Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 928 — hervorschreitenden Gestalten. Es waren fünf Männer und eine Frau. Vereint traten diese sechs schweigenden Menschen den Weg über den See an, der jetzt mit fußdickem Eise bedeckt war und eine gefahrlose Brücke bis zur Felseninsel bildete. Vor dem bald auf- bald abwärts treibenden sandfeinen Schnee konnte man die hohen Gebäude der Fabrik nicht erkennen, nur die zwei braunrothen Schornsteine schimmerten wie die hohen Masten eines Kriegsschiffes durch das niederfallende Gewölk. Zuweilen, wenn der Sturm über die Häupter der nächtlichen Wanderer dahin fuhr und fern am schwarzen Wall der Haide verbrauste, ließ die Glocke auf der Fabrik schrillende Töne hören, die wie das Wimmern Verunglückter in der Einsamkeit der Nacht erklangen. Nach mehrmaligem Rasten mitten auf dem öden Schneefelde des See’s erreichten die sechs Meister endlich sehr erschöpft und trotz der schneidenden Kälte erhitzt das schützende Ufer der Felseninsel. Sie gingen schnurstracks nach dem modernen Wohnhause des Herrn am Stein. Vor der Thür desselben bildeten sie einen Kreis, traten den angehäuften Schnee etwas nieder und legten dann, ohne ein Wort zu wechseln, die Lasten, welche sie trugen, behutsam so auf die Schwelle nieder, daß sie zur Hälfte sich gegen die Thür anlehnen mußten. Wäre die Nacht nicht so finster, der Schneesturm nicht so überaus heftig gewesen, so würde ein heimlicher Zuschauer die starren Leichen von

— 929 — fünf Kindern erkannt haben! – Sie hatten alle mit dem hinsterbenden Jahre ihre Augen für immer geschlossen; sie waren – arme, schuldlose Opfer der Speculation eines herzlosen Tyrannen – vor Hunger gestorben! Ihre bejammernswerthen Ältern hatten den furchtbaren Entschluß gefaßt, ihrem gemeinsamen Peiniger mit den kleinen Leichen der Geopferten ein Neujahrsgeschenk zu machen. Die bleichen, kalten Lippen ihrer Kinder, aus denen noch jetzt die gelblichen Zähne wie um Brod bittend hervorsahen, sollten dem Manne des Goldes ein glückliches Neujahr wünschen. Als die Leichen mit den Gesichtern nach Osten gewandt an die Thür des reichen Fabrikherrn niedergelegt waren, sprachen die Männer ein Vaterunser, wie über dem Grabe eben Beerdigter. Nur die Frau, die einzige, welche von allen Müttern der übrigen Verhungerten den Muth gehabt hatte, ihr Kind, ein Mädchen von sieben Jahren, auf diesem Schmerzenswege zu begleiten, brach jetzt in lautes Schluchzen aus. Der Kälte und des tiefen Schnees nicht achtend, stürzte sie nieder auf ihre Knie, umschloß nochmals mit mütterlichem Arm den entschlafenen Liebling und drückte Kuß auf Kuß auf seine kalten Lippen. Bald ging ihr Schluchzen in ein lautes Weinen und Stöhnen über. Ausrufe des Schmerzes, Worte des Zornes und der Verzweiflung, endlich ein erschütterndes Gebet um Erbarmen stieg von ihrem Munde zum stürmenden Himmel auf!

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hervorschreitenden Gestalten. Es waren fünf Männer<br />

und eine Frau. Vereint traten diese sechs schweigenden<br />

Menschen den Weg über den See an, der jetzt<br />

mit fußdickem Eise bedeckt war und eine gefahrlose<br />

Brücke bis zur Felseninsel bildete. Vor dem bald<br />

auf- bald abwärts treibenden sandfeinen Schnee konnte<br />

man die hohen Gebäude der Fabrik nicht erkennen,<br />

nur die zwei braunrothen Schornsteine schimmerten<br />

wie die hohen Masten eines Kriegsschiffes durch<br />

das niederfallende Gewölk. Zuweilen, wenn der Sturm<br />

über die Häupter der nächtlichen Wanderer dahin fuhr<br />

und fern am schwarzen Wall der Haide verbrauste, ließ<br />

die Glocke auf der Fabrik schrillende Töne hören, die<br />

wie das Wimmern Verunglückter in der Einsamkeit der<br />

Nacht erklangen.<br />

Nach mehrmaligem Rasten mitten auf dem öden<br />

Schneefelde <strong>des</strong> See’s erreichten die sechs Meister endlich<br />

sehr erschöpft und trotz der schneidenden Kälte<br />

erhitzt das schützende Ufer der Felseninsel. Sie gingen<br />

schnurstracks nach dem m<strong>oder</strong>nen Wohnhause<br />

<strong>des</strong> Herrn am Stein. Vor der Thür <strong>des</strong>selben bildeten<br />

sie einen Kreis, traten den angehäuften Schnee etwas<br />

nieder und legten dann, ohne ein Wort zu wechseln,<br />

die Lasten, welche sie trugen, behutsam so auf die<br />

Schwelle nieder, daß sie zur Hälfte sich gegen die Thür<br />

anlehnen mußten. Wäre die Nacht nicht so finster, der<br />

Schneesturm nicht so überaus heftig gewesen, so würde<br />

ein heimlicher Zuschauer die starren Leichen von

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