Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 992 — Diese hochbejahrte Frau, die Mutter des gegenwärtigen Kretschamhalters, war seit Wochen schon krank und bettlägrig. Wie es jedoch unter den Landleuten zu gehen pflegt, wenn nicht augenfällige Todesgefahr vorhanden ist, daß sich die Angehörigen wenig in ihren täglichen Geschäften dadurch stören lassen, so ging es auch hier. Man behalf sich mit Hausmitteln oder bekümmerte sich auch zuweilen gar nicht um die Kranke. An übermäßige Pflege nicht gewöhnt, fühlte sich die alte Maja durch solche scheinbare Vernachlässigung keineswegs beleidigt. Sie vertrieb sich die langen endlosen Stunden mit Absingung ihrer Liederbruchstücke oder mit Hersagung von Volksmährchen, die sie sich unermüdlich selbst vorerzählte und sich dabei vortrefflich unterhielt. Da sie außerdem keine Schmerzen litt, sondern eigentlich blos in Folge langsam hinschwindender Körperkräfte nicht mehr ausdauern konnte, so war ihr Zustand weder für sie selbst, noch für die Hausgenossen störend. Auf die wunderlichen Reden, auf das heimliche, nicht selten unheimliche Lachen und auf das heftige Gezänk, das sie mit Personen führte, die sie gegenwärtig glaubte, achtete Niemand, da man die Wunderlichkeiten der alten Mutter sattsam kannte und ihre Worte für eben so schuldlos als verworrenen Einbildungen entsprungen hielt, und so konnte denn Maja Tage und Nächte lang nach Herzenslust die tollsten Geschichten erzählen und die entsetzlichsten Schmäh-

— 993 — und Schimpfreden ausstoßen, ohne daß es Jemandem einfiel, sie mit Bitten zur Ruhe zu verweisen. Jürge, Maja’s Sohn, hatte die Mutter immer tiefsinnig, zu stiller Melancholie hinneigend, gekannt. Später nach seines Vaters Tode war sie geistesschwach, endlich vollkommen blödsinnig geworden, wenigstens nannte man sie so, da sie seitdem aus ihrer schauerlichen Schweigsamkeit erwachte und die erwähnten Lieder zu singen begann. Wir wissen, daß Jürge diesen betrübenden Zustand seiner Mutter dem Herzeleid zuschrieb, welches ihr eine unglückliche Tochter zugefügt hatte. Landleute sind selten empfindsam, obwohl sie häufig mehr Herz besitzen, als die höchstgebildeten Bewohner der Städte. Fromm und strenggläubig wissen sie sich mit stiller Ergebenheit in alles Unabänderliche und Nothwendige zu fügen. Zu dem Unabwendbarsten aber rechnen sie den Tod bejahrter Personen. Wo dieser späte und ernste Gast an einem Hause anklopft, da empfängt man ihn eben so ernst und pflegt sich männlich zu fassen. Zuweilen kommt es wohl auch vor, daß man der Stunde des Abscheidens einer geliebten Person erwartungs-, ja sehnsuchtsvoll entgegen sieht und kein Hehl daraus macht, weil man sich in vollkommener Ruhe gestehen muß, daß der Tod eine Wohlthat für den Sterbenden wie für die Überlebenden sein würde. In diesem Falle war Jürge. Maja’s hohes Alter erlaubte nicht die Annahme, daß sie wieder genesen werde,

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und Schimpfreden ausstoßen, ohne daß es Jemandem<br />

einfiel, sie mit Bitten zur Ruhe zu verweisen.<br />

Jürge, Maja’s Sohn, hatte die Mutter immer tiefsinnig,<br />

zu stiller Melancholie hinneigend, gekannt. Später<br />

nach seines Vaters Tode war sie geistesschwach,<br />

endlich vollkommen blödsinnig geworden, wenigstens<br />

nannte man sie so, da sie seitdem aus ihrer schauerlichen<br />

Schweigsamkeit erwachte und die erwähnten<br />

Lieder zu singen begann. Wir wissen, daß Jürge diesen<br />

betrübenden Zustand seiner Mutter dem Herzeleid<br />

zuschrieb, welches ihr eine unglückliche Tochter zugefügt<br />

hatte.<br />

Landleute sind selten empfindsam, obwohl sie häufig<br />

mehr Herz besitzen, als die höchstgebildeten Bewohner<br />

der Städte. Fromm und strenggläubig wissen<br />

sie sich mit stiller Ergebenheit in alles Unabänderliche<br />

und Nothwendige zu fügen. Zu dem Unabwendbarsten<br />

aber rechnen sie den Tod bejahrter Personen. Wo dieser<br />

späte und ernste Gast an einem Hause anklopft, da<br />

empfängt man ihn eben so ernst und pflegt sich männlich<br />

zu fassen. Zuweilen kommt es wohl auch vor, daß<br />

man der Stunde <strong>des</strong> Abscheidens einer geliebten Person<br />

erwartungs-, ja sehnsuchtsvoll entgegen sieht und<br />

kein Hehl daraus macht, weil man sich in vollkommener<br />

Ruhe gestehen muß, daß der Tod eine Wohlthat für<br />

den Sterbenden wie für die Überlebenden sein würde.<br />

In diesem Falle war Jürge. Maja’s hohes Alter erlaubte<br />

nicht die Annahme, daß sie wieder genesen werde,

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