Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 908 — Gilbert rieb sich sein blau und braun gedrücktes Ohr und murmelte etwas von unglücklichem Philisterleben. Dann suchte er geräuschlos seine Kammer. 46. ZWEI KINDER DES LASTERS. Wir überspringen einige Tage, in denen nichts Merkwürdiges vorfiel, und bitten den Leser, uns auf kurze Zeit nach Hamburg zu begleiten. Es ist Silvesterabend. Auf allen Straßen erschallt gedämpfte Musik. Die langen Reihen der reichen Kaufmannshäuser mit ihren glänzenden polirten Spiegelscheiben schimmern von tausend Lichtern und werfen ihren strahlenden Widerschein auf die weißgetünchten Wände oder die mit Schnee bedeckten Dächer der gegenüberstehenden Häuser. Die hüpfenden Schatten, die schnell vorüberschweben an den leisbewegten Gardinen, verrathen den jubelnden Frohsinn, das lachende Glück, den sichern Übermuth der Versammelten, die kaum die Stunde erwarten können, deren dumpfe Glockentöne über das Grab eines versinkenden Jahres den Segen läuten und ein neues mit unverstandenem Gruß über die Schwelle der Zeit geleiten. Noch wimmeln die breiten Straßen von geschäftigen, schauenden oder auf verbotenen Erwerb ausgehenden Menschen; denn der Winter hat streng begonnen, das Leben ist theuer und der Verdienst karg! Und die Jugend will genießen, will fröhlich sein mit den Fröhlichen,

— 909 — ausschweifend mit den Ausschweifenden! – Seit langer Zeit hüpften nicht so viele geschmückte, lächelnde Kinder der Sünde durch Hamburgs Straßen, wie an diesem sternenhellen, eiskalten Sylvesterabende. Die Glocken von den Hauptthürmen verkündeten die eilfte Stunde der Nacht. Die beiden Glockenspiele auf St. Nicolai und St. Petri sangen weitschallend über Stadt und Strom und Land ihre ernsten, mahnenden Choräle. Aber Niemand von den Bewohnern Hamburgs achtete auf die ehernen Stimmen, die wie ein Chor vorüberschwebender Geister aus dem Himmel herabklangen. Die Reichen tanzten, jubelten und schwelgten in den Prunkgemächern ihrer Paläste, die Armen hungerten, weinten, beteten oder fluchten in feuchten Spelunken tief unter der Erde oder in versteckten, von keinem reinigenden Lufthauch wohlthätig berührten Kammern. Sie konnten das Abschiedslied der dumpfen Glocken nicht hören. Sie vernahmen nur den Groll ihres gefolterten Herzens und den Verzweiflungsschrei, der wie Schakalsgeheul in der trostleeren Wüste ihrer ausgebrannten Seele verhallte. Mit den letzten Accorden der schrillend auszitternden Töne des Glockenspiels trat Klütken Hannes aus seinem Keller, hob die trüb brennende Lampe von dem halbverfaulten Eichpfahle, auf dem sie befestigt war, um spät Vorübergehenden den Eingang in die dunstige Höhle zu zeigen, und schloß mit doppeltem Riegel die mit dem schlechten Pflaster in gleicher Höhe

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ausschweifend mit den Ausschweifenden! – Seit langer<br />

Zeit hüpften nicht so viele geschmückte, lächelnde<br />

Kinder der Sünde durch Hamburgs Straßen, wie an<br />

diesem sternenhellen, eiskalten Sylvesterabende.<br />

<strong>Die</strong> Glocken von den Hauptthürmen verkündeten<br />

die eilfte Stunde der Nacht. <strong>Die</strong> beiden Glockenspiele<br />

auf St. Nicolai und St. Petri sangen weitschallend<br />

über Stadt und Strom und Land ihre ernsten, mahnenden<br />

Choräle. Aber Niemand von den Bewohnern<br />

Hamburgs achtete auf die ehernen Stimmen, die wie<br />

ein Chor vorüberschwebender Geister aus dem Himmel<br />

herabklangen. <strong>Die</strong> Reichen tanzten, jubelten und<br />

schwelgten in den Prunkgemächern ihrer Paläste, die<br />

Armen hungerten, weinten, beteten <strong>oder</strong> fluchten in<br />

feuchten Spelunken tief unter der Erde <strong>oder</strong> in versteckten,<br />

von keinem reinigenden Lufthauch wohlthätig<br />

berührten Kammern. Sie konnten das Abschiedslied<br />

der dumpfen Glocken nicht hören. Sie vernahmen nur<br />

den Groll ihres gefolterten Herzens und den Verzweiflungsschrei,<br />

der wie Schakalsgeheul in der trostleeren<br />

Wüste ihrer ausgebrannten Seele verhallte.<br />

Mit den letzten Accorden der schrillend auszitternden<br />

Töne <strong>des</strong> Glockenspiels trat Klütken Hannes aus<br />

seinem Keller, hob die trüb brennende Lampe von dem<br />

halbverfaulten Eichpfahle, auf dem sie befestigt war,<br />

um spät Vorübergehenden den Eingang in die dunstige<br />

Höhle zu zeigen, und schloß mit doppeltem Riegel<br />

die mit dem schlechten Pflaster in gleicher Höhe

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