208_StadtBILD_November_2020
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Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
Vorwort<br />
so schnell sich die Welt heutzutage auch drehen<br />
mag: Der <strong>November</strong> ist die rechte Zeit,<br />
um innezuhalten. Allerheiligen, Volkstrauertag,<br />
Totensonntag und auch beim Buß- und Betttag<br />
– die sensiblen Themen Tod, Trauer und<br />
Gedenken rücken schon rein kalendarisch auf<br />
die Tagesordnung.<br />
War der Volkstrauertag in früheren Zeiten oft<br />
nur etwas für die ältere Generation, so rückt<br />
er heute auch zunehmend ins Bewusstsein der<br />
jüngeren Generation, die den Krieg nicht aus<br />
eigenem Erleben kennt. Dauerhaften Frieden<br />
in der Zukunft zu sichern und derer zu gedenken,<br />
die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft<br />
geworden sind, ist zu einer gemeinsamen Aufgabe<br />
von Jung und Alt geworden.<br />
Der Volkstrauertag wurde in Erinnerung an<br />
die Millionen Gefallenen des 1. Weltkrieges,<br />
erstmals 1922 durch den Volksbund Deutsche<br />
Kriegsgräberfürsorge im Reichstag zu Berlin<br />
begangen. In fast jeder deutschen Familie<br />
waren damals gefallene Väter und Söhne zu<br />
beklagen.<br />
Der zweite, wesentlich ältere Gedenktag ist<br />
der Totensonntag oder auch Ewigkeitssonntag<br />
genannt, der immer am letzten Sonntag vor<br />
dem 1. Advent begangen wird und zugleich<br />
der letzte Sonntag des Kirchenjahres ist und<br />
in diesem Jahr auf den 22. <strong>November</strong> fällt. Der<br />
Totensonntag entstand in den evangelischen<br />
Ländern nach den Napoleonischen Kriegen<br />
(1813-1815) zum Gedenken an die in ganz<br />
Europa Gefallenen dieser Kriege. Jetzt wird er<br />
auch von Andersgläubigen und Atheisten gleichermaßen<br />
begangen.<br />
Nach dem 1. Weltkrieg entstanden allerorten<br />
Denkmäler und Gedenktafeln, aber auch<br />
Totenbücher. Ein besonders großes, gut erhaltenes<br />
Weltkriegsdenkmal befindet sich im<br />
Ortszentrum der Gemeinde Förstgen im Landkreis<br />
Görlitz (Titelbild).<br />
In der evangelischen Stadtkirche von Reichenberg<br />
mahnt eine raumhohe Gedenktafel<br />
der Opfer des 1. Weltkrieges. Eine Besonderheit<br />
finden wir in der Görlitzer Frauenkirche,<br />
wo sich ein Totenbuch befindet, welches die<br />
Wirren des 2. Weltkrieges unbeschadet überstand.<br />
Wenn jemand eine Reise macht und zurückkommt,<br />
dann hat er etwas zu erzählen. Das<br />
Mitteilen von Erlebtem kann den, der interressiert<br />
zuhört, abschrecken aber auch ermuntern,<br />
sich ebenfalls auf das Abenteuer, eines<br />
solchen Weges einzulassen.<br />
Der Beitrag „Wallfahrt als Kulturkontakt: Görlitz<br />
und die Via Regia“ von Christian Speer soll<br />
neugierig machen, welche positiven Überraschungen<br />
sich beim Beschreiten eines Pilgerweges<br />
für ein gelingendes Leben ereignen<br />
können.<br />
Wir wünschen Ihnen, dass Sie möglichst gut<br />
durch den Herbst kommen. Genügend Zeit zum<br />
Verschnaufen finden, auch im Alltagsstress.<br />
Bleiben Sie gesund!<br />
Ihr <strong>StadtBILD</strong>-Team.<br />
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Einleitung<br />
3
Wo die Namen stehen<br />
Volkstrauertag<br />
Obwohl der „Volkstrauertag“ weltlichen<br />
Ursprungs ist, erinnern vor allem die<br />
Kirchen an die gefallenen Soldaten.<br />
Von Ines Eifler<br />
Knapp über 100 Jahre liegt der Erste<br />
Weltkrieg zurück, 75 Jahre schon der<br />
Zweite. Dennoch ist besonders der letzte<br />
von den Deutschen ausgegangene<br />
Krieg mitsamt seiner Nachwehen noch<br />
in vielen Köpfen. Aller Opfer beider<br />
Kriege wird am Volkstrauertag, in ganz<br />
Deutschland gedacht. Aber die Namen<br />
derjenigen aus Görlitz und Umgebung,<br />
die damals als junge Männer in den<br />
Krieg zogen und in Polen, Russland,<br />
Frankreich oder anderswo ums Leben<br />
kamen, sind fast nirgends öffentlich so<br />
sichtbar, dass man sich konkret an sie<br />
erinnern könnte.<br />
Aber es gibt Ausnahmen. In zwei Görlitzer<br />
Kirchen wird an die im Zweiten<br />
Weltkrieg Gefallenen namentlich erinnert.<br />
Zum einen in der Lutherkirche.<br />
Unter der rechten Empore liegt dort auf<br />
einem hölzernen Bord ein dickes Buch.<br />
In fast golden schimmerndes Holz gebunden,<br />
mit über 250 Seiten. Ingrid Wilke<br />
ist die Tochter von Georg Wollstadt,<br />
der bis 1945 Pfarrer der Lutherkirche<br />
war. Nach dem Krieg wurde er von den<br />
Besatzungstruppen abgeholt und starb<br />
an unbekanntem Ort. Seine Tochter ist<br />
wohl die Einzige, die sich noch an die<br />
Entstehung des Buches erinnert. „Es<br />
muss 1942 oder ‘43 gewesen sein“, sagt<br />
sie. „Denn ich war noch klein, konnte<br />
aber schon über den Tisch schauen.“ Sie<br />
erlebte mit, wie ein Zeichenlehrer der<br />
Schule in der heutigen Ossietzky-Straße<br />
Entwürfe brachte und ihrem Vater vorschlug,<br />
wie das Buch aussehen könnte.<br />
Sie war fasziniert davon, wie die damalige<br />
Pfarre Gehilfin mit Stahlfeder und<br />
schwarzer Tusche die Namen, Zahlen<br />
und die großen dunklen Kreuze auf die<br />
Seiten malte. Und sie denkt sich heute,<br />
dass ihr Vater die Idee eines Buches für<br />
die Gefallenen aus dem schlesischen Ort<br />
Brieg mitbrachte. Dort hatte es eine Kapelle<br />
gegeben, wo an die Toten aus dem<br />
Ersten Weltkrieg mit Gedenktafeln erinnert<br />
wurde, und ein Büchlein, in dem<br />
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4<br />
Gedenken
Ein Gedenktag im Wandel der Geschichte ...<br />
Volkstrauertag<br />
Dieses Gefallenenbuch in der Frauenkirche Görlitz sollen an die Gefallenen erinnern und aufzeigen,<br />
dass hinter jedem Namen ein individuelles Schicksal, verlorene Hoffnungen und Chancen stehen.<br />
alle Namen verzeichnet waren. Die Kapelle<br />
brannte ab, aber das Buch behielt<br />
Georg Wollstadt. Ingrid Wilke meint<br />
auch, dass spätestens mit der Schlacht<br />
bei Stalingrad klar gewesen sein müsste,<br />
dass dieser Krieg unvorstellbar viele<br />
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Gedenken<br />
5
Wo die Namen stehen<br />
Volkstrauertag<br />
Opfer fordern würde. Und dass ihr Vater<br />
deshalb das Buch für die Gefallenen<br />
aus seiner Gemeinde anlegen ließ. Der<br />
Erste darin, ein Rudi Seidel, fiel bereits<br />
am 3. September 1939 im polnischen<br />
Slotipotok. Das jüngste Blatt fügte erst<br />
in diesem Jahr die Familie des jungen<br />
Leutnants Karl Hanisch ein, der Ende<br />
1944 bei Dellingen fiel.<br />
In der Frauenkirche liegt ein ebensolches<br />
Buch, vermutlich wurde es dem der Lutherkirche<br />
nachempfunden. Es entstand<br />
1947 und viele Seiten sind noch leer, so<br />
als wäre es nicht vollendet worden.<br />
Ingrid Wilke glaubt, dass der Erhalt dieser<br />
Gefallenenbücher dem sowjetischen<br />
Oberst Pawel Iljitsch Nesterow zu verdanken<br />
ist, der gleich nach Kriegsende<br />
die Kommandantur in Görlitz übernahm.<br />
Er habe sich gegen die Plünderung der<br />
Kirchen ausgesprochen, deshalb sei vieles<br />
gerettet worden. An den Stahlhelm,<br />
der früher noch über dem Buch in der<br />
Lutherkirche angebracht war, erinnert<br />
allerdings nur noch ein schwacher Abdruck.<br />
Er muss in der DDR-Zeit entfernt<br />
worden sein.<br />
Fragt man beim Volksbund für Kriegsgräberfürsorge<br />
nach, wie in der DDR<br />
überhaupt an die Gefallenen des Zweiten<br />
Weltkriegs erinnert wurde, so ist<br />
der sächsische Leiter des Bundes, Dirk<br />
Reitz, erstaunt, von solchen Gefallenenbüchern<br />
wie in Görlitz zu hören. Sie<br />
scheinen eine echte Besonderheit zu<br />
sein. Seien aber erklärlich, denn während<br />
des Krieges habe es kaum Zeitungen<br />
gegeben, in denen Todesannoncen<br />
erscheinen konnten.<br />
Zum einen wegen des Papiermangels,<br />
zum anderen, weil die Zahl der Anzeigen<br />
ganze Blätter gefüllt hätte und man<br />
die Masse der Opfer auch nicht zugeben<br />
wollte. Auch dass die Bücher die DDR<br />
überlebt haben, ist etwas Besonderes.<br />
Im Westen wurden ältere Denkmäler<br />
für die Gefallenen der deutsch-französischen<br />
Kriege 1866, 1870 und 1871 einfach<br />
um die Namen der im Ersten und<br />
später der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen<br />
erweitert.<br />
In der DDR aber galten die Männer,<br />
die zwischen 1939 und 1945 im Krieg<br />
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6<br />
Gedenken
Ein Gedenktag im Wandel der Geschichte ...<br />
Volkstrauertag<br />
Ein beeindruckendes Beispiel für die Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs aus Reichenbach<br />
und Umgebung: Die raumhohe Tafel in der Evangelischen Kirche von Reichenbach.<br />
waren, als „Hitlerfaschisten“, und statt<br />
der eigenen Gefallenen wurde an Trauertagen<br />
der russischen Opfer des Krieges<br />
gedacht. So erinnern die Soldatenfriedhöfe<br />
auf dem Görlitzer Friedhof, in<br />
Kunnerwitz, Rauschwalde, Weinhübel,<br />
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Gedenken<br />
7
Wo die Namen stehen<br />
Volkstrauertag<br />
Tauchritz und Ludwigsdorf zwar mit liegenden<br />
Steinen oder schlichten Kreuzen<br />
an die Toten verschiedener Nationen,<br />
die hier fielen, auch Deutsche.<br />
Aber erst 1995 wurde ein großes Kreuz<br />
auf dem Städtischen Friedhof für die von<br />
1939 bis 1945 Gefallenen errichtet, analog<br />
zu dem großen Granittor von 1926,<br />
das den Opfern des Ersten Weltkriegs<br />
gewidmet ist.<br />
Namen von Görlitzern liest man nirgends.<br />
Die stehen auf Friedhöfen in der<br />
Nähe ihrer Todesorte.<br />
Etwas anders ist das bei den Gefallenen<br />
des Ersten Weltkriegs. Deren Namen<br />
finden sich noch heute auf manchen<br />
Denkmälern und ebenfalls vor allem in<br />
Kirchen.<br />
In Görlitz ist die Nikolaikirche dafür prominent.<br />
Mitte der 20er Jahre wurde die<br />
Kirche als Mahnmal für den Ersten Weltkrieg<br />
expressionistisch umgestaltet. Dabei<br />
integrierte man etwa 2 300 Namen<br />
Gefallener in die schmalen grauen und<br />
rosa Farbbänder. Ein Teil davon ist noch<br />
heute da.<br />
Ein beeindruckendes Beispiel ist auch<br />
die raumhohe Tafel in der evangelischen<br />
Kirche von Reichbach, auf der fast 100<br />
Namen von Männern aus Reichenbach<br />
und umliegenden Dörfern stehen. Sie<br />
fielen zwischen 1914 und 1918 in Polen,<br />
Galizien, Frankreich, Belgien, Russland.<br />
Wie diese Tafel entstand und wer sie anbrachte,<br />
das wisse heute keiner mehr,<br />
sagt der Reichenbacher Pfarrer Christoph<br />
Wiesener.<br />
Dass an die Namen der Männer erinnert<br />
werde, sei für ihn in Ordnung. „Das ist<br />
ja kein Heldengedenken, sondern wir<br />
halten die Namen früherer Gemeindeglieder<br />
im Gedächtnis.“ Mit dem großen<br />
Steinblock davor habe er aber ein Problem.<br />
„Wir starben, damit das Volk lebe“,<br />
steht darauf.<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg vor der Kirche<br />
errichtet, hätten ihn später vermutlich<br />
„folgsame Nazis“ innen aufgestellt.<br />
Theologisch sei das schwierig, sagt<br />
Wiesener. „Bei uns stirbt man nicht fürs<br />
Volk, sondern um bei Jesus Christus zu<br />
sein.“<br />
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8<br />
Gedenken
30 Jahre Deutsche Einheit in Görlitz<br />
Jahre<br />
Altstadtbrücke mit Outdoor-Fotoausstellung am 3. Oktober <strong>2020</strong> | Foto: © incaming media GmbH<br />
Am 3. Oktober <strong>2020</strong> jährte sich der Tag<br />
der Deutschen Einheit auch in Görlitz<br />
zum 30sten Mal. Grund genug und auf<br />
Grund der bestehenden Corona-Regeln<br />
über ein „Mit Abstand Event“ nachgedacht<br />
zu haben.<br />
30 Jahre sind natürlich auch 30 Jahre bewegte<br />
Emotionen und stehen für Veränderungen<br />
im geeinten Deutschland und<br />
wo lassen sich diese Emotionen besser<br />
nachvollziehen, als an einem Ort der<br />
einst grau und verfallen war, wo man<br />
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Geschichte<br />
9
30 Jahre Deutsche Einheit in Görlitz<br />
Jahre<br />
Altstadtbrücke mit Outdoor-Fotoausstellung am 3. Oktober <strong>2020</strong> | Foto: © incaming media GmbH<br />
die Kohle förmlich atmen konnte und<br />
der sich in den vergangenen 30 Jahren<br />
zu einem beliebten Tourismusmagneten<br />
entwickelt hat. Für Prof. Kiesow war<br />
(ist) Görlitz die schönste Stadt Deutschlands.<br />
Dies ließ uns zum Anlass nehmen<br />
30 Motive aus 30 Jahren, von 1990 bis<br />
<strong>2020</strong>, als bewegende Emotionen auszuwählen<br />
und diese bei einer Outdoor-<br />
Fotoaustellung an der Altstadtbrücke am<br />
3. Oktober zu präsentieren. Bilder sagen<br />
bekanntlich mehr als Tausend Worte und<br />
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10<br />
Geschichte
30 Jahre Deutsche Einheit in Görlitz<br />
Jahre<br />
Touristengruppe aus Köln mit i-care-Masken | Foto: © incaming media GmbH<br />
so waren wir über die positive Resonanz<br />
sehr erfreut. Gleichzeitig erstellten wir in<br />
diesem Zusammenhang einen exhibiton<br />
guide (Ausstellungskatalog) und Mund-<br />
Nasen-Masken mit dem Leitmotiv, die wir<br />
unter zahlreichen Görlitzern, Besuchern<br />
und Touristen auf der Altstadtbrücke an<br />
diesem Tag verteilten.<br />
Das Gesamtprojekt reichten wir beim<br />
DENKZEITevent des Freistaates Sachsen<br />
ein und wurden für dieses Format mit einem<br />
Preisgeld prämiert.<br />
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12<br />
Geschichte
Rückblick<br />
30 Jahre<br />
In dem DENKZEITevent ging es um neue<br />
Formate von Veranstaltungen zu entwickeln,<br />
die trotz der Corona-Pandemie<br />
umsetzbar sind. So steuerten wir neben<br />
der Outdoor-Fotoausstellung, dem exhibition<br />
guide, den i-care Masken auch<br />
Abstandspunkte bei.<br />
Am Abend des Feiertages wurde im<br />
wahrsten Sinne dann auch endlich mal<br />
wieder richtig gefeiert, mit Abstand und<br />
mit Maske als Eintrittsticket bei „Görlitz<br />
Rockt im Corona-Modus“. Wir hatten<br />
dies als Pilot-und Testprojekt im kleineren<br />
Rahmen gestartet und waren mit der<br />
Resonanz sehr zufrieden.<br />
Für „Görlitz Rockt 2021“ am 17. April<br />
konnten so wichtige Erkenntnisse gesammelt<br />
werden. Die Kombination aus<br />
Indoor-und Outdoor hat dabei sehr gut<br />
funktioniert.<br />
So planen wir für das neue Jahr sehr viel<br />
Outdoor zu machen, also auch die Bands<br />
im Außenbereich spielen zu lassen. Das<br />
hatte sehr gut vor der Destille, im Voigtshof<br />
und auf der Brüderstraße vor der<br />
Schlesischen Oase geklappt. Wir planen<br />
hier aber nun den Einsatz von großen Pavillions,<br />
um die Außenbereiche der Gastronomen<br />
zu erweitern. Die Idee statt der<br />
Eintrittsbändchen Masken zu verwenden<br />
kam beim Publikum sehr gut an. Aber es<br />
gab auch ein paar Wehmutstropfen. Der<br />
Hauptteil der auf 500 begrenzten Tickets<br />
wurde online über unseren Shop und<br />
über eventbrite.de verkauft und eigentlich<br />
war Görlitz Rockt am Vortag auch<br />
ausverkauft.<br />
Leider stornierten dann aber am 3. Oktober<br />
hauptsächlich Berliner ihre Tickets,<br />
weil sie coronabedingt nicht nach Görlitz<br />
kommen durften, so dass am Ende 125<br />
Tickets storniert wurden. Deshalb war es<br />
in den Locations auch so „luftig“ und es<br />
gab wirklich große Abstände...<br />
Alles in allem war es aber ein wirklich tolles<br />
„Görlitz Rockt im Corona-Modus“ und<br />
so viele Dankesbekundungen haben wir<br />
selten bekommen.<br />
Wenn man zurückblickt, unter Berücksichtigung<br />
des bevorstehenden neuen<br />
Lock Down, dann haben wir alles richtig<br />
gemacht und können so die gesammelten<br />
Erfahrungen für den 17. April 2021<br />
einsetzen.<br />
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Geschichte<br />
13
Historischer Rademarkt<br />
30 Jahre<br />
In der Mitte das Haus des Töpfermeisters Cesy auf dem Rademarkte, um 1840.<br />
Bis dahin schmieden wir derzeit an einem<br />
neuen Projekt, für das wir uns bei der<br />
Stadt Görlitz auch bewerben möchten.<br />
Wie Prof. Jecht in seiner Topografie<br />
schrieb: „Radeläuben waren eine große<br />
Anzahl hölzerner Häuser mit Lauben,<br />
derart, daß man von der Bautzener Straße<br />
bis zur Zittauer Landstraße (an der<br />
Frauenkirche) trocken und bedeckt gehen<br />
konnte. Für Radeläuben findet sich<br />
vornehmlich in früheren Zeiten der Ausdruck<br />
„Rademarkt“, der das Gelände vor<br />
den Lauben mit umfaßte.<br />
1846, am 17. <strong>November</strong>, erhielt die Gegend<br />
den Namen Demianiplatz. Radeläuben<br />
schreibt sich daher, weil Rademacher<br />
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14<br />
Geschichte
Ausblick<br />
30 Jahre<br />
(Stellmacher) dort ihre Werkstätten aufgebaut<br />
hatten. Schon seit dem Anfang<br />
des 15. Jahrhunderts stand - ein absonderlicher<br />
Fall - auf dem Rademarkt ein<br />
Melzhaus, das aber „zur Zeit der Ketzerei<br />
eines Teiles abgegangen ist“.<br />
Weiterhin wurde 1476 bei der Frauenkirche<br />
noch ein anderes Brauhaus gebaut.<br />
1420 zählte man auf dem Rademarkt 17<br />
Wirte.<br />
1516 befand sich eine Glöcknerei auf<br />
dem Rademarkt. 1750 dienten die Radeläuben<br />
den Kürschnern zur Jahrmarktszeit<br />
zu Verkaufsstellen.<br />
Die Nordseite neben der Annenkapelle<br />
hieß lange Zeit der Topfmarkt. 1729 wurden<br />
an beiden Seiten des Fahrweges unterhalb<br />
des Topfmarktes Linden gesetzt.<br />
Dann wurde 1774 und 1777 der Topfmarkt<br />
zu einer Promenade geebnet und<br />
mit Alleen und Hecken besetzt und der<br />
Topfmarkt wurde weiter hinunter gegen<br />
die Radeläuben verlegt.<br />
1516 befand sich eine Glöcknerei auf<br />
dem Rademarkt. 1750 dienten die Radeläuben<br />
den Kürschnern zur Jahrmarktszeit<br />
zu Verkaufsstellen.“<br />
Dies ließ uns nun zu dem Gedanken kommen,<br />
den ausgeschriebenen Wochenmarkt<br />
auf der Elisabethstraße zu einem<br />
historischen Rademarkt in zwei Etappen<br />
zu machen. In der ersten Etappe wird<br />
auf ein einheitliches Erscheinungsbild mit<br />
champagnerfarbigen Pavillions geachtet.<br />
In der zweiten Etappe sollen dann<br />
Radelauben nach und nach angeschafft<br />
und dazu passende Sitzmöbel entworfen<br />
werden. Eine mobile Kulturbühne soll Kultur<br />
und Genuss verbinden. Geplant sind<br />
weiterhin einmal im Monat samstags die<br />
Naschallee, ein Trödelmarkt, ein Handwerkermarkt<br />
und ein „Topfmarkt“ nach<br />
historischem Vorbild.<br />
Weiterhin möchten wir auf dem Rademarkt<br />
die Geschichte des Görlitzer Handwerks,<br />
über Fleischerbänke und Bäckerinnung<br />
auf großen Tafeln an den Lauben<br />
anbringen und dies mit interaktiven Medien<br />
verbinden. Der historische Rademarkt<br />
könnte sich so zu einem neuen Tourismuspunkt<br />
entwickeln. Wir sind nun gespannt,<br />
ob sich unser eingereichtes Konzept<br />
durchsetzen kann.<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
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Geschichte 15
Wallfahrt als Kulturkontakt:<br />
Görlitz und die Via Regia<br />
von Christian Speer<br />
Die Görlitzer waren den Umgang mit<br />
Fremden gewohnt. Ihre Stadt lag an einer<br />
der ältesten Ost-West-Verbindungen<br />
Europas – der via regia. Die reichsten<br />
und mächtigsten Ratsherren waren meist<br />
selbst durch (Fern-) Handel zu Wohlstand<br />
und einige dadurch auch zu politischer<br />
Macht gelangt. Soziale Mobilität in geographischer<br />
Hinsicht, aber auch soziale<br />
Mobilität innerhalb der Stadt und sozialer<br />
Aufstieg vom Neubürger zum Ratsherren<br />
und Bürgermeister gehörten mindestens<br />
zum Lebens- und Erfahrungshorizont der<br />
Görlitzer Mittelschicht und Eliten, vielleicht<br />
auch zur Alltagswahrnehmung der<br />
unteren Vermögensschichten (gemeint<br />
ist hier nicht eine Klassengesellschaft im<br />
marxistischen Sinn, sondern die Kategorie<br />
der Steuerzahler nach dem „Eidgeschoss“).<br />
Wie noch zu zeigen sein wird,<br />
war Mobilität kein Privileg bestimmter<br />
Gruppen, denn Arme wie Reiche und<br />
Männer wie Frauen pilgerten nach Rom,<br />
Santiago de Compostela, Jerusalem, Aachen<br />
oder Wilsnack. Der sich dabei ergebende<br />
Kontakt mit fremden Ländern und<br />
Sitten – also Kulturen – war das Ergebnis<br />
oder der Nebeneffekt einer Wallfahrt,<br />
aber nicht das Motiv der Reise. Auch<br />
wenn in der Literatur im Zusammenhang<br />
mit Wallfahrten bisweilen von Abenteuer,<br />
Tourismus oder Neugier auf fremde Länder<br />
zu lesen ist, wird dies, wenn überhaupt,<br />
eine Ausnahme gewesen sein.<br />
Denn gerade „Neugier“ war auch im ausgehenden<br />
Mittelalter noch eine „gefährliche“<br />
Sache, die eher zu den Lastern oder<br />
Sünden als zu den Tugenden gezählt wurde.<br />
Religiöse Motive, seien es persönliche<br />
oder durch gruppendynamische Prozesse<br />
hervorgerufene, dürften die wesentlichen<br />
Beweggründe gewesen sein, eine<br />
Wallfahrt auf sich zu nehmen. Bevor wir<br />
uns dem im Einzelnen zuwenden, wollen<br />
wir noch ein wenig den „Horizont“ der<br />
Görlitzer des 15./16. Jahrhunderts abtasten.<br />
Wie schon gesagt, war Görlitz eine<br />
vom europäischen Fernhandel geprägte<br />
Stadt, in der die zentralen Umschlagsund<br />
Lagerplätze zugleich Brauhöfe und<br />
Gastwirtschaften waren, wo ein reger Informationsaustausch<br />
stattfand. Die Söh-<br />
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16<br />
Geschichte
Görlitz und die Via Regia<br />
und die Via Regia<br />
ne der ansässigen Händler wurden, um<br />
später einen eigenen Handel zu begründen<br />
oder den des Vaters zu übernehmen,<br />
auf Universitäten (hier meist Leipzig) geschickt.<br />
Der Bürgermeister Georg Emerich<br />
(1422–1507) sandte seinen Sohn<br />
Caspar 1501 sogar nach Bologna zum<br />
Jurastudium. Hans Frenzel (1463–1526),<br />
der später zum wohlhabendsten Görlitzer<br />
aufsteigen sollte und den Beinamen „der<br />
Reiche“ erhielt, war 1474 im Alter von elf<br />
Jahren nach Posen geschickt worden, um<br />
beim dortigen Schöffenschreiber Georg<br />
Koler das Rüstzeug für den Fernhandel<br />
und als Voraussetzung für die östlichen<br />
Märkte Polnisch zu lernen. In seiner Autobiografie<br />
schreibt er, dass er die Märkte<br />
in Russland, Lublin, Jeroslauf (wahrscheinlich<br />
Jarosław), Primsel (Przemyśl),<br />
Reisische Lemberge (Lemberg), Thorn,<br />
Danczke (Danzig) und Breslau besuchte,<br />
also vor allem auf Märkten am östlichen<br />
Ende der Via Regia unterwegs war.<br />
Auch die Görlitzer Ratselite hatte zum<br />
Teil einen überregionalen Horizont. Neben<br />
den Görlitzer Ratsherren, von denen<br />
einige aufgestiegene Neubürger waren,<br />
war auch der (Ober-)Stadtschreiber – der<br />
maßgebliche „Außenpolitiker“ der Stadt –<br />
in der Regel ein „Zugereister“, der zum<br />
Beispiel in Leipzig studiert hatte.<br />
Wer als Görlitzer also noch nicht selbst<br />
die Welt bereist hatte, hatte gute Chancen,<br />
in Görlitz jemanden zu finden, der<br />
ein Bild von den umliegenden aber auch<br />
ferneren Territorien vermitteln konnte,<br />
sei es durch Erzählungen oder gar<br />
durch Karten. Der Lesefähige hätte sich<br />
zudem theoretisch auch mit Hilfe eines<br />
gedruckten „Pilgerführers“ informieren<br />
können. Ich betone „theoretisch“, weil<br />
man bisher noch gar nicht sagen kann,<br />
inwieweit jene Schriften tatsächlich von<br />
potentiellen Pilgern rezipiert wurden.<br />
Als ein Beispiel sei der Pilgerführer des<br />
Hermann Künig von Vach erwähnt, der<br />
u.a. in Leipzig (1521) gedruckt wurde.<br />
An manchen Tagen hätte man in Görlitz<br />
auch durchreisende Pilger selbst befragen<br />
können. In den Görlitzer Ratsrechnungen<br />
finden sich Ausgaben für fremde<br />
Wallfahrer nach Wilsnack, aus Jerusalem,<br />
aus und nach Rom, aus Aachen oder für<br />
einen „armen Ritter vom Heiligen Gra-<br />
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Geschichte<br />
17
Wallfahrt als Kulturkontakt:<br />
Görlitz und die Via Regia<br />
be“, der vielleicht in das Baltikum unterwegs<br />
war, auch zwei Reisende aus Griechenland<br />
machten Halt in Görlitz. Diesen<br />
Hintergrund der Weltoffenheit und des<br />
Kulturkontakts sollte man mit bedenken,<br />
wenn man sich mit den Görlitzer Pilgern<br />
beschäftigt, deren Heimat Oberlausitz als<br />
Nebenland der Krone Böhmen in der Geschichtswissenschaft<br />
gern vernachlässigt<br />
wird, da es aus der Sicht des Reiches am<br />
Rand lag und diese geographische Perspektive<br />
gern auch auf die historische<br />
Bedeutung appliziert wird. Doch wenden<br />
wir uns nun den Görlitzer Wallfahrern im<br />
Einzelnen zu.<br />
Die Ergebnisse der Untersuchung der<br />
Görlitzer Fernwallfahrten zeigen in ihrer<br />
Quantität nicht den gleichen Trend einer<br />
Zunahme oder Intensivierung, wie<br />
er im Bereich der frommen Praktiken bei<br />
Schenkungen und Stiftungen am Ende<br />
des 15. Jahrhunderts zu beobachten<br />
ist. Im gesamten Untersuchungszeitraum<br />
(1358–1521, die Jahre der ersten<br />
und letzten nachweisbaren Wallfahrt)<br />
ist, bis auf eine Ausnahme, eine weite<br />
Streuung festzustellen, die es nicht erlaubt,<br />
Aussagen über Trends oder die<br />
Zusammenhänge mit äußeren Faktoren<br />
zu machen. Ein Sonderfall ist das Heilige<br />
Jahr 1450, dessen Einfluss auf die Bereitschaft<br />
der Görlitzer, auf Wallfahrt zu<br />
gehen – vor allem nach Rom – deutlich<br />
zu erkennen ist (Abb. 1). In jenem Jahr<br />
pilgerten so viele Menschen wie nie zuvor<br />
und niemals danach in Richtung der<br />
Ewigen Stadt – insgesamt 21, darunter<br />
vier Frauen und ein Ehepaar. Danach<br />
sanken die Pilgerzahlen wieder, blieben<br />
aber über dem Durchschnitt der vorangegangenen<br />
einhundert Jahre. Eine Ursache<br />
für den Rückgang von Fernpilgerreisen<br />
könnte die Errichtung der Görlitzer<br />
Heilig-Grab-Anlage gewesen sein, die es<br />
den Bewohnern der Stadt und des Umlandes<br />
ermöglichte, gleichsam vor ihrer<br />
Haustür auf Pilgerfahrt zum Grab Jesu<br />
zu gehen. Denn man konnte nun, beginnend<br />
bei der Stadtpfarrkirche St. Peter<br />
und Paul, wie auf der Jerusalemer via<br />
dolorosa die Leidensstationen Jesu bis<br />
zu dessen Grab abschreiten. Und wenn<br />
in der dem Grabtempel benachbarten<br />
Heilig-Kreuz-Kapelle spezielle Ablässe für<br />
anzeige<br />
18<br />
Geschichte
Görlitz und die Via Regia<br />
und die Via Regia<br />
Abb. 1: Michel Marenberg regelt den Nachlass vor seiner Romfahrt 1450 (Bildmitte, später gestrichen),<br />
Ratsarchiv Görlitz, Liber actorum 1445–1452, fol. 131v. Foto: Christian Speer<br />
Geschichte<br />
19
Wallfahrt als Kulturkontakt:<br />
Görlitz und die Via Regia<br />
Abb. 2: Bernhard von Breydenbach: Die heyligenreyßen gen Jherusalem …, Mainz 1486,<br />
fol. 115r, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Signatur: 2 Itin.XVIII,3.<br />
Foto: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena<br />
den Besuch derselben angeboten wurden,<br />
steigerte dies die Attraktivität dieses<br />
Wallfahrtsortes.<br />
Die letzte in einem Testament belegte<br />
Pilgerfahrt eines Görlitzers unternahm<br />
1519 der Ratsherr Hieronymus Eppeler<br />
(†1559) nach Santiago de Compostela.<br />
Weitere Wallfahrtsziele für Oberlausitzer<br />
waren Sagan (Żagań) (3), Haindorf<br />
in Böhmen (Hejnice) (3), Meißen (1),<br />
Wilsnack (13), Aachen (21), Rom (68),<br />
Santiago de Compostela (3 oder 5) und<br />
Jerusalem (3 oder 5). Ein Pilger reiste<br />
zweimal in die Ewige Stadt, eine Dame<br />
verabschiedete sich für zwei Jahre nach<br />
Rom, ein Totschläger musste nach Rom<br />
und Aachen, einer ging zweimal nach<br />
Wilsnack und wieder ein anderer zweimal<br />
nach Sagan. Die Reformation beendete<br />
dann gänzlich den Brauch, auf Wallfahrt<br />
zu gehen.<br />
Schaut man sich nun die einzelnen Pil-<br />
20<br />
Geschichte
Görlitz und die Via Regia<br />
und die Via Regia<br />
Abb. 3: Heilig-Grab-Anlage mit dem Kreuzweg von der Peterskirche zum Heiligen Grab;<br />
Unbekannter Kupferstecher: Abbildung der Ausführung Christi zu seinem schmertzl. Leyden,<br />
nebst Vorstellung des so genannten heiligen Grabes und der Creutz-Kirche in Görlitz,<br />
1719, Kupferstich, Kulturhistorisches Museum Görlitz, Inv. Nr. 6-49.<br />
ger an, ist festzustellen, dass der größte<br />
Teil der Personen nicht zu der sehr vermögenden<br />
städtischen Oberschicht zu<br />
zählen ist. Aus dem Kreis der Ratsherren<br />
sind nur Urban Emerich (1400–1470),<br />
Johann Bereit (†1472) und Georg Emerich<br />
(1422–1507) zu identifizieren. Ein<br />
paar weitere Personen lassen sich aus<br />
anderen Quellen noch im weitesten Sinne<br />
einer Mittelschicht zuordnen, während<br />
sich der größte Teil momentan noch<br />
einer genauen Verortung in der Görlitzer<br />
Gesellschaft entzieht. Die zahlreichen<br />
Belege in den Görlitzer Ratsrechnungen<br />
zeigen darüber hinaus, dass der Rat<br />
ärmeren Bürgern und Fremden finanzielle<br />
Unterstützung für eine Pilgerfahrt<br />
gewährte und so seinem eigenen Anspruch,<br />
Frömmigkeit zu fördern und zu<br />
unterstützen, gerecht wurde. Auffällig ist<br />
bezüglich der Wilsnackfahrten, dass der<br />
Görlitzer Herzog Johann (1370–1396)<br />
mindestens einmal dorthin reiste (1391)<br />
und dass Boten des Hofes König Wenzels<br />
IV. (*1361, Reg. 1363, Imp. 1376–1400,<br />
†1419) zweimal durch Görlitz nach Wils-<br />
Geschichte<br />
21
Wallfahrt als Kulturkontakt:<br />
Görlitz und die Via Regia<br />
Daniel Petzold: Das Heilige Grab zu Görlitz, um 1713, Feder und Pinsel in Wasserfarben über Graphit,<br />
Kulturhistorisches Museum Görlitz, Inv. Nr. GB II 68, 1125. Foto: Kulturhistorisches Museum Görlitz<br />
nack zogen (1401, 1408) – was die Stadt<br />
jedes Mal die entsprechenden standesgemäßen<br />
Ausgaben kostete – dafür aber<br />
den Kontakt zur höfischen Kultur ermöglichte.<br />
Die Motivationen auf Pilgerfahrt zu gehen,<br />
lassen sich nur in wenigen Fällen<br />
wörtlich aus den Quellen entnehmen.<br />
Die Aachenfahrten (14) und einige Romfahrten<br />
(4) sind zum größten Teil auferlegte<br />
Buß- oder Strafwallfahrten nach einem<br />
begangenen Totschlag, um für das<br />
Seelenheil des Opfers wie des Täters zu<br />
beten. Nach Wilsnack (13) pilgerte man<br />
vor allem, um für Heilung von Krankheit<br />
zu bitten, für Genesung zu danken oder<br />
um in Zeiten von Epidemien um Gnade<br />
zu flehen. Allerdings musste auch eine<br />
Gruppe von drei Totschlägern zur Buße<br />
nach Wilsnack pilgern.<br />
Nach Inhalt der Testamente gingen Männer<br />
(100) wie Frauen (24) ohne Ehepartner<br />
auf Pilgerfahrt, allein die Eheleute<br />
Paul und Zara Pfankuche pilgerten gemeinsam<br />
nach Rom. Unter den Wallfahrerinnen<br />
sind auch namentlich eine<br />
Witwe, eine mayt und eine junckfrau<br />
nachweisbar. Unterwegs verstarben fünf<br />
Männer und vier Frauen.<br />
Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts<br />
erscheinen in den Quellen Vertreter der<br />
Görlitzer Oberschicht wieder häufiger<br />
im Zusammenhang mit Wallfahrten. Sie<br />
machten sich aber nicht mehr selbst auf<br />
den entbehrungsreichen Weg, sondern<br />
sie setzten Legate für andere aus, die<br />
22<br />
Geschichte
Görlitz und die Via Regia<br />
und die Via Regia<br />
auf Wallfahrt gehen und für ihre und die<br />
Seelen ihrer Angehörigen beten sollten.<br />
Diese Fahrten waren dann in doppelter<br />
Hinsicht fromme Werke, da sie sowohl<br />
dem Seelenheil der Stifter als auch dem<br />
der Pilger zugutekamen. Zu diesen Wallfahrtsstiftern<br />
gehörten in Görlitz der Ratsherr<br />
Peter Walde, der ein Legat für den<br />
Fall aussetzte, dass er vor seinem Tod<br />
nicht mehr selbst pilgern könne; Jakob<br />
Weinreich, der Anwalt Georg Emerichs;<br />
Caspar Tilicke (†1499), der Schwiegervater<br />
Hans Frenzels des Reichen, der<br />
den Altaristen Andreas Mondenschein,<br />
Sohn des späteren Bürgermeisters Nicolaus<br />
Mondenschein (†1494), für eine<br />
Wallfahrt nach Rom ausstatten wollte;<br />
der Tuchmacher Nikolaus Adam; der<br />
Vorwerksbesitzer Martin Mauermann,<br />
der je eine Wallfahrt nach Wilsnack und<br />
Haindorf aussetzte und schließlich die<br />
Terziarin junckfrau Anna Bottener, Enkelin<br />
des Bürgermeisters Hans Bottener, die<br />
wie Martin Mauermann die Wallfahrt im<br />
Pestjahr 1508 auslobte. Hier ist also ein<br />
entgegengesetzter Trend zu den anfangs<br />
gemachten Bemerkungen zu sehen, die<br />
darauf verwiesen, dass es ja gerade der<br />
persönliche körperliche Einsatz und die<br />
unmittelbare Nähe des Heiligen am Wallfahrtsziel<br />
waren, die die Pilger motivierten.<br />
Diesem Trend der Stellvertretung<br />
auf einer Wallfahrt lag die Auffassung zu<br />
Grunde, dass Buße auch kollektiv oder<br />
stellvertretend geleistet werden könne,<br />
denn „Buße bezeichnete zunächst nicht<br />
eine Gesinnung, sondern die Technik<br />
der Beseitigung von Störung und Unheil;<br />
und: es kam nicht darauf an, wer die<br />
Buße zahlte; Hauptsache war, sie wurde<br />
gezahlt“.<br />
Nicht nur der Pilger konnte sich vertreten<br />
lassen, sondern auch der Wallfahrtsort<br />
konnte ersetzt werden. So war es<br />
durch spezielle Ablässe möglich, Gebete<br />
und Messen 1475 im Görlitzer Franziskanerkloster<br />
zu absolvieren oder 1451/52<br />
nach Meißen zu pilgern und dafür die<br />
gleichen Gnaden zu empfangen, als<br />
wäre man nach Rom gezogen. So schien<br />
also im Fall der Wallfahrten am Ende des<br />
15. Jahrhunderts die Auffassung von der<br />
Verrechenbarkeit und Stellvertretung<br />
von Bußleistungen häufiger praktiziert<br />
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Geschichte<br />
23
Wallfahrt als Kulturkontakt:<br />
Görlitz und die Via Regia<br />
Daniel Petzold: Das Heilige Grab zu Görlitz, um 1713, Feder und<br />
Pinsel in Wasserfarben über Graphit, Kulturhistorisches Museum Görlitz,<br />
Inv. Nr. GB II 68, 1144. Foto: Kulturhistorisches Museum Görlitz<br />
worden zu sein als eine persönliche und<br />
individuelle Buße bzw. Wallfahrt.<br />
Das eben ausgeführte Phänomen des<br />
Rückgangs der Wallfahrten von Görlitzern,<br />
das wohl auch mit<br />
dem Bau (ca. 1480–<br />
1500) der Heilig-Grab-<br />
Anlage in Görlitz zusammenhing,<br />
soll noch<br />
etwas genauer thematisiert<br />
werden, weil sich<br />
hier die Folgen des „Kulturkontakts“<br />
mit dem<br />
Heiligen Land in besonderer<br />
Weise auf die regionale<br />
Wallfahrtskultur<br />
auswirkten. Zunächst zu<br />
den äußeren Umständen,<br />
die zur Errichtung<br />
des Görlitzer Nachbaus<br />
der Jerusalemer Heilig-<br />
Grab-Anlage führten.<br />
Georg Emerich, Sohn<br />
des 1464 amtierenden<br />
Bürgermeisters Urban<br />
Emerich, hatte ein illegitimes<br />
„Verhältnis“ mit<br />
Benigna Horschel. Der<br />
Ratsherr Nikolaus Horschel,<br />
Vater der Benigna,<br />
verlangte von den<br />
Emerichs Genugtuung,<br />
indem Georg die Benigna<br />
heiraten oder ihr die<br />
Hälfte seiner Güter abtreten<br />
sollte. Dazu sahen<br />
sich die Emerichs nicht<br />
veranlasst, zumal Georg<br />
auf dem besten Wege<br />
war, zum reichsten Görlitzer<br />
Bürger aufzusteigen<br />
und eine eigene nicht sicher war, aus der<br />
ganzen Sache ungeschoren herauszukommen,<br />
entschied er sich, im April 1465<br />
auf Wallfahrt nach Jerusalem zu gehen.<br />
24<br />
Geschichte
Görlitz und die Via Regia<br />
und die Via Regia<br />
Eine Fahrt in das schneller<br />
erreichbare Rom oder<br />
Santiago hätten zur Vergebung<br />
der Sünden sicher<br />
ausgereicht, jedoch<br />
dürfte Emerich einen<br />
möglichen Ritterschlag<br />
in der Grabeskirche als<br />
weitere Erhöhung seines<br />
Sozialprestiges sicher als<br />
verlockend empfunden<br />
haben. Vor Antritt der<br />
Reise regelte er seine<br />
wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
und die „Seelenheilvorsorge“<br />
für den Fall,<br />
dass er nicht zurückkomme,<br />
per Testament und<br />
holte sich die Genehmigung<br />
vom Rat sowie den<br />
Segen des Pfarrers ein.<br />
Durch seine ausgedehnten<br />
Handelskontakte in<br />
den Osten wie auch den<br />
Westen dürfte er in etwa<br />
über die geographischen<br />
Ausmaße seines Vorhabens<br />
informiert gewesen<br />
sein. Darüber hinaus gab<br />
es im 15. Jahrhundert neben<br />
geographischen Karten<br />
zahlreiche „Pilgerführer“<br />
und „Pilgerberichte“,<br />
die in je unterschiedlicher<br />
Qualität über Wegstrecken,<br />
Verkehrsmittel,<br />
Herbergen sowie über<br />
Land und Leute berichteten.<br />
Santiago-Pilger aus<br />
Mitteldeutschland hätten<br />
sich zum Beispiel des<br />
Geschichte<br />
Daniel Petzold: Das Heilige Grab zu Görlitz, um 1713, Feder und<br />
Pinsel in Wasserfarben über Graphit, Kulturhistorisches Museum Görlitz,<br />
Inv. Nr. GB II 68, 1144. Foto: Kulturhistorisches Museum Görlitz<br />
25
Wallfahrt als Kulturkontakt:<br />
Görlitz und die Via Regia<br />
Daniel Petzold: Bauaufnahme der Heilig-Kreuz-Kapelle, um 1713,<br />
Feder und Pinsel in Wasserfarben über Graphit,<br />
Kulturhistorisches Museum<br />
1521 in Leipzig (erste Auflage 1495/96<br />
in Straßburg) gedruckten Pilgerführers<br />
des Hermann Künig von Vach bedienen<br />
können.<br />
Leider wissen wir nicht<br />
wie, sondern nur dass<br />
Emerich spätestens im<br />
Juli 1465 Jerusalem<br />
erreichte, wo er am<br />
11. des Monats zum<br />
Ritter des Heiligen Grabes<br />
geschlagen wurde.<br />
Spätestens im Dezember<br />
1465 war er wieder<br />
in Görlitz. Die politische<br />
Lage hatte sich in<br />
Görlitz aber keinesfalls<br />
beruhigt. Die Fraktion<br />
um Nikolaus Horschel<br />
schmiedete sogar Pläne<br />
für einen Sturz der<br />
führenden Ratsherren.<br />
Diese sogenannte „Pulververschwörung“<br />
wurde<br />
aber 1467 aufgedeckt,<br />
Todesurteile und<br />
Verbannungen wurden<br />
ausgesprochen. Jene<br />
innenpolitische Katastrophe,<br />
die den sozialen<br />
Frieden in der Stadt<br />
erheblich störte, wird<br />
auch ein Grund dafür<br />
gewesen sein, dass Georg<br />
Emerich etwa um<br />
1480 begann, für sein<br />
Seelenheil und das der<br />
ganzen Gemeinde einen<br />
Auftrag zum Nachbau<br />
des Jerusalemer<br />
Heiligen Grabes zu erteilen.<br />
Die Zuschreibung der einzelnen<br />
Bestandteile (Kapelle, Grabbau, Salbhäuschen)<br />
des gesamten Ensembles<br />
sind zwar in der Wissenschaft umstrit-<br />
26<br />
Geschichte
Görlitz und die Via Regia<br />
und die Via Regia<br />
ten, doch lassen neuere Forschungen<br />
es mehr als wahrscheinlich gelten, dass<br />
Georg Emerich den Bau des Grabtempels<br />
finanzierte, während die Gemeinde die<br />
Kreuzkapelle errichtete. Als Vorlage für<br />
den Görlitzer Nachbau des Grabtempels<br />
dienten aber nicht eigene Vermessungen<br />
Emerichs, sondern zeitgenössische Holzschnitte<br />
wie die des Erhard Reuwich im<br />
Pilgerbericht des Bernhard von Breydenbach<br />
(Abb. 2). Diese und andere Darstellungen<br />
wurden zu einem vermeintlich<br />
originalgetreuen Abbild kompiliert, wobei<br />
Reuwichs Stich als maßgebliche Vorlage<br />
diente. Bis ins Detail wurden Formen<br />
und Proportionen der gedruckten Ansichten<br />
übernommen. Die Authentizität des<br />
ursprünglichen Ortes des Heilsgeschehens<br />
sollte durch vorlagengetreue Reproduktion<br />
(in verkleinertem Maßstab),<br />
aber nicht durch Interpretation der Vorlagen,<br />
erreicht werden. Der Begriff des<br />
„Kulturtransfers“ ist daher nur bedingt<br />
anwendbar. Mit Bezug auf das mittelalterliche<br />
Verständnis der Görlitzer Bürger<br />
für Sinn und Zweck der Anlage wäre es<br />
hier vielleicht angemessener, von einer<br />
„translatio“ zu sprechen. Zwar wurden,<br />
außer vielleicht einem Kreuzessplitter für<br />
die Kapelle, keine Reliquien überführt,<br />
aber mit dem Nachbau des Jerusalemer<br />
Grabes wurde auch dessen Bedeutung<br />
im Heilsgeschehen – nämlich Ort des<br />
Todes und der Auferstehung Jesu Christi<br />
zu sein – symbolisch mit nach Görlitz<br />
übertragen. Der Görlitzer Grabtempel<br />
blieb somit keine rein äußerliche Kopie.<br />
Er erlangte vielmehr durch seine liturgische<br />
Einbeziehung in die Görlitzer Sakraltopographie<br />
und seine einzigartige<br />
Symbolisierung der Passion Christi Wahrhaftigkeit<br />
für die Gläubigen (Abb. 3).<br />
Diese besondere Verankerung der Heilig-<br />
Grab-Anlage in der spätmittelalterlichen<br />
Passionsfrömmigkeit, die in gewisser<br />
Weise auch nach der Reformation ihre<br />
Fortsetzung fand, sicherte ihr Bestehen,<br />
ja sogar ihren Nachbau andernorts auch<br />
nach 1517. Görlitz war dadurch nicht<br />
„Endstation“ eines „Ideentransfers“ von<br />
Jerusalem in die Oberlausitz, sondern<br />
auch Ausgangspunkt bzw. Vermittler<br />
seines konkreten Nachbaus des Heiligen<br />
Grabes. So wurden mehr oder weniger<br />
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Geschichte<br />
27
Wallfahrt als Kulturkontakt: Görlitz und die Via Regia<br />
Görlitz und die Via 28<br />
Görlitz, Heilig- Grab-Anlage, Kreuzkapelle.<br />
Foto: Robert Scholz um 1900, Ratsarchiv Görlitz<br />
exakte Kopien des Görlitzer Grabtempels<br />
um 1600 in Sagan (Żagań), 1703 in Neuland<br />
(Niwnice) bei Löwenberg (Lwówek<br />
Śląski), zwischen 1723 und 1731 in Warschau<br />
(Warszawa) und 1771 im böhmischen<br />
Reichenberg (Liberec) errichtet.<br />
Das heute nicht mehr vorhandene Grab<br />
im schlesischen Ostrog (Olszyna) könnte<br />
nach Till Meinert ebenfalls in architektonischer<br />
Abhängigkeit zu Görlitz gestanden<br />
haben.<br />
Abgesehen von den<br />
oben genannten schriftlichen<br />
Quellen und dem<br />
Nachbau des Heiligen<br />
Grabes lassen sich bisher<br />
keine weiteren materiellen<br />
Bezüge bzw.<br />
Nachweise von mittelalterlichen<br />
Pilgerfahrten<br />
von Oberlausitzern und<br />
somit keine handfesten<br />
Zeugen des Kulturkontakts<br />
erbringen. In der<br />
Oberlausitz wurden bislang<br />
auch keine Pilgerzeichen<br />
aus Weißmetallguss,<br />
Jakobsmuscheln<br />
oder Aachhörner durch<br />
Archäologen entdeckt.<br />
Selbst die Hoffnung,<br />
auf Görlitzer Glocken<br />
vielleicht Pilgerzeichen<br />
zu entdecken, hat sich<br />
zerschlagen, denn hier<br />
haben sich keine derartigen<br />
vorreformatorischen<br />
Geläute erhalten.<br />
Doch da in der Oberlausitz die Erforschung<br />
von Fernpilgerfahrten noch am<br />
Anfang steht, soll hier das letzte Wort<br />
noch nicht gesprochen sein.<br />
Quelle:<br />
Christian Speer: Wallfahrt als Kulturkontakt.<br />
Görlitz und die Via Regia, in: Kühne, Hartmut/<br />
Lambacher, Lothar/ Hrdina, Jan (Hrsg.),<br />
Wallfahrer aus dem Osten.<br />
Mittelalterliche Pilgerzeichen<br />
zwischen Ostsee, Donau und Seine<br />
(Europäische Wallfahrtsstudien 10), Frankfurt<br />
(Main) 2013, S. 361–379.<br />
Geschichte
-Verlagssonderveröffentlichung-<br />
Kontinuitäten und Grenzgänge – Helmut Goltz<br />
Helmut Golz<br />
(rechts) Stammhaus der Seilerei Theodor Reiß als einem Vorgänger der heutigen Görlitzer Hanf- und<br />
Drahtseilerei am Demianiplatz in Görlitz, um 1900<br />
Handwerk mit Tradition<br />
Die von Helmut Goltz als Inhaber geführte<br />
Görlitzer Hanf- und Drahtseilerei beschäftigt<br />
60 Mitarbeiter. Die Firma steht beispielhaft<br />
für modernes Unternehmertum<br />
in der sächsischen Region Oberlausitz-<br />
Niederschlesien und basiert auf einer traditionsreichen<br />
Unternehmensgeschichte,<br />
die ihren Ursprung in der Frühzeit der<br />
Industrialisierung Sachsens und der Oberlausitz<br />
hat.<br />
Das Familienunternehmen wurde 1836<br />
durch den Seilermeister Theodor Reiß gegründet<br />
und durch die Familien Haftmann,<br />
Köllner und Goltz fortgeführt. Es gibt zwei<br />
Stränge, einer liegt in Schlesien, der andere<br />
in Görlitz. Der Großvater väterlicherseits<br />
stammte aus Guhrau (Góra) in Schlesien.<br />
Er verstarb geschwächt von Flucht und<br />
Vertreibung kurz nach der Ankunft 1945 in<br />
Görlitz. Der ebenfalls in Guhrau geborene<br />
Vater von Helmut Goltz floh gemeinsam<br />
mit seiner Frau nach Großsaara in Thüringen.<br />
Der Großvater mütterlicherseits<br />
stammte aus Thüringen und kaufte 1936<br />
ein 5.000 Quadratmeter großes Grundstück<br />
östlich der Neiße in Görlitz-Moys.<br />
Hier sollten die „Schlesischen Seilwerke“<br />
entstehen. Nach dem Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges durften die Großeltern nur<br />
noch einmal über die nunmehr gebildete<br />
Grenze, um wichtige Maschinen zu holen.<br />
„Auf einen LKW passte aber nicht das gesamte<br />
Warenlager“. Der Großvater kam<br />
aber nach einem Konflikt mit der neuen<br />
Administration ins Gefängnis, weshalb das<br />
Familienunternehmen 1945 nicht gleich<br />
weitergeführt werden konnte.<br />
Geschichte<br />
29
-Verlagssonderveröffentlichung-<br />
Kontinuitäten und Grenzgänge – Helmut Goltz<br />
Helmut Golz<br />
Textilingenieur Wolfgang Nerger, 1972<br />
Ende der 1940er Jahre kam der Onkel<br />
von Helmut Goltz, Gottfried Köllner, aus<br />
Thüringen nach Görlitz zurück. Er erwirkte<br />
bei der Stadtverwaltung eine Erlaubnis,<br />
die Seillerei wieder zu eröffnen. Seit 1951<br />
firmierte diese unter dem Namen „Köllner<br />
und Goltz“. Die Familie schaffte es gemeinsam,<br />
ihr Unternehmen auch in der<br />
DDR zu erhalten.<br />
Helmut Goltz machte von 1972 bis 1975<br />
sein Abitur, stieg 1977 als Maschinenarbeiter<br />
im elterlichen Betrieb ein und absolvierte<br />
eine Ausbildung zum Textilfacharbeiter<br />
und Seilermeister. 1981 kaufte<br />
er die Anteile seines damals 70-jährigen<br />
Vaters und führte gemeinsam mit seinem<br />
Onkel die Seilerei.<br />
Während der Plan- und Mangelwirtschaft<br />
in der DDR galt es als besondere Herausforderung,<br />
als privater Unternehmer<br />
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30<br />
Geschichte
-Verlagssonderveröffentlichung-<br />
Kontinuitäten und Grenzgänge – Helmut Goltz<br />
Helmut Golz<br />
Altmeister Gerhard Goltz und Gottfried Köllner, 1962<br />
zu bestehen. So waren hohe steuerliche<br />
Abgaben, festgelegte Preise und Löhne<br />
sowie der Materialmangel Hürden und<br />
Hemmnisse des unternehmerischen Leistungs-<br />
und Qualitätsanspruchs.<br />
„Wir haben schließlich ein Familienerbe zu<br />
bewahren.“ Helmut Goltz<br />
Helmut Goltz konnte in den vergangenen<br />
30 Jahren nach der Deutschen Einheit die<br />
Mitarbeiterzahl von vier auf 60 Personen<br />
steigern. Das mittelständische Unternehmen<br />
gibt seine Tradition und Erfahrung<br />
weiter, bildet regelmäßig junge Seiler aus<br />
und achtet auf eine in die zukunftsweisende<br />
Altersstruktur innerhalb der Firma.<br />
Besonderer Wert wird auf den polnischen<br />
Wirtschaftsraum gelegt, weshalb Helmut<br />
Goltz seit geraumer Zeit zweisprachige<br />
Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen<br />
nutzt seine Lage an der deutsch-polnischen<br />
Grenze als Chance für die weitere<br />
Entwicklung. Die Erhaltung der Region<br />
Oberlausitz-Niederschlesien als Wirtschaftsstandort<br />
ist Voraussetzung, um<br />
weiterhin als Wohnort attraktiv zu sein.<br />
Dafür ist ein leistungsfähiger, gesunder<br />
und motivierter Mittelstand notwendig.<br />
Insofern habe man „in der DDR 40 Jahre<br />
für die Katz’ gearbeitet.“<br />
Die Unternehmensnachfolge ist für Helmut<br />
Goltz eine große Herausforderung.<br />
Mit seinen Aktivitäten in der Region und<br />
über die Ländergrenzen hinweg stehen<br />
die Perspektiven für eine Fortführung des<br />
traditionsreichen Familienunternehmens<br />
günstig. Diese Nachfolge ist seit <strong>2020</strong> in<br />
der Familie geklärt.<br />
Auszug aus der<br />
Begleitpublikation zur Ausstellung<br />
„Integration durch Leistung –<br />
Vertriebene, Spätaussiedler und<br />
Zuwanderer als Unternehmer<br />
in Sachsen“, 2014<br />
Aktualisiert: <strong>2020</strong><br />
Herausgeber:<br />
Schlesisch-Oberlausitzer<br />
Museumsverbund gGmbH<br />
Geschichte<br />
31
Sonderausstellung „Oberlausitz 2060“ –<br />
Blick in die Sonderausstellung mit Glasobjekten aus Weißwasser und Keramik aus Bad Muskau,<br />
Foto: © Schlesisch-Oberlausitzer Museumsverbund gGmbH<br />
Die Oberlausitz ist für viele Menschen<br />
eine Region, ein Ort, ein Stück Heimat<br />
oder auch ein Zuhause. Dies hat die sie<br />
mit vielen Orten auf der Welt gemeinsam.<br />
Viele Geschichten sind über die sie<br />
geschrieben worden; viele Erinnerungen<br />
verbinden sich mit ihr. Aber was ist die<br />
Oberlausitz eigentlich genau?<br />
Geschichtlich und geografisch gesehen,<br />
ist die Oberlausitz eine Region in Mitteleuropa.<br />
Sie liegt zwischen den Flüssen<br />
Pulsnitz im Westen und Queis im Osten,<br />
zwischen dem Lausitzer Heideland<br />
im Norden und dem Lausitzer Bergland<br />
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32<br />
Sonderausstellung
im Schloss Krobnitz<br />
Oberlausitz 2060<br />
Klassische Kunst begegnet zeitgenössischer Kunst, Foto: © Schlesisch-Oberlausitzer<br />
Museumsverbund gGmbH<br />
und Zittauer Gebirge im Süden. So ist<br />
die Oberlausitz geografisch konkret zu<br />
lokalisieren, geschichtlich war sie ständigen<br />
Veränderungen unterlegen. Bis ins<br />
11. Jahrhundert hinein gab es noch keine<br />
genauen Grenzen. Sie entstanden erst<br />
durch politische Grenzziehungen, durch<br />
herrschaftlichen Grundbesitz und durch<br />
Städtebildungen. Die erste Besiedelung<br />
fand in der Bronzezeit statt. Slawische<br />
Siedler folgten ab dem 7. Jahrhundert. Sie<br />
brachten bäuerliche Lebensformen mit.<br />
Ab dem 10. Jahrhundert zogen deutschsprachige<br />
Siedler zu und die ersten poli-<br />
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Sonderausstellung<br />
33
Sonderausstellung „Oberlausitz 2060“ –<br />
tischen Konflikte entstanden. Schließlich<br />
bildete sich Bautzen zur Hauptstadt der<br />
Oberlausitz heraus, während Görlitz die<br />
bevölkerungsreichste Stadt der Region<br />
war. Im Verlaufe der Jahrhunderte gehörten<br />
einzelne Teile der Oberlausitz immer<br />
wieder zu verschiedenen politischen<br />
Herrschaftsgebieten, beispielsweise dem<br />
Königreich Böhmen oder Kursachsen.<br />
Diese unterschiedlichen politischen Gegebenheiten<br />
führten im 14. Jahrhundert<br />
zur Gründung des Oberlausitzer<br />
Sechsstädtebundes. Die Städte Bautzen,<br />
Kamenz, Zittau, Löbau, Görlitz und Lauban<br />
schlossen sich zusammen, um den<br />
Landfrieden in der Region zu sichern. Die<br />
Blütezeit des Bundes brachte ebenfalls<br />
wirtschaftliches Wachstum und damit<br />
politischen Einfluss für die Sechsstädte<br />
mit sich. Der Wiener Kongress im Jahre<br />
1815 bedeutete das Ende für den Sechsstädtebund.<br />
Görlitz und Lauban wurden<br />
der preußischen Provinz Schlesien zugeschlagen,<br />
während die restlichen Städte<br />
zum Königreich Sachsen gehörten. Eine<br />
Grenze teilte von nun an eine über 800<br />
Jahre gewachsene politische, wirtschaftliche,<br />
kulturelle und kirchliche Einheit. Allerdings<br />
hielten die Menschen in beiden<br />
Teilen der Oberlausitz an gemeinsamen,<br />
überlieferten Traditionen fest.<br />
Wirtschaftlich ist die Oberlausitz eine von<br />
unterschiedlichen Gewerken geprägte<br />
Region. Besondere Bedeutung erlangten<br />
das Textilhandwerk, die Glasmacherei<br />
und das keramische Handwerk, die<br />
Landwirtschaft, die Rohstoffindustrie und<br />
Energiewirtschaft sowie der Handel. Der<br />
wirtschaftliche Aufschwung beflügelte<br />
ebenfalls die Wissenschaften und bildenden<br />
Künste.<br />
Mit der Sonderausstellung „Oberlausitz<br />
2060“ im Schloss Krobnitz möchte die<br />
Schlesisch-Oberlausitzer Museumsverbund<br />
gGmbH neue Wege gehen! Die<br />
Ausstellung ist partizipativ angelegt, d.h.<br />
sie soll gemeinsam mit zahlreichen Akteuren<br />
und Akteurinnen aus der Oberlausitz<br />
gestaltet werden. Der Museumsverbund<br />
möchte mit seinen Besuchern<br />
und Besucherinnen einen Blick in die<br />
Zukunft wagen. Gemeinsam wollen wir<br />
überlegen, wie sich die Oberlausitz und<br />
ihre Bevölkerung in den kommenden<br />
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34<br />
Sonderausstellung
im Schloss Krobnitz<br />
Oberlausitz 2060<br />
Was zeichnet die Oberlausitz aus? Besucher dürfen selbst kreativ werden und die<br />
Ausstellung mitgestalten, Foto: © Schlesisch-Oberlausitzer Museumsverbund gGmbH<br />
40 Jahren verändern könnten. Auf dem<br />
Weg in das Jahr 2060 begleiten die Zeitreisenden<br />
drei Fragen: Wer waren WIR?<br />
Wer sind WIR? Wer werden WIR sein?<br />
„Wer waren WIR?“ – In der Ausstellung<br />
finden sich immer wieder Hinweise auf<br />
die Vergangenheit der Oberlausitz. Sie<br />
zeigt, was die Oberlausitz ausgezeichnet<br />
hat und was sie prägte.<br />
„Wer sind WIR?“ - Der Wandel in der<br />
Oberlausitz zieht sich durch Themenbereiche<br />
wie Gesellschaft, Arbeit, Wirtschaft,<br />
Natur, Ökologie, Technologie,<br />
Wissenschaft, Religion, Brauchtum.<br />
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Sonderausstellung<br />
35
Sonderausstellung „Oberlausitz 2060“ –<br />
Geografiekenntnisse dürfen in der Ausstellung getestet werden, wenn Ortsnamen der Oberlausitzkarte<br />
zugeordnet werden müssen, Foto: © Schlesisch-Oberlausitzer Museumsverbund gGmbH<br />
Das Wissen um Vergangenheit und Gegenwart<br />
macht einen Blick in die Zukunft<br />
möglich und kann helfen, Antworten auf<br />
die Frage „Wer werden WIR sein?“ zu<br />
formulieren.<br />
Alle großen und kleinen Besucher und<br />
Besucherinnen sind aufgerufen, sich<br />
aktiv an der Ausstellung zu beteiligen.<br />
Denn nur so kann eine Mitmachausstellung<br />
funktionieren. In den Herbstferien<br />
2019 haben sich Kinder und Jugendliche<br />
bereits an der Gestaltung der Ausstellung<br />
versucht. Auch das „Archiv der<br />
Zukunft“ ist schon von Oberlausitzern<br />
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36<br />
Sonderausstellung
im Schloss Krobnitz<br />
Oberlausitz 2060<br />
und Oberlausitzerinnen mit Objekten bestückt<br />
worden. Für die Dauer der Ausstellung<br />
erzählen sie ihren Betrachtern<br />
und Betrachterinnen ganz besondere<br />
Geschichten. Haben auch Sie ein Objekt<br />
zu Hause, das unser „Archiv der Zukunft“<br />
bereichern könnte? Es sind noch Plätze<br />
frei, die auf spannende Geschichten<br />
warten! Wir suchen Gegenstände, die<br />
für unsere Besucher und Besucherinnen<br />
eine große Bedeutung oder eine starke<br />
Symbolkraft haben und für die Zukunft<br />
bewahrt werden sollen. Jedes Objekt ist<br />
herzlich Willkommen, solange es eine<br />
kleine Geschichte erzählt.<br />
Die Sonderausstellung „Oberlausitz<br />
2060“ ist noch bis zum 18.04.2021 im<br />
Schloss Krobnitz zu sehen und lädt in den<br />
kommenden Monaten immer wieder mit<br />
verschiedenen Mitmachangeboten zum<br />
Teilhaben ein. Egal ob Stammtisch, Familienführung,<br />
Öffentlicher Vortrag, Ferienangebote<br />
oder Weihnachtsprojekte, es<br />
ist für jeden etwas dabei. Es darf nach<br />
Herzenslust diskutiert werden, aber auch<br />
der Kreativität steht nichts im Wege.<br />
Doch nicht nur unsere Besucher haben<br />
sich bereits lebhaft an der Gestaltung<br />
der Ausstellung beteiligt. Auch die Museen<br />
der Oberlausitz haben mit zahlreichen<br />
Objekten dazu beigetragen, den historischen<br />
Faden in die Gegenwart zu spinnen.<br />
Ein Dank gilt dem Kulturhistorischen<br />
Museum Görlitz sowie der Oberlausitzischen<br />
Bibliothek der Wissenschaften,<br />
dem Senckenberg Museum für Naturkunde<br />
Görlitz, dem Heimatmuseum der<br />
Stadt Herrnhut, dem Sorbischen Museum<br />
Bautzen, dem Glasmuseum Weißwasser,<br />
dem Deutschen Damast- und Frottiermuseum<br />
Großschönau, dem Heimatverein<br />
Reichenbach, dem Oberlausitzer<br />
Bergleute e.V. sowie zahlreichen privaten<br />
Leihgebern.<br />
Wir wünschen Ihnen eine gute Reise<br />
durch die Oberlausitz und durch die Zeit<br />
bis in das Jahr 2060!<br />
Schloss Krobnitz<br />
Am Friedenstal 5<br />
02894 Reichenbach OT Krobnitz<br />
Tel.: 035828/88700<br />
www.museum-oberlausitz.de<br />
Geöffnet: Mi – So 10.00 – 16.00 Uhr<br />
(ab 1.11.<strong>2020</strong>)<br />
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Sonderausstellung 37
-Verlagssonderveröffentlichung-<br />
Das Familienunternehmen „Modehaus Schwind’s Erben“<br />
Schwind´s Erben<br />
Sommer 1947. Nach<br />
Flucht und Vertreibung<br />
aus Penzig (heute Polen)<br />
wagt der gelernte<br />
Schneidermeister Josef<br />
Schwind, der seit<br />
1927 in Penzig eine<br />
Schneiderei führte, einen<br />
Neubeginn in Görlitz.<br />
Er gründet in den<br />
Geschäftsräumen der<br />
Firma „Oskar Nitsche“<br />
in der Steinstraße am<br />
Dicken Turm eine Maßschneiderei<br />
und Einzelhandelsgeschäft<br />
für<br />
Damen-, Herren- und<br />
Kinderbekleidung.<br />
Schon nach kurzer Zeit<br />
(1948) waren mehr als<br />
20 Mitarbeiter mit der<br />
Anfertigung von Bekleidung<br />
beschäftigt, welche<br />
zu diesen Zeiten der<br />
Not oft aus kundeneigenem<br />
Material maßgeschneidert<br />
wurde.<br />
Nach dem Tod des Inhabers<br />
1953 und den<br />
kurzzeitigen politischen<br />
Lockerungen durch den<br />
niedergeschlagenen<br />
Aufstand in der DDR gelingt<br />
es der Ehefrau und<br />
den Kindern die Firma in<br />
eine private Komman-<br />
Prospekt 1969<br />
38<br />
Geschichte
-Verlagssonderveröffentlichung-<br />
Handel mit Tradition<br />
Schwind´s Erben<br />
Sie bietet dabei Ihren Kunden zahlreiche<br />
besondere Dienstleistungen, mit eigener<br />
Änderungsschneiderei, sorgfältig geschultem<br />
Beratungspersonal und einer<br />
überaus großen Auswahl, besonders für<br />
die damaligen sozialistischen Verhältnisse.<br />
Als private Kommanditgesellschaft<br />
überlebt das Modehaus durch großen<br />
Einsatz von Wolfgang Schwind und Barbara<br />
Thimann und aller Mitarbeiter als<br />
`Insel im Sozialismus`, in wirtschaftlicher<br />
wie politischer Hinsicht, diese Zeit<br />
der DDR.<br />
Die politischen Veränderungen und die<br />
Wiedervereinigung Deutschlands 1989<br />
brachten neue Perspektiven für das Mo-<br />
Betriebsausflug 60er Jahre<br />
Josef und Erna Schwind, 1946<br />
ditgesellschaft zu überführen. Die Firma<br />
setzt unter dem Namen „Modehaus Josef<br />
Schwind’s Erben KG“ ihren Schwerpunkt<br />
auf den Handel mit Bekleidung.<br />
Modehaus 1968<br />
Geschichte<br />
39
-Verlagssonderveröffentlichung-<br />
Das Familienunternehmen „Modehaus Schwind’s Erben“<br />
Schwind´s Erben<br />
Seit 2004 in dritter Generation durch<br />
Georg Schwind, den Enkel des Firmengründers<br />
geführt, ist das Modehaus mit<br />
seiner modernen und angenehmen Einkaufsatmosphäre,<br />
der großen Auswahl<br />
an hochwertiger Markenmode und der<br />
erstklassigen Beratung ein wichtiger und<br />
zuverlässiger Anlaufpunkt für seine Kunden<br />
aus Görlitz und der weiten Umgebung<br />
bis nach Dresden, Breslau, Cottbus<br />
und Berlin.<br />
Herrenabteilung<br />
dehaus. Umfassende Investitionen wurden<br />
getätigt, das Geschäftshaus wurde<br />
1992 erworben, die Geschäftsräume<br />
auf etwa 500 m² erweitert, umfassend<br />
saniert und mehrfach neu gestaltet.<br />
Im Jahre 2018 feierte die „Modehaus<br />
Schwind’s Erben GmbH“ ihr nunmehr<br />
65 jähriges Firmenjubiläum in modern<br />
ausgestatteten Geschäftsräumen.<br />
Georg Schwind und Britta Hänel<br />
„Mode lebt von der Verarbeitung,<br />
von der Liebe zum Detail und<br />
von erstklassiger Beratung.<br />
Alles Dinge, die Sie bei uns<br />
finden werden!“<br />
Georg Schwind<br />
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40<br />
Geschichte
Leserbrief von Eberhard Schiller<br />
Nach dem Einmarsch der sowjetischen Militäreinheiten<br />
folgten die Operative Gruppen.<br />
Es waren größtenteils Offiziere, die<br />
in ihrem Land ausgebildet waren und beherrschten<br />
die deutsche Sprache.<br />
Sie suchten zunächst die Rüstungsbetriebe<br />
auf, in der auch viele sowjetische Zwangsarbeiter<br />
tätig waren. So konnte man gewiss<br />
sein, ob die deutschen Betriebsangehörigen<br />
etwas zu verbergen hatten, dass hätte<br />
harte Konsequenzen gehabt. Trotz der<br />
Situation blieben die beiden Inhaber Gerhard<br />
und Walter Raupach in ihrem Betrieb.<br />
Es muss wohl eine schmerzliche Stunde<br />
gewesen sein, als alles verschwand. Später<br />
wurden auch sie verhaftet und kamen<br />
nie wieder zurück. Man nimmt an, dass<br />
ihre Schwester Sophie Möllhausen, das erkannt<br />
hat und schnell in den Westen flüchtete.<br />
Sie besaß einen Sohn Wolfgang, der<br />
Doktor und Maler wurde.<br />
Der Maschinen- und Ziegelbetrieb Richard<br />
Raupach war zumindest bis zum Kriegsanfang<br />
ein sehr moderner Betrieb, in denen<br />
es auch ein gut ausgebildetes Personal<br />
gab.<br />
Ihr Eingang befand sich viele Jahre in der<br />
Fischerstraße. Später wurde dieser in die<br />
Pomologische Gartenstraße verlegt. Ein<br />
schmaler Durchgang führte an der Pförtnerei,<br />
am Verwaltungsgebäude über einen<br />
Hof in weitere Betriebsteile. Vorbei links<br />
befand sich das Heizhaus mit einer ständigen<br />
laufenden Dampfmaschine. So wurde<br />
für den Betrieb Strom und Wärme erzeugt.<br />
In den letzten Monaten gab es keine Wärme<br />
mehr, da es an Kohle mangelte.<br />
Im Juli 1946 wurde wieder eine neue<br />
Sächsische Regierung gebildet. Dabei<br />
wurden Linientreue, als Führungskräfte<br />
in neuen Betrieben eingesetzt. Die erste<br />
Führungskraft war ein Herr Vogt, der den<br />
Posten eines technischen Direktors übernahm.<br />
Auch bekam er bald eine Wohnung<br />
in Weinhübel, gegenüber des Landwirts<br />
Paul Teuber.<br />
Beim Aufbau des Betriebes fehlte es an allem.<br />
Kleine, nützliche Teile wurden für die<br />
Bevölkerung hergestellt. Einen Transport<br />
gab es nicht mehr, da der Wagenplatz für<br />
den Krieg oder eingezogen wurde. Pferde,<br />
als Ausweichmöglichkeit, gab es nicht, da<br />
sie vor allem für die RA auf dem Speiseplan<br />
kamen. Mit viel Geschick und Einfühlungsvermögen<br />
bekam man dann Pferde.<br />
Neben der Werkzeugausgabe hatten Sie<br />
ihre Futterkrippe. Das zog auch viele Ratten<br />
an. Später bekam die Kema einen ausrangierten<br />
Tatra. Stolz war man, als man<br />
aus Eisenach einen EMW 340 hatte. Bis<br />
zu dieser Zeit fuhr man einen Wagen mit<br />
Heckmotor, Opel und DKW. Nicht immer<br />
ging die Fahrt gut aus, da der DKW eine<br />
Heckkarosse besaß.<br />
Mit dem neuen Fahrzeug konnte man nun<br />
in die BRD fahren, um neue Verträge mit<br />
den Endverbraucher zu machen. Ein bekannter<br />
früherer Roscher-Ingenieur erkannte<br />
das Geschäft und hatte die Kema<br />
kräftig abkassiert. Von dem vielen Geld<br />
hatte er sich seine Villa, die modernste Kegelanlage<br />
der BRD bauen lassen.<br />
In dieser Zeit kam der große Aufschwung<br />
des Betriebes. Zunächst kam es zur Übernahme<br />
von Roscher und ab 1950 die Maschinen-<br />
und Textilfabrik von Esser & Co.<br />
(heute Schrotthandel).<br />
Im gleichen Zeitraum arbeitete eine kleine<br />
Fabrik in der Uferstraße für die Kema.<br />
Die Firma befand sich in der einstmaligen<br />
Weberei von Müller & Kaufmann. Jüngere<br />
Görlitzer kennen nach die Immobilie als<br />
Leserbrief<br />
41
Leserbrief von Eberhard Schiller<br />
1952, Eberhard Schiller<br />
Massomarkt.<br />
Für den Betrieb auf der Reichenbacher<br />
Straße kam es anders und so musste der<br />
gesamte Bereich, der auch eine kleine<br />
Ziegelei besaß, aufgegeben werden. Die<br />
hier befindliche Lehrwerkstatt kam dann<br />
in Betrieb unterhalb des Schützenhauses<br />
zu dieser Zeit wohnte der einstmalige Firmeninhaber<br />
Karl Tiltze im früheren eigenen<br />
Verwaltungsgebäude. Sein Arbeitsbüro<br />
befand sich in der Parterre, als großer<br />
Raum mit eingebauten Tresor. Er besaß im<br />
hinteren Betriebsteil einen Garten. Der Zugang<br />
wurde ihnen verwehrt und so musste<br />
er über fremdes Eigentum einer Villa einen<br />
Zugang erbeten. Später musste er ausziehen<br />
und zog in eine Wohnung, direkt<br />
neben einer Brandruine an der Jakobuskirche.<br />
Wohnraum war zu dieser Zeit knapp.<br />
In den 50er Jahren kam aus Berlin eine<br />
neue Führungskraft. Herr Krebs bekam<br />
eine schicke Wohnung in der Villa eines<br />
früheren Süsswarenfabrikanten von der<br />
Carl-von-Ossietzky-Straße.<br />
In den 50er Jahren baute man eine Autowerkstatt<br />
mit mehreren Garagen auf,<br />
bald entstand auch das neue Kulturhaus<br />
mit einem neuen Trecker, nahm man den<br />
Transport mit dem Werk II auf. So kamen<br />
fertige Maschinen wie Kollergänge, Ziegelschneider<br />
u.v.m. zur Abfertigung. Hier<br />
wurden neue Holzkisten angefertigt, sie<br />
mit Dachpappe ausgekleidet und nach<br />
Kontrolle auf Waggons verladen. Eine Diesellok<br />
vom Eisenhandel brachte die Lieferung<br />
zum Weinhübler Bahnhof, wo sie von<br />
der Reichsbahn übernommen wurde. Da<br />
die Bahn das Gewicht haben wollte, musste<br />
man eine Wiegehaus mit Ausweichgleis<br />
über dem Bahntunnel bauen. Übrigens<br />
gab es zu dieser Zeit nach einen sowje-<br />
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42<br />
Leserbrief
Leserbrief von Eberhard Schiller<br />
tischen Kontrolleur, der auch achtete, das<br />
die Bretter der Kiste kleine größere „Knorren“<br />
hatte. Am Ende wurden sie sowieso<br />
kleine gemacht. Auch das WII besaß eine<br />
Dampfmaschine, immer wieder mussten<br />
Briketts und Braunasche geliefert werden.<br />
Im hinteren Betriebsteil wurde die gelagerte<br />
Kohle mit weißer Farbe getüncht. In<br />
den nächsten Jahren wurde die Gießerei<br />
eingestellt. Man hatte in Olbersdorf einen<br />
neuen Partner. Eine Modellwerkstatt stellte<br />
die nötigen Modelle her.<br />
In den sechziger Jahren kam es zu Engpässen<br />
in der Kraftstofflieferung. So hatte<br />
der Betrieb Fahrzeuge zugelassen, um die<br />
nötige Kraftstoffmenge zu erhalten. Mit<br />
der zugewiesenen Menge konnte man den<br />
Wagen des Direktors einen Monat betreiben.<br />
So musste man bis zu dreimal in der<br />
Woche zum Innen- und Außenhandel nach<br />
Berlin und später nach Leipzig fahren. In<br />
den 70/80er Jahren wurde Sonneberg<br />
zum leitenden Ort. Bald brauchte man<br />
Passierscheine, da der Ort zum Grenzgebiet<br />
gehörte.<br />
Der gesamte Fuhrpark musste aus Sicht<br />
Berlins eingestellt werden. Ein sogenannter<br />
Fahrbetreib übernahm die Fahrzeugflotte<br />
und lieh sie wieder bei Bedarf aus.<br />
Das klappte nicht immer und so kam es zu<br />
Problemen bei der Werksauslieferung.<br />
Inzwischen hatte die Kema einen weiteren<br />
Direktor erhalten, der ein EFH im Amselgrund<br />
hatte. Er war ein Befürworter in<br />
Hinsicht Polytechnischer Unterricht. Eine<br />
ganze Halle wurde dafür geopfert. Bei<br />
Schulunterricht liefen die Schüler mit dreckigen<br />
Schuhen durch den Essensraum,<br />
um zum Klassenraum zu gelangen.<br />
In den 80er Jahren entstand auf einer<br />
Gartenfläche eines mit Stacheldraht gesichtetes<br />
Gebäude. Einlass gab es nur für<br />
bestimmte Personen.<br />
Mit der Wende hatte sich die Kema von ihrem<br />
Zweigbetrieb getrennt. Sie ging selbst<br />
ins Privateigentum über. Es ist heute eine<br />
große Schande, wie Teile des Betriebes<br />
zerfallen. Das hat der frühere Besitzer Richard<br />
Raupach nicht verdient.<br />
Übrigens zerfällt die einmalige Gießerei an<br />
der Verbindungsstraße nach Olbersdorf<br />
ebenso. Kein guter Blick, wenn Urlauber<br />
mit der Schmalspurbahn vorbei fahren.<br />
Eberhard Schiller, Görlitz<br />
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Leserbrief<br />
43
Leserbrief von Wolfgang Stiller<br />
Mein Artikel im <strong>StadtBILD</strong>-September,<br />
über die Sauerstoffgewinnung in Weinhübel,<br />
ist besonders bei Tyczka, eines<br />
der führenden Energieunternehmen<br />
auf große Resonanz gestoßen. Tyczka<br />
war nicht bekannt, dass es an diesem<br />
Standort (1924 Gründung der Firma<br />
Georg Tyczka Sauerstoffwerk in Weinhübel<br />
bei Görlitz, Leschwitzer Straße)<br />
1963 ein Sauerstoffwerk gab.<br />
Meine Frage an die Leser: Ist bekannt<br />
wie lange das Sauerstoffwerk in Weinhübel<br />
existierte? Wie war deren Rechtsform<br />
(VEB oder Kombinat Leuna)? Hat<br />
jemand Fotos von den Gebäuden als<br />
Sauerstoffwerk in Weinhübel und/oder<br />
sonstige Erläuterungen zum Werk und<br />
deren Produktion? Gibt es noch Zeitzeugen,<br />
die im Sauerstoffwerk gearbeitet<br />
haben? Der Autor des Artikels<br />
Wolfgang Stiller und das Unternehmen<br />
Tyczka würden sich sehr darüber freuen.<br />
Hinweise bitte an Wolfgang Stiller<br />
oder an die Redaktion des <strong>StadtBILD</strong>-<br />
Verlages die zum Autor vermitteln können!<br />
Zum Zweiten<br />
Ich schreibe gegenwärtig einen längeren<br />
Artikel über die Tuchproduktion in<br />
Görlitz seit dem Mittelalter. Leider habe<br />
ich über die ehemaligen Textilfabriken,<br />
die nach 1945, in den VEB Oberlausitzer<br />
Volltuchfabrik aufgegangen sind und<br />
weiteren Firmen, kein Bildmaterial.<br />
Im Einzelnen geht es bei den Abbildungen<br />
um nachfolgend genannte Fabriken:<br />
- Salin & Co Rothenburger, Straße/<br />
Tischbrücke, Volltuch Werk 3<br />
- Müller & Kaufmann, gegründet 1850<br />
Uferstraße 3-6 und 28-30 (bekannt als<br />
späteres Kondensatorenwerk). Der abgerissene<br />
Teil ehemals Massa Gelände<br />
an der Uferstraße der des jetzigen<br />
Uferparks war Volltuch Werk IV.<br />
- Gebrüder Hoffmann, Uferstraße 22<br />
gegründet 1875<br />
- Görlitzer Tuchfabrik Otto Schwetasch<br />
Schanze, verbunden mit Tuchversand<br />
(Voilltuch Werk 3)<br />
- Müller & Schöner, gegründet 1848<br />
Große Wallstraße (Volltuch Werk 2)<br />
- Feintuchfabrik C.S. Geißler Furtstra-<br />
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44<br />
Leserbrief
Leserbrief von Wolfgang Stiller<br />
ße; Inh. Seener; (jetzt Parkplatz der<br />
Hochschule (Volltuch Werk 6)<br />
- Max Raupach Görlitz Moys<br />
(ca. 90 Arbeiter)<br />
- Peltzer & Lutze Görlitz, Uferstraße 33a<br />
und Landskronstraße 13.<br />
Weiterhin ist mir nicht bekannt, wo sich<br />
nachfolgend, genannte Firmen befanden.<br />
Für Hinweise, an welcher Adresse<br />
sich diese Werke befanden, wäre ich<br />
sehr dankbar.<br />
Seiden- und Halbwollfabriken:<br />
Leopold Heymann, zwei Fabrikanlagen<br />
gegründet 1862 Adresse?<br />
Pignol & Heiland AG Adresse?<br />
Strumpffabriken:<br />
Lous Cohn, gegründet 1848<br />
(ca. 300 Arbeiter) Adresse<br />
W. Seifert Nachf., gegründet 1864<br />
(ca. 130 Arbeiter)<br />
Wäschefabrik:<br />
Gebr. Kunz, gegründet 1890<br />
(ca. 130 Arbeiter)<br />
Posamenten- und Gurtefabrik:<br />
L. Schuster (ca. 50 Arbeiter)<br />
Juteweberei, Sack und Planenfabrik:<br />
H. Oeme & Co., Leschwitz bei Görlitz<br />
(ca. 150 Arbeiter)<br />
Wäscheknopffabrik:<br />
Johann Suligo<br />
Taschentuchweberei:<br />
Felix Bloch & Co., (ca. 60 Arbeiter)<br />
Stickerei und Zierdeckenfabrik:<br />
C. G. Reiz<br />
Auch darüber erbitte ich Hinweise an<br />
den <strong>StadtBILD</strong>-Verlag. Der Verlag wird<br />
die Vermittlung zum Autor herstellen.<br />
Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung.<br />
Wolfgang Stiller, Görlitz<br />
Impressum:<br />
Herausgeber (V.i.S.d.P.):<br />
incaming media GmbH<br />
Geschäftsführer:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
Carl-von-Ossietzky-Straße 45<br />
02826 Görlitz<br />
Ruf: (03581) 87 87 87<br />
Fax: (03581) 40 13 41<br />
info@stadtbild-verlag.de<br />
www.stadtbild-verlag.de<br />
Geschäftszeiten:<br />
Mo. - Fr. von 9.00 bis 17.00 Uhr<br />
Druck:<br />
Graphische Werkstätten Zittau GmbH<br />
Verantw. Redakteur:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
(Mitglied im Deutschen<br />
Fachjournalistenverband)<br />
Redaktion:<br />
Andreas Ch. de Morales Roque<br />
Dr. Ernst Kretzschmar<br />
Dipl. - Ing. Eberhard Oertel<br />
Bertram Oertel<br />
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und redaktionelle Texte können nur<br />
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15. <strong>November</strong> <strong>2020</strong><br />
Redaktionsschluss: 20. <strong>November</strong> <strong>2020</strong><br />
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Leserbrief 45
Bauabzugsteuer müssen auch Nicht-Bauunternehmer zahlen<br />
ETL-Steuerberatung<br />
Wer meint, dass Bauabzugsteuer nur Unternehmen der Baubranche betreffe, irrt. Selbst<br />
wenn eine Bauleistung an einen privaten Vermieter erbracht wird, ist dieser grundsätzlich<br />
verpflichtet, einen Steuerabzug in Höhe von 15% der Bruttobausumme vom Rechnungsbetrag<br />
einzubehalten, beim Finanzamt des Bauunternehmers anzumelden und<br />
dorthin abzuführen. Bauabzugsteuer fällt auch für Anzahlungen an. Der Steuerabzug ist<br />
für alle Bauleistungen vorzunehmen, insbesondere für die Herstellung, Instandhaltung,<br />
Änderung und Beseitigung von Bauwerken.<br />
Achtung bei gemischt genutzten Gebäuden<br />
Lediglich für Baumaßnahmen an einem zu eigenen Wohnzwecken genutzten oder an einem<br />
zur unentgeltlichen Nutzung überlassenen Gebäude fällt keine Bauabzugsteuer an.<br />
Bei Gebäuden, die sowohl zu eigenen Wohnzwecken als auch unternehmerisch genutzt<br />
werden, muss daher geprüft werden, ob die Bauleistung dem unternehmerischen oder<br />
nichtunternehmerischen Teil des Bauwerkes zugeordnet werden kann. Lässt sich eine<br />
Baumaßnahme eindeutig dem unternehmerischen Bereich zuordnen, ist der Steuerabzug<br />
vorzunehmen. Ist eine eindeutige Zuordnung nicht möglich, sind die Bauleistungen<br />
dem Zweck zuzuordnen, der überwiegt. Dabei ist das Verhältnis der Nutzflächen ein<br />
geeigneter Prüfmaßstab.<br />
Ausnahmen bestätigen die Regel<br />
Wer nicht mehr als zwei Wohnungen vermietet, muss keine Bauabzugsteuer zahlen.<br />
Auch wenn ein Unternehmer nicht mehr als zwei Wohnungen oder Gewerberäume<br />
vermietet, ist kein Steuerabzug vorzunehmen, soweit die in einem Kalenderjahr von<br />
demselben Bauunternehmer zu erbringenden Leistungen voraussichtlich nicht mehr<br />
als 5.000 Euro betragen. Der Betrag erhöht sich für diejenigen auf 15.000 Euro, die<br />
ausschließlich umsatzsteuerfreie Vermietungsleistungen erbringen und ansonsten nicht<br />
unternehmerisch tätig sind. Auf die in einem Kalenderjahr getätigten Zahlungen kommt<br />
es nicht an.<br />
Freistellungsbescheinigung schützt vor Bauabzugsteuer<br />
Auch wenn der Bauleistende vor der Zahlung eine gültige Freistellungsbescheinigung<br />
vorlegt, ist kein Steuerabzug vorzunehmen und der Rechnungsbetrag darf in vollem<br />
Umfang an den Bauunternehmer ausgezahlt werden. Die Finanzverwaltung kann jedoch<br />
eine einmal erteilte Freistellungsbescheinigung widerrufen. Bauherren sollten daher<br />
über eine Abfrage beim Bundeszentralamt für Steuern (www.bzst.de) prüfen, ob<br />
eine vorgelegte Freistellungsbescheinigung noch gültig ist, denn sie haften, wenn sie<br />
keine Bauabzugsteuer einbehalten und sich nicht von der Gültigkeit einer vorgelegten<br />
Freistellungsbescheinigung überzeugt haben.<br />
46<br />
Autor: Ulf Hannemann, Freund & Partner GmbH (Stand: 09.10.<strong>2020</strong>)<br />
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