Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 256 — ätherisch, waren alle ihre Bewegungen. Sie ging stets, selbst bei sehr schlechtem und stürmischem Wetter, in bloßem Kopfe, und ihr schönes und reiches aschfarbenes Haar, das sie in zahllosen Locken fessellos trug, umwehte dann häufig ihr von Engelsgüte strahlendes Gesicht gleich weichen Seidenfittichen. Dieses Mädchen war Herta, deren Name bereits mehrmals in unserer Geschichte genannt worden ist. Auch jetzt, wo sie die Erstlinge des Lenzes gesammelt und mit geschickter Hand und sinnigem Geschmack in zarte Sträußchen gebunden hatte, wühlte der Morgenwind, der scharf und kältend über die Haide fuhr, in ihrem reichen Haarwuchs und verschleierte oft den Glanz ihrer großen rehbraunen Augen. Herta kam von ihrem Morgenspaziergange zurück und ging nach dem Schlosse, dessen graue, mit Moos, Flechten und Epheu überwachsenen alten Mauern mit den vielen zackigen Zinnen und spitzen Schieferthürmen von der Sonne beleuchtet, recht ehrwürdig auf dem schroffen Granitfelsen dalagen. Die Zimmer in diesem alten Feudalschlosse waren mehrentheils düster und fast immer nur von je zwei Fenstern erhellt, die sich in thurmartigen halbrunden Vorsprüngen befanden. Auch Herta bewohnte eins dieser schmalen, langen, dunkeln und hohen Gemächer, deren uralte Tapeten von gepreßtem Leder, mit breiten Goldleisten verziert, diesen Gemächern ein ächt

— 257 — mittelalterliches Ansehen gaben. Selbst die Möbeln erinnerten an längst vergangene Tage. Sie waren steif und massenhaft, dabei aber von großer Dauerhaftigkeit und mit äußerster Sorgfalt gearbeitet. Alle Stuhllehnen zeigten die werthvollsten Holzschnitzereien, und die Überzüge von ächtem venetianischen Sammet waren prachtvoll und tadellos. Herta war zeitig darauf bedacht gewesen, sich ihr Zimmer wohnlich einzurichten, und hatte zu diesem Behufe einen jener erwähnten halbrunden Thurmerker, den sie als Arbeitsplatz benutzte, in eine reizende Epheulaube verwandelt, die sie mit nie ermüdender Geduld pflegte und in der sie wie eine Fee in grünem Blätterdämmer saß. Als das Mädchen von ihrem Spaziergange im Schloßgarten zurück kam, stellte sie das Körbchen auf ihren Arbeitstisch in der Epheulaube, nahm eine Buchecker und rief: »Hänschen!« Sogleich klirrte ein dünnes Messingkettchen und ihrem Stuhle gegenüber aus einer Höhle dunkler Epheublätter, die eine Öffnung im Fenster verdeckten, guckte das kleine zierliche Köpfchen eines braunen Eichhörnchens. Lächelnd nahm Herta die Buchecker zwischen ihre frischen schwellenden Lippen und näherte sich dem reinlichen Thierchen, das sogleich gewandt an dem Geäst herabkletterte und das beliebte Futter mit großer Geschicklichkeit aus dem Munde des jungen Mädchens nahm. Während sich Herta noch an den gewandten Sprüngen, dem

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mittelalterliches Ansehen gaben. Selbst die Möbeln erinnerten<br />

an längst vergangene Tage. Sie waren steif<br />

und massenhaft, dabei aber von großer Dauerhaftigkeit<br />

und mit äußerster Sorgfalt gearbeitet. Alle Stuhllehnen<br />

zeigten die werthvollsten Holzschnitzereien,<br />

und die Überzüge von ächtem venetianischen Sammet<br />

waren prachtvoll und tadellos.<br />

Herta war zeitig darauf bedacht gewesen, sich ihr<br />

Zimmer wohnlich einzurichten, und hatte zu diesem<br />

Behufe einen jener erwähnten halbrunden Thurmerker,<br />

den sie als Arbeitsplatz benutzte, in eine reizende<br />

Epheulaube verwandelt, die sie mit nie ermüdender<br />

Geduld pflegte und in der sie wie eine Fee in grünem<br />

Blätterdämmer saß.<br />

Als das Mädchen von ihrem Spaziergange im Schloßgarten<br />

zurück kam, stellte sie das Körbchen auf ihren<br />

Arbeitstisch in der Epheulaube, nahm eine Buchecker<br />

und rief: »Hänschen!« Sogleich klirrte ein dünnes<br />

Messingkettchen und ihrem Stuhle gegenüber aus<br />

einer Höhle dunkler Epheublätter, die eine Öffnung im<br />

Fenster verdeckten, guckte das kleine zierliche Köpfchen<br />

eines braunen Eichhörnchens. Lächelnd nahm<br />

Herta die Buchecker zwischen ihre frischen schwellenden<br />

Lippen und näherte sich dem reinlichen Thierchen,<br />

das sogleich gewandt an dem Geäst herabkletterte<br />

und das beliebte Futter mit großer Geschicklichkeit<br />

aus dem Munde <strong>des</strong> jungen Mädchens nahm. Während<br />

sich Herta noch an den gewandten Sprüngen, dem

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