehrsstau.<br />
Da Java auf <strong>der</strong> Schiffsroute zwischen Europa und Australien liegt,<br />
macht nicht nur die berühmte Pawlowa hier einen Stopp auf ihrer<br />
Tournee. Viele reisende Künstler tun das in dieser Zeit, Java ist eine<br />
beliebte Zwischenstation. <strong>Das</strong>s dem so ist, dafür sorgen die Kunstkreise,<br />
zu <strong>den</strong>en auch die Vitringas gehören. Sie engagieren sich für<br />
die Kultur- und Kunstszene und wollen das Leben in <strong>der</strong> Kolonie ein<br />
wenig in Einklang bringen <strong>mit</strong> <strong>den</strong> kulturellen und künstlerischen<br />
Entwicklungen in Europa. Wohlhabende Mitglie<strong>der</strong> beherbergen die<br />
Künstler in ihren Häusern.<br />
14
So kommt es, dass unter <strong>der</strong> kolonialen Regierung <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lande in<br />
Indonesien das Ballett seine besten Tage sieht. Viele berühmte Tänzer<br />
kommen aber nicht nur, um aufzutreten. Sie kommen auch, um die<br />
Tänze <strong>der</strong> Einheimischen zu studieren. Zum Beispiel bereisen Ruth<br />
St. Denis und Ted Shawn, die Pioniere des Mo<strong>der</strong>n Dance in <strong>den</strong> USA,<br />
im Juli 1926 Java, um <strong>den</strong> Tanz Serimpi zu erforschen. Solche Tänze,<br />
begleitet von einem Gamelan (Musikensemble) <strong>mit</strong> Metallophonen,<br />
Gongs und seltenen Xylophonen, faszinieren die westliche Welt. Auch<br />
<strong>Bé</strong> lernt später von ihnen.<br />
Walter Spies<br />
Auch <strong>der</strong> deutsche Musiker und Maler Walter Spies setzt sich für die<br />
indonesische Kunst ein. Er kommt 1923 nach Java und 1927 nach<br />
Bali, wo er ein Kunstzentrum aufbaut, was ihn zum »berühmtesten<br />
Europäer auf Bali« 7 macht. 1931 besucht ihn <strong>der</strong> kanadische Musiker<br />
Colin McPhee und erzählt danach begeistert seinem englischen<br />
Freund Benjamin Britten von Balis Musik. Britten wie<strong>der</strong>um kennt<br />
Kurt <strong>Jooss</strong>, <strong>der</strong> später »in enger Verbindung <strong>mit</strong> dem englischen<br />
Nachwuchskomponisten« ein Opern- und Tanzstudio in London leiten<br />
wird. 8<br />
Doch das ist nicht die einzige Verbindung zwischen Walter Spies<br />
und Kurt <strong>Jooss</strong>; es gibt noch einen viel stärkeren Berührungspunkt:<br />
Die englische Tanzforscherin Beryl de Zoete, selbst eine klassisch<br />
ausgebildete Ballerina, arbeitet in <strong>den</strong> 1930er Jahren gemeinsam <strong>mit</strong><br />
Spies an dem Buch Dance and Drama in Bali. Es wird 1938 veröffentlicht<br />
und ist bis heute ein wichtiges Nachschlagewerk. Einige Jahre zuvor<br />
hat de Zoete, eine lei<strong>den</strong>schaftliche <strong>Jooss</strong>-Unterstützerin, an einem<br />
heißen Nach<strong>mit</strong>tag im Juli 1933 in dem Pariser Café de la Paix Kurt<br />
<strong>Jooss</strong> <strong>den</strong> Vorschlag gemacht, nach Dartington Hall zu ziehen. Dank<br />
ihr fin<strong>den</strong> die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> dort 1934 ihr Exil, vermutlich rettet sie auf<br />
diese Weise auch <strong>den</strong> jüdischen Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Truppe das Leben.<br />
Die auf Java auftreten<strong>den</strong> Tänzer hinterlassen bei <strong>Bé</strong> einen starken<br />
Eindruck. Sechs Jahre nach dem Auftritt von Anna Pawlowa sieht die<br />
zehnjährige <strong>Bé</strong> die russische Dandré-Levitoff-Ballettcompagnie auf<br />
<strong>der</strong> Bühne, die am 18. und 19. September 1934 im Concordia-Theater<br />
in <strong>der</strong> Braga Straße in Bandoeng gastiert. Nach Pawlowas Tod 1931<br />
hat <strong>der</strong>en Ehemann Victor Dandré die Compagnie gegründet, die<br />
von Ende 1934 bis Anfang 1935 unter an<strong>der</strong>em durch Australien tourt<br />
und in <strong>der</strong> einige Tänzer <strong>der</strong> früheren Pawlowa-Compagnie auftreten.<br />
Dazu gehört auch Anna Northcote, die sich später <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
anschließen und <strong>Bé</strong>s Lehrerin in England wer<strong>den</strong> wird.<br />
In <strong>der</strong> belebten Braga Straße befindet sich das<br />
Concordia-Theater. Bandoeng, 1930er Jahre<br />
16
1937, als <strong>Bé</strong> 13 Jahre alt ist, tritt auf Java die nie<strong>der</strong>ländische <strong>Tänzerin</strong><br />
Darja Collin zusammen <strong>mit</strong> dem deutschen Star Alexan<strong>der</strong> von<br />
Swaine auf. <strong>Das</strong>s <strong>Bé</strong> zu Collin, von Swaine und seinem Partner Botjo<br />
Markoff einen engen Kontakt aufbauen wird, dafür sorgt eine ganz<br />
beson<strong>der</strong>s wichtige Person in ihrem Leben: ihre Tanzlehrerin Herta<br />
Ruth Brod.<br />
Herta Ruth Brod<br />
Ruth Brod wird 1909 in Wien geboren. 1935 siedelt sie um nach Bandoeng<br />
und eröffnet dort das »Gymnastik- und Tanzinstitut« in <strong>der</strong><br />
Riouw Straße 53. Die <strong>Tänzerin</strong> ist zuvor Schülerin <strong>der</strong> Tschechin Rosalia<br />
Chladek gewesen, die beim Internationalen Choreografiewettbewerb<br />
1932 in Paris <strong>den</strong> zweiten Platz – hinter Kurt <strong>Jooss</strong> – gewonnen<br />
hat. Wie <strong>Jooss</strong> stammt Chladek aus <strong>der</strong> Schule Rudolf von Labans<br />
und ist Ausdruckstänzerin.<br />
Die Beziehung zwischen Ruth Brod und dem Kunstkreis und seinen<br />
Mitglie<strong>der</strong>n ist von Anfang an eng, Ruth wird zu einer zentralen Figur<br />
des Tanzes auf Java. Ihre Tanzschule ist nur einen Kilometer von<br />
<strong>der</strong> Geschäftsstelle des Kunstkreises im Dago Weg 47 entfernt, auch<br />
das Haus <strong>der</strong> Vitringas – Ecke Sim de Ruyters Weg/Engelbert van<br />
Bevervoorde Weg – steht in diesem vornehmen Viertel nördlich <strong>der</strong><br />
Eisenbahnlinie. Hier wohnen die höheren Berufsstände, wie <strong>der</strong> Leiter<br />
<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländischen Eisenbahn in Bandoeng o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Architekt<br />
J. L. Riedé, hier trifft man sich auf geselligen Aben<strong>den</strong>.<br />
<strong>Bé</strong> lässt sich ab 1935 von Ruth Brod im Tanz unterrichten. Von ihr<br />
hört das tänzerisch begabte Mädchen auch zum ersten Mal von <strong>der</strong><br />
<strong>Jooss</strong>-Lee<strong>der</strong> School of Dance, die zu Ostern 1934 in Dartington Hall<br />
entstan<strong>den</strong> ist und <strong>mit</strong>tlerweile Schüler aus aller Welt anzieht.<br />
Als <strong>Bé</strong> im Herbst 1935 <strong>mit</strong> ihren Eltern Amsterdam besucht, treten dort<br />
die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> auf. <strong>Bé</strong> ist wie elektrisiert. Zurück in Bandoeng kann<br />
sie es kaum erwarten, endlich alt genug zu sein für ihren ersten Reisepass:<br />
Sie will nach Dartington Hall, zu Kurt <strong>Jooss</strong>.<br />
Am 16. Juni 1939 – drei Wochen vor ihrem 15. Geburtstag – ist es<br />
so weit: Sie bekommt ihren Pass. Nur einen Monat später besteigt sie<br />
in Begleitung ihrer zwei Jahre älteren Schwester Johanna das Schiff<br />
von Batavia nach England. Jo ist auf dem Weg nach Amsterdam, um<br />
am dortigen Lyzeum zu studieren. Für die wohlhaben<strong>den</strong> Familien auf<br />
Java ist es üblich, die Kin<strong>der</strong> an die besseren Institute in Europa zu<br />
schicken. Zum ersten Mal sind die bei<strong>den</strong> Schwestern weit weg von<br />
<strong>den</strong> Eltern, von ihrem Zuhause. Sie müssen schnell erwachsen wer<strong>den</strong>,<br />
schneller, als sie damals ahnen.<br />
Die 11-jährige <strong>Bé</strong> (links) und ihre Schwester<br />
Jo sehen die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> zum ersten Mal<br />
bei ihrem Besuch in Amsterdam 1935.<br />
17
1939<br />
England – ein kurzer Traum<br />
Es ist eine lange Reise: <strong>Das</strong> Schiff braucht drei bis vier Wochen, bis es<br />
am 14. August 1939 in Southhampton anlegt. <strong>Bé</strong> und Jo wer<strong>den</strong> von<br />
Camille Manusset in Empfang genommen, einer alten Schulfreundin<br />
von Thea aus London. Camille bringt die Mädchen zu ihrer Schwester<br />
Marcelle und ihrem Mann William Brimicombe, <strong>der</strong> an seiner Schule<br />
in London Englisch und Geschichte unterrichtet. <strong>Das</strong> Ehepaar nimmt<br />
die Kin<strong>der</strong> zunächst in ihrer großen Wohnung in Blackheath auf. Jo<br />
verlässt nach nur wenigen Tagen die Familie und ihre Schwester und<br />
nimmt die Fähre nach Holland.<br />
Auch <strong>Bé</strong> macht sich auf <strong>den</strong> Weg: Endlich geht es nach Dartington<br />
Hall, zu Kurt <strong>Jooss</strong>. <strong>Das</strong> in <strong>der</strong> Grafschaft Devon gelegene Lehrinstitut<br />
ist eine Elite-Schule <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die reformpädagogischen<br />
Prinzipien folgt. Mädchen und Jungen lernen gemeinsam, unter an<strong>der</strong>em<br />
auch praktische landwirtschaftliche Arbeit in <strong>der</strong> ländlichen<br />
Umgebung. Daneben haben die darstellen<strong>den</strong> Künste einen großen<br />
Stellenwert, kreatives Leben und ökologisches Verstehen wer<strong>den</strong> geför<strong>der</strong>t.<br />
Dartington Hall gehört zu <strong>den</strong> revolutionärsten Schulen ihrer<br />
Zeit, sogar Künstler und Musiker wie Merce Cunningham, Paul Hinde<strong>mit</strong>h,<br />
Igor Strawinsky o<strong>der</strong> Walter Gropius kommen hierher – und 1934<br />
auch Kurt <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong> seiner Tanzcompagnie, <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong>.<br />
Sigurd Lee<strong>der</strong> arbeitet <strong>mit</strong> <strong>Jooss</strong> seit <strong>1924</strong>, er emigriert im Frühjahr<br />
1934 nach Dartington Hall und bringt eine große Schülerschar aus Essen<br />
<strong>mit</strong>. Bis 1939 unterrichtet er gemeinsam <strong>mit</strong> Kurt <strong>Jooss</strong> an <strong>der</strong> neu<br />
gegründeten <strong>Jooss</strong>-Lee<strong>der</strong> School of Dance und leitet das dazugehörige<br />
Dance Theatre Studio.<br />
<strong>Bé</strong> wird als »Beatrys Vitringa« eingeschrieben, ihr Unterricht beginnt<br />
im September 1939. Mit ihren nur 15 Jahren ist sie die jüngste Schülerin<br />
<strong>der</strong> <strong>Jooss</strong>-Lee<strong>der</strong> School of Dance. Sie fühlt sich von Anfang an wohl,<br />
<strong>der</strong> offene, kreative und fortschrittliche Umgang erinnert sie an ihr<br />
Elternhaus. Sie bewohnt ein Zimmer im Stu<strong>den</strong>tenheim, in dem mehrere<br />
hun<strong>der</strong>t Schüler untergebracht sind. <strong>Das</strong> ehemals verwahrloste<br />
<strong>mit</strong>telalterliche Landgut ist 1926 vom Ehepaar Leonard und Dorothy<br />
Kurt <strong>Jooss</strong> (Mitte) spaziert <strong>mit</strong> Kollegen<br />
über das Gelände von Dartington Hall.<br />
18
Elmhirst gekauft und <strong>mit</strong> viel Geld – Dorothy ist eine vermögende<br />
Amerikanerin – mo<strong>der</strong>nisiert wor<strong>den</strong>. Die Gebäude sind <strong>mit</strong> zentraler<br />
Heizung, Bä<strong>der</strong>n und Duschen ausgestattet, es gibt Einzel-, Doppel-<br />
und Dreierzimmer, qualifiziertes Lehrpersonal und hochwertiges<br />
Essen.<br />
Im Innenhof befindet sich das »Barn Theatre«, das <strong>der</strong> deutsche<br />
Bauhaus-Architekt Walter Gropius aus einer alten Scheune entworfen<br />
hat. In diesem Theater treten die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> auf (bzw. haben hier<br />
ihre Generalproben), es entwickelt sich zu einem wichtigen Aufführungsort<br />
für Theater und Tanz in Dartington Hall.<br />
<strong>Bé</strong> ist glücklich in diesem Frühherbst 1939. In Bandoeng auf Java<br />
war es üblich, die Treffen des Kunstkreises zu besuchen. Jetzt erlebt<br />
sie je<strong>den</strong> Sonntagabend im Barn Theatre einen Vortrag, ein Konzert<br />
o<strong>der</strong> eine Vorstellung. Der Biologe Julian Huxley, sein Bru<strong>der</strong> Aldous<br />
Huxley (Autor des futuristischen Romans Schöne, neue Welt), Philosoph<br />
Bertrand Russell, <strong>der</strong> anti-autoritäre Reformpädagoge Alexan<strong>der</strong><br />
S. Neill, Benjamin Britten und <strong>der</strong> Bildhauer Henry Moore sind unter<br />
<strong>den</strong> Vortragen<strong>den</strong>.<br />
Auf diese Weise wird <strong>Jooss</strong>’ Schülern von Anfang an ein geistiger<br />
Horizont eröffnet, <strong>der</strong> sie inspiriert, <strong>der</strong> sie für <strong>den</strong> Tanz, die darstellende<br />
Kunst sowie für ihre Interpretation durchlässig macht. <strong>Jooss</strong><br />
gewinnt auf diese Weise »ein neues Publikum für die Tanzkunst, vielleicht<br />
vor allem ein intellektuelles«. 9 Zudem bringen die Exilkünstler in<br />
Dartington Hall auch eine Ernsthaftigkeit in <strong>der</strong> künstlerischen Arbeit<br />
<strong>mit</strong>. Neben <strong>Jooss</strong>, Gropius, dem Schauspieler Michael Tschechow und<br />
vielen an<strong>der</strong>en wird auch Rosalinde von Ossietzky in Dartington Hall<br />
ausgebildet. Dieses »attraktive junge Mädchen« 10 lernt bei Kurt <strong>Jooss</strong><br />
tanzen – während die Nationalsozialisten ihren Vater foltern. <strong>Jooss</strong><br />
kennt Carl von Ossietzky, <strong>den</strong> Redakteur <strong>der</strong> Weltbühne. 1936 erhält<br />
von Ossietzky <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong>snobelpreis, zwei Jahre später stirbt er an<br />
<strong>den</strong> Folgen <strong>der</strong> Misshandlungen im Konzentrationslager. Seine Tochter<br />
ist dann bereits im sicheren Exil in Schwe<strong>den</strong>.<br />
Im November 1939 erlebt <strong>Bé</strong>, wie sich die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> auf eine Amerika-Tournee<br />
vorbereiten. Anlass ist <strong>der</strong> im September 1939 ausgebrochene<br />
Krieg: Man fürchtet, dass Dartington Hall geschlossen wird<br />
und da<strong>mit</strong> die Existenz <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> bedroht ist. Da scheint es<br />
am besten, sie auf Tournee zu schicken – »weit weg vom Krieg«. 11 Es<br />
wird ein Vertrag <strong>mit</strong> Columbia Concerts geschlossen und 7000 Kilogramm<br />
Bühnenausstattung im Wert von 20 000 US-Dollar (heute rund<br />
420 000 Euro) gepackt. 12 Kurz vor Weihnachten 1939 legt die Truppe<br />
von Southampton ab. Den 29 Mitglie<strong>der</strong>n steht eine <strong>der</strong> abenteuerlichsten<br />
Tourneen bevor, die je von einer Balletttruppe gemacht wor<strong>den</strong><br />
sind.<br />
Zur gleichen Zeit erhalten <strong>Bé</strong> und auch Jo in <strong>den</strong> Nie<strong>der</strong>lan<strong>den</strong><br />
eine Nachricht: Ihre Eltern bitten sie, nach Bandoeng zurückzukehren:<br />
»Wir haben euch lieber hier, falls etwas passiert.« 13 Die Schwestern<br />
treffen sich während <strong>der</strong> Weihnachtsferien in Amsterdam und<br />
entschei<strong>den</strong> sich für eine Rückfahrt nach dem Ende ihrer jeweiligen<br />
Semester. Doch die Ereignisse überschlagen sich, <strong>der</strong> Krieg fegt nach<br />
Westen. <strong>Bé</strong> muss Dartington Hall im März 1940 verlassen – eine Anordnung,<br />
die alle Auslän<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Küste um Plymouth betrifft. Am<br />
20. März 1940 fährt sie nach London und wartet bei <strong>den</strong> Brimicombes<br />
auf ihre Schwester. Doch Jo kommt nicht mehr aus <strong>den</strong> Nie<strong>der</strong>lan<strong>den</strong><br />
weg. Alle Schiffe nach England sind überla<strong>den</strong> <strong>mit</strong> Flüchtlingen.<br />
Am 10. Mai 1940 überrennt die deutsche Armee die Nie<strong>der</strong>lande, die<br />
Grenzen wer<strong>den</strong> geschlossen. Als <strong>Bé</strong> am 6. Juni 1940, einen Monat vor<br />
ihrem 16. Geburtstag, <strong>mit</strong> dem Schiff zurück nach Java fährt, muss sie<br />
ihre Schwester in Europa zurücklassen.<br />
An <strong>Jooss</strong>’ Schule in Dartington Hall lernen die Tanzschüler alles, was<br />
<strong>mit</strong> Tanz verbun<strong>den</strong> ist: klassisches Ballett, Improvisation, Choreografie,<br />
Bühnenarbeit, Beleuchtung, Bühnenbild, Make-Up. <strong>Bé</strong> selbst erhält<br />
in ihrem ersten Semester keinen Unterricht von <strong>Jooss</strong>: Er arbeitet<br />
<strong>mit</strong> seiner Truppe an <strong>der</strong> Choreografie Der verlorene Sohn. <strong>Das</strong> Stück<br />
soll im Oktober 1939 im Prince Theatre in Bristol aufgeführt wer<strong>den</strong>.<br />
Es scheint wie eine ironische Wendung des Schicksals, dass <strong>Bé</strong> dabei<br />
zusieht, wie <strong>Jooss</strong> dieses Stück in Dartington Hall probiert. Viele Jahre<br />
später, <strong>1956</strong>, wird es das letzte Ballett sein, das sie für <strong>Jooss</strong> tanzt.<br />
20
Zwischen <strong>den</strong> Trainingsstun<strong>den</strong> verbringen die<br />
<strong>Tänzerin</strong>nen und Tänzer ihre Freizeit im Innenhof<br />
des Lehrinstituts.<br />
21
Kurt <strong>Jooss</strong><br />
12. Januar 1901–22. Mai 1979<br />
<strong>Jooss</strong> studiert ab 1919 Gesang, Klavier und Musiktheorie am Konservatorium<br />
für Musik in Stuttgart und nimmt parallel Schauspielunterricht<br />
an <strong>der</strong> Remolt-Jessen-Schule in Stuttgart sowie Tanzstun<strong>den</strong> bei Grete<br />
Heid, einer Schülerin Rudolf von Labans. Im September 1920 wird er<br />
Schüler bei von Laban und von 1922 bis <strong>1924</strong> Tänzer bei seiner Tanzbühne.<br />
<strong>1924</strong> ist er für drei Spielzeiten Bewegungsregisseur am Theater<br />
in Münster. Er entwickelt unter dem Einfluss von Rudolf von Labans<br />
Prinzipien bald einen eigenständigen Tanzstil und gründet die Neue<br />
Tanzbühne. Im Mai 1927 zieht er nach Essen.<br />
<strong>Jooss</strong> ist dort am 8. Oktober 1927 Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Folkwangschulen<br />
für Musik, Tanz und Sprache und wird Leiter <strong>der</strong> Tanzabteilung. Im<br />
September 1928 gründet er zudem das Folkwang-Tanztheater-Studio<br />
(später umbenannt in Folkwang-Tanzbühne) als Verbindungsglied<br />
zwischen Ausbildungsinstitut und Bühne. Im Oktober 1929 folgt die<br />
Integration <strong>der</strong> Zentralschule Laban in die Tanzabteilung <strong>der</strong> Folkwangschule<br />
unter <strong>Jooss</strong>’ Leitung. Hier findet er ebenso wie am Essener<br />
Opernhaus, wohin er im September 1929 als choreografischer Oberleiter<br />
<strong>mit</strong> da<strong>mit</strong> verbun<strong>den</strong>er Beraterfunktion berufen wor<strong>den</strong> war, um<br />
die Neue Tanzbühne zu leiten, optimale Bedingungen, seine tanzästhetischen<br />
Vorstellungen umzusetzen. Mit <strong>der</strong> Spielzeit 1930/1931 wird<br />
er Ballettmeister am Essener Opernhaus; zugleich erfolgt die Verpflichtung<br />
<strong>der</strong> Folkwang-Tanzbühne als ständiges und einziges Ensemble<br />
des Theaters. Exemplarisch für seine damalige Arbeit steht <strong>der</strong> Grüne<br />
Tisch, ein Tanzdrama, das durch die Darstellung <strong>mit</strong>telalterlicher Totentänze<br />
angeregt wurde. Es zeigt, wie Leid und Krieg durch Machthaber,<br />
politische Fanatiker und Profiteure verursacht wer<strong>den</strong>. Dieses Werk<br />
entsteht für <strong>den</strong> 1932 in Paris ausgetragenen internationalen Wettbewerb<br />
<strong>der</strong> Choreografen <strong>der</strong> Archives Internationales de la Danse und<br />
wird <strong>mit</strong> dem ersten Preis ausgezeichnet. Der Wettbewerbserfolg führt<br />
zum Start einer internationalen Karriere; im Ausland firmiert die Folkwang-Tanzbühne<br />
fortan unter <strong>der</strong> Bezeichnung <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong>.<br />
Im März 1933 gibt <strong>Jooss</strong> seinen Ballettmeisterposten am Essener<br />
Theater auf, seinen offiziellen Rücktritt von <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> Tanzabteilung<br />
<strong>der</strong> Folkwangschule erklärt er am 20. Januar 1934: We<strong>der</strong> die zunehmend<br />
politisch angepasste Spielplangestaltung sagt ihm zu, noch<br />
sind für ihn die Anfeindungen tragbar, <strong>den</strong>en seine jüdischen Compagnie<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>,<br />
allen voran <strong>der</strong> Komponist Friedrich Cohen, zunehmend<br />
ausgesetzt sind. Da er nicht bereit ist, sich von seinen jüdischen<br />
Mitarbeitern zu trennen, <strong>bleibt</strong> ihm nur die Flucht aus Deutschland. Im<br />
Rahmen <strong>der</strong> ersten Welttournee fliehen <strong>Jooss</strong>, <strong>der</strong> aus Freimaurerkreisen<br />
erfahren hat, dass die NSDAP-Gauleitung beschlossen habe, ihn in<br />
Schutzhaft zu nehmen, und sein Ensemble, das sich am 7. August 1933<br />
vom Essener Opernhaus vertraglich gelöst hatte, im September 1933<br />
zunächst in die Nie<strong>der</strong>lande. Nach Gastauftritten in New York und verschie<strong>den</strong>en<br />
europäischen Län<strong>der</strong>n können sie schließlich auf dem im<br />
englischen Devonshire gelegenen Landsitz Dartington Hall ein neues<br />
Zuhause fin<strong>den</strong>. Hier gründet <strong>Jooss</strong> im April 1934 gemeinsam <strong>mit</strong> seinem<br />
langjährigen künstlerischen Mitarbeiter, dem Tänzer und Pädagogen<br />
Sigurd Lee<strong>der</strong>, die <strong>Jooss</strong>-Lee<strong>der</strong> School of Dance. Wenngleich<br />
<strong>Jooss</strong> von <strong>der</strong> deutschen Theaterarbeit abgeschnitten ist, so bietet sich<br />
ihm im Exil zunächst das seltene Privileg, auch während <strong>der</strong> Zeit des<br />
deutschen Faschismus kontinuierlich weiterarbeiten zu können. Mehrmonatige<br />
Tourneen führen die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> 1937 und 1938 durch<br />
West- und Osteuropa sowie durch die USA und Kanada. Im Rahmen<br />
einer Tournee durch die englische Provinz findet am 14. Februar 1938<br />
in Cambridge die Uraufführung von Chronica statt. <strong>Das</strong> ist zum einen<br />
bemerkenswert, weil sich das Stück erneut um das Thema Macht und<br />
Herrschaftsstrukturen dreht und als neuer Höhepunkt im Schaffen von<br />
Kurt <strong>Jooss</strong> rezipiert wird. Zum an<strong>der</strong>en, weil das Libretto von Berthold<br />
Goldschmidt vertont wird, <strong>der</strong> selbst aus Deutschland geflohen ist.<br />
Doch die dramatischen politischen Verän<strong>der</strong>ungen holen <strong>Jooss</strong><br />
und sein Ballett ein: Mitte Juni 1940 wird <strong>Jooss</strong> als »feindlicher Auslän<strong>der</strong>«<br />
zunächst im Lager Huyton, später auf <strong>der</strong> Isle of Man interniert,<br />
trotz seiner Bekanntheit und ungeachtet seiner zahlreichen<br />
Verbindungen. Im November 1940, als sich weite Teile <strong>der</strong> englischen<br />
Bevölkerung, Politiker und Presse zunehmend über die willkürliche<br />
Inhaftierung deutscher Exilanten empören, wird <strong>Jooss</strong> die<br />
Freilassung angeboten – unter <strong>der</strong> Bedingung, dass er ausreise. Die<br />
Möglichkeit, sich seiner zu diesem Zeitpunkt in Argentinien auf Tournee<br />
befindlichen Compagnie anzuschließen, nutzt er jedoch nicht.<br />
42
Kurt <strong>Jooss</strong><br />
Kurt <strong>Jooss</strong> bei <strong>der</strong> Probe. <strong>Bé</strong> ist im Hintergrund<br />
zu sehen, sie trägt ein schwarzes Trikot.<br />
Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> ihrerseits können aufgrund des Kriegs nicht nach<br />
Europa zurückkehren; zugleich fehlt ihnen neues Repertoire, um in<br />
Übersee weiter auftreten zu können. Auf abenteuerlichen Wegen kommen<br />
schließlich acht <strong>der</strong> insgesamt 23 <strong>Tänzerin</strong>nen und Tänzer nach<br />
England zurück, wo sie dank <strong>der</strong> Unterstützung des Council for the<br />
Encouragement of Music and the Arts (CEMA, später in Arts Council<br />
umbenannt) ab 1942 gemeinsam <strong>mit</strong> <strong>Jooss</strong> ihre Arbeit in Cambridge<br />
fortführen können, wohin <strong>Jooss</strong> bereits im Januar 1941 unter dem Namen<br />
<strong>Jooss</strong>-Lee<strong>der</strong>-Dance-Studio seinen Tanzunterricht verlegt hatte.<br />
Bis 1947 <strong>bleibt</strong> die Truppe bestehen, dann wird die finanzielle Unterstützung<br />
von staatlicher Seite eingestellt und seine wichtigsten Tänzer,<br />
sechs Jahre ununterbrochen im Einsatz, verlangen nach einer Pause.<br />
Da<strong>mit</strong> ist die Auflösung <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> besiegelt und <strong>Jooss</strong> steht<br />
zum wie<strong>der</strong>holten Male vor einem Neuanfang. Die ehemaligen Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> sind gezwungen, sich bei an<strong>der</strong>en Ensembles<br />
zu bewerben.<br />
<strong>Jooss</strong> folgt einigen seiner Tänzer nach Chile, wo die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> auf<br />
ihrer Tournee einen großen Eindruck hinterlassen haben. Nach einem<br />
erfolgreichen Jahr kehrt <strong>Jooss</strong> schließlich im Alter von 48 Jahren im<br />
Herbst 1949 als britischer Staatsbürger nach Essen zurück. Der Grund<br />
ist das Angebot, die Leitung <strong>der</strong> Tanzabteilung <strong>der</strong> Folkwangschule<br />
erneut zu übernehmen. Unter <strong>der</strong> Bedingung, ähnlich wie 1932 ein<br />
unabhängiges Tanztheater grün<strong>den</strong> zu dürfen, nimmt <strong>Jooss</strong> das Angebot<br />
an. Nach dem Ende <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> 1953 arbeitet er von 1954<br />
bis <strong>1956</strong> als Choreograf und Leiter des Balletts an <strong>der</strong> Oper <strong>der</strong> Stadt<br />
Düsseldorf und konzentriert sich danach auf seine Lehrtätigkeit an<br />
<strong>der</strong> Essener Folkwangschule.<br />
So positiv für ihn die Einladung nach Essen gewesen ist, so belastend<br />
ist aber auch <strong>der</strong> Neubeginn. In <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> politischen und kulturellen<br />
Restauration wird <strong>Jooss</strong>’ gesamtkünstlerische Entwicklung<br />
nach seiner Rückkehr aus dem Exil we<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Tanzwissenschaft<br />
noch von <strong>der</strong> Kritik entsprechend wahrgenommen und gewürdigt.<br />
43
Der Vorwurf künstlerischer Stagnation dürfte erst <strong>mit</strong> dem großen Erfolg<br />
<strong>der</strong> Choreografie zur Feenkönigin von Henry Purcell im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Schwetzinger Festspiele 1959 überwun<strong>den</strong> wor<strong>den</strong> sein. Als Tanzpädagoge<br />
gelingt es ihm, die Essener Tanzabteilung erneut zum Anziehungspunkt<br />
einer internationalen Schülerschaft auszubauen. Mit <strong>der</strong><br />
Einrichtung einer Meisterklasse 1960, schulintern Folkwang-Tanzstudio<br />
genannt und später Folkwang-Ballett, schafft er schließlich eine<br />
bis dahin in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland einzigartige Organisationsstruktur<br />
zur Nachwuchsför<strong>der</strong>ung im Tanzbereich.<br />
Im Oktober 1968 beendet <strong>Jooss</strong> seine Lehrtätigkeit in Essen und<br />
übergibt die Leitung des Folkwang-Tanzstudios an seine einstige<br />
Schülerin Pina Bausch. Er wirkt fortan international als Gast lehrer<br />
und begibt sich auf Vortragsreisen. Nach dem Tod seiner Frau<br />
und langjährigen choreografischen Assistentin, <strong>der</strong> <strong>Tänzerin</strong> Aino<br />
Siimola, im Februar 1971 zieht er sich weitgehend aus dem professionellen<br />
Leben zurück. Auf Anregung seiner Tochter, <strong>der</strong> <strong>Tänzerin</strong> und<br />
Tanzpädagogin Anna Markard, legt <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong> ihr die Form <strong>der</strong> vier<br />
Choreografien Der Grüne Tisch, Großstadt, Pavane auf <strong>den</strong> Tod einer<br />
Infantin und Ein Ball in Alt-Wien fest. Fortan übernimmt Anna Markard<br />
die Einstudierung dieses choreografischen Erbes in aller Welt.<br />
Kurt <strong>Jooss</strong> verunglückt 1979 bei einem Autounfall und stirbt wenig<br />
später. Im Bereich des Tanzes wirken seine künstlerischen und pädagogischen<br />
Impulse bis heute fort.<br />
Die <strong>Tänzerin</strong>nen und Tänzer aus<br />
sieben Nationen, die 1939 auf die große<br />
Amerika-Tournee aufbrechen<br />
Aus Deutschland<br />
Rudolf Pescht<br />
Ernst Uthoff<br />
Rolf Alexan<strong>der</strong><br />
Hans Gansert<br />
Erika Hanka<br />
Otto Struller<br />
Heinz Schwarze<br />
Alida Mennen<br />
Aus Großbritannien<br />
Jack Skinner<br />
David Grey<br />
Bunty Slack<br />
Monica Johnston<br />
Joy Bolton-Carter<br />
Aus Schwe<strong>den</strong><br />
Ulla Sö<strong>der</strong>baum<br />
Yat Malmgren<br />
Eva Leckstroem<br />
Aus <strong>der</strong> Schweiz<br />
Hans Züllig<br />
Angelo Rovida<br />
Maya Kübler<br />
Aus <strong>den</strong><br />
Nie<strong>der</strong>lan<strong>den</strong><br />
Noelle de Mosa<br />
Lucas Hovinga<br />
Aus Lettland<br />
Lydia Kocers<br />
Aus Ungarn<br />
Lola Botka<br />
Hinzu kommen die in Deutschland geborenen Pianisten Friedrich<br />
Alexan<strong>der</strong> Cohen und Fritz Waldmann, Cohens Ehefrau<br />
Elsa Kahl, die im Ensemble tanzt und ihm als Sekretärin zur<br />
Seite steht, <strong>der</strong> ungarische Bühnenmanager Gabor Cossa, <strong>der</strong><br />
britische Elektriker Frank Lafferty und die deutsche Gar<strong>der</strong>obenfrau<br />
Anja Valentine.<br />
44
Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> auf dem Weg nach New York, 1933.<br />
Viele von ihnen sind auch auf <strong>der</strong> Amerika-Tournee<br />
1940 wie<strong>der</strong> dabei.<br />
45
Die Tournee<br />
<strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> im<br />
Zweiten Weltkrieg<br />
47
1940<br />
Nordamerika<br />
Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schickt Dartington Hall<br />
ihr »flagship« 23 <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong> 7000 Kilogramm Bühnenausrüstung<br />
unter <strong>der</strong> Leitung von Friedrich Cohen auf Tournee in die USA. Daraus<br />
ergibt sich eine Odyssee, auf <strong>der</strong> »erstaunliche Leistungen vollbracht«<br />
wer<strong>den</strong>, schreibt Reporter Hans Mak. Die Truppe überquert »als erste<br />
große Theatergesellschaft« die An<strong>den</strong> und reist »als Karawane, die aus<br />
zwei Autobussen und drei Lastwagen bestand« durch eisige Kälte und<br />
»tropische Glut«. 24<br />
Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> haben <strong>mit</strong> vielen Problemen zu kämpfen und<br />
große Hür<strong>den</strong> zu überwin<strong>den</strong>. Und doch können sie zwei Jahre lang<br />
fortbestehen und <strong>der</strong> Welt die Choreografie von Kurt <strong>Jooss</strong> zeigen, bevor<br />
sie sich im Februar 1942 auf Weisung von dem in England zurückgebliebenen<br />
<strong>Jooss</strong> auflösen. Die Unterstützung, die die Truppe auf<br />
<strong>der</strong> Reise erfährt, sowie ihr Antifaschismus angesichts des Krieges in<br />
Europa und ihr Zusammenleben sind einmalig in <strong>der</strong> Geschichte und<br />
haben diese Reise und auch die Compagnie stark geprägt.<br />
Startschuss<br />
Kurz vor Weihnachten 1939 machen sich die 29 Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong><br />
<strong>Jooss</strong> von Southhampton aus auf <strong>den</strong> Weg nach New York. <strong>Jooss</strong><br />
<strong>bleibt</strong> in England zurück, die Leitung <strong>der</strong> Compagnie übernimmt stattdessen<br />
sein Stellvertreter Cohen.<br />
Friedrich Alexan<strong>der</strong> Cohen<br />
Der 1904 in Bonn geborene Friedrich Cohen trifft während seines Engagements<br />
als Spielleiter am Theater in Münster auf Kurt <strong>Jooss</strong>, <strong>mit</strong><br />
dem er in <strong>den</strong> nächsten Jahren eng verbun<strong>den</strong> <strong>bleibt</strong>. Nach seiner<br />
Hochzeit <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Tänzerin</strong> Elsa Kahl erhält Cohen 1928 eine Dozentur<br />
in <strong>der</strong> von <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong>gegründeten Folkwangschule in Essen. Mit dem<br />
Erfolg des Grünen Tischs feiern die bei<strong>den</strong> ihren Durchbruch und wer<strong>den</strong><br />
gemeinsam 1932 bei <strong>den</strong> Archives Internationales de la Danse<br />
in Paris <strong>mit</strong> dem ersten Platz für Choreografie ausgezeichnet. Von<br />
diesem Zeitpunkt an bis zu ihrem Zerwürfnis 1942 fungiert Cohen als<br />
musikalischer Leiter <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong>. Nach <strong>der</strong> Amerika-Tournee<br />
<strong>der</strong> Compagnie <strong>bleibt</strong> er in <strong>den</strong> USA und arbeitet fortan als Lehrer an<br />
<strong>den</strong> berühmtesten Musik-Universitäten des Landes.<br />
Gleich bei ihrer Ankunft in <strong>den</strong> USA hat die Truppe allerdings schon<br />
<strong>mit</strong> Schwierigkeiten zu kämpfen: Die Ungarin Lola Botka, eine <strong>der</strong><br />
Haupttänzerinnen (Die alte Mutter) im Grünen Tisch, wird auf Ellis Island<br />
festgehalten – eine ernsthafte Situation: Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> können<br />
ohne Botka nicht tanzen und sind in Gefahr, auch Botkas Ehemann<br />
Ernst Uthoff zu verlieren, <strong>der</strong> im Fall einer Festsetzung bei seiner Frau<br />
bleiben würde.<br />
Doch noch Anfang Januar 1940 schafft es Rombout van Riemsdyk,<br />
<strong>der</strong> für die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> in <strong>den</strong> USA als Manager tätig ist, Botka freizubekommen.<br />
Dabei wird er vom britischen Konsul unterstützt, auch<br />
weil die Truppe als britisches Unternehmen <strong>mit</strong> einem britischen<br />
48
Der bis oben hin bepackte Laster zeigt <strong>den</strong> Abtransport<br />
<strong>der</strong> Ausrüstung <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> aus Dartington Hall.<br />
49
Sammelpass reist. <strong>Das</strong>s knapp eineinhalb Jahre später <strong>der</strong> Absprung<br />
<strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Tänzer in Caracas dann für die Truppe zu einer wahren<br />
Zerreißprobe wer<strong>den</strong> wird, soll später erzählt wer<strong>den</strong>.<br />
Von New York aus bereist die Compagnie <strong>mit</strong> dem Zug <strong>den</strong> Osten <strong>der</strong><br />
USA. Bis Ende Januar 1940 führt sie ihre Tour von Pennsylvania über<br />
Maine, New Hampshire, Massachusetts, New Jersey, Maryland, Virginia<br />
und Georgia bis nach Florida. Vor allem in Boston läuft es für sie<br />
gut: Cohen berichtet an <strong>Jooss</strong>, dass die Vorstellung im <strong>mit</strong> 1600 Sitzplätzen<br />
ausgestatteten Schubert-Theater ausverkauft ist.<br />
Die schwere Ausrüstung muss die gesamte Zeit <strong>mit</strong>geschleppt wer<strong>den</strong>,<br />
einschließlich des berühmten großen grünen Tisches, <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
gleichnamigen Choreografie <strong>der</strong> Truppe 1932 zu Ruhm verholfen hat.<br />
Hinzu kommen Kostüme, Bühnenvorhänge, Teppiche, Möbel, Kronleuchter,<br />
Bühnenbil<strong>der</strong> (<strong>mit</strong> Landschaftsszenen), Elektronik, Scheinwerfer<br />
und eine Unmenge von Kabeln, die in großen Holzkisten<br />
verstaut sind. Alles zusammen hat einen Wert von 6400 Britischen<br />
Pfund (heute rund 480 000 Euro). 25<br />
Nur die zwei Klaviere, die für die eindrucksvolle Begleitung <strong>der</strong><br />
<strong>Jooss</strong>-Ballette sorgen, sind natürlich nicht im Gepäck. Diese müssen<br />
jeweils von <strong>den</strong> Theatern bereitgestellt wer<strong>den</strong>, <strong>der</strong>en Bühnenarbeiter<br />
an <strong>der</strong> Einrichtung <strong>der</strong> Vorstellungen arbeiten. Die Klaviere wer<strong>den</strong><br />
für die Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> »vor <strong>der</strong> Bühne so aufgestellt,<br />
dass die Pianisten die Bühne gut übersehen können«. Dabei stehen<br />
»die Flügel <strong>mit</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> schmalen En<strong>den</strong> so ineinan<strong>der</strong>, dass die<br />
Pianisten sich gegenübersitzen«. 26<br />
Bühnenmanager Gabor Cossa ist dafür verantwortlich, dass alle<br />
Kisten und Koffer von eigens dafür angeheuertem Personal zwischen<br />
<strong>den</strong> Theaterbühnen und <strong>den</strong> Gepäckräumen <strong>der</strong> Züge heil hin- und<br />
hertransportiert wer<strong>den</strong>. Er ist von Ungarn nach Dartington Hall gekommen,<br />
sein jüdischer Name lautet Gabor Kuleyan Niklen. Er ist<br />
wohl <strong>der</strong> richtige Mann für diese Aufgabe: Laut einer Mitteilung von<br />
Greanin an Manager van Riemsdyk kann er »wie ein Sklave« arbeiten<br />
und hat gleichzeitig keine Angst, klare Anweisungen zu geben. 27<br />
Cossa gilt als jemand, <strong>der</strong> offen sagt, was er <strong>den</strong>kt, selbst wenn er sich<br />
dadurch unbeliebt macht. Später wird sich das auf die Beziehung zu<br />
Cohen auswirken – bis zum Zerwürfnis.<br />
Der bald dazustoßende Impresario Leonid Greanin, ein <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
entflohener Belarusse, <strong>der</strong> nur Französisch spricht, berichtet,<br />
dass die Tanztruppe während <strong>der</strong> Reise fortwährend sowohl im Zug<br />
als auch bei <strong>der</strong> Ankunft an <strong>den</strong> Bahnhöfen unter Beobachtung steht<br />
und alle Blicke auf sich zieht. Dabei versichert er, dass alle »einen gepflegten<br />
Eindruck« machen. 28<br />
<strong>Das</strong>s die Compagnie bereits <strong>mit</strong> Neugier beäugt wird, ist kein Wun<strong>der</strong>,<br />
<strong>den</strong>n sie ist keinesfalls neu in <strong>den</strong> USA. 1933 sind die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
zum ersten Mal in New York, zwischen Oktober und Dezember tanzen<br />
sie 44 Vorstellungen. Die erste richtige USA-Tour <strong>mit</strong> Abstechern nach<br />
Kanada findet dann im Frühjahr 1936, die zweite im Winter statt. Von<br />
Oktober 1937 bis März 1938 reisen die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> ein drittes Mal quer<br />
durch das Land. Züllig, Pescht, Uthoff, Botka, Cohen und Kahl sind<br />
auf allen Tourneen dabei, viele an<strong>der</strong>e Mitglie<strong>der</strong> mindestens ein Mal.<br />
Diese Erfahrung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> amerikanischen Theaterwelt mag wohl<br />
auch <strong>der</strong> Grund dafür sein, dass die Truppe in <strong>den</strong> nächsten zwei Jahren<br />
einen so starken Zusammenhalt beweist. Sie sind von <strong>Jooss</strong>, <strong>der</strong><br />
auf allen bisherigen US-Tourneen dabei gewesen war, persönlich auf<br />
die Teamarbeit auf und hinter <strong>der</strong> Bühne eingeschworen wor<strong>den</strong>. Dafür<br />
bewun<strong>der</strong>t sie sogar die Presse. Bei <strong>den</strong> Mitglie<strong>der</strong>n gibt es keine<br />
Starallüren, man hilft einan<strong>der</strong>, löst Probleme gemeinsam, teilt Aufgaben<br />
gerecht auf und verzichtet auf eine autoritäre Hierarchie. Und<br />
auf diesen Touren lernen sie auch, leere Theater zu verkraften – die<br />
ersten Auftritte in New York 1933 sind finanziell eine Pleite. Dennoch<br />
hält Columbia Concerts, überzeugt von ihrem künstlerischen Können,<br />
weiterhin an <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> fest. Wenn man die Truppe ständig in<br />
Bewegung hielte, so die Überlegungen, anstatt sie an einem einzigen<br />
Theater dauerhaft zu engagieren, wür<strong>den</strong> sich die Auftritte schließlich<br />
finanziell lohnen. Wer im Schlafwaggon übernachten kann, <strong>der</strong> spart<br />
auch die teuren Hotelkosten. Dieses Vorgehen würde eine Weile aufgehen,<br />
sich allerdings auch nicht ewig rechnen.<br />
Bei allen drei Tourneen haben die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> bereits die meisten<br />
<strong>der</strong> neun Stücke aus ihrem Repertoire getanzt. Dazu gehören Die sieben<br />
Hel<strong>den</strong>, Pavane auf <strong>den</strong> Tod einer Infantin, Ein Ball in Alt-Wien, Der<br />
Grüne Tisch, Ballade, Großstadt, A Spring Tale und Chronica. Aber auf<br />
das Stück, an das sich das amerikanische Publikum jetzt bei <strong>der</strong> vierten<br />
Tournee am besten erinnert und das nach wie vor das größte Interesse<br />
hervorruft, Johann Strauss To-night, sind die <strong>Tänzerin</strong>nen und<br />
Tänzer nicht vorbereitet. <strong>Das</strong>s ein solch ausgesprochen »deutsches<br />
Stück« (<strong>den</strong>n <strong>der</strong> Walzer gilt »doch im Ausland noch immer als <strong>der</strong><br />
eigentliche deutsche Beitrag zu <strong>den</strong> Formen des Tanzes« 29 ) in diesem<br />
eher von einer anti-deutschen Stimmung geprägten Land so begeistern<br />
kann, überrascht alle:<br />
»Eine bemerkenswerte Sache ist, dass sich in <strong>den</strong> USA anscheinend<br />
je<strong>der</strong> erheblich für Johann Strauss To-night interessiert – wahrscheinlich<br />
wegen <strong>der</strong> heiteren Musik. Je<strong>den</strong>falls ist <strong>der</strong> Name [des<br />
Stücks] ein sehr guter Werbeträger. [...] Obwohl die Kostüme in<br />
einem schlechten Zustand sind.« 30<br />
50
Was die vierte Tournee außerdem von <strong>den</strong> vorhergegangenen unterscheidet,<br />
ist die ungeschriebene Regel, untereinan<strong>der</strong> nur noch Englisch<br />
zu sprechen, selbst unter <strong>den</strong> deutschen o<strong>der</strong> schwedischen<br />
<strong>Tänzerin</strong>nen und Tänzern. Viele in <strong>der</strong> Truppe sprechen ein flüssiges<br />
und »ausdrucksstarkes« Englisch, wenn auch kein beson<strong>der</strong>s<br />
gutes, Cohen spricht <strong>mit</strong> seiner Frau ausschließlich Englisch: »Unter<br />
uns – selbst zwischen Elsa und mir – ist Englisch nun zur einzigen<br />
Sprache gewor<strong>den</strong>, beruflich und privat.« 31 Zusätzlich legt Rolf Alexan<strong>der</strong><br />
Schulte, geboren 1919 in Hattingen an <strong>der</strong> Ruhr bei Essen, seinen<br />
deutschen Namen ab – es scheint wichtig, dass die Truppe in <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
als britisch wahrgenommen wird, sie baut auf die Unterstützung<br />
<strong>der</strong> britischen Konsulate.<br />
Von Kuba bis Kanada<br />
Nach <strong>den</strong> von Stürmen und Stress geprägten 1000 Kilometern zwischen<br />
Baltimore und Atlanta, auf <strong>den</strong>en einige Mitglie<strong>der</strong> wegen<br />
Krankheit ausfallen, besteigt die Truppe am 1. Februar 1940 ein Schiff<br />
nach Kuba. Dort wird sie von <strong>der</strong> Musikgesellschaft Pro-Arte Musical<br />
im Viertel El Vedado erwartet, drei Meilen von Havannas Zentrum<br />
entfernt. Pro-Arte Musical ist zu dieser Zeit die bedeutendste künstlerische<br />
Organisation Kubas. Sie wird 1918 von <strong>der</strong> Mäzenin María<br />
Teresa García Montes de Giberga und ihren Freun<strong>den</strong> in ihrem Haus<br />
in El Vedado gegründet – <strong>mit</strong> dem Ziel, einen Kreis von Interessenten<br />
zu schaffen, die in einem Abonnementsystem Sitzplätze kaufen<br />
und da<strong>mit</strong> <strong>den</strong> finanziellen Erfolg von Produktionen sichern und <strong>den</strong><br />
auftreten<strong>den</strong> Künstlern die Blamage eines leeren Theaters ersparen.<br />
Auch will sie durch niedrige Preise für Konzerte, Mitgliedschaft und<br />
Unterrichtsklassen (Theater, Ballett und Gitarre) Kunst <strong>den</strong> ärmeren<br />
Schichten zugänglich machen.<br />
Pro-Arte wird ausschließlich von Frauen geleitet, die in <strong>der</strong> Erziehung<br />
in Kuba in <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts allgemein eine<br />
dominierende Rolle innehaben. <strong>Das</strong> erklärt das energische Eingreifen<br />
<strong>der</strong> Pro-Arte Frauen in <strong>den</strong> Tribünen: Nachdem <strong>der</strong> polnische Pianist<br />
Ignacy Pa<strong>der</strong>ewski bei einem Auftritt von einem Papierflugzeug getroffen<br />
wird, stellen sich die Pro-Arte Frauen die Aufgabe, das Publikum zu<br />
erziehen. Während <strong>der</strong> Vorstellungen patrouillieren sie die Ränge und<br />
scheuen sich nicht, Prominente aus Politik und Wirtschaft in die Schranken<br />
zu weisen. Schwatzen und störendes Verhalten wer<strong>den</strong> streng geahndet.<br />
Auch müssen Spätkommer bis zur Pause warten, bevor sie zu<br />
ihren Sitzplätzen gehen dürfen. <strong>Das</strong> beeindruckt Cohen. In Peru wird<br />
auch er versuchen, das Publikum zu Pünktlichkeit zu »erziehen«.<br />
Der Stadtteil El Vedado, wo Pro-Arte ihren Sitz hat, besteht aus Villen.<br />
Die besten Architekten haben dort stolze Bauten im Jugendstil des<br />
frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts errichtet, <strong>mit</strong> zwei Etagen, kleinen Türmchen<br />
und Gärten <strong>mit</strong> Skulpturen aus Marmor ringsherum. Dort liegt auch<br />
das Teatro Auditorium, damals wegen seiner Akustik, Ausstattung<br />
und Lage eines <strong>der</strong> besten Theaterhäuser <strong>der</strong> Stadt. Der dreistöckige<br />
Prunkbau, <strong>der</strong> für seine Fassade <strong>den</strong> ersten Preis des Rotary Club de<br />
La Habana bekommt, wird 1928 auf Wunsch von Pro-Arte gebaut und<br />
zählt insgesamt 2700 Sitzplätze. In diesem Theater erringt die »prima<br />
ballerina assoluta« Alicia Alonso am 29. Dezember 1931 <strong>mit</strong> dem Walzer<br />
in Dornröschen große Bekanntheit. Zuvor hatte sie an <strong>den</strong> Ballett-<br />
Klassen von Pro-Arte teilgenommen.<br />
Nach <strong>der</strong> Kubanischen Revolution (1953–1959) wird es 1961 vom<br />
kommunistischen Staat in Beschlag genommen und zu Ehren des<br />
kubanischen Komponisten in Teatro Amadeo Roldán umbenannt.<br />
Gleichzeitig emigrieren viele Mitglie<strong>der</strong> von Pro-Arte, die Gruppe<br />
muss ihr öffentliches Wirken fortan stark einschränken.<br />
Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> stehen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Leiterin von Pro-Arte, Laura Rayneri<br />
de Alonso, in Kontakt. Doch bevor ein Auftritt im Teatro Auditorium<br />
arrangiert wer<strong>den</strong> kann, müssen einige Probleme gelöst wer<strong>den</strong>.<br />
Die New Yorker Konzertorganisation Columbia Concerts, die die<br />
<strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> engagiert haben, hat sich nicht um die Visa nach Kuba<br />
gekümmert. Deshalb schickt Cohen, als die Truppe noch in Atlanta<br />
gastiert, David Grey <strong>mit</strong> allen Pässen voraus zum kubanischen Konsulat<br />
im 1100 Kilometer entfernten Miami, auch weil dieser fließend<br />
Spanisch spricht. Grey gelingt es, die Visa zu bekommen, und erwartet<br />
die Truppe am Bahnhof, von wo aus sie <strong>mit</strong> dem Bus zum Hafen<br />
fahren. Doch dort ergeben sich weitere Probleme, bevor die <strong>Ballets</strong><br />
<strong>Jooss</strong> überhaupt die Überfahrt von Miami nach Kuba antreten können:<br />
Die Truppe sitzt im Hafen von Miami fest und hält <strong>den</strong> gesamten<br />
Betrieb ihres Schiffes auf. Der amerikanische Zoll ist von ihrem<br />
Erscheinen überrascht, Columbia Concerts hat es versäumt, die Reisen<strong>den</strong><br />
dort anzukündigen. Zudem hat <strong>der</strong> unerfahrene Vertreter von<br />
Columbia Concerts, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Truppe reist, nicht alle Dokumente<br />
bei sich. <strong>Das</strong> macht die Steuerbehör<strong>den</strong> misstrauisch. Cohen bietet<br />
all seine Überredungskunst auf und tritt <strong>mit</strong> Cossa hinter das Pult des<br />
Steuerbeamten, um <strong>mit</strong> diesem die Formulare auszufüllen. Zum großen<br />
Ärger <strong>der</strong> Truppe müssen alle 25 Mitglie<strong>der</strong> 10 % ihrer bis dato<br />
in <strong>den</strong> USA verdienten Gagen zahlen, um nach Kuba übersetzen zu<br />
dürfen – und das, obwohl sie schon direkt am nächsten Tag wie<strong>der</strong> in<br />
die USA zurückkehren wollen. Insgesamt belaufen sich die Kosten auf<br />
400 US-Dollar. Schließlich schaffen es die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> aber auf das<br />
Schiff nach Kuba, das um 23 Uhr in See stechen darf.<br />
53
<strong>Tänzerin</strong>nen <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> am Strand von<br />
Santa Monica, Kalifornien<br />
56
1940–1941<br />
Südamerika<br />
Die Trudi-Schoop-Affäre<br />
Auf ihrer weiteren Reise erwartet die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> <strong>der</strong> aufregende<br />
Glanz des Südamerikas <strong>der</strong> 1940er Jahre, weltberühmte Metropolen,<br />
große Theater und unglaubliche Chancen, aber auch die Auswirkungen<br />
<strong>der</strong> Schoop-Krise, die bereits vor ihrer Abfahrt in New York ihren<br />
Anfang genommen hat. Sie sollte für die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> die vierte große<br />
Hürde ihrer Amerika-Tournee darstellen und <strong>den</strong> gerade begossenen<br />
Zusammenhalt <strong>der</strong> Truppe auf eine harte Probe stellen.<br />
Im April 1940 planen Cohen und van Riemsdyk eine Zusammenarbeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong> dem Schweizer Trudi-Schoop-Ensemble.<br />
Van Riemsdyk meint, dass das Programm von <strong>Jooss</strong> zu ernst sei, dass<br />
zu Kriegszeiten lustige Programme gefragter wären, vor allem in Australien,<br />
wo man die Truppe hinzubringen hofft: »<strong>Das</strong> Programm muss<br />
fröhlich sein. [...] <strong>der</strong> Grüne Tisch o<strong>der</strong> Chronica gehen nicht für Australien,<br />
weil dort Krieg herrscht.« 41 Deshalb wird Schoop angesprochen,<br />
in <strong>der</strong> Hoffnung ein gemeinsames Projekt zu starten, und um an<br />
<strong>den</strong> Erfolg, <strong>den</strong> sie auf ihrer Tournee Anfang 1940 in <strong>den</strong> USA erfahren<br />
hatte, anknüpfen zu können.<br />
Trudi Schoop<br />
Die 1903 in Zürich geborene Trudi Schoop ist <strong>Tänzerin</strong> und Kabarettistin.<br />
Gemeinsam <strong>mit</strong> zwei Geschwistern tourt sie in <strong>den</strong> 1920er<br />
und 1930er Jahren durch viele europäische und amerikanische Großstädte<br />
und besticht dabei vor allem durch ihre Komik und ihr Talent<br />
als Ausdruckstänzerin. Während <strong>der</strong> Kriegsjahre von 1941 bis 1945<br />
löst sich die Tanzgruppe auf, kommt aber nach Kriegsende wie<strong>der</strong><br />
zusammen und bereist erneut die USA. 1948 beendet Schoop ihre<br />
Bühnenkarriere und arbeitet fortan als Tanztherapeutin.<br />
<strong>Jooss</strong> aber ist erzürnt. Nicht nur hatte man <strong>mit</strong> Schoop Kontakt aufgenommen,<br />
ohne ihn zu fragen, schon allein <strong>der</strong> Vorschlag läge unter<br />
seiner Würde. Varieté schreckt ihn ab – und das, obwohl <strong>Jooss</strong> selbst<br />
zugibt, dass eine Zusammenarbeit <strong>mit</strong> Schoop ein Riesenerfolg sein<br />
würde.<br />
In Buenos Aires erhält Cohen <strong>Jooss</strong>’ Antwort zu <strong>den</strong> Plänen <strong>mit</strong><br />
Schoop. Er beschuldigt Cohen eines unverzeihbaren Vergehens und<br />
kündigt kurzerhand ihre 15 Jahre währende Zusammenarbeit auf. Die<br />
Truppe müsse sich zwar nicht auflösen, so <strong>Jooss</strong>, aber Cohen solle sie<br />
unter einem an<strong>der</strong>en Namen weiterleiten.<br />
»Es scheint mir zwecklos, dich darauf hinzuweisen, [...] warum<br />
jede Idee, die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> und Trudi Schoop zu vermischen, mehr<br />
als undurchführbar ist. Wenn dir das nach 15 Jahren Zusammenarbeit<br />
nicht sonnenklar war, wie sollen Worte das jetzt erreichen.<br />
[...] So verzweifelt traurig es auch sein mag, das zu sagen und <strong>der</strong><br />
Wahrheit ins Auge zu sehen, du hast das Tuch zwischen dir und<br />
mir klar und unmissverständlich zerschnitten; zumindest was die<br />
Arbeit betrifft. Ich bin mir bewusst, dass dies das Ende einer langen<br />
und fruchtbaren Zeit ist, einer Zusammenarbeit, in <strong>der</strong> wir uns gegenseitig<br />
gegeben und empfangen haben. [...] Ich fürchte, du wirst<br />
<strong>den</strong> Namen <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> aufgeben müssen, und ich muss als<br />
Direktor zurücktreten. Du wirst die Gruppe vielleicht International<br />
<strong>Ballets</strong> o<strong>der</strong> European <strong>Ballets</strong> nennen o<strong>der</strong> einen besseren Namen<br />
fin<strong>den</strong>.« 42<br />
Cohen ist erschüttert. Er schreibt, er habe die Zusammenarbeit <strong>mit</strong><br />
Schoop planen wollen, um die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> über die Run<strong>den</strong> zu helfen<br />
– und auf <strong>den</strong> renommierten Namen <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> wolle er nicht<br />
verzichten: »Ich habe 16 Jahre für die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> gearbeitet und werde<br />
nicht für einen an<strong>der</strong>en Namen arbeiten.« 43 Am Ende willigt <strong>Jooss</strong><br />
ein, dass die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> unter Cohen fortfahren sollen. Aber das Verhältnis<br />
zwischen Cohen und <strong>Jooss</strong> <strong>bleibt</strong> gestört.<br />
58
Die Schoop-Affäre wirkt sich auch nachhaltig auf Greanin aus. Er ist<br />
empört über <strong>Jooss</strong>’ Reaktion gegenüber seinem langjährigen Freund.<br />
Am 15. Juni schreibt er ihm, dass er kündigen wolle. Zu <strong>Jooss</strong>’ Erleichterung<br />
wird es dazu aber nicht kommen.<br />
Zusätzlich zum Streit um Schoop bemängelt Greanin, dass seine<br />
Taten von <strong>Jooss</strong> nicht genügend Anerkennung fin<strong>den</strong>. Er meint, dass<br />
man es ihm schuldig sei, und befürchtet in <strong>der</strong> Geschichtsschreibung<br />
<strong>der</strong> Tanzgruppe übergangen zu wer<strong>den</strong>:<br />
»Bei aller Beschei<strong>den</strong>heit, ich habe nie erlebt, dass die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
meine Bemühungen ernsthaft und vor allem nach meiner Abreise<br />
gewürdigt hätten. Mein Name wird nie in die Geschichte <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong><br />
<strong>Jooss</strong> eingehen.« 44<br />
Wenn Greanin sich Gedanken macht, wie sein Name Eingang in die<br />
Geschichte <strong>der</strong> Gruppe fin<strong>den</strong> würde, so tun das <strong>mit</strong> Sicherheit auch<br />
<strong>Jooss</strong> und Cohen – eine Erwägung, die man in dem sich zuspitzen<strong>den</strong><br />
Streit über die Zukunft <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> nicht vergessen darf. So<br />
beschei<strong>den</strong> <strong>Jooss</strong> sich in <strong>der</strong> Öffentlichkeit auch zeigt, sicher muss<br />
auch er gehofft haben, als ein großer Erneuerer <strong>der</strong> Tanzkunst in die<br />
Geschichte einzugehen. Dieser Ehrgeiz mag <strong>Jooss</strong>’ heftige Reaktion<br />
gegenüber Cohen, dessen Handeln seinen Ruf zweifellos beeinflusst,<br />
erklären.<br />
Startschwierigkeiten<br />
Vor diesem Hintergrund reisen die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> weiter nach Brasilien,<br />
angeschlagen durch das Zerwürfnis ihrer Leiter. Zwischen dem<br />
17. Juli und 4. August 1940 treten die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> in Rio de Janeiro<br />
und Sao Paulo auf. An <strong>den</strong> Erfolg, <strong>der</strong> ihnen in Argentinien noch gelungen<br />
ist, können sie hier aber nicht anknüpfen: In <strong>den</strong> Theatern stehen<br />
die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> vor leeren Sälen. <strong>Das</strong> Publikum kommt nicht. So<br />
leere Häuser, schreibt Cohen, habe er seit Milan 1934 nicht erlebt.<br />
Dann scheint die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> das Pech zu verfolgen: Es gibt erneut<br />
Ärger <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Finanzierung. Der Vertreter <strong>der</strong> brasilianischen Theater,<br />
Viggiani, versucht, die fälligen Zahlungen an die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong><br />
Hilfe des Bezirksamtes zu umgehen. Auch aus <strong>den</strong> erhofften Verträgen,<br />
die <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> eine Rückkehr in die USA erlauben, wird<br />
nichts. Die Alternative, von Brasilien aus durch <strong>den</strong> Panama-Kanal<br />
nach Australien überzusetzen, wird von <strong>den</strong> australischen Behör<strong>den</strong><br />
blockiert – sie wollen keine Visa an Deutsche ausstellen.<br />
Einen Ausweg aus <strong>der</strong> misslichen Lage erhofft sich Greanin in <strong>der</strong><br />
Organisation weiterer Vorstellungen in Uruguay und Argentinien. Anfang<br />
August schreibt er aus Buenos Aires, dass die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> noch<br />
Blick auf Rio de Janeiro <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Botafogo<br />
Bucht und <strong>der</strong> Copacabana, 1946<br />
59
Kurt <strong>Jooss</strong>’ berühmtestes Ballett:<br />
Der Grüne Tisch. Diese Szene öffnet<br />
und schließt das Stück.<br />
Alfonso Unanue spielt <strong>den</strong> Kriegsprofiteur<br />
im Grünen Tisch.<br />
72
Die <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
in Essen<br />
91
1950<br />
Tanztheater möglich machen<br />
Essen nach dem Krieg: Die Stadt ist zerstört, noch jahrelang liegt überall<br />
<strong>der</strong> Schutt. In <strong>der</strong> ehemaligen Benediktiner-Abtei in Essen-Wer<strong>den</strong>,<br />
einem Vorort von Essen, fin<strong>den</strong> sich die Folkwang-Künste neu zusammen,<br />
hier soll das neue Folkwang-Tanztheater entstehen – <strong>mit</strong> Kurt<br />
<strong>Jooss</strong> an <strong>der</strong> Spitze, <strong>der</strong> 1949 aus dem Exil zurückkehrt und sich <strong>mit</strong><br />
neuer Energie in die Arbeit wirft.<br />
Die Unterkunft in <strong>der</strong> ehemaligen Abtei ist eine Notlösung. Die Tänzer<br />
müssen Unterkünfte in <strong>der</strong> Nachbarschaft suchen, im Gebäude<br />
selbst wer<strong>den</strong> Büros, Klassenräume und ein <strong>mit</strong> 250 Sitzplätzen ausgestattetes<br />
Auditorium für die Fakultäten Musik, Schauspiel und Tanz<br />
eingerichtet. Um die 350 Schüler sind angemeldet, die meisten studieren<br />
Musik. Zusätzlich zu <strong>den</strong> 20 bis 30 Elitetänzern bei Kurt <strong>Jooss</strong> besuchen<br />
weitere 70 Schüler seinen Tanzunterricht. Es fehlt an Vielem,<br />
doch das Team hat <strong>Jooss</strong> bereits zusammengestellt: Dazu gehören<br />
die Lehrkräfte Trude Pohl für Improvisation, Laura Campbell-Maris für<br />
<strong>den</strong> klassischen und Hans Züllig für <strong>den</strong> mo<strong>der</strong>nen Tanz.<br />
<strong>Bé</strong> wird in <strong>den</strong> grauen Fassa<strong>den</strong> des Innenhofs noch die Spuren<br />
des Kriegs, kaputte Scheiben und Brandflecken sehen. Alles wirkt<br />
grau und trübe – und <strong>Jooss</strong> ist gestresst. Der Choreograf, <strong>der</strong> sein »Leben<br />
für die Tanzkunst« geben möchte und zugibt, »kein Kaufmann«<br />
zu sein, 122 hat seine neuen Aufgaben als Leiter <strong>der</strong> Tanzschule unterschätzt.<br />
Er muss sich <strong>mit</strong> Geldsorgen herumschlagen: Er beantragt<br />
eine Summe von über 84 000 Mark (heute rund 252 000 Euro) 123 , um<br />
die Tanzschule aufzubauen, zu neuer Blüte zu führen und letztlich<br />
<strong>mit</strong> <strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong> auch Essen zu einem neuen »kulturellen Mittelpunkt«<br />
zu machen. 124 Doch diese Summe wird von <strong>den</strong> neuen Stadtvätern<br />
abgelehnt. So ist <strong>Jooss</strong> nicht in <strong>der</strong> Lage, <strong>den</strong> zwei Dutzend<br />
Tänzern, die er nach Essen geholt hat, Verträge vorzulegen. Viele<br />
von ihnen, darunter auch <strong>Bé</strong>, haben bereits bestehende Verträge gekündigt,<br />
um <strong>mit</strong> ihm arbeiten zu können: Rolf Alexan<strong>der</strong> und Noelle<br />
de Mosa haben Verpflichtungen in London gelöst, Ulla Sö<strong>der</strong>baum<br />
beim Stadttheater St. Gallen in <strong>der</strong> Schweiz gekündigt, desgleichen<br />
Kurt Paudler bei <strong>der</strong> Hamburger Staatsoper, Franziska Tona bei <strong>der</strong><br />
Münchener Staatsoper, Roger George beim Zürcher Theater, Walter<br />
Kuhn bei <strong>der</strong> Zürcher Oper und Mark Hertzens bei <strong>der</strong> New York Metropolitan<br />
Opera. Patricio Bunster and Alfonso Unanue haben beim<br />
Chilenischen Nationalballett aufgehört.<br />
Am 6. Dezember 1950 bittet <strong>Jooss</strong> in einem eher verzweifelten Brief<br />
an Essens Oberbürgermeister Dr. Hans Toussaint darum, ihn nicht<br />
durch einen »Zurückzieher in diesem äußersten Augenblick zum<br />
Wortbrüchigen an all diesen Menschen zu machen, die im Vertrauen<br />
auf die Stadt Essen und auf meine Reputation als verantwortlicher<br />
Leiter <strong>der</strong> seit 18 Jahren unter meinen Ruf bestehen<strong>den</strong> Organisation<br />
sich uns angeschlossen haben, und, wie ich wie<strong>der</strong>holt bei früheren<br />
Gelegenheiten berichtet habe, entwe<strong>der</strong> schon hier sind o<strong>der</strong> in ein<br />
paar Wochen hier eintreffen wer<strong>den</strong>.« Und er greift zum letzten Mittel:<br />
Sollte man seine Bitte abschlagen, möchte er von seinen Pflichten, einschließlich<br />
seines Lehrvertrages an <strong>der</strong> Folkwangschule, entbun<strong>den</strong><br />
wer<strong>den</strong>. Für <strong>Jooss</strong> hat die Tanzschule nur dann eine Berechtigung,<br />
»wenn gleichzeitig eine repräsentative künstlerische Plattform für die<br />
besten ihrer Schüler besteht«. 125<br />
»<strong>Jooss</strong> nicht im Stich lassen«<br />
<strong>Jooss</strong> hat da<strong>mit</strong> Erfolg. Fünf Tage nach seinem Schreiben ist die Stadt<br />
bereit, die Tänzer ab dem 1. Januar 1951 vertraglich anzustellen. In<br />
einer Abschrift <strong>der</strong> Besprechung zwischen <strong>den</strong> Verantwortlichen <strong>der</strong><br />
Stadt wird jedoch deutlich, dass aus Prestigegrün<strong>den</strong> o<strong>der</strong> sogar aus<br />
Mitleid klein beigegeben wor<strong>den</strong> ist und man sich eigentlich lieber<br />
von <strong>Jooss</strong> und allem, was dazugehörte, trennen würde:<br />
»Oberstadtdirektor Greinert führte aus, dass er in Übereinstimmung<br />
<strong>mit</strong> Oberbürgermeister Dr. Toussaint bereits im Kunstausschuss die<br />
Auffassung vertreten habe, dass er sich gegen das Tanztheater ausspreche,<br />
wenn es jetzt um die grundsätzliche Entscheidung gehen<br />
würde. In <strong>der</strong> augenblicklichen Situation verlange es das Ansehen<br />
92
<strong>der</strong> Stadt, <strong>Jooss</strong> nicht im Stich zu lassen [...]. Die Be<strong>den</strong>ken hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Einnahmeentwicklung wur<strong>den</strong> <strong>den</strong> Besprechungsteilnehmern<br />
<strong>mit</strong>geteilt. Sie hielten es aber nicht für möglich, das<br />
Tanztheater in <strong>der</strong> augenblicklichen Situation fallen zu lassen, da<br />
dadurch das Ansehen <strong>der</strong> Stadt sehr lei<strong>den</strong> und <strong>Jooss</strong> selbst vollkommen<br />
ruiniert würde [...].« 126<br />
Unter <strong>den</strong> Teilnehmern <strong>der</strong> Besprechung sind Oberbürgermeister<br />
Dr. Hans Toussaint, Bürgermeister Werner Lipa sowie die Ratsherren<br />
Bessel, Kohlhoff, Nieswandt und Strunck. Von ihnen ist Lipa vielleicht<br />
<strong>der</strong> schärfste Kritiker von <strong>Jooss</strong>. Schon 1949 stimmt er gegen das in<br />
seinen Augen hohe Gehalt, das <strong>Jooss</strong> bekommt: 1200 Deutsche Mark<br />
monatlich, zuzüglich 300 Mark Aufwandsentschädigung sowie Tantiemen<br />
von zwei Prozent auf die »<strong>der</strong> Stadt zufließen<strong>den</strong> Einnahmen des<br />
Tanztheaters«. 127 Lipa, Mitglied <strong>der</strong> SPD, sieht die Prioritäten eher bei<br />
»Neuansiedlungen, Wohnungsbau und Schulwesen« und ärgert sich<br />
über die Gleichgültigkeit <strong>der</strong> Wohlhaben<strong>den</strong> in <strong>der</strong> Stadt:<br />
»In Essen gibt es über 230 000 Menschen, die aus öffentlichen Mitteln<br />
unterstützt wer<strong>den</strong> müssen. Daneben gibt es aber auch eine<br />
kleine begüterte Schicht, die scheinbar von <strong>der</strong> Existenz dieser ungeheuer<br />
großen Zahl von Notlei<strong>den</strong><strong>den</strong> nichts weiß.« 128<br />
Unter diesen Umstän<strong>den</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit ist für Lipa die Kunst<br />
zweitrangig, soziale Verbesserungen gehen vor. Lipa berichtet, dass<br />
ausländische Reisende entwe<strong>der</strong> enthusiastisch ihre Begeisterung<br />
über die Stadt zeigen o<strong>der</strong> erschrocken vor <strong>den</strong> brandschwarzen Ruinen<br />
des Krieges stehen:<br />
»Die schon in Essen waren, sind beeindruckt von dem Wie<strong>der</strong>aufbau,<br />
wer Essen nach dem Zusammenbruch noch nicht sah, ist vom<br />
Ausmaß <strong>der</strong> vorhan<strong>den</strong>en Zerstörungen erschüttert.« 129<br />
Doch <strong>Jooss</strong> darf anfangen: Sein Vertrag wird von 1949 bis 1955 laufen.<br />
Im Januar 1954 wird Lipa <strong>der</strong> einzige sein, <strong>der</strong> gegen die Weiterführung<br />
von <strong>Jooss</strong>’ »Tätigkeit als Lehrer an <strong>der</strong> Folkwangschule« stimmt. 130<br />
Oberbürgermeister Toussaint gewinnt dagegen im Laufe <strong>der</strong> Zeit eine<br />
positive Meinung von <strong>Jooss</strong> als Lehrer und Künstler – und wird seinem<br />
Tanztheater eine Chance geben.<br />
Die Abtei Essen-Wer<strong>den</strong> ist das Zuhause des Folkwang-<br />
Tanztheaters und <strong>der</strong> Folkwangschule.<br />
93
Die Kraft des Tanzes wirkt auch in Zeiten des Krieges<br />
Der Choreograf: 1932 wird Kurt <strong>Jooss</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />
Choreografie Der Grüne Tisch weltberühmt. Sein<br />
»mo<strong>der</strong>ner Totentanz« erzählt die Geschichte<br />
des Krieges als Maschine des Todes und trifft<br />
im Europa <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit einen Nerv.<br />
Schon früh erkennt <strong>Jooss</strong> die Zeichen <strong>der</strong> Zeit<br />
und emigriert gemeinsam <strong>mit</strong> seiner Tanzcompagnie,<br />
<strong>den</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong>, aus Deutschland.<br />
Während des Zweiten Weltkrieges wird seine<br />
Truppe weiterhin durch die Welt touren.<br />
Die <strong>Tänzerin</strong>: Die Geschichte <strong>der</strong> <strong>Ballets</strong> <strong>Jooss</strong><br />
verbindet sich <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Biografie einer begabten<br />
<strong>Tänzerin</strong>. Die auf Java geborene Beatrijs Vitringa,<br />
genannt »<strong>Bé</strong>«, verfolgt durch alle Wirrnisse <strong>der</strong><br />
Kriegszeit ihren Traum vom <strong>Tanzen</strong> und findet<br />
schließlich 1950 beim deutschen Tanztheater<br />
von Kurt <strong>Jooss</strong> in Essen ihre Bestimmung.<br />
Zwei weltumspannende Geschichten erzählen<br />
von <strong>der</strong> Kraft des Tanzes zwischen <strong>den</strong> 1920er<br />
und 1950er Jahren.<br />
ISBN: 978-3-89487-827-6<br />
www.henschel-verlag.de