Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 956 — Lore schlang ihre magern Arme um den stämmigen Nacken des zürnenden Mannes und strich ihm die verworrenen langen Locken aus der Stirn, die ihre bleichen Lippen in flüchtigem Kusse berührten. Martell sah ihr lange still und ernst in die liebreichen, von Thränen erfüllten blauen Augen. »Bedanken will ich mich,« sagte er nach einer geraumen Pause und sein bisher kaltes Auge blitzte in dunkelm Feuer auf. »Bedanken? Bei wem und für was?« »Bei meinem Herrn Vetter für die ausgezeichnete Behandlung, die er mir hat zu Theil werden lassen,« erwiederte Martell höhnisch lächelnd. »Das ist es gerade, was ich fürchte,« seufzte Lore und ließ ihren Arm langsam von der Schulter des geliebten Mannes gleiten. »Das, was Du Dank nennst, wird hart und bitter sein –« »Ei, mein Schatz, die Wohlthaten, die er uns erzeigt hat, waren auch nicht süß, die Lasten, die wir für ihn trugen, nicht leicht! Ich will blos mit ihm sprechen, wie es ein Vetter darf und soll.« »Und wenn hast Du die Absicht, eine solche Unterredung mit Herrn am Stein Dir zu erbitten?« »Ich werde gar nicht darum bitten, arme Taube, ich werde warten, bis es Zeit ist und dann sprechen!« »Wenn er Dich nur zu Worte kommen läßt!« »Ich besitze, Gott Lob, eine kräftige Stimme, wahrscheinlich das Einzige, wofür ich ihm mittelbar Dank

— 957 — schuldig bin, da ich als Saalaufseher das Geräusch der Maschinen oft überschreien mußte. Andere freilich, deren Lungen nicht kräftig genug waren, bekamen die Schwindsucht und siechten hin. Grade, weil Gott mich erhalten hat, scheint mir, soll ich noch zu etwas Besserem berufen sein, als mein Lebelang blos an hundert und mehr Spindeln auf- und abzulaufen, um die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen.« Während dieses Zwiegespräch zwischen Martell und seiner Frau stattfand, war der Aufruf zur Todtenschau auf der Insel an vielen Orten erfolgt. Schaaren Neugieriger eilten nach dem See, denn nur Wenige kannten den Hergang der Sache und wußten um die letzten Augenblicke der Verstorbenen. »Siehst Du?« sagte Martell lächelnd zu Lore und deutete auf die Reihen der schnell dahin eilenden Menschen. »Graf Adrian hat den Neujahrwunsch seiner getreuen Arbeiter empfangen. Er beeilt sich, ihnen pflichtschuldigst seinen gefühltesten Dank abzustatten – so ungefähr heißt ja die herzlose Redensart, die alle Vornehmen und Hochgeborenen den Armen und Niedrigen gegenüber süß lächelnd in den Mund zu nehmen pflegen.« Bald nach erfolgtem Aufruf kam Traugott aus der Kirche, zu neuen Leiden ermuthigt, wie immer, wenn er das Haus des Herrn besucht hatte. Etwas später erscholl die lähmende Nachricht von dem Hungertode

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Lore schlang ihre magern Arme um den stämmigen<br />

Nacken <strong>des</strong> zürnenden Mannes und strich ihm die verworrenen<br />

langen Locken aus der Stirn, die ihre bleichen<br />

Lippen in flüchtigem Kusse berührten. Martell sah<br />

ihr lange still und ernst in die liebreichen, von Thränen<br />

erfüllten blauen Augen.<br />

»Bedanken will ich mich,« sagte er nach einer geraumen<br />

Pause und sein bisher kaltes Auge blitzte in<br />

dunkelm Feuer auf.<br />

»Bedanken? Bei wem und für was?«<br />

»Bei meinem Herrn Vetter für die ausgezeichnete Behandlung,<br />

die er mir hat zu Theil werden lassen,« erwiederte<br />

Martell höhnisch lächelnd.<br />

»Das ist es gerade, was ich fürchte,« seufzte Lore und<br />

ließ ihren Arm langsam von der Schulter <strong>des</strong> geliebten<br />

Mannes gleiten. »Das, was Du Dank nennst, wird hart<br />

und bitter sein –«<br />

»Ei, mein Schatz, die Wohlthaten, die er uns erzeigt<br />

hat, waren auch nicht süß, die Lasten, die wir für ihn<br />

trugen, nicht leicht! Ich will blos mit ihm sprechen, wie<br />

es ein Vetter darf und soll.«<br />

»Und wenn hast Du die Absicht, eine solche Unterredung<br />

mit Herrn am Stein Dir zu erbitten?«<br />

»Ich werde gar nicht darum bitten, arme Taube, ich<br />

werde warten, bis es Zeit ist und dann sprechen!«<br />

»Wenn er Dich nur zu Worte kommen läßt!«<br />

»Ich besitze, Gott Lob, eine kräftige Stimme, wahrscheinlich<br />

das Einzige, wofür ich ihm mittelbar Dank

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