Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes
Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes
— 446 — nicht allzu genau. Daher giebt es nur äußerst selten Gemeindehäuser mit ganzen Fenstern, guten Öfen, unzerbrochenen Schemeln, Bänken und Tischen. Dergleichen hält man für unnöthigen, überdies den Bewohnern solcher Gebäude nicht ziemenden Luxus. Das Gemeindehaus, von dem wir sprechen, gehörte unter die schlechtesten. Es war einstöckig, Lehmwand und Strohdach waren, jene nach außen, dieses nach innen eingesunken, so daß der Firsten eine Schlangenlinie beschrieb und die kleinen mit Spänen, Papier und Scherben verklebten Fenster jeden Augenblick auf die Straße zu fallen drohten. Von der Feueresse waren blos noch vier stumpfe Pflöcke übrig. Ein Gewittersturm hatte das runde Schutzdach entführt und seitdem fanden Regen und Schnee ungehindert Eingang in diese Höhle der Armuth, Krankheit und Noth. Glücklicherweise war das Dorf nicht stark bevölkert, so daß die Zahl der Bewohner des Gemeindehauses sich nur auf vier Individuen belief. Zu diesen gehörte auch Sloboda’s verwittweter Sohn, der »närrische Nathanael«, wie ihn seine Bekannten nannten. Seit er den Verstand verloren hatte, war er hier untergebracht worden, weil es Sloboda an Zeit fehlte, den Unglücklichen zu beaufsichtigen und zu pflegen. Denn im Gemeindehause mußte auf Kosten der Gemeinde für Kranke eine Wärterin gehalten werden, die für ihren höchst kargen Lohn verpflichtet war, zu bestimmten Stunden für die Bedürfnisse derselben zu sorgen.
— 447 — Eigentlich hätte Nathanael keine Wartung gebraucht. Er war der stillste, gemüthlichste, lenksamste Wahnsinnige, den es geben konnte. Wer an der baufälligen Hütte vorüberging, konnte sein blasses, immer lächelndes Gesicht entweder in der Öffnung einer fehlenden Fensterscheibe sehen, was ganz den Anstrich hatte, als habe man statt des Glases eine menschliche Larve mit beweglichen Augen hineingeklebt, oder ihn selbst vor der lochartigen Hausthüre betrachten, wo er, einen Knüttel im Arm, Wache stand und wie ein Posten gravitätisch auf- und niederging. Er that keinem Kinde etwas zu Leide, war mit Allem zufrieden, aß und trank, wenn man ihm etwas gab, und fastete ohne Murren, wurde dies vergessen. Gewöhnlich sprach er mit sich selbst, und so wenig man auch von seinen Reden verstehen konnte, so war doch aus vereinzelten Worten und aus stets wiederkehrenden Wendungen und Gedankenbruchstücken abzunehmen, daß er des festen Glaubens lebe, seine erschlagene Frau habe ihm einen Knaben hinterlassen, der beim Begräbniß der Mutter verloren gegangen sei und nun ohne Vater und Mutter elend umkommen müsse. Es wußte aber Jedermann, daß Nathanaels Frau nach kaum anderthalbjähriger Ehe ums Leben gekommen war, daß sie niemals ein lebendiges Kind geboren hatte, wohl aber etwa ein halbes Jahr vor ihrem plötzlichen Tode von einem todten Knaben entbunden worden war.
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Eigentlich hätte Nathanael keine Wartung gebraucht.<br />
Er war der stillste, gemüthlichste, lenksamste Wahnsinnige,<br />
den es geben konnte. Wer an der baufälligen Hütte<br />
vorüberging, konnte sein blasses, immer lächeln<strong>des</strong><br />
Gesicht entweder in der Öffnung einer fehlenden Fensterscheibe<br />
sehen, was ganz den Anstrich hatte, als habe<br />
man statt <strong>des</strong> Glases eine menschliche Larve mit beweglichen<br />
Augen hineingeklebt, <strong>oder</strong> ihn selbst vor der<br />
lochartigen Hausthüre betrachten, wo er, einen Knüttel<br />
im Arm, Wache stand und wie ein Posten gravitätisch<br />
auf- und niederging. Er that keinem Kinde etwas<br />
zu Leide, war mit Allem zufrieden, aß und trank,<br />
wenn man ihm etwas gab, und fastete ohne Murren,<br />
wurde dies vergessen. Gewöhnlich sprach er mit sich<br />
selbst, und so wenig man auch von seinen Reden verstehen<br />
konnte, so war doch aus vereinzelten Worten<br />
und aus stets wiederkehrenden Wendungen und Gedankenbruchstücken<br />
abzunehmen, daß er <strong>des</strong> festen<br />
Glaubens lebe, seine erschlagene Frau habe ihm einen<br />
Knaben hinterlassen, der beim Begräbniß der Mutter<br />
verloren gegangen sei und nun ohne Vater und Mutter<br />
elend umkommen müsse. Es wußte aber Jedermann,<br />
daß Nathanaels Frau nach kaum anderthalbjähriger<br />
Ehe ums Leben gekommen war, daß sie niemals ein<br />
lebendiges Kind geboren hatte, wohl aber etwa ein halbes<br />
Jahr vor ihrem plötzlichen Tode von einem todten<br />
Knaben entbunden worden war.