Ernst Adolf Willkomm Weiße Sclaven oder Die Leiden des Volkes

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— 1346 — »Und er führte Lipskulijan ein Stück von der Straße ab, errichtete dort einen kleinen Hügel und pflanzte darauf eine Gerte und sprach: Auf dem Hügel bete Du, und wenn die Gerte Äpfel tragen wird, so magst Du daraus erkennen, daß Dir Deine Sünden vergeben werden. Hierauf ging er nach Hause. »Nach langer Zeit, als er schon ein hoher Geistlicher war, fuhr er durch denselben Wald und es erblickte dort sein Diener schöne Äpfel auf einem Baume. Er wollte einen pflücken, aber wie er ihn berühren wollte, da hörte er eine Stimme, welche sprach: Du hast mich nicht gepflanzt, Du wirst mich auch nicht pflücken. »Er erzählte dies in aller Schnelligkeit seinem Herrn. Der ging hin, und als er zu dem Äpfelbaum kam, fand er unter demselben einen knieenden Menschen und besann sich auf Lipskulijan. Und der wollte ihm beichten. Und als er ihm die Sünden vergeben hatte, zerfiel Lipskulijan in lauter Staub, und die Äpfel, welche die Seelen derer waren die er ermordet hatte, verschwanden alle. Und eine weiße Taube flog zum Himmel auf und sang: Äpflein trug das Gertelein, Meine Seele muß nun selig sein. Und er hatte so die Gewißheit, daß Lipskulijan selig gestorben sei.« Als Marie dies eigenthümliche wendische Mährchen beendigt hatte, hörte man ein leises Schluchzen. Es war Bianca, welche, ergriffen von dem tiefen Sinn der

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»Und er führte Lipskulijan ein Stück von der Straße<br />

ab, errichtete dort einen kleinen Hügel und pflanzte<br />

darauf eine Gerte und sprach: Auf dem Hügel bete<br />

Du, und wenn die Gerte Äpfel tragen wird, so magst<br />

Du daraus erkennen, daß Dir Deine Sünden vergeben<br />

werden. Hierauf ging er nach Hause.<br />

»Nach langer Zeit, als er schon ein hoher Geistlicher<br />

war, fuhr er durch denselben Wald und es erblickte<br />

dort sein <strong>Die</strong>ner schöne Äpfel auf einem Baume. Er<br />

wollte einen pflücken, aber wie er ihn berühren wollte,<br />

da hörte er eine Stimme, welche sprach: Du hast mich<br />

nicht gepflanzt, Du wirst mich auch nicht pflücken.<br />

»Er erzählte dies in aller Schnelligkeit seinem Herrn.<br />

Der ging hin, und als er zu dem Äpfelbaum kam, fand<br />

er unter demselben einen knieenden Menschen und<br />

besann sich auf Lipskulijan. Und der wollte ihm beichten.<br />

Und als er ihm die Sünden vergeben hatte, zerfiel<br />

Lipskulijan in lauter Staub, und die Äpfel, welche die<br />

Seelen derer waren die er ermordet hatte, verschwanden<br />

alle. Und eine weiße Taube flog zum Himmel auf<br />

und sang:<br />

Äpflein trug das Gertelein,<br />

Meine Seele muß nun selig sein.<br />

Und er hatte so die Gewißheit, daß Lipskulijan selig<br />

gestorben sei.«<br />

Als Marie dies eigenthümliche wendische Mährchen<br />

beendigt hatte, hörte man ein leises Schluchzen. Es<br />

war Bianca, welche, ergriffen von dem tiefen Sinn der

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