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171_StadtBILD_Oktober_2017

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Görlitz, Kaiserliches Postamt am Postplatz (Ansichtskarte um 1910)


Vorwort<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

„Deutschland hat ewigen Bestand, es ist<br />

ein kerngesundes Land; mit seinen Eichen,<br />

seinen Linden wierd` ich es immer wiederfinden...<br />

Das Vaterland wird nie verderben“.<br />

Wer kennt die Verse noch, wer den Dichter?<br />

Wer wollte es heute noch wagen, das<br />

öffentlich zu zitieren? Sofort würden störrische<br />

Nörgler, zänkische Parteiideologen<br />

und karrierebewußte Presseleute mit Totschlagsvokabeln<br />

wie „Nationalismus“ oder<br />

„Rassismus“ ihr bekanntes Hass-Vokabular<br />

einsetzen, um unbefangene Zeitgenossen<br />

einzuschüchtern. Wird der Text noch im<br />

Deutschunterricht vermittelt? Er stammt<br />

aus den „Nachtgedanken“ von Heinrich Heine.<br />

Wer kennt den noch hierzulande? Welcher<br />

Zeitzeuge der Nachkriegsjahre erinnert<br />

sich nicht noch gern an Bertolt Brechts<br />

„Kinderhymne“ (1950), von Ernst Busch<br />

schlicht und anrührend gesungen? „Anmut<br />

sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht<br />

noch Verstand, daß ein gutes Deutschland<br />

blühe wie ein andres gutes Land... Und<br />

weil wir dies Land verbessern, lieben und<br />

beschirmen wir´s, und das liebste mag`s<br />

uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.“<br />

Zum Glück liegt die Schlammschlacht der<br />

Wahlvorbereitung nun hinter uns. Für viele<br />

Ältere, einst erzogen zu Ehrfurcht und<br />

Tatbereitschaft beim Hören der Worte<br />

„Heimat“, „Muttersprache“, „Vaterland“,<br />

drückte Heinrich Heines enthusiastische<br />

Überzeugung von Deutschlands Zukunft etwas<br />

Selbstverständliches aus. Aber heute?<br />

Dennoch ließ des Wahlergebnis in Sachsen<br />

keinen Zweifel daran, daß ein beträchtlicher<br />

Teil der Bevölkerung zum Vaterland<br />

Deutschland steht und Kopfgeburten der<br />

Globalisierer wie einen Einheitsstaat Europa<br />

oder gar eine Weltgemeinschaft ablehnt. Ja<br />

zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und<br />

zu friedlichen Beziehungen der Völker Europas,<br />

frei von den Weltherrschaftsallüren der<br />

„westlichen“ Großmacht. Nur die freie und<br />

freudige Zusammenarbeit der Völker und<br />

Vaterländer bereitet den Boden für die verpflichtende<br />

Überzeugung, daß jede Generation<br />

das Erbe der Väter aufgreifen und zugleich<br />

den Boden für künftige Generationen<br />

bereiten muß. Es ist unvernünftig und nicht<br />

hinnehmbar, wenn immer noch von Politikern<br />

und Meinungsmachern alles Deutsche<br />

für überholt und sogar gefährlich erklärt<br />

wird. Niemand muß aus Furcht vor Unannehmlichkeiten<br />

seine Treue zu Deutschland<br />

für sich behalten. Vielmehr sollten Eltern<br />

und Großeltern, Lehrer und Berufsausbilder,<br />

Medien und Künstler frühzeitig damit beginnen,<br />

durch Vermittlung einer gediegenen<br />

Muttersprache, der Geschichte und Kultur,<br />

der Liebe zur Heimatlandschaft den jungen<br />

Görlitzern einen selbstverständlichen Patriotismus<br />

zu vermitteln. Ohne diesen gibt es<br />

keine gesicherte Zukunft. Auch <strong>StadtBILD</strong><br />

sieht sich in der Pflicht.<br />

Ihr Ernst Kretzschmar<br />

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Einleitung<br />

3


Jugenderinnerung<br />

Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />

Sylvia (rechts) mit Bruder Joachim auf dem Wilhelmsplatz, um 1958<br />

Aus den Lebenserinnerungen meines Vaters<br />

Manfred Junge wurden bereits einige<br />

Beiträge veröffentlicht. Nun will auch ich<br />

versuchen, einige meiner Kindheits- und<br />

Jugenderinnerungen zu Papier zu bringen.<br />

Heute ist ja alles anders, und da ist<br />

es für den Leser vielleicht interessant,<br />

etwas über das Leben in der damaligen<br />

DDR zu erfahren, in der ich (Jahrgang<br />

1953) groß geworden bin.<br />

Ich wuchs auf dem Bauernhof bei meinen<br />

Großeltern in Kunnersdorf auf, den Eltern<br />

meines Vaters. Zur Wirtschaft gehörten<br />

10 Hektar Land, das sich vom Hof über<br />

die Nieskyer Chaussee (F115) bis zur<br />

Waldstraße erstreckte. Zu meiner Kindheit<br />

waren die Großeltern noch Einzelbauern.<br />

Bis zum LPG-Eintritt 1960 bauten sie u.<br />

a. Getreide, Raps und Kartoffeln an, aber<br />

auch Tabak und Mohn. Der Tabak wurde<br />

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4<br />

Geschichte


weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />

nach der Ernte bündelweise aufgefädelt<br />

und an die Dachsparren auf dem Dachboden<br />

zum Trocknen aufgehängt. Die dann<br />

trockenen Tabakblätter wurden in eine<br />

selbstgebaute hölzerne Tabakpresse gelegt,<br />

mit einem Holzdeckel abgedeckt und<br />

anschließend gepresst. Als Kind durfte ich<br />

beim Pressen mitmachen. Hinter unserer<br />

Streuobstwiese lag das Mohnfeld. Das<br />

Rasseln der Mohnkörner, welches beim<br />

Schütteln der reifen Mohnkapseln zu hören<br />

war, liegt mir heute noch in den Ohren.<br />

Ich naschte gern von den frischen<br />

Mohnkörnern direkt aus der Kapsel.<br />

Mein Opa kümmerte sich um die Feldarbeit<br />

und Oma besorgte das Vieh: Kühe,<br />

Schweine und Hühner. So manches Mal<br />

fuhr ich mit Opa hinaus auf das Feld,<br />

auf dem Leiterwagen sitzend, den zwei<br />

Ochsen zogen. Das Getreide mähte Opa<br />

mit der Flügelmaschine, die es in kleinen<br />

Häufchen auf dem Feld ablegte, so dass<br />

es nur noch mit Strohseilen zu Garben<br />

gebunden werden musste. Die Garben<br />

wurden auf dem Feld zu Getreidepuppen<br />

zum Trocknen aufgestellt (bei Weizen 8<br />

Garben für eine Puppe.) Nie vergessen<br />

werde ich, dass ich einmal mit meinen<br />

neuen Lackschuhen über das Stoppelfeld<br />

ging, wobei diese natürlich arg zerkratzt<br />

wurden.<br />

Oma stand früh auf, um die Kühe zu melken.<br />

Die Milchkannen mussten zur Milchrampe<br />

am Fuße unseres Berges geschafft<br />

werden, was bei Eis und Schnee schwierig<br />

war. Das Milchauto transportierte sie<br />

von dort aus zur Görlitzer Molkerei. Wir<br />

verwendeten einen Teil der Milch zum<br />

Selberbuttern. Die fertige Butter wurde<br />

in eine kleine Holzform gedrückt. Beim<br />

Stürzen der Butterform war dann das<br />

Muster auf der Butter (kleine Röschen) zu<br />

sehen.<br />

Oma bereitete auch Quark aus saurer<br />

Milch zu. Sie ließ die Rohmilch sauer werden,<br />

gab die Dickmilch in ein sauberes<br />

Geschirrtuch, drehte es zu einem Säckchen<br />

zusammen und band es an den<br />

Wasserhahn in der Küche. Dort konnte<br />

die Molke abtropfen, und fertig war der<br />

Quark! Aus altgewordenem Quark stellte<br />

sie Kochkäse her, indem sie den Quark<br />

mit Natron, Steinsalz und Kümmel kochte.<br />

Er hatte eine besondere Konsistenz<br />

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Geschichte<br />

5


Jugenderinnerung<br />

Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />

und schmeckte mir ausgezeichnet. Bisher<br />

scheiterten alle meine Versuche, so einen<br />

Käse wie die Oma zu kochen.<br />

Jedes Jahr im Winter war Schweinschlachten<br />

angesagt. Herr Randig machte<br />

die gutgewürzten Blut- und Leberwürstel<br />

mit Semmeln und viel Majoran. Fleisch<br />

wurde eingepökelt und in unserer Räucherkammer<br />

zu Schinken geräuchert.<br />

Fleisch, Weiß- und Blutwurst weckte Oma<br />

auch im Waschkessel in Rillengläsern<br />

ein. Einen Kühlschrank besaßen wir damals<br />

noch nicht, so dass unser Hauskeller<br />

vorerst diese Funktion übernahm. Der<br />

Waschkessel diente auch zum Sirupkochen.<br />

Der Sirup hatte eine dunkle Farbe.<br />

Er schmeckte sehr gut und wurde anstelle<br />

von Weißzucker und als Brotaufstrich<br />

verwendet.<br />

Als Kind durfte ich die Hühnereier aus<br />

den Legenestern im Hühnerstall abnehmen<br />

und die Anzahl der Eier in eine Liste<br />

eintragen. lm Dorf gab es eine Eieraufkaufstelle.<br />

Die Hühner konnten auf unserer<br />

Wiese frei herumlaufen und nach<br />

Herzenslust Futter suchen. Damals hatten<br />

wir noch nicht alles eingefriedet. Das<br />

Einzäunen war ab ca. 1968 Pflicht, um<br />

der TBC (Tuberculose)-Übertragung auf<br />

die Kühe vorzubeugen.<br />

Für tierische und pflanzliche Erzeugnisse<br />

der Einzelbauern gab es ab 1949 ein<br />

Pflichtablieferungssoll, für das sie einen<br />

geringeren Verkaufspreis erzielten. Alles,<br />

was der Bauer darüber hinaus erzeugte,<br />

konnte er als sogenannte „Freie Spitze“<br />

teurer verkaufen. Diese Regelung sollte<br />

der Erhöhung der landwirtschaftlichen<br />

Produktion dienen. Unser Pflichtsoll 1956<br />

betrug für Eier z.B. 1225 Stück und für<br />

Milch 5747 kg.<br />

Vor Eintritt in die LPG (Landwirtschaftliche<br />

Produktionsgenossenschaft) 1960<br />

droschen meine Großeltern das Getreide<br />

noch selbst in unserer Scheune mit<br />

der Dreschmaschine. Eine Strohpresse<br />

presste das Stroh. Mit Nachbars Kindern<br />

bauten wir auf der Tenne aus den Strohgebündeln<br />

kleine Tunnel. Durch diese<br />

Konstruktion krochen wir gerne hindurch<br />

und hatten dabei viel Spaß. Wir Kinder<br />

liebten es, von der Dreschbühne in den<br />

Bansen ins Stroh zu springen. Dabei fielen<br />

wir manchmal unglücklich auf den Rü-<br />

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6<br />

Geschichte


weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />

Zugochsen in Kunnersdorf, um 1950<br />

cken, so dass uns für Sekunden die Luft<br />

wegblieb. Aber es kam glücklichenıveise<br />

nie zu einem Unfall!<br />

Mein Großvater mähte das Gras auf unseren<br />

Feldern mit dem Grasmäher, gezogen<br />

von zwei Zugochsen. Das Futter<br />

wurde dann mit dem Handrechen immer<br />

wieder gewendet und abends mit dem<br />

Schlepprechen, von einem Ochsen gezogen,<br />

zu Schwaden (=lange schmale<br />

Reihen) zusammengerecht und diese anschließend<br />

zu vielen kleinen Heuhaufen<br />

(den Schäbern) geschäbert. Das trockene<br />

Heu wurde mit dem Leiterwagen oder<br />

den LKW meines Vaters (Fuhrunternehmer)<br />

eingefahren und auf den Heuboden<br />

gesteckt.<br />

Das Grünland an unserem Gehöft wurde<br />

seit jeher und noch heute mit der Handsense<br />

gemäht und von Hand mit dem<br />

Rechen gewendet. Bei einer längeren<br />

Schlechtwetterperiode „reutern“ wir das<br />

halbfertige Heu auf. Ein Reuter ist ein hölzernes<br />

Gestell. Es besteht aus zwei gegeneinander<br />

gestellten Holzteilen in einer<br />

sogenannten Heuhütte. Auf dem Reuter<br />

dauert die Trockung zwar länger, das Heu<br />

hat aber eine höhere Qualität. Der Regen<br />

kann vom Heudach ablaufen. Mitunter<br />

wird der Reuter auch mit einer Plane<br />

als zusätzlicher Regenschutz abgedeckt.<br />

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Geschichte<br />

7


Jugenderinnerung<br />

Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />

Oma holt Holz aus der Scheune, um 1968<br />

Kommentar meiner Oma: „Auf dem Reuter<br />

ist das Heu erstmal aus der Arbeit“.<br />

Das Wäschewaschen besorgte Oma mit<br />

dem Waschbrett in einer großen ovalen<br />

Zinkwanne. lm Waschkessel kochte sie<br />

u.a. Handtücher, Tischtücher, Geschirrtücher,<br />

Taschentücher und Bettwäsche mit<br />

Waschpulver. Dieses starke Erhitzen der<br />

Wäsche löste schon viel Schmutz. Oma<br />

sagte immer im Vergleich zur späteren<br />

Waschmaschine: „Kesselwäsche ist Kesselwäsche“!<br />

Anschließend bearbeitete sie<br />

die Kochwäsche mit der Waschbürste auf<br />

dem Waschbrett, wobei auch Kernseife<br />

zum Einsatz kam. Nach dem Waschvorgang<br />

war ein dreimaliges Spülen der<br />

gewaschenen Wäsche mittels Hand mit<br />

jeweils sauberem Wasser angesagt. Nach<br />

den drei Spülgängen sollte das letzte<br />

Spülwasser in der Regel klar, also frei von<br />

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8<br />

Geschichte


weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />

Sylvia vor Getreidepuppen, um 1957<br />

Seifenrückständen sein. Zu meiner Kindheit<br />

war es allgemein üblich, die Kleidung<br />

in der Regel nur einmal wöchentlich nach<br />

dem Baden am Sonnabend zu wechseln.<br />

Ein Bad hatten wir nicht. Zum Baden wurde<br />

die Zinkbadewanne in die Küche neben<br />

den alten geheizten Küchenherd gestellt.<br />

Das Wasser holten wir vom Waschkessel<br />

in Eimern zur Badewanne.<br />

Zu meiner Kindheit gab es in unserem<br />

großen Bauernhaus neben dem gesetzten<br />

Küchenherd noch zwei Kachelöfen<br />

als Wärmequellen. Sämtliche Räume im<br />

Obergeschoss wurden damals nicht beheizt.<br />

Auf dem alten Küchenherd koche<br />

ich heute noch gelegentlich. Der Herd hat<br />

eine gusseiserne Wasserpfanne, was sehr<br />

praktisch war. So hatte man immer gleich<br />

warmes Wasser für den Abwasch.<br />

Sehr gern hackte die Großmutter Holz-<br />

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Geschichte<br />

9


Jugenderinnerung<br />

Sylvia, einst Mädchen vom Dorf –<br />

scheite und Reisig. Letzteres bündelte<br />

sie mit Strohseilen. Das gehackte Holz<br />

stapelte sie, genau wie wir heute noch,<br />

zum Trocknen in den Holzschuppen. Nach<br />

zwei bis drei Jahren Trockenzeit lagerte<br />

sie es in die Scheune um. Von dort holte<br />

sie dann das Feuerholz in einem großen<br />

Holzkorb auf einem kleinen Wagen ins<br />

Wohnhaus. Das Reisig verfeuerte sie im<br />

alten Küchenherd zur Zubereitung des<br />

Mittagessens. Ein Gebündel Reisig reichte<br />

für eine Mahlzeit. Der Küchenherd wurde<br />

das ganze Jahr über beheizt. So war die<br />

Küche immer gut temperiert. Über dem<br />

Küchentisch zum Anbau hin war in der<br />

Raumdecke ein Dunstloch angebracht,<br />

durch welches der Brodem beim Kochen<br />

über ein anschließendes Rohr, das durch<br />

das Dach ragte, nach außen entweichen<br />

konnte.<br />

Der hintere Hausflur, der an den Stall angrenzt,<br />

war auch im Winter temperiert,<br />

solange Vieh eingestallt war. Das Heu lag<br />

auf dem Heuboden über dem Stall und<br />

hatte auch eine wärmeisolierende Wirkung.<br />

Meine Großeltern mussten 1960<br />

zwangsweise in die LPG eintreten. Die<br />

Milchkühe kamen in größere Ställe. Die<br />

nun freien Plätze in unserem Stall wurden<br />

mit Mastbullen belegt. Oma betreute<br />

die Tiere bis zum Eintritt in ihren Ruhestand<br />

1965. Es war für eine Frau eine<br />

sehr schwere körperliche Arbeit. Die mit<br />

Grünfutter beladene Karre musste in den<br />

Stall und die Mistkarre aus dem Stall zum<br />

Misthaufen gefahren werden. Manchmal<br />

versprach ich Oma, ihr bei der Arbeit im<br />

Stall zu helfen und auch zeitig aufzustehen.<br />

Aber daraus wurde nie etwas, da<br />

ich das zeitige Aufstehen nicht gewohnt<br />

war und sie meine Hilfe auch nicht wollte.<br />

Als die Bullen eingestallt waren, musste<br />

es abends und nachts mäuschenstill sein,<br />

ansonsten fühlten sich die Bullen beunruhigt<br />

und rissen sich von ihren Ketten los.<br />

Dabei verfielen sie in ein ohrenbetäubendes<br />

Gebrüll. Die Oma stand nun vor der<br />

schwierigen Aufgabe, die ungestümen<br />

Kerle wieder anzubinden.<br />

Früher hatten die Bauern keinen Urlaub<br />

im Gegensatz zu LPG-Zeiten und heutzutage.<br />

Meine Großeltern waren in ihrem<br />

Leben wohl nur einmal auf der Görlitzer<br />

Landeskrone. Ich erinnere mich, dass wir<br />

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10<br />

Geschichte


weiß Jugenderinnerungen zu erzählen<br />

damals mit dem Auto meines Vaters auf<br />

den Görlitzer Hausberg fuhren. Durch<br />

den steilen Anstieg kochte das Kühlwasser!<br />

In den Genuss des Urlaubs kamen<br />

meine Großeltern erst zu LPG-Zeiten, als<br />

Oma noch Vieh im eigenen Stall versorgen<br />

musste. Eine Vertretung kam, und so<br />

konnten sie im Harz ihren ersten Urlaub<br />

antreten. Sie fuhren bis zum Ferienort mit<br />

dem Zug. Wie schwärmte meine Oma von<br />

diesem Urlaub! lm Jahre 1969 durfte ich<br />

als 16jährige gemeinsam mit den Großeltern<br />

in den Harz reisen. Opa, nun schon<br />

76jährig, war nicht mehr so gut zu Fuß<br />

und blieb daher an manchen Tagen auf<br />

einer Bank im Kurpark von Blankenburg<br />

sitzen. Oma mit ihren 64 Jahren und ich<br />

wanderten im Bodetal über die Schurre<br />

(Zickzackweg) zum Hexentanzplatz, denn<br />

damals gab es noch keine Seilbahn. Oma<br />

erzählte noch nach Jahren immer wieder<br />

dankbar von dem schönen Urlaub im Harz,<br />

dem einzigen Urlaubsziel in ihrem Leben.<br />

Oma war zu meiner Kindheit im Theaterring.<br />

Einmal im Monat fuhr ein Omnibus<br />

zur einer Theateraufführung nach Görlitz.<br />

Morgens lag zu meiner großen Freude auf<br />

Heueinfahrt, um 1955<br />

meinem Nachtschränkchen neben dem<br />

Bett immer eine Nascherei aus der Theaterkantine.<br />

Besonders liebte ich kandierte<br />

Erdnüsse.<br />

Sylvia Vieweg<br />

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Geschichte<br />

11


Johann-Raschke-Haus<br />

„Töchter und Söhne von Niesky –<br />

Niesky feiert in diesem Jahr das 275.<br />

Ortsjubiläum und lädt bereits das ganze<br />

Jahr mit verschiedenen Veranstaltungen,<br />

Festen und Ausstellungen Bewohner und<br />

Gäste zum Mitfeiern ein. Am 8. August<br />

1742, dem Tag der Grundsteinlegung für<br />

die ersten drei Häuser Nieskys, wurde<br />

im ältesten Haus der Stadt die Jubiläumsausstellung<br />

„Töchter und Söhne von<br />

Niesky – Lebenswege aus 275 Jahren“<br />

eröffnet.<br />

Im Laufe der noch recht jungen Ortsgeschichte<br />

brachten die Nieskyer zahlreiche<br />

herausragende Innovationen hervor, die<br />

dem kleinen Ort teilweise sogar weltweiten<br />

Ruhm einbrachten. Die Biografien<br />

dieser Menschen erzählen Orts- und<br />

Zeitgeschichte.<br />

Niesky wurde 1742 durch böhmische<br />

Glaubensflüchtlinge, die sich der Herrnhuter<br />

Brüdergemeine angeschlossen<br />

hatten, gegründet. Das Gebäude des<br />

heutigen Stadtmuseums wurde damals<br />

vom ersten Nieskyer Ortsvorsteher Johann<br />

Raschke (1702-1762) erbaut.<br />

Der Weber stammte selbst aus Böhmen<br />

und war den Repressalien gegenüber<br />

evangelisch gläubigen Menschen selbst<br />

ausgesetzt. Gutsherr Sigmund August<br />

von Gersdorf (1702-1777) gehörte<br />

selbst der Herrnhuter Brüdergemeine an<br />

und stellte den Emigranten sein Land auf<br />

Trebuser Flur zur Verfügung. Die neuen<br />

Siedler standen unter dem Schutz ihres<br />

Gutsherrn, genossen alle Freiheiten in<br />

kirchlichen Dingen und waren von Frondiensten<br />

und Leibeigenschaft frei. Als<br />

späterer Generalbaumeister der Brüdergemeine<br />

verwirklichte Gersdorf mit der<br />

Planung von Niesky seine Vorstellungen<br />

von einer idealtypischen barocken Ortsanlage.<br />

Außerdem lieferte er die Pläne<br />

für viele Gemeinschaftshäuser und prägte<br />

so maßgeblich die künftige Architektur<br />

in Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine<br />

weltweit. Bis weit ins 19. Jahrhundert<br />

hinein war das Leben in Niesky maßgeblich<br />

von den Glaubensrichtlinien und<br />

Traditionen der Brüdergemeine geprägt.<br />

Schon wenige Jahre nach der Gründung<br />

etablierte sich Niesky zu einem bedeutenden<br />

Schulstandort. Viele große Persönlichkeiten<br />

der Zeitgeschichte erhielten<br />

ihre ersten Lebenseindrücke und ihr<br />

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12<br />

Jubiläum


Johann-Raschke-Haus<br />

Lebenswege aus 275 Jahren“<br />

Sportunterricht in der Turnhalle des Pädagogiums<br />

geistiges Rüstzeug in den Nieskyer Schulen,<br />

die wegen ihrer umfassenden und<br />

humanistischen Ausbildung weit bekannt<br />

und beliebt waren.<br />

Der bekannteste Absolvent war der Philosoph<br />

und Theologe Friedrich Daniel<br />

Ernst Schleiermacher (1768-1834),<br />

dessen Namen das Nieskyer Gymnasium<br />

heute trägt. Nicht weniger prominent,<br />

aber in Deutschland nicht so bekannt,<br />

ist Benjamin Henry Latrobe (1764-<br />

1820). Er gilt als der erste professionel-<br />

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Jubiläum<br />

13


Johann-Raschke-Haus<br />

„Töchter und Söhne von Niesky –<br />

Ortspolizist Carl August Fischer mit Marktfrauen<br />

le Architekt in den USA. Bekannt ist er<br />

insbesondere für die Konstruktion des<br />

United States Capitol. In Niesky absolvierte<br />

er zunächst die Knabenanstalt und<br />

im Anschluss das Pädagogium als weiterführende<br />

Schule. Rückblickend lobte<br />

er immer wieder die gute Schulbildung,<br />

die ihm die Grundlagen für strukturiertes<br />

Denken und detaillierte Kenntnisse in<br />

der Zeichenlehre vermittelte. In die Reihe<br />

berühmter Schüler reihen sich über<br />

die Jahrzehnte verschiedene bekannte<br />

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14<br />

Jubiläum


Johann-Raschke-Haus<br />

Lebenswege aus 275 Jahren“<br />

Eingang zur Maschinenfabrik von J. E. Christoph an der Muskauer Straße<br />

Namen, so der Militärstratege Alfred<br />

Graf von Schlieffen (1833-1913), der<br />

Begründer der Homöopathie in Amerika<br />

Prof. Dr. med. Adolph zur Lippe<br />

(1812–1888), der Orientexperte Gustaf<br />

Dalman (1855-1941) oder der Bischof<br />

der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg<br />

Gottfried Forck (1923-1996).<br />

Niesky hat sich als Sportstadt bis in die<br />

Gegenwart einen Namen gemacht. Am<br />

Nieskyer Pädagogium wurde bereits geturnt,<br />

als es andernorts noch verboten<br />

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Jubiläum<br />

15


Johann-Raschke-Haus<br />

„Töchter und Söhne von Niesky –<br />

war. Leib und Seele galten<br />

im Verständnis der Brüdergemeine<br />

als Einheit, ein gesunder<br />

Verstand erforderte auch<br />

einen gesunden Körper. Ausländische<br />

Schüler und Lehrer<br />

sowie die Kinder von Missionaren<br />

brachten neue Spiele<br />

und Sportarten nach Niesky.<br />

Dank der Initiative des jungen<br />

Lehrers Johann Heinrich<br />

Theodor Bourquin (1833-<br />

1914) steht in Niesky heute<br />

eine der ältesten Schulturnhallen<br />

Deutschlands. Er war<br />

auch der Herausgeber der<br />

Erstauflage des „Nieskyer<br />

Turnliederbuchs“.<br />

Auch im diakonischen Bereich<br />

erhielt Niesky wichtige Impulse<br />

durch die Brüdergemeine.<br />

Dr. Ernst Hermann Plitt<br />

(1821-1900) begründete die<br />

Diakonissenanstalt Emmaus,<br />

die seit 150 Jahren das wichtigste<br />

Sozialunternehmen<br />

Nieskys ist.<br />

Schwimmunterricht im Nieskyer Waldbad<br />

bei Bademeister Richard Haupt<br />

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16<br />

Jubiläum


Johann-Raschke-Haus<br />

Lebenswege aus 275 Jahren“<br />

Bereits im 18. Jahrhundert entwickelte<br />

sich Niesky zu einem Handwerker- und<br />

Handelszentrum und wuchs zu einer<br />

Siedlung städtischen Typs heran. In der<br />

Ausstellung wird u.a. die Geschichte des<br />

Seifensieders Friedrich Oswald Geller<br />

(<strong>171</strong>6-1782), des Händlers und Imkers<br />

Johann Karl August Barthel (1846-<br />

1914), des Ortspolizisten Carl August<br />

Fischer (1844-1925), des Bademeisters<br />

Richard Haupt (1887-1967) oder die<br />

des Buchhändlers in dritter Generation<br />

Carl-Heinrich Hoberg (1904-1985)<br />

erzählt.<br />

Ende des 19. Jahrhundert erlebte Niesky<br />

schließlich einen gigantischen wirtschaftlichen<br />

Aufschwung. Aus der Werkstatt<br />

des Kupferschmieds Johann Ehregott<br />

Christoph (1810-1887) entwickelte<br />

sich im Zuge der Industrialisierung ein<br />

expandierender Maschinenbaubetrieb,<br />

der bis heute mit dem WBN Waggonbau<br />

Niesky GmbH und dem Stahl- und Brückenbau<br />

Niesky GmbH fortbesteht. Der<br />

Däne Christian Ferdinand Christoph<br />

(1846-1932) etablierte 1887 mit dem<br />

Holzbau ein weiteres Unternehmen, das<br />

Niesky zum europaweit führenden Zentrum<br />

für industriell vorgefertigte Holzbauten<br />

entwickelte und Kunden auf der<br />

ganzen Welt belieferte. Im Werk waren<br />

bekannte Architekten und Ingenieure,<br />

wie der Holzbaupionier Konrad Wachsmann<br />

(1901-1980) oder der für seine<br />

enormen Spannweiten im Hallenbau bekannte<br />

Otto Alfred Hetzer jun. (1876-<br />

1937) angestellt.<br />

Insgesamt 35 verschiedene Lebensläufe<br />

werden in der Ausstellung vorgestellt.<br />

Darunter sind berühmte Persönlichkeiten,<br />

aber auch „ganz normale“<br />

Leute, die in Niesky gelebt und gearbeitet<br />

haben und so die Ortsgeschichte<br />

mitgestaltet haben. Die Ausstellung im<br />

Johann-Raschke-Haus am Zinzendorfplatz<br />

8 ist noch bis 5. November von<br />

Montag-Freitag von 10-17 Uhr und am<br />

Sonntag von 14-17 Uhr geöffnet.<br />

Eva-Maria Bergmann<br />

Museum Niesky<br />

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Jubiläum 17


Theologischer Sammelband –<br />

Einband vor der Restaurierung<br />

Bei den Veranstaltungen<br />

im Wissenschaftlichen<br />

und Heimatgeschichtlichen<br />

Altbestand der<br />

Christian-Weise-Bibliothek<br />

Zittau ist es seit<br />

Jahren üblich, kein Eintrittsgeld<br />

zu verlangen.<br />

Dafür wird am Ende<br />

regelmäßig um Spenden<br />

gebeten, die dann<br />

zu notwendigen Restaurierungen<br />

wertvoller<br />

Handschriften- und<br />

Buchschätze verwendet<br />

werden. Dankenswerterweise<br />

spenden unsere<br />

Besucher auch immer<br />

fleißig. So waren in den<br />

letzten beiden Jahren<br />

reichlich 2.000 Euro zusammengekommen.<br />

Passend zum 500jährigen<br />

Reformationsjubiläum<br />

in diesem Jahr wurde<br />

diese Spendensumme<br />

jetzt zur Restaurierung<br />

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18<br />

Geschichte


Sammelband<br />

dank Spenden restauriert<br />

Einband nach der Restaurierung<br />

eines Sammelbandes theologischer<br />

Drucke des 16. Jahrhunderts verwendet.<br />

In diesem Band sind vier Schriften<br />

verschiedener Autoren der Reformationszeit<br />

vereint.<br />

Der erste Titel des Sammelbandes konnte<br />

bisher noch nicht identifiziert werden,<br />

da er leider keine Titelseite mehr besitzt.<br />

Es handelt sich um ein Gebetbuch,<br />

welches 1560 bei Valentin Bapsts Erben<br />

in Leipzig gedruckt wurde.<br />

Der zweite Titel beinhaltet die Auslegung<br />

des Spruches von Jesus Christus<br />

„Also hat Gott die Welt geliebt“ (Johannes<br />

3, 16) durch Martin Luther (1483-<br />

1546), gedruckt vom selben Drucker in<br />

Leipzig 1562.<br />

An dritter Stelle befindet sich in dem<br />

Band der Druck „Warzu das heilige<br />

Creutz nütz und gut sey. Item / Von den<br />

Christlichen Waffen“ des süddeutschen<br />

Theologen und Reformators Caspar Huberinus<br />

(1500-1553). Auch dieser Titel<br />

wurde vom selben Drucker 1560 in<br />

Leipzig gedruckt.<br />

„Wie man das Leiden unsers Herren<br />

Christi mit frucht bedencken / der Auf-<br />

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Geschichte<br />

19


Theologischer Sammelband –<br />

Textbeginn vor Restaurierung<br />

ferstehung Christi sich trösten / und das<br />

Erste Gebot recht verstehen sol“ lautet<br />

der Titel des vierten Druckes in diesem<br />

Sammelband. Verfasst wurde dieser von<br />

Hieronymus Weller (1499-1572), genannt<br />

der „Freibergische Prophet“. Die<br />

genaue Ausgabe dieses Titels konnte<br />

noch nicht bestimmt werden, da leider<br />

die letzten Blätter mit dem Impressum<br />

fehlen.<br />

Am Schluss des Buches ist noch ein<br />

knapp acht Seiten umfassendes hand-<br />

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20<br />

Geschichte


Sammelband<br />

dank Spenden restauriert<br />

schriftliches „Allgemeines Türcken<br />

Gebeth“ angebunden. Verfasser und<br />

Schreiber des Gebetes sind nicht bekannt.<br />

Zur Reformationszeit bedrohten<br />

die Türken das Heilige Römische Reich<br />

Deutscher Nation an seiner südöstlichen<br />

Flanke. Im Jahr 1529 standen die<br />

Türken sogar erstmals vor Wien. Die<br />

Türkengefahr war damals also allgegenwärtig.<br />

Die vier verschiedenen theologischen<br />

Bücher in dem Sammelband zeugen<br />

vom Interesse des einstigen, unbekannten<br />

Besitzers des Buches, der dieses<br />

wohl in den 1560er Jahren hat zusammenbinden<br />

lassen.<br />

Rund einhundert Jahre später haben<br />

sich zwei Besitzer auf den Vorsatzblättern<br />

verewigt: 1653 ein Herr Mönch<br />

(Vorname unleserlich), sowie 1656 und<br />

1657 ein Martin Mönch. Ob das Buch damals<br />

schon in Zittau gewesen ist, kann<br />

nicht mit Sicherheit gesagt werden. Mitte<br />

des 17. Jahrhunderts verzeichnet die<br />

Zittauer Häuserchronik mehrere Martin<br />

Mönch, darunter einen Gerichtsdiener<br />

und einen Leineweber.<br />

Seit mindestens 1827 war das Buch<br />

dann im Besitz des bedeutenden Zittauer<br />

und Oberlausitzer Geschichtsforschers<br />

Dr. Christian Adolph Pescheck<br />

(1787-1859), das jedenfalls belegt sein<br />

eigenhändiger Eintrag auf dem Vorsatzblatt.<br />

Nach Peschecks Tod kam das Buch<br />

dann mit seinem schriftlichen Nachlass<br />

in die damalige Stadtbibliothek Zittau.<br />

Seinerzeit war das Buch offensichtlich<br />

schon sehr zerlesen, und der Vorsatz<br />

hatte sich vom Buchdeckel gelöst. Das<br />

Eigentumszeichen der Bibliothek wurde<br />

damals auf die rohe Innenseite des<br />

Holzdeckels geklebt, wie man bis zur<br />

Restaurierung sehen konnte.<br />

Die Restaurierung des Bandes führte in<br />

bewährter Weise die Firma Buchrestaurierung<br />

Leipzig GmbH im ersten Halbjahr<br />

<strong>2017</strong> durch. Dabei stellte man den<br />

Buchblock wieder her. Besonders stark<br />

beschädigte Blätter wurden nachgeleimt<br />

und sogar angefasert. Der historische<br />

helle Ledereinband wurde zerlegt,<br />

gereinigt und wieder neu zusammengesetzt.<br />

Buchblock und Einband wurden<br />

zum Schluss durch die aufgearbeiteten<br />

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Geschichte<br />

21


Theologischer Sammelband –<br />

hinterer Buchdeckel vor der Restaurierung<br />

alten Vorsatzblätter erneut sachgerecht<br />

miteinander verbunden. Die alten Vorsätze<br />

waren unverzichtbar, da sie historische<br />

handschriftliche Eintragungen<br />

enthalten. Die verlorengegangenen<br />

Buchschließen sind durch nachgefertigte<br />

Stücke ergänzt worden. Damit kann<br />

das Buch wieder sicher verschlossen<br />

werden und ist somit vor Staub und<br />

Lichteinfall geschützt.<br />

Nach der erfolgreichen Restaurierung<br />

verleugnet das Buch zwar sein Alter<br />

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22<br />

Geschichte


Sammelband<br />

dank Spenden restauriert<br />

hinterer Buchdeckel nach der Restaurierung<br />

nicht, ist aber nun für die nächsten<br />

Jahrhunderte gerüstet.<br />

Der Dank der Christian-Weise-Bibliothek<br />

Zittau gilt den wohlwollenden Spendern<br />

und den kunstfertigen Restauratoren in<br />

Leipzig.<br />

Uwe Kahl,<br />

Christian-Weise-Bibliothek Zittau,<br />

Wissenschaftlicher und<br />

Heimatgeschichtlicher Altbestand<br />

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Geschichte<br />

23


Franz Rotbart-Der Görlitzer Reformator –<br />

Im April 1520 verstarb der treu katholische<br />

Pfarrer Martin Schmidt. Der Rat wählte<br />

als Nachfolger den Görlitzer Gerbersohn<br />

Franz Rotbart (Franciscus Ruperti), welcher<br />

Pfarrer in Sprottau war. Rotbart hatte<br />

die Görlitzer Lateinschule besucht und<br />

in Leipzig studiert. Mit ihm schien der Rat<br />

einen willfährigen und treu zum alten<br />

Glauben stehenden Mann gewonnen zu<br />

haben. Schon am 29. April führte man<br />

ihn in sein Amt ein. Als zwischen Juli und<br />

Dezember 1521 die Pest in der Stadt wütete<br />

und nahezu der gesamte Rat geflohen<br />

war, begann Rotbart jedoch plötzlich<br />

ganz im Sinne Luthers zu predigen. Er<br />

gewann schnell viele Anhänger. Die Ratsherren<br />

kehrten erst zu Beginn des Jahres<br />

1522 zurück. Sie forderten den Pfarrer<br />

drastisch zur Mäßigung auf. Durch seine<br />

Rede werde das Volk zum Ungehorsam<br />

und zu Aufruhr veranlasst. Er aber rief<br />

darauf von der Kanzel, dass man dem<br />

Rat, was das Wort und das Evangelium<br />

beträfe, nicht gehorchen müsse. Und er<br />

fühlte sich durch den Umstand bestärkt,<br />

dass bereits einige Ratsherren und Braubürger<br />

Anhänger des neuen Glaubens<br />

geworden waren. Besonders der Bürgermeister<br />

Franz Schneider und der Stadtschreiber<br />

Johannes Hass übten nun ungeheuren<br />

Druck auf den Pfarrer aus. So<br />

sah er sich genötigt, Anfang April 1523<br />

Görlitz zu verlassen. Zum Nachfolger Rotbarts<br />

wählte der Rat Nikolaus Zeidler, Prediger<br />

zu St. Elisabeth in Breslau, welcher<br />

als treuer Anhänger des alten Glaubens<br />

galt. Aber auch er begann zum Entsetzen<br />

des altgläubigen Rates lutherisch zu predigen.<br />

Die Masse der Görlitzer Gemeinde<br />

war zu diesem Zeitpunkt schon und trotz<br />

Androhung höchster Strafe durch den Rat<br />

und allsonntäglichem Verlesen bischöflicher<br />

Mahnschreiben für den alten Glauben<br />

verloren. Die Spannungen zwischen<br />

Rat und Gemeinde verstärkten sich nun<br />

immer mehr. Im Rat herrschte einige<br />

Unsicherheit und wohl auch Uneinigkeit<br />

darüber, wie man nun handeln sollte. Besonders<br />

die Handwerker forderten immer<br />

stärker eine Kirchenreform im Sinne Luthers<br />

und den Sturz der Ratsoligarchie.<br />

Einige Ratsmitglieder sahen die Lösung<br />

dieses gefährlichen Dilemmas in der Erfüllung<br />

einer der wichtigsten Forderungen<br />

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24<br />

Geschichte


Franz<br />

Ratsarchiv<br />

Rotbart<br />

Görlitz<br />

Rotbart-Brief<br />

der Zünfte, den vertriebenen Pfarrer Franz<br />

Rotbart wieder in sein Amt einzusetzen.<br />

Am 5. April 1525 kehrte Franz Rotbart<br />

nach Görlitz zurück und wurde wieder in<br />

sein Amt eingesetzt. Franz Rotbart stellte<br />

jedoch eine Reihe von Bedingungen an<br />

den Rat, welche von jenem angenommen<br />

werden mussten: freie Predigt des Evangeliums,<br />

die Taufe in deutscher Sprache<br />

und das Abendmahl unter beiderlei Ge-<br />

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Geschichte<br />

25


Franz Rotbart-Der Görlitzer Reformator –<br />

stalt. Das Osterfest 1525 wurde erstmals<br />

nach der neuen Konfession begangen.<br />

Am 25. April taufte man das Kind des aus<br />

Bamberg stammenden Paul Gürtler als<br />

erstes in deutscher Sprache nach Luthers<br />

Taufbüchlein. Somit kann das Jahr 1525<br />

als Zeitpunkt der Einführung der Reformation<br />

in Görlitz festgehalten werden. Der<br />

Kompromiss des Rates mit den Innungen<br />

sollte sich nur zwei Jahre als tragfähig erweisen.<br />

Im großen Tuchmacheraufstand<br />

entluden sich die politischen Spannungen<br />

in der Stadtgemeinde und endeten für die<br />

Handwerker mit einer tragischen Niederlage.<br />

Trotz aller Bemühungen gelang es<br />

jedoch Hass nicht, Franz Rotbart als Aufrührer<br />

und Mitverschwörer einen Prozess<br />

zu machen. Die Forderung König Ferdinands<br />

I., den Pfarrer abzusetzen, umging<br />

man klug, indem man mit Rotbart vereinbarte,<br />

dass jener seinen Dienst im Falle<br />

einer Verehelichung quittieren würde. Am<br />

29. August des Jahres 1530 trat dieser<br />

Fall tatsächlich ein. In aller Stille ließ sich<br />

Franz Rotbart gegen den Willen des Rates<br />

mit der Tochter des Tuchmachers Simon<br />

Wolfs auf einer Pfarre außerhalb der<br />

Stadt trauen. Trotz der Vertreibung der<br />

Gäste von der Hochzeitsfeier durch zwei<br />

Ratsmitglieder und erfolgter Ladung und<br />

Ermahnung Rotbarts, das Beilager nicht<br />

zu vollziehen, blieb dieser bei seinem Entschluss<br />

und zog die Konsequenz, indem<br />

er mit seiner Frau nach Wittenberg zog.<br />

Auf Bericht des Rates an den Landvogt -<br />

auch dies war ein kluger diplomatischer<br />

Schachzug - war nochmals der königliche<br />

Befehl ergangen, Rotbart zu verhaften.<br />

Der Rat hatte dies dem Pfarrer mitgeteilt.<br />

Sein schneller Auszug, der eher einer<br />

Flucht glich, verhinderte die Empörung<br />

oder gar weiteren Aufruhr der Stadtgemeinde<br />

und war so im Sinne des Rates<br />

wie des Pfarrers. Auch nach dem Wegzuge<br />

Rotbarts änderte sich also nichts mehr<br />

an den konfessionellen Verhältnissen.<br />

Im Jahre 1532 wird er Pfarrer in Bunzlau.<br />

Dort verstarb der 90jährige Görlitzer<br />

Reformator 1570. Nach seinem Wegzug<br />

aus Görlitz ließ der Rat das alte Pfarrhaus<br />

an der Nikolaikirche, welches er bewohnt<br />

hatte, abreißen.<br />

Siegfried Hoche<br />

Ratsarchiv<br />

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26<br />

Geschichte


Polizeiverordnung über Teppichklopfen<br />

Polizeiverordnung regelt in Görlitz<br />

das Teppichklopfen zur Unzeit.<br />

Unter der Rubrik Meldewesen ist im<br />

Görlitzer Adressbuch 1929/1930 die<br />

Polizeiverordnung über Teppichklopfen<br />

enthalten. Während im 1. Paragrafen<br />

peinlichst genau auf die Tages- und<br />

Uhrzeiten sowohl für das Teppichklopfen<br />

als auch auf dessen Verbot verwiesen<br />

wird, enthält der Paragraf 2 Geldstrafen<br />

bis zu 150 RM (Reichsmark) und<br />

zieht sogar Haftstrafen in Betracht. Dass<br />

es sich hierbei um eine Lärmschutzmaßnahme<br />

und nicht etwa um die mit dem<br />

Klopfen verbundene Staubbelastung<br />

handelt, sei hinzuzufügen. Aus heutiger<br />

Sicht mag eine solche Polizeiverordnung<br />

nicht mehr als ein taugliches Instrument<br />

zur Lärmbekämpfung begriffen werden.<br />

Teppichklopfer, Klopfpeitsche, Ochsenziemer<br />

und Klopfstange gehören ohnehin<br />

der Vergangenheit an, da hochwertige<br />

textile Auslegeware den klassischen<br />

Teppich weitgehend verdrängt hat. Als<br />

Züchtigungsinstrumente in der Familie<br />

in Elternhaus, Schule und Vollzug einer<br />

verhängten Strafe fanden sie noch lange<br />

Anwendung.<br />

Die Lärmbelastung in Städten und Ballungsgebieten<br />

ist jedoch nicht nur geblieben,<br />

sondern ins Unermessliche<br />

gestiegen und jeglicher Kontrolle entzogen.<br />

Immerhin bietet „Siemens“ ei-<br />

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Geschichte<br />

27


Polizeiverordnung über Teppichklopfen –<br />

Teppichklopfer im Ehestreit (Karrikatur)<br />

„Wehe Euch“<br />

nen Staubsauger mit einem Schallbelastungs-Pegel<br />

von nur 81 dB (Dezibel)<br />

an.<br />

Zwar existieren in Deutschland zahlreiche<br />

einschlägige Lärmschutzrichtlinien<br />

und Regelungen, jedoch keinerlei Kontrollsystem<br />

und Maßnahmen bezüglich<br />

deren Einhaltung. Laut WHO-Bericht<br />

(2011) soll Lärm neben Umweltverschmutzung<br />

die zweitgrößte Belastung<br />

für die Gesundheit sein. Schätzungen<br />

von Experten gehen davon aus, dass allein<br />

in Deutschland 40 000 Herzinfarkte<br />

pro Jahr auf Verkehrslärm zurückzuführen<br />

sind. Bereits im Jahre 1910 warnte<br />

der bekannte Arzt Robert Koch davor,<br />

dass eines Tages der Mensch den<br />

Lärm ebenso bekämpfen müsse wie<br />

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28<br />

Geschichte


Polizeiverordnung<br />

Heute ersetzt durch Staubsauger<br />

Reinigung des Fußabtreters, 20. Jh.<br />

Cholera und Pest! Gegenwärtig wird in<br />

den Medien immer wieder der Begriff<br />

„Lärmskandal“ verwendet. Von „Dröhnung<br />

auf der Straße“ ist die Rede. Autos<br />

und Motorräder starten wie Düsen-Jets<br />

mit ca. 137 Dezibel. Steuerbar ist der<br />

„Kalte sound“, auch „Frisieren“ genannt,<br />

über den Einbau einer Auspuff-Klappe.<br />

Man sollte dies nicht so ohne weiteres<br />

Läufer abklopfen an der Leine, 20. Jh.<br />

als Macho-Gehabe bzw. spätpubertäres<br />

Geltungsbedürfnis abtun. An kaum zu<br />

überschauenden gesetzlichen Regelungen<br />

und Lärmschutzverordnungen fehlt<br />

es nicht, allerdings enthalten die jetzigen<br />

Vorschriften keinerlei Grenzwerte,<br />

sondern lediglich Richt- und Orientierungswerte,<br />

von denen im Einzelfall zudem<br />

noch abgewichen werden kann.<br />

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Geschichte<br />

29


Polizeiverordnung über Teppichklopfen<br />

Teppichklopfer aus Weiden- oder Rattangeflecht<br />

Schallschutzwände, Erdwälle, geräuscharmer<br />

Straßenbelag und Gehörschutz<br />

können nur bedingt als wirksame Maßnahmen<br />

Einfluss nehmen, dem zunehmenden<br />

Verkehrslärm in unserer schönen<br />

Stadt dagegen wird der Görlitzer<br />

Einwohner offensichtlich weiterhin hilflos<br />

ausgeliefert sein. An die Polizeiverordnung<br />

über das Teppichklopfen in<br />

Klopfstange im Hof<br />

Görlitz aus dem Jahre 1929 erinnert,<br />

kann man gegenwärtig wenigstens darüber<br />

schmunzeln, vielleicht aber auch<br />

darüber nachdenken.<br />

Dr. Bernhard Wolf,<br />

Reichenbach/Schöps<br />

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30<br />

Impressum:<br />

Herausgeber (V.i.S.d.P.):<br />

incaming media GmbH<br />

Geschäftsführer:<br />

Andreas Ch. de Morales Roque<br />

Carl-von-Ossietzky Str. 45<br />

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Fax: (03581) 40 13 41<br />

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www.stadtbild-verlag.de<br />

Geschäftszeiten:<br />

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Andreas Ch. de Morales Roque<br />

(Mitglied im Deutschen<br />

Fachjournalistenverband)<br />

Redaktion:<br />

Dr. Ernst Kretzschmar,<br />

Dipl.-Ing. Eberhard Oertel,<br />

Bertram Oertel<br />

Kathrin Drochmann<br />

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Dipl. - Ing. Eberhard Oertel<br />

Mobil: 0174 - 31 93 525<br />

Teile der Auflage werden auch kostenlos<br />

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Texte & Fotos übernimmt der Herausgeber<br />

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Auffassung des Herausgebers wider. Anzeigen<br />

und redaktionelle Texte können<br />

nur nach schriftlicher Genehmigung des<br />

Herausgebers verwendet werden<br />

Anzeigenschluss für die November-<br />

Ausgabe: 15. <strong>Oktober</strong> <strong>2017</strong><br />

Redaktionsschluss: 20. <strong>Oktober</strong> <strong>2017</strong><br />

Wir arbeiten mit<br />

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