Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 664 — »Nach einer andern gesetzlichen Bestimmung mußten alle unehelichen Kinder, wenn sie vor dem zurückgelegten vierzehnten Jahre starben, unausbleiblich auf die Anatomie geliefert werden! Wahrscheinlich sind die Gesetzgeber bei dieser höchst moralischen Bestimmung der Ansicht gewesen, die bis heut’ noch leider allgemein verbreitet ist, daß jede vom Priester nicht eingesegnete Verbindung eine sündhafte sei und der erkauften Liebe gleichkomme! Eine entsetzliche, verdammenswürdige Annahme, die jede reine Neigung tödtet, die alle wahre Sittlichkeit gänzlich untergräbt! Weit entfernt, die Ehe herabsetzen zu wollen, bin ich doch fest überzeugt, daß mehr ehelich geborene Kinder unkeuschen Umarmungen ihre Entstehung verdanken, als unehelich geborene, und doch entblödet man sich nicht, diesen Schuldlosen einen Fehl, einen Flecken anzudichten, der sie in den Augen der vorurtheilsvollen Menge der übrigen Menschheit gegenüber herabsetzt. »Am schrecklichsten aber und gradezu unmenschlich erschien mir die grausame, aller christlichen Liebe hohnsprechende Verordnung, nach welcher alle Leichname gefallener Dienstmädchen, wenn auch seit ihrem Falle ein Zeitraum von vierzig Jahren vergangen sein sollte, der Anatomie anheimfallen. Merken Sie wohl, nur der Dienstmädchen, gefallene Töchter der Bürger

— 665 — und des Adels unterliegen dieser Strafe, die mithin nur für die Armuth erfunden worden ist, nicht. 1 »Schon wollte ich mich in mein Schicksal fügen, als ich aufmerksam gemacht wurde, daß vielleicht durch persönliche Rücksprache mit einem hochgestellten Manne ein Tausch bewerkstelligt werden könne. Man lobte die Höflichkeit und Zuvorkommenheit dieses Mannes und ich ging der todten Schwester zu Liebe zu ihm. In der That fand ich einen der einnehmendsten Männer in ihm, die mir je vorgekommen sind. Jung, interessant, sehr lebhaft und überaus galant, behandelte er mich wie eine Dame. Dies gewann ihm sogleich mein Vertrauen, denn ich war bisher immer nur an unfreundliche Befehle gewöhnt. Meinen inständigen Bitten schien er nicht abgeneigt. Er versprach mir, sich zu erkundigen, ob eine Vertauschung, ohne Verdacht zu erwecken, möglich sei, und bat mich, ihn Abends nach Sonnenuntergang nochmals mit meinem Besuche zu beehren. »Beruhigter kehrte ich zu meiner Herrschaft zurück, die mich sehr ungnädig aufnahm. Unverdiente Vorwürfe und bittere Schmähungen mußte ich ohnehin so tief Gebeugte über mich ergehen lassen. Sie kündigte mir den Dienst, da sie ein Mädchen, auf welches die ganze Stadt mit Fingern deutete, nicht um sich haben 1 Diese abscheulichen Verordnungen hinsichtlich der an die Anatomie abzuliefernden Leichname bestehen noch heutigen Tages in Jena.

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und <strong>des</strong> Adels unterliegen dieser Strafe, die mithin nur<br />

für die Armuth erfunden worden ist, nicht. 1<br />

»Schon wollte ich mich in mein Schicksal fügen,<br />

als ich aufmerksam gemacht wurde, daß vielleicht<br />

durch persönliche Rücksprache mit einem hochgestellten<br />

Manne ein Tausch bewerkstelligt werden könne.<br />

Man lobte die Höflichkeit und Zuvorkommenheit dieses<br />

Mannes und ich ging der todten Schwester zu Liebe<br />

zu ihm. In der That fand ich einen der einnehmendsten<br />

Männer in ihm, die mir je vorgekommen sind. Jung, interessant,<br />

sehr lebhaft und überaus galant, behandelte<br />

er mich wie eine Dame. <strong>Die</strong>s gewann ihm sogleich<br />

mein Vertrauen, denn ich war bisher immer nur an unfreundliche<br />

Befehle gewöhnt. Meinen inständigen Bitten<br />

schien er nicht abgeneigt. Er versprach mir, sich<br />

zu erkundigen, ob eine Vertauschung, ohne Verdacht<br />

zu erwecken, möglich sei, und bat mich, ihn Abends<br />

nach Sonnenuntergang nochmals mit meinem Besuche<br />

zu beehren.<br />

»Beruhigter kehrte ich zu meiner Herrschaft zurück,<br />

die mich sehr ungnädig aufnahm. Unverdiente Vorwürfe<br />

und bittere Schmähungen mußte ich ohnehin so<br />

tief Gebeugte über mich ergehen lassen. Sie kündigte<br />

mir den <strong>Die</strong>nst, da sie ein Mädchen, auf welches die<br />

ganze Stadt mit Fingern deutete, nicht um sich haben<br />

1 <strong>Die</strong>se abscheulichen Verordnungen hinsichtlich der an die<br />

Anatomie abzuliefernden Leichname bestehen noch heutigen Tages<br />

in Jena.

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