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<strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
Siwan 5782<br />
#6. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
06<br />
„Rothschild war ein<br />
Naturromantiker und<br />
hat eine Naturschutzgroßtat<br />
vollbracht.“<br />
Christoph Leditznig<br />
9 120001 135738<br />
ROTHSCHILDS URWALD<br />
Ein unberührter Urwaldrest im<br />
Mostviertel zeugt von der Weitsicht des<br />
Naturromantikers Albert Rothschild<br />
DIRIGENT, DEMOKRAT, PESSIMIST<br />
Chefdirigent Ádám Fischer über Musik,<br />
politische Wertvorstellungen und seine<br />
Sorgen über die Zukunft Ungarns<br />
ERINNERUNGEN IM SALON<br />
Sind bombastische Gedenkzeremonien<br />
noch zeitgemäß? Wer und wie wird die<br />
Erinnerung an die Shoah weitertragen?<br />
LUST AUF PROVOKATION hat der<br />
deutsch-israelische Autor Rafael Seligmann<br />
immer noch – sein neuer Roman<br />
heißt Rafi, Judenbub<br />
EXPERIMENT, FARBE, ATMOSPHÄRE<br />
Helen Frankenthaler – eine Wiederentdeckung<br />
der großen amerikanischen<br />
Malerin in der Kunsthalle Krems<br />
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Editorial<br />
Julia Kaldori<br />
Albert Rothschild beschloss 1875, ein Stück Urwald<br />
in Niederösterreich zu erwerben und als<br />
unberührten Primärwald für die Nachwelt zu erhalten<br />
(Geschichte dazu auf S. 33 f.): ein visionärer Gedanke<br />
in einer Zeit, in der der Mensch noch mit aller<br />
Kraft versucht hat, seine Umwelt zu beherrschen,<br />
und sie damit wohl auch nachhaltig kaputt gewirtschaftet<br />
hat.<br />
Was kaputt ist, muss repariert werden: Tikkun Olam.<br />
Die Reparatur und Verbesserung der Welt gehören zu<br />
den höchsten ethischen Prinzipien des Judentums<br />
und sind Impuls für viele, sich ihrer Umwelt stets bewusst<br />
zu sein – und hoffentlich auch in ihrem Sinne<br />
zu handeln.<br />
Der Rothwald – ein Stück unberührter Urwald in<br />
Niederösterreich.<br />
Doch es gibt noch weitere Prinzipien, die uns zu<br />
einem verantwortungsvollen Umgang mit unserer<br />
(Um-)Welt verpflichten. Eines der 613 Gebote heißt<br />
Bal Taschchit: Lo taschchit! Vernichte nicht! und kann als<br />
Verbot, die Welt mutwillig zu zerstören, gedeutet werden.<br />
In seiner ursprünglichen Form verbot es die Zerstörung<br />
von Obstbäumen. Auch in Kriegszeiten.<br />
Früchte erhalten das Leben, und wir schätzen das<br />
Leben über alles andere. Nicht nur das eigene. Ein<br />
Obstbaum trägt die Früchte für seine eigene Fortpflanzung.<br />
Darüber hinaus bietet er aber auch Nahrung für<br />
andere Lebewesen und dient als vielseitiger Rohstoff.<br />
Unser Nutzen ist jedoch nicht der Hauptzweck der<br />
Früchte, sondern die Schaffung einer neuen Generation.<br />
Und so besteht auch unsere Welt nicht, um sie<br />
leer zu konsumieren, sondern um so in ihr zu leben,<br />
dass eine neue Generation in ihr entstehen kann, die<br />
hoffentlich gesünder und glücklicher ist.<br />
Überfischung, Abholzung, Kohlendioxidemission,<br />
Treibhauseffekt, Artensterben sind nur einige<br />
von vielen Ursachen für die Zerstörung der Erde. Der<br />
Mensch hat zu lange nicht erkannt, dass der Hauptzweck<br />
des Lebens darin besteht, sich in all seinen Formen<br />
zu erhalten und weiterzuentwickeln.<br />
Es gibt (noch) genug Ressourcen auf dem Planeten<br />
für uns alle, wenn wir endlich gemeinsam nach besseren<br />
Lösungen als dem reinen Konsum und Vergnügen<br />
für unsere eigenen Zwecke suchen. Wir müssen<br />
uns bewusst machen, dass wir die Hüter der uns zur<br />
Verfügung stehenden Ressourcen sind und im Umgang<br />
mit diesen Verantwortung für die folgenden Generationen<br />
tragen.<br />
Ein weiteres Konzept stammt aus Levitikus 19:16.<br />
Darin wird uns befohlen, nicht zu verleumden und<br />
dem Blutvergießen unserer Nächsten nicht tatenlos<br />
zuzusehen, und das heißt, nicht zuzulassen,<br />
dass jemand bzw. etwas geschädigt wird,<br />
wenn wir es verhindern können. Es ist jenes Leitprinzip,<br />
das sich – wie ich vor kurzem gelesen<br />
habe – auch Rabbiner Abraham Joshua Heschel<br />
zur Grundlage seiner Friedensarbeit während<br />
des Vietnamkriegs machte: „Und so beschloss<br />
ich, meine Lebensweise zu ändern und mich für<br />
den Frieden in Vietnam zu engagieren.“ Heschel<br />
macht damit deutlich, worin der Schlüssel zum<br />
Wandel liegt: im persönlichen Entschluss, sich<br />
zu ändern – nicht zum Eigenzweck, sondern für<br />
die Gemeinschaft.<br />
Wenn wir alle unser Verhalten nur ein wenig<br />
ändern – ein Ding mehr recyceln, eine Flugreise<br />
weniger unternehmen, einmal mehr den öffentlichen<br />
Nahverkehr statt das Auto nutzen, statt Golfrasen<br />
ein wenig Wildwuchs für Insekte im Garten stehen<br />
lassen und statt ein neues Paar Schuhe ein altes,<br />
liebgewonnenes reparieren lassen –, können wir die<br />
Welt für die kommenden Generationen vielleicht doch<br />
so hinterlassen, dass sie die Möglichkeit erhalten, es<br />
noch besser zu machen, anstatt sich darum zu kümmern,<br />
die Hitzewellen, den Wasser- und Rohstoffmangel<br />
und die daraus resultierenden kriegerischen Konflikte<br />
zu überstehen.<br />
Und so heißt es im Midrasch: „In der Stunde der<br />
Schöpfung, als G’tt den ersten Menschen schuf, nahm<br />
er ihn und zeigte ihm alle Bäume im Garten Eden, im<br />
Paradies. Er sagte dem Menschen: Siehe wie schön<br />
und angenehm meine Schöpfung ist. Und alles, was<br />
ich erschaffen habe, habe ich für dich getan. Denk<br />
daran, meine Welt nicht zu verderben und zu zerstören.<br />
Wenn du es aber tust, wird es keinen geben, der<br />
sie nach dir reparieren kann.“ Albert Rothschild hat<br />
mit seiner visionären Idee ein Stück seines Gartens<br />
Eden für die Nachwelt bewahrt.<br />
„„Sei du selbst<br />
die Veränderung,<br />
die du dir<br />
für diese Welt<br />
wünschst.“<br />
Mahatma Gandhi<br />
© Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />
wına-magazin.at<br />
1<br />
edi0622_GR_korrAH_X.indd 1 08.06.22 12:31
S.16<br />
Viviane Shklarek erkrankte an Long<br />
Covid. Schritt für Schritt bemüht sie<br />
sich, gesund zu werden – und möchte<br />
mit ihrem positiven Elan dabei auch<br />
andere motivieren.<br />
INHALT<br />
„Aber es war<br />
ein bisschen so,<br />
wie wenn<br />
man das Leben<br />
durch einen<br />
Schleier<br />
sieht.<br />
Viviane Shklarek<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
Herstellungsort: Bad Vöslau<br />
2 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 Musik inszenieren<br />
Ádám Fischer dirigiert an der Staatsoper<br />
Haydns Jahreszeiten. Mit WINA<br />
spricht er über die Modernisierung<br />
der Oper und ungarische Politik.<br />
12 Erinnerungen im Salon<br />
Sind bombastische Zeremonien am<br />
Gedenktag an die Opfer der Shoah<br />
noch zeitgemäß? Das Projekt Zikaron<br />
BaSalon zeigt eine Alternative auf.<br />
14 Das unrühmliche Ende<br />
Nun hat auch das Metropolitan Museum<br />
den Namen der prominenten<br />
Spenderfamilie Sackler verschwinden<br />
lassen.<br />
16 Ausgebremst<br />
Viviane Shklarek erkrankte an Long<br />
Covid. Schritt für Schritt bemüht sie<br />
sich, gesund zu werden – und möchte<br />
dabei auch andere motivieren.<br />
20 „Zweimal gestorben“<br />
Im WINA-Interview erzählt Maya Kupferberg<br />
über die vier Leben ihres Vaters,<br />
des österreichisch-israelischen<br />
Historikers Walter Grab.<br />
22 Frau, Linke, Jüdin<br />
Tilly Spiegel war eine mutige Frau,<br />
die in grausamen historischen Zeiten<br />
für den Kommunismus und gegen<br />
die Nationalsozialisten kämpfte.<br />
26 Exil in Portugal<br />
Das Buch Portugal. Zuflucht am<br />
Rande Europas. 1933–1945 widmet<br />
sich der Situation des weniger bekannten<br />
Zufluchtslandes.<br />
28 Tor des Vergessens<br />
Mythos, Gedächtnis, Ausgrenzung<br />
und Zukunft: Ein neuer Band mit Aufsätzen<br />
über Venedig und dessen<br />
Ghetto beschreibt es als konkreten<br />
Ort und als globale Metapher.<br />
30 Villen erzählen<br />
Die Ausstellung Sehnsucht nach Baden.<br />
Jüdische Häuser erzählen dokumentiert<br />
das Stadtbild mit den teils<br />
verschwundenen Villen der einst jüdischen<br />
Bewohner:innen.<br />
33 Rothschilds Urwald<br />
In Niederösterreich befindet sich der<br />
letzte Urwald Österreichs: der Rothwald.<br />
Möglich machte das eine Verfügung<br />
Albert Rothschilds.<br />
36 Deutsch lernen, …<br />
… daran führt kein Weg vorbei.<br />
Im JBBZ haben bereits 89 Männer<br />
und Frauen aus der Ukraine einen<br />
Deutschkurse begonnen.<br />
„Die Verfolgung und Ermordung<br />
von Juden, ihre Vertreibung,<br />
der Raub an ihrem<br />
Eigentum zogen sich als Konstante<br />
durch die europäische<br />
Geschichte als Teil<br />
des Selbstverständnisses<br />
des<br />
Christentums.“<br />
Anetta Kahane<br />
S.43<br />
S.19<br />
Frischluft-Gaudi<br />
Im <strong>Juni</strong> feiert die IKG ihr jährliches Sommerhighlight:<br />
das jüdische Straßenfest! WINA hat eine kleine Grundausstattung<br />
für Open-Air-Events zusammengestellt!<br />
juni22.indb 2 07.06.22 13:51
-<br />
s-<br />
l<br />
KULTUR<br />
38 Disco-Queen<br />
Im Mai starb Régine Zylberberg.<br />
Die Holocaust-Überlebende hatte<br />
einige der elegantesten Nachtclubs<br />
in Europa und den USA gegründet.<br />
40 Opern- & Filmkomponist<br />
Der Schwerpunkt der Festwochen<br />
Gmunden ist dem 125. Geburtstag von<br />
Erich Wolfgang Korngold, dem musikalischen<br />
Wunderkind aus Brünn und<br />
Wien, gewidmet.<br />
43 Zur Seite geschoben<br />
Die Nähe des traditionellen christlichen<br />
Judenhasses zum modernen<br />
eliminatorischen Antisemitismus wird<br />
immer noch verschleiert.<br />
44 Das beste Bild<br />
Der ungarisch-jüdische Fotograf<br />
Robert Capa erlangte Weltruhm als<br />
Kriegsberichterstatter. Eine Ausstellung<br />
widmet sich jetzt seinen humoristisch-humanistischen<br />
Fotografien.<br />
46 Lust an Provokation<br />
Die Aufzeichnungen seines Vaters<br />
waren für Autor Rafael Seligmann<br />
die Initialzündung für seinen autobiografischen<br />
Roman Rafi, Judenbub.<br />
49 Farbe und Atmosphäre<br />
Die Kunsthalle Krems zeigt Arbeiten<br />
von Helen Frankenthaler, einer der<br />
wichtigsten Repräsentantinnen des<br />
amerikanischen abstrakten Expressionismus.<br />
Coverfoto: © Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
In Israel deutet gerade wenig auf<br />
Entspannung hin. Von Gisela Dachs<br />
19 WINA_Lebensart<br />
Eine kleine Grundausstattung für Open-<br />
Air-Events des Sommers<br />
24 Matok & Maror<br />
Nahe der großen Synagoge in Rom<br />
finde sich das Restaurant Ba’Ghetto<br />
25 WINA_kocht<br />
Ist denn Mus ein Muss? Und was<br />
gibt es Feines mit und ohne Holler?<br />
52 WINA_Werkstädte<br />
Der goldene Hochzeitsring<br />
aus dem Schatz von Colmar<br />
53 Urban Legends<br />
Rastlos taumelnd durch gegenwärtige<br />
Ambivalenzen und Unsicherheiten<br />
sieht uns Paul Divjak<br />
54 KulturKalender<br />
WINA-Tipps für den <strong>Juni</strong><br />
56 Das letzte Mal<br />
Sängerin und Schauspielerin Lea<br />
Kalisch über ihre Shtetl-Seele und<br />
die Kraft des Schtreimel-Tragens.<br />
„… Ungarn<br />
ein ähnlich<br />
demokratisches<br />
Land werden<br />
könnte<br />
wie die Schweiz oder<br />
Schweden.“<br />
Ádám Fischer<br />
S.06<br />
Ádám Fischer dirigert an<br />
der Staatsoper Josef Haydns<br />
Jahreszeiten. Im WINA-Interview<br />
spricht er über die Moderniserung<br />
der Oper, ungarische<br />
Politik und anderes mehr.<br />
WINA ONLINE:<br />
<strong>wina</strong>-magazin.at<br />
facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />
wına-magazin.at<br />
3<br />
juni22.indb 3 07.06.22 13:51
HIGHLIGHTS | 01<br />
BESTANDSAUFNAHME<br />
Judenfeindlichkeit ist hierzulande nach wie vor präsent. Offene Feindseligkeit<br />
ist dabei bisweilen unterschwelligen Anfeindungen gewichen, latent und abrufbar<br />
bleibt Antisemitismus dennoch auf vielen Ebenen. Christina Hainzl<br />
und Marc Grimm nehmen in dem von ihnen nun herausgegebenen Band<br />
Antisemitismus in Österreich nach 1945 eine Bestandsaufnahme vor.<br />
Der Sammelband vereint die Expertise<br />
von altbekannten Forschern und Forscherinnen<br />
sowie Publizisten und Publizistinnen<br />
auf diesem Gebiet: Barbara Serloth<br />
etwa gibt einen Überblick über den demokratisch<br />
legitimierten legislativen Antisemitismus<br />
der Zweiten Republik, Margit Reiter widmet<br />
sich der Judenfeindlichkeit in der FPÖ<br />
nach 1945. Helga Embacher formuliert, was<br />
es mit der Parteinahme der FPÖ für Israel auf<br />
sich hat, Bernhard Weidinger analysiert den<br />
Antisemitismus in Studentenverbindungen.<br />
Stephan Grigat widmet sich der radikalen<br />
Linken und dem israelbezogenen Antisemitismus,<br />
Mouhanad Khorchide dem Antisemitismus<br />
unter Muslimen und Musliminnen,<br />
Matthias Falter dem katholischen Antisemitismus.<br />
Judenfeindlichkeit unter Jugendlichen<br />
hat Bernadette Edtmaier im Visier,<br />
Florian Markl Judenfeindliches im Medienbetrieb.<br />
Klaus Davidowicz beleuchtet<br />
den Nachkriegsfilm, Ben Dagan das<br />
Problem von Antisemitismus in sozialen<br />
Medien.<br />
Ausgangspunkt für den Band<br />
war ein Interviewprojekt von Co-<br />
Herausgeberin Hainzl zum Thema<br />
Jüdisches Leben in Österreich an der<br />
Donau-Universität Krems. In mehr<br />
als 30 Interviews hat sie dabei auch das<br />
Thema Antisemitismus angesprochen und<br />
lässt in dem nun erschienenen Buch Interviewte<br />
dazu anonymisiert zu Wort kommen.<br />
In ihren Aussagen spiegeln sie jene Erfahrungen<br />
wider, die wohl vielen bekannt sind: Den<br />
Stammtisch-Antisemitismus gibt es nach wie<br />
vor, und offener Antisemitismus trifft vor allem<br />
jene, die auch als jüdisch sichtbar auf<br />
die Straße gehen. „In den Gesprächen wird<br />
klar, dass das Tragen von religiösen Symbolen<br />
häufig vermieden wird, um nicht erkannt<br />
zu werden“, so die Autorin.<br />
Hainzl wagt allerdings trotz allem einen<br />
ermutigenden Ausblick. „Es verändert<br />
sich aber auch etwas: Gerade junge<br />
Gesprächspartner:innen berichten davon,<br />
dass Stereotype bei jüngeren Generationen<br />
ihre Aussagekraft verlieren: Die jüdische Kultur<br />
und das jüdische Leben haben in den<br />
letzten Jahren, insbesondere in<br />
Wien, einen enormen Auftrieb<br />
erhalten.“ wea<br />
Christina Hainzl,<br />
Marc Grimm (Hg.):<br />
Antisemitismus in<br />
Österreich nach 1945.<br />
Hentrich & Hentrich,<br />
326 S., € 25,95<br />
100<br />
Städte, vorwiegend in Europa,<br />
wurden von der Europäischen Union<br />
ausgesucht, um sie im Rahmen des Programms<br />
Klimaneutrale & intelligente Städte<br />
darin zu unterstützen, ihre Emissionen um<br />
55 Prozent zu senken und ihren Bürgern<br />
sauberere Luft, sichereren Verkehr und<br />
weniger Staus und Lärm zu bieten. In<br />
weiterer Folge sollen diese Städte als Innovationszentren<br />
für die Erreichung der Klimaneutralität<br />
Europas bis 2050 fungieren.<br />
Unter den 100 Städten, die aus den über<br />
300 Einreichungen ausgesucht wurde, ist<br />
auch die israelische Küstenstadt Eilat.<br />
netzerocities.eu<br />
„Der Holocaust ist beispiellos.<br />
Aber das hier<br />
ist ein Genozid.“ Maksym<br />
Rabinovych, Geschäftsführer des<br />
Babyn-Jar-Holocaust-Memorial-<br />
Zentrums in Kiew, über den Krieg<br />
Russlands gegen die Ukraine<br />
© Pazit Polak from Basel, Switzerland, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons<br />
© Daniel Leal / AFP / picturedesk.com; Bulent Leal / AFP / picturedesk.com; Dmytro<br />
'Orest' Kozatskyi / AFP / picturedesk.com; Tomer Neuberg / flash 90<br />
© Xxx<br />
4 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
DIE JÜDISCHEN<br />
SIEBEN-GEMEINDEN UNTER<br />
DEN FÜRSTEN ESTERHÁZY<br />
(1612 – 1848)<br />
3. JUNI - 2. OKTOBER<br />
SCHLOSS ESTERHÁZY<br />
EISENSTADT<br />
AUSSTELLUNG<br />
esterhazy.at<br />
juni22.indb 4 07.06.22 13:51
100 TAGE KRIEG GEGEN DIE UKRAINE<br />
© Pazit Polak from Basel, Switzerland, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons<br />
© Daniel Leal / AFP / picturedesk.com; Bulent Leal / AFP / picturedesk.com; Dmytro<br />
'Orest' Kozatskyi / AFP / picturedesk.com; Tomer Neuberg / flash 90<br />
„Wo Liebe wächst, gedeiht<br />
Leben – wo Hass<br />
aufkommt, droht Untergang.“<br />
Mahatma Gandhi<br />
Ankunft einer Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine in Israel (o.). Mutter und Kind in der U-Bahn-Station in Kiew; Abschied auf dem Bahnhof in<br />
Odessa; verletzter Soldat im Asov-Stahlwerk in Mariupol (v. l. n. r.).<br />
wına-magazin.at<br />
5<br />
juni22.indb 5 07.06.22 13:51
Oper Modernisieren<br />
INTERVIEW MIT ÁDÁM FISCHER<br />
„Oper als Actionfilm zu inszenieren,<br />
macht die Musik kaputt“<br />
Der international erfolgreiche Dirigent Ádám Fischer kehrt immer<br />
wieder in seine Geburtsstadt Budapest zurück. Dennoch kritisiert<br />
er wortgewaltig die Politik des ungarischen Regierungschefs im<br />
Gespräch mit Marta S. Halpert, Fotos: Reinhard Engel<br />
„Die jungen<br />
Mitglieder der<br />
Aristokratie in<br />
Mailand<br />
waren nur<br />
mäßig an der<br />
Musik interessiert,<br />
daher<br />
hielten sie in<br />
dieser Zeit ein<br />
Schäferstündchen<br />
mit den<br />
Ballettmädchen<br />
im Hinterzimmer<br />
ab.“<br />
WINA: Gleich nach unserem Gespräch dirigieren Sie hier<br />
an der Wiener Staatsoper Josef Haydns Jahreszeiten – aber<br />
nicht konzertant, wie man annehmen könnte, sondern für<br />
die Choreografie von Martin Schläpfer. Seit wann dirigieren<br />
Sie Ballettaufführungen?<br />
Ádám Fischer: Jetzt zum ersten Mal, denn ich bin für<br />
Giovanni Antonini, der leider erkrankte, nur fünf<br />
Tage vor der Premiere eingesprungen. Da die Ballettabende<br />
noch dazu parallel mit meinen geplanten Il<br />
Nozze di Figaro-Dirigaten liefen, musste ich doppelt so<br />
viel machen, als geplant war. Ich versuchte dem Direktor<br />
die Idee auszureden, denn Ballett ist eine ganz<br />
neue Sache für mich, das habe ich nie gemacht. Aber<br />
während der Arbeit habe ich wirklich neue und interessante<br />
Erkenntnisse gewonnen, umso mehr,<br />
wenn man so kurz vor einer fertigen Produktion hinein<br />
kommt. Denn da gibt es ganz konkrete Vorgaben,<br />
die Tänzer proben seit Monaten jeden ihrer Schritte,<br />
die Tempi stehen fest, man kann mit der Musik nicht<br />
flexibel sein, das Tempo nicht verändern.<br />
Wie haben Sie diese spontane Herausforderung geschafft?<br />
I Vielleicht, indem ich mich offen darauf eingelassen<br />
habe. Trotzdem muss man bedenken, dass wir Dirigenten<br />
sehr verwöhnt sind: Seit vielen Jahren können<br />
wir eigentlich machen, was wir wollen. Im Gegensatz<br />
dazu bekommt jeder Orchestermusiker auch Vorgaben<br />
vom Stimm- und Konzertmeister. Ich stand aber<br />
plötzlich vor der Aufgabe, das Tempo beschleunigen<br />
oder verlangsamen zu wollen, um Jubel und Freude<br />
auszudrücken, aber das ging in diesem Fall nicht. Daraufhin<br />
entdeckte ich andere Methoden, andere Akzente,<br />
um Dynamik und Jubel auszudrücken, als ich<br />
das gewohnt war. So habe ich neue Erkenntnisse über<br />
das Werk gesammelt. denn sicherlich hätte ich die Jahreszeiten<br />
in einem Konzert nicht so dirigiert wie heute<br />
Abend das Ballett an der Wiener Staatsoper.<br />
Wie schwer oder leicht ist es, die Musik dem Tanz anzupassen?<br />
I Für mich war das Problem, dass ich ja nichts vom<br />
Tanzen verstehe. Bei den Sängerinnen und Sängern<br />
weiß ich genau, wann er oder sie mehr Luft haben<br />
müssen, dann ziehe ich es etwas in die Länge, damit<br />
er oder sie die Phrase zu Ende singen kann. Oder ich<br />
nehme Rücksicht darauf, wenn zum Beispiel Künstler<br />
bei Fremdsprachen für die Konsonanten länger<br />
brauchen. Das ist unsere Aufgabe, denn wenn der Dirigent<br />
richtig dirigiert, singt der Sänger besser. Bei<br />
den Tänzern weiß ich das nicht, das habe ich mit dem<br />
Ballettdirektor auch besprochen, er meinte aber, das<br />
sei kein Problem.<br />
Werden Sie diese Sparte auch weiter verfolgen?<br />
I Ich glaube nicht, weil ich eben von der Technik des<br />
Balletts nichts verstehe. Aber ich verstehe viel von<br />
Stimmen, daher finde ich es unanständig, Ballett zu<br />
dirigieren, wenn man von den Bewegungen nicht so<br />
viel versteht, Denn ich finde ja auch einen Operndirigenten<br />
schlecht, der nichts von Stimmen versteht,<br />
deshalb mache ich das nicht.<br />
Sie dirigierten zuletzt sechs Abende von Le Nozze di Figaro<br />
in einer Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle aus dem Jahr<br />
1977. Regietheater war Ponnelles Sache nicht – trotzdem<br />
funktionieren seine Arbeiten heute genauso wie etwa Mar-<br />
6 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 6 07.06.22 13:51
Theater & Konzert<br />
ÁDÁM FISCHER wurde 1949 in Budapest geboren und<br />
studierte bei Hans Swarowsky in Wien. Seinen internationalen<br />
Durchbruch feierte er 1978 an der Bayerischen Staatsoper mit<br />
einem Fidelio-Dirigat, das er von Karl Böhm übernommen hatte.<br />
An der Wiener Staatsoper debütierte er 1980 mit Otello, an<br />
der Pariser Oper 1984, an der Mailänder Scala 1986, am Royal<br />
Opera House Covent Garden 1989 und an der Metropolitan<br />
Opera in New York 1994. Er war u. a. Generalmusikdirektor<br />
in Freiburg, Kassel, Mannheim und Budapest und feierte mit<br />
den Wiener und Berliner Philharmonikern ebenso wie mit dem<br />
Chicago Symphony Orchestra große Erfolge auf internationalen<br />
Konzertbühnen. 1987 gründete Ádám Fischer die<br />
Österreichisch-Ungarische Haydn-Philharmonie als Zeichen der<br />
Völkerverständigung und spielte seither mit dem Ensemble u. a.<br />
die 104 Symphonien Haydns ein. Seit 1998 ist er Chefdirigent des<br />
Danish Chamber Orchestra, seit 2015 Principal Conductor der<br />
Düsseldorfer Symphoniker.<br />
garethe Wallmanns Tosca. Wie stehen Sie zum Regietheater<br />
und den diversen Adaptionen von Opern?<br />
I Es ist sicher so, dass ich ein Bild von der Oper habe,<br />
wie sie sein sollte – aber es hängt jeweils auch vom<br />
Stück selbst ab. Im Augenblick bin ich in der Produktion<br />
einer Opera seria, bei der ich denke, dass der Weg<br />
falsch ist, wie es jetzt gespielt wird. Nehmen wir etwa<br />
La clemenza di Tito von Mozart oder Werke von Christoph<br />
Willibald Gluck und Alessandro Scarlatti. Das ist<br />
eine Gattung, die mit der ersten Oper von Claudio<br />
Monteverdi 1607 entstanden ist, eigentlich ein Zwitterwesen,<br />
das ist kein Theater. Die Recitativos* sind<br />
dazu da, dass die Handlung weitergeht, dazu kommen<br />
dann die Arien, das sind reine Konzertnummern,<br />
bei denen nichts passiert. Das war auch so konzipiert:<br />
Jene, die Theater sehen wollten und die Musik<br />
fad fanden, gingen hinaus und umgekehrt.<br />
Ádám Fischer. „Ich<br />
hätte jedenfalls nicht gedacht,<br />
dass ich so etwas<br />
[Krieg in der Ukraine]<br />
noch erlebe.“<br />
* Das Rezitativ (von italienisch recitare,<br />
„vortragen“) ist ein dem Sprechen<br />
angenäherter Gesang in Oper, Kantate,<br />
Messe oder Oratorium und existiert<br />
in verschiedenen Ausprägungen seit<br />
ca. 1600. Während des Rezitativs<br />
hat der Sänger die Freiheit, den Text<br />
rhythmisch frei zu deklamieren.<br />
Und das hat auch funktioniert?<br />
I Ja, ich habe da ein Lieblingsbeispiel: Bei Mozart<br />
durften die Arien nie kürzer als 5,5 Minuten sein,<br />
denn die jungen Mitglieder der Aristokratie in Mailand<br />
waren nur mäßig an der Musik interessiert. Daher<br />
hielten sie in dieser Zeit ein Schäferstündchen<br />
mit den Ballettmädchen im Hinterzimmer ab. Da sie<br />
aber nichts versäumen wollten, mussten sie sich auf<br />
die 5,5 Minuten verlassen können. Das eröffnet natürlich<br />
ganz neue soziologische Perspektiven über die<br />
damalige Zeit (lacht).<br />
Das heutige Regietheater kümmert sich wenig um den<br />
musikalischen Ablauf?<br />
I Daher müssen wir einen Weg finden, um zu zeigen,<br />
dass die Aufführung manchmal ein Theater und<br />
manchmal ein Konzert ist. Es gibt sehr wenige Regisseure,<br />
die das können. Wenn sie eine Oper wie einen<br />
Action-Film inszenieren, ist das ungerecht der Musik<br />
gegenüber und macht sie kaputt. Immer nur mehr<br />
„Action“ ist keine Lösung, daher führt uns diese Art<br />
der Modernisierung nicht weiter.<br />
Wo sehen Sie Ansätze zu einer Lösung?<br />
I Die Regisseure sind offensichtlich zu dieser großen<br />
Machtfülle gekommen, weil keine neuen Opern entstehen.<br />
Das Genre der populären Oper gibt es heute<br />
nicht. Unter populär verstehe ich, wenn das Publikum<br />
nach dem Opernbesuch eine Arie nachpfeift. Die<br />
letzte dieser Art war für mich Nessun dorma aus Puccinis<br />
Turandot – und die ist fast 100 Jahre alt. Das heißt,<br />
wir müssen immer wieder die gleichen Stücke spielen,<br />
und wenn man versucht, mit einer ausgefallenen<br />
Inszenierung ein neues Stück aus dem Original<br />
zu machen, gelingt das sehr selten.<br />
Aber wenn wir nur die Ponnelle-Inszenierungen<br />
zeigen würden, kämen die Jungen vielleicht nicht<br />
mehr oder die Besucherzahlen gingen zurück, dann<br />
wäre wahrscheinlich dieser ganze Opernbetrieb mit<br />
den 100 Opernhäusern in Europa nicht mehr zu hal-<br />
wına-magazin.at<br />
7<br />
juni22.indb 7 07.06.22 13:51
Ungarische Traditionen<br />
In der Staatsoper.<br />
Ádám Fischer mit<br />
WINA-Autorin Marta<br />
S. Halpert.<br />
„Leider muss<br />
ich meinem<br />
Vater Recht<br />
geben, der<br />
nach der Wende<br />
gesagt hat,<br />
es wäre eine<br />
Illusion zu<br />
glauben, dass<br />
Ungarn ein<br />
ähnlich demokratisches<br />
Land werden<br />
könnte wie die<br />
Schweiz oder<br />
Schweden.“<br />
ten. Das ist ganz klar, aber ich will die Oper dirigieren<br />
und erleben, deshalb bin ich sehr kritisch.<br />
Haben Sie schon Dirigate zurückgelegt, weil Sie mit der Regie<br />
nicht leben konnten?<br />
I Ich versuche das nicht zu machen. Aber es ist schon<br />
passiert, dass der Regisseur die Produktion mit mir<br />
aufgegeben hat.<br />
Zwischen 9. und 19. <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong> finden in Budapest die von<br />
Ihnen 2006 gegründeten Wagner-Tage statt. Unter Ihrer<br />
künstlerischen Leitung erlangte dieses Festival internationales<br />
Ansehen. Die Wagner-Tage wurden von der New York<br />
Times sogar als „Bayreuth an der Donau“ bezeichnet. Was<br />
steht dieses Jahr auf dem Programm?<br />
I Wir spielen zweimal den Nibelungen-Ring, denn wir<br />
müssen einiges nachholen, was wir in den letzten beiden<br />
Pandemie-Jahren nicht machen konnten.<br />
Sie sind seit 2010 ein verlässlicher Kritiker Viktor Orbáns,<br />
äußern immer wieder Ihre Sorge über die Entwicklungen in<br />
Ungarn. Bereits 2018 forderten Sie in einem Gastbeitrag EU-<br />
Sanktionen gegen das Land, in dem Sie geboren wurden.<br />
Orbán hat jüngst seinen vierten Wahlerfolg in Serie eingefahren<br />
– und wird seine zynische, menschenverachtende<br />
Machtpolitik nicht nur weiterführen, sondern noch ausbauen<br />
können. Sie führen als Wohnorte Hamburg, Berlin, aber<br />
auch Budapest an. Warum?<br />
I Nun gut, dort ist nicht nur meine Muttersprache<br />
beheimatet, viele meiner Freunde leben noch in<br />
Budapest, und ich habe auch ein Haus dort. Komischerweise<br />
kann ich ihnen sagen, das Fehlen der Muttersprache<br />
ist nicht so schlimm wie das Fehlen der<br />
Küche!<br />
Die fette Halászlé, die Fischsuppe,<br />
gibt es die nur dort?<br />
I Vielleicht. Ich fühle mich dort<br />
heimisch, die nächste Generation<br />
unserer Familie G-tt sei<br />
Dank nicht mehr. Wir haben<br />
derzeit sechs verschiedene<br />
Sprachen in unserer Familie,<br />
unter anderem einen russischen<br />
Schwiegersohn und<br />
eine halbjapanisch-halbfranzösische<br />
Schwiegertochter.<br />
Aber im Ernst: Die Gefahr<br />
Orbán wird immer größer, weil<br />
das System dem russischen<br />
sehr ähnelt. Putin kann auch<br />
mit 80 Prozent Zustimmung<br />
der Bevölkerung rechnen. Hinter<br />
beiden stehen die Bewohner<br />
der ländlichen Gebiete.<br />
Auch der Kampf gegen die Eliten,<br />
das sind wir, die Gebildeten,<br />
hat den gleichen Stil. Das hat ein Donald Trump<br />
auch gemacht, aber er hatte nicht diese Möglichkeiten<br />
wie Orbán und Putin. Was man gar nicht sagen darf,<br />
aber für viele Russen existiert die Ukraine gar nicht,<br />
denn sie halten alle für Russen. Ungarn benimmt sich<br />
angesichts der ungarischen Minderheiten in den umliegenden<br />
Ländern ähnlich. Das einzige Glück ist, dass<br />
Orbán militärisch unterlegen ist und keine Atomwaffen<br />
besitzt – aber das System ist ähnlich.<br />
Hat es Sie überrascht, dass es Orbán wieder geschafft hat?<br />
I Nein, weil Orbán den Krieg in der Ukraine sehr geschickt<br />
für sich ausgenutzt hat: Mit dem Motto der<br />
Nichteinmischung in den Konflikt hat er die Stimmung<br />
im Land richtig gedeutet, er weiß einfach, was<br />
die Leute hören wollen. Leider muss ich meinem Vater<br />
Recht geben, der nach der Wende gesagt hat, es<br />
wäre eine Illusion zu glauben, dass Ungarn ein ähnlich<br />
demokratisches Land werden könnte wie die<br />
Schweiz oder Schweden. Die ungarischen Traditionen<br />
sind andere; im Gegensatz zu Tschechien gab es<br />
keine demokratische Erfahrung.<br />
Mein Vater war überzeugt, dass auch nach 1989<br />
ein rechter Diktator kommen werde, der wüsste, was<br />
die Ungarn brauchten. Das Land hatte immer solche<br />
Landesväter, Diktatoren wie Admiral Miklós Horthy,<br />
den Stalinisten Mátyás Rákosi oder auch János Kádár.<br />
Der junge Orbán war zu Beginn seiner Karriere liberal,<br />
aber als kluger Politiker hat er früh erkannt, was<br />
die Ungarn wollen und brauchen und hat sich darauf<br />
eingestellt. Orbán hat die Marktlücke entdeckt.<br />
Viktor Orbán ist es gelungen die jüdische Bevölkerung<br />
Ungarns zu spalten, in dem er die „guten Juden“ – also<br />
jene, die ihn nicht kritisieren –, finanziell belohnt und die<br />
8 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 8 07.06.22 13:51
Gemeinsames Feindbild<br />
„bösen Juden“ nach Bedarf bestraft, in dem er sie – meist<br />
von seinen Abhängigen in Partei und Medien – öffentlich<br />
attackieren lässt oder die jüdische Leidensgeschichte revisionistisch<br />
relativiert. Ist Orbán ein Antisemit?<br />
I Die Spaltung der jüdischen Gemeinde ist insofern<br />
normal, als es immer den Gegensatz zwischen den<br />
Liberalen und den Rechten gegeben hat. Orbán hat<br />
eben entdeckt, dass er mit den konservativen und orthodoxen<br />
Juden ein gemeinsames Feindbild hat. Ich<br />
glaube nicht, dass er ein Antisemit ist. Aber als politischer<br />
Profi nutzt er stillschweigend die antisemitischen<br />
Gefühle, die vorhanden sind. Er bedient auch<br />
diesen Teil der Wählerschaft.<br />
Fast dreißig Jahre sind Sie aktives Mitglied des Helsinki-Komitees<br />
für Menschenrechte. Seit deren Gründung im Jahr<br />
1976 haben Sie sich für die Verteidigung der Menschenrechte<br />
auf der ganzen Welt eingesetzt. Gilt Ihr Motto, „die<br />
Welt braucht Dirigenten zur Koordination“, noch? Welche<br />
Chancen sehen Sie, den brutalen Angriffskrieg Russlands<br />
gegen die Ukraine zu beenden?<br />
I Ich bin Pessimist, weil es eben diesen Dirigenten<br />
nicht gibt. Jeder kann sich sein Narrativ basteln: Die<br />
Russen werden, solange sie Putin abkaufen, dass es<br />
um die Ehre des Vaterlandes geht, alles mitmachen.<br />
Solange sie glauben, dass sie den Krieg gegen die Ukraine<br />
gewinnen müssen, bedeutet das die totale Vernichtung<br />
der anderen Seite. Ich hätte jedenfalls nicht<br />
gedacht, dass ich so etwas noch erlebe.<br />
Wie sollte man sich Ihrer Meinung nach jetzt gegenüber<br />
jenen Künstlern und Künstlerinnen verhalten, die aus ihrer<br />
Nähe zu Putin nie ein Geheimnis gemacht und teilweise<br />
auch von ihm profitiert haben?<br />
I Gut, ich habe da ein bisschen mehr Verständnis,<br />
denn ich kann das von hier aus nicht beurteilen. Ich<br />
kann nicht einschätzen, wie viel Vorteile sie davon zu<br />
Hause gehabt oder wie viele Nachteile sie dadurch<br />
erlitten haben. Aber ich kann mich noch gut an die<br />
kommunistische Zeit erinnern, als ich im Ausland<br />
aufgetreten bin: Hätte ich irgendetwas gegen mein<br />
Land gesagt, wo meine Eltern und meine Familie lebten,<br />
dann wäre vieles sicher schwieriger gewesen, als<br />
man sich das heute vorstellt. Ich sage nicht, dass ich<br />
alles verzeihe, doch ich habe etwas mehr Verständnis.<br />
Ich arbeite laufend mit russischen Künstlerinnen<br />
und Musikern, die zu ihren Familien nach Hause<br />
fahren und nicht über Politik sprechen wollen. Da ich<br />
nicht beurteilen kann, was sie sich leisten können<br />
oder nicht, muss man ein bisschen vorsichtig sein.<br />
Sie wurden weltweit mit Auszeichnungen und Ehrungen<br />
überhäuft, unter anderen erhielten Sie die Gold Medal<br />
in the Arts des Kennedy Center Washington. Für Ihren<br />
Einsatz für die Menschenrechte erhielten Sie auch den<br />
renommierten Wolff-Prize der gleichnamigen Stiftung in<br />
Jerusalem. Sie sind damit nach Claudio Abbado und Zu-<br />
bin Mehta der dritte Hans-Swarowsky-Schüler aus Wien,<br />
der mit diesem Preis geehrt wurde. Haben Sie je in Israel<br />
gearbeitet?<br />
I Ein einziges Mal, und das ist sehr lange her: 1988<br />
habe ich ein Konzert mit dem Israel Philharmonic<br />
Orchestra dirigiert, dann haben sie mich wieder<br />
eingeladen, nur hat das Engagement wegen des Ersten<br />
Golfkriegs nicht stattgefunden. Ich würde sehr<br />
gerne wieder in Israel auftreten, aber darum muss<br />
sich meine Agentur kümmern.<br />
Waren sie privat in Israel? Haben Sie Familie dort?<br />
I Ja, ich glaube drei Mal als Tourist. Mein Schwiegersohn<br />
hat seine Familie in Israel. Unsere Familienmitglieder<br />
sind sogenannte „Angeheiratete“ – Hitler hat<br />
dazu „Sippschaft“ gesagt.<br />
Bei der Recherche habe ich gelesen, dass Ihre Großeltern<br />
in der Shoah ermordet wurden. Aber wie haben Ihre Eltern<br />
überlebt?<br />
I Meine Mutter hatte zwar falsche Papiere, musste<br />
sich aber trotzdem verstecken. Sie war im 4. Stock<br />
in der Deák Ferenc utca und durfte bei den Bombardements<br />
nicht in den Keller, sonst wäre sie aufgeflogen.<br />
Nur dieses Haus blieb stehen, rundherum war<br />
alles zerstört. Mein Vater hatte schon seit 1943 eine<br />
falsche Identität und musste auf der Straße sehr vorsichtig<br />
sein, damit ihn niemand von früher erkennt.<br />
Was war er von Beruf?<br />
I Er war auch Musiker, Komponist, Dirigent und musikalischer<br />
Leiter im Vígszínház, dem zentralen Lustspielhaus<br />
in Budapest. Er hat auch wunderbar Klavier<br />
gespielt und als Opernübersetzer gearbeitet:<br />
Seine Übersetzungen der Zauberflöte und von Don Pasquale<br />
werden noch heute gespielt.<br />
Wann hören und sehen wir Sie wieder in Wien, im Konzert<br />
oder in der Oper?<br />
I Das weiß auch meine Agentur besser als ich. Etwas<br />
weiß ich, und darauf freue ich mich schon sehr: Im<br />
Januar 2023 gebe ich ein Gastspiel im Theater an der<br />
Wien mit dem Dänischen Kammerorchester, dessen<br />
Chef ich seit 25 Jahren bin. Leider werden wir die<br />
beste Oper, die Haydn je geschrieben hat, L’anima del<br />
filosofo, nur konzertant machen können, weil das Theater<br />
renoviert wird und die Produktion in der Ausweichhalle<br />
nicht realisiert werden kann.<br />
Sie haben sehr viele Werke von Joseph Haydn eingespielt.<br />
I Ja, aber nur, was er für Eisenstadt geschrieben hat.<br />
Für London hat er auch eine Choroper komponiert. In<br />
Eisenstadt haben wir zufällig etwas Lustiges entdeckt:<br />
Die Kellner, Jäger und Lakaien, die bei den Fürsten Esterházy<br />
dienten, hatten in ihrem Arbeitsvertrag die<br />
Verpflichtung, im Opernchor mitzusingen. Können<br />
Sie sich vorstellen, wie das geklungen hat?<br />
„Ich glaube<br />
nicht, dass er<br />
[Orbán] ein<br />
Antisemit ist.<br />
Aber als politischer<br />
Profi<br />
nutzt er stillschweigend<br />
die antisemitischen<br />
Gefühle,<br />
die vorhanden<br />
sind.“<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
juni22.indb 9 07.06.22 13:51
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Nichts für Leute mit<br />
schwachem Blutdruck<br />
Aufregende Zeiten prägen in Israel den<br />
Alltag, manchmal mehr und manchmal<br />
weniger. Gerade war es das Erstere.<br />
Kürzlich hat jemand in Europa den Satz gepostet,<br />
er müsse nach den Abendnachrichten<br />
zur Beruhigung erst einmal einen<br />
Thriller schauen. Das war natürlich auf die<br />
Ukraine gemünzt. Ein bisschen so geht es einem gerade<br />
in Israel. Dabei ist man ja durchaus an so einiges<br />
gewöhnt. Hier deshalb ein kurzes Aperçu der jüngsten<br />
Geschehen, wenn auch nicht unbedingt in chronologischer<br />
Reihenfolge und ohne jeden Vollständigkeitsanspruch.<br />
Und damit der Blutdruck nicht sofort nach oben<br />
schießt, zunächst einige der guten Nachrichten. Corona<br />
ist passé. Zumindest aus Sicht der Experten, die<br />
für die Aufhebung des obligatorischen Tests bei der<br />
Einreise am Flughafen plädiert haben. Die zuständige<br />
Abteilung ist aufgelöst worden. Das bringt wieder<br />
mehr Touristen ins Land, die jetzt keine Angst mehr<br />
haben müssen, bei einem positiven Ergebnis ihren Urlaub<br />
in Quarantäne verbringen zu müssen. Offenbar<br />
lassen sie sich auch weniger als früher von einer Terrorwelle<br />
abschrecken, vielleicht aber dominiert ja der<br />
Ukraine-Krieg die ausländischen Medien so sehr, dass<br />
der Nahe Osten in den Hintergrund gerückt ist. Jedenfalls<br />
stellt sich der Flughafen Ben Gurion auf 4,3 Millionen<br />
Reisende für Juli und August ein. Weil aber<br />
alle Fluggesellschaften an Personal sparen, sind<br />
die Warteschlangen unendlich lang geworden.<br />
Manche kommen deshalb mittlerweile schon<br />
fünf bis sechs Stunden vor Abflug zum Check-in.<br />
Von Gisela Dachs<br />
Der Unabhängigkeitstag wurde erstmals<br />
nicht mehr überall mit knallenden Feuerwerken<br />
gefeiert. Das geschah aus Rücksicht<br />
gegenüber Leidenden an posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen.<br />
Bis zum Sommer sollen in den Regalen der Supermarktkette<br />
Yeinot Bitan bereits die ersten Produkte<br />
von Carrefour liegen. Nach einem Abkommen mit<br />
dem französischen Riesen werden deren 150 Filialen<br />
dann allmählich in Carrefour-Märkte umgewandelt.<br />
Patrick Lasfargues, Präsident der internationalen Abteilung<br />
des Großhändlers, gibt sich optimistisch, dass<br />
dies „die lokale Kauferfahrung“ verbessern und die<br />
„Kaufkraft der Konsumenten“ stärken werde, die bessere<br />
Produkte zu erschwinglicheren Preisen bekämen.<br />
Das könnte die Konkurrenz dann ja vielleicht auch beeinflussen.<br />
Auf den Lehrplänen steht ab Herbst das Thema Klimakrise.<br />
Vielleicht dämmt das dann ja die zum Teil immer<br />
noch ungebrochene Plastikflut im Land.<br />
Der Unabhängigkeitstag wurde erstmals nicht mehr<br />
überall mit knallenden Feuerwerken gefeiert. Das geschah<br />
aus Rücksicht gegenüber Leidenden an posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen, darunter vor allem<br />
ehemalige Soldaten, für die der Lärm schlimme<br />
Erinnerungen zurückbringt. Geblieben sind natürlich<br />
die Alarmsirenen. Um zu überprüfen, ob sie intakt<br />
sind, müssen regelmäßig Tests gemacht werden.<br />
Mitte Mai gab es an einem Tag vier. Kurz danach fand<br />
dann noch eine außergewöhnliche Militärübung statt,<br />
bei der ein Angriff auf den Iran simuliert wurde. Das<br />
war eindeutig nichts für Herzschwache. Eingeordnet<br />
wurde dies dann aber schnell als Botschaft an die amerikanischen<br />
Verhandlungsführer mit Teheran, nicht<br />
als Zeichen einer höheren Alarmstufe. Inzwischen soll<br />
man aber von Reisen in die Türkei absehen, aus Sorge<br />
vor einer iranischen „Antwort“ auf die Ermordung eines<br />
hochrangigen Offiziers der Islamischen Revolutionären<br />
Garden.<br />
Bis zur Niederschrift dieser Kolumne waren bei<br />
der jüngsten Terrorwelle insgesamt neunzehn Menschen<br />
ums Leben gekommen. Viele der palästinensischen<br />
Attentäter kamen aus Jenin. Bei einer militärischen<br />
Inkursion kam die Al Jazeera-Journalistin<br />
© Flash 90/Yonatan Sindel<br />
10 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 10 07.06.22 13:51
© Flash 90/Yonatan Sindel<br />
Shireen Abu Akleh durch einen Schuss ums Leben. Unklar<br />
blieb, ob die Kugel aus einem israelischen oder palästinensischen<br />
Gewehrlauf gekommen war. Bei der<br />
Schuldzuweisung spielte das aber schon bald keine<br />
Rolle mehr. Drei Tage lange fuhr der Sarg durch palästinensische<br />
Dörfer und Städte, und die prominente<br />
51-jährige Korrespondentin wurde als Märtyrerin gefeiert,<br />
gefallen im Kampf gegen die Besatzung. Die Bilder<br />
ihrer Beerdigung in Jerusalem gingen dann aber<br />
aus einem anderen Grund um die Welt: Israelische Polizisten<br />
attackierten die Träger des Sargs, weil der mit<br />
einer palästinensischen Flagge drapiert war. Der zuständige<br />
Einsatzleiter befand sich zu dieser Zeit auf einer<br />
Dienstreise im Ausland.<br />
Es waren aber noch zwei weitere Kugeln, die Schlagzeilen<br />
machten. Sie steckten in handschriftlich adressierten<br />
Briefumschlägen, die deren Empfänger – und<br />
nicht nur sie – in Schockstarre versetzten: die Ehefrau<br />
und den 15-jährigen Sohn von Regierungschef Naftali<br />
Bennett. Bei der mutmaßlichen Täterin handelt es sich<br />
um eine 65-jährige Frau aus Aschkelon. Sie hatte sich<br />
auf Facebook als rechte politische Aktivistin und glühende<br />
Netanjahu-Anhängerin bereits einen Namen<br />
gemacht.<br />
Naftali Bennett aber hat gerade noch andere Sorgen.<br />
Seine Acht-Parteien-Koalition wackelt und bröckelt<br />
weiter. Hatte Anfang April zunächst Idit Silman<br />
von Bennetts Yamina-Partei das Handtuch geworfen,<br />
so war es dann kurzzeitig die arabische Meretz-Abgeordnete<br />
Rinawie Zoabie, die nicht mehr wollte. Erstere<br />
beklagte sich über eine zu linke Regierung, für<br />
die Letztere ist sie zu rechts. Am Ende ließ sich Zoabie<br />
aber doch wieder beruhigen. Jetzt hangelt sich die Regierung<br />
erst einmal weiter durch.<br />
Um seine rechte Front zu beruhigen, fand die traditionelle<br />
Flaggenparade am Jerusalem-Tag wie geplant<br />
statt. Bis zum Schluss war das alles andere als<br />
klar. Denn beim letzten Mal hatte die Hamas genau<br />
da ihre erste Rakete in Richtung Hauptstadt abgefeu-<br />
Naftali Bennett. Der<br />
israelische Premierminister<br />
bei einer Zeremonie<br />
zum Holocaust-Gedenktag<br />
in der Knesset, dem<br />
israelischen Parlament<br />
in Jerusalem, am 28.<br />
April <strong>2022</strong>.<br />
Bis zur Niederschrift dieser Kolumne sind bei<br />
der jüngsten Terrorwelle insgesamt neunzehn<br />
Menschen ums Leben gekommen. Zunehmend<br />
populär als Tatwaffe ist dabei die Axt.<br />
ert und den Startschuss zum jüngsten Gazakrieg gegeben.<br />
Diesmal machten sich jüdische Fanatiker einen<br />
Namen. Als die Teilnehmer durch das muslimische<br />
Viertel der Altstadt kamen, konnten es sich einige nicht<br />
nehmen lassen, Anwohner zu attackieren.<br />
Wenige Tage später ging dann der Jerusalem March<br />
for Pride and Tolerance über die Bühne. An der Spitze<br />
mitgegangen war der Knesset-Sprecher Micky Levy. In<br />
seiner damaligen Funktion als Polizeichef hatte er einen<br />
solchen Umzug erstmals vor zwanzig Jahren in der<br />
Hauptstadt zugelassen. Die Stimmung im Vorfeld war<br />
aufgeheizt, denn was in Tel Aviv dazugehört, ist in Jerusalem<br />
auch nach so langer Zeit immer noch nicht etabliert.<br />
Am Ende nahmen Tausende am Umzug teil, nur<br />
ein kleines Grüppchen demonstrierte dagegen. Auch<br />
in Netivot hätte gerade eine solche LGBTQ+ Veranstaltung<br />
zum ersten Mal stattfinden sollen, sie wurde jedoch<br />
nach Todesdrohungen abgesagt.<br />
Wer sich also nach den Nachrichten am Abend zur<br />
Beruhigung einen Thriller anschauen möchte, der<br />
kann dabei auch auf neue heimische Fernsehserien<br />
zurückgreifen. Da ist die zweite und diesmal wirklich<br />
exzellente Staffel von Teheran, die gerade angelaufen<br />
ist. Weltstar Glenn Close gehört mit zum Cast, sie spielt<br />
eine britische Psychologin im Iran, die gemeinsam mit<br />
Agenten des israelischen Geheimdiensts das dortige<br />
Regime sabotiert. Alternativ gibt es auch die neue Serie<br />
Jerusalem, die in der Altstadt spielt, wo sich die drei<br />
großen Weltreligionen und deren Feiertage ballen und<br />
israelische Polizisten versuchen, Unruhen am Tempelberg<br />
unter Kontrolle zu bringen. Ähnlichkeiten mit<br />
real existierenden Personen sind rein zufällig.<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
juni22.indb 11 07.06.22 13:51
Überlebende erzählen<br />
Erinnerungen<br />
im Salon<br />
Mit jedem Gedenktag an die Opfer der<br />
Shoah werden in Israel die Fragen eindringlicher:<br />
Sind die bombastischen Zeremonien<br />
noch zeitgemäß? Wer wird die<br />
Erinnerung weitertragen, wenn auch die<br />
letzten Überlebenden nicht mehr unter<br />
uns sind? Wie wird ein Holocaust-Gedenktag<br />
in zehn Jahren aussehen? Das<br />
Projekt Zikaron BaSalon zeigt eine alternative<br />
Art des Erinnerns auf.<br />
Von Daniela Segenreich-Horsky<br />
ten zu Hause mit Freunden bei einem guten<br />
Film verbracht, anstatt ihre Mutter zu<br />
irgendwelchen für sie schalen Zeremonien<br />
zu begleiten.<br />
Das brachte sie schließlich auf die Idee<br />
für einen völlig neuen Zugang: „Vielleicht<br />
ist ja das Problem die Antwort“, dachte sie<br />
sich, als sie eines Abends nach so einer Zeremonie<br />
am Weg nach Hause zu den vielen<br />
beleuchteten Wohnzimmerfenstern jener<br />
Israelis hinaufschaute, die zu Hause<br />
geblieben waren. „Vielleicht brauche ich<br />
keine Zeremonie, sondern nur ein Wohnzimmer<br />
– wenn ich den Abend bei einem<br />
intimen Zusammenkommen verbracht<br />
hätte, anstatt mich bei der Zeremonie zu<br />
langweilen, wenn ich, statt der sechs Millionen<br />
zu gedenken, nur eine einzige Geschichte<br />
gehört hätte, und wenn es dann zu<br />
einem Dialog gekommen wäre – vielleicht<br />
hätte ich dann meine persönliche Erinnerung<br />
und Verbindung gefunden.“<br />
Im Jahr darauf luden Altshuler und<br />
ihr Partner zehn ihrer Freunde zu einem<br />
Abend, den sie Living Room Memories, „Erinnerung<br />
im Wohnzimmer“, betitelten.<br />
Statt zehn kamen 50 Leute, viele von ihnen<br />
den Gastgebern völlig unbekannt. In<br />
Das erste Mal, dass ich männlicher<br />
Nacktheit ausgesetzt war,<br />
war durch Fotos von Massengräbern<br />
aus dem Holocaust,<br />
die bei einer Zeremonie anlässlich<br />
des Jom haScho’a, dem Gedenktag an die<br />
Shoah, in der Schule gezeigt wurden. Danach<br />
versuchte ich, mich möglichst von<br />
dem Thema fernzuhalten, von den traditionellen<br />
Zeremonien ebenso wie von den<br />
Übertragungen und Dokumentarfilmen<br />
im Fernsehen“, schreibt Adi Altshuler in<br />
einem israelischen Magazin.<br />
Die heute 36-Jährige hat schon mit<br />
sechzehn ihr erstes großes Projekt für Kinder<br />
und Jugendliche mit Behinderungen<br />
gegründet und ist heute eine in Israel vielfach<br />
ausgezeichnete „soziale Unternehmerin“.<br />
Sie beschreibt, wie sie sich nach diesem<br />
ersten tieferen Encounter mit den<br />
Gräueln des Holocaust schon als Jugendliche<br />
immer weiter von den Gefühlen und<br />
Erinnerungen rund um den Jom haScho’a<br />
abgrenzte. Damit wurde ihre Verbindung<br />
zu dem Thema mit der Zeit immer schwächer<br />
und der Holocaust selbst für sie ein<br />
weit entferntes geschichtliches Ereignis.<br />
Den Gedenktag selbst hätte sie am liebseinem<br />
privaten Moment gestand die als<br />
Zeitzeugin eingeladene ältere Dame, wie<br />
erleichtert sie darüber wäre, nicht auf einer<br />
großen Bühne sprechen zu müssen.<br />
Ihre Erzählung war mitreißend und authentisch.<br />
Zwei Freunde hatten zur Auflockerung<br />
einige Songs auf der Gitarre<br />
vorbereit, es gab zahlreiche Fragen an die<br />
Erzählerin, und die Gastgeber leiteten eine<br />
Diskussion, die mit der Frage begann: Warum<br />
ist es wichtig zu gedenken?<br />
Mit dieser vor etwa zehn Jahren gestarteten<br />
Initiative Living Room Memories, auf<br />
Hebräisch Zikaron BaSalon, scheint die Unternehmerin<br />
einen Nerv der Zeit getroffen<br />
zu haben. Im folgenden Jahr öffneten<br />
viele von Altshulers Gästen ihre eigenen<br />
Wohnzimmer für ähnliche Zusammenkünfte.<br />
Erinnerungen im Wohnzimmer wurde<br />
zu einem Projekt des gemeinsamen Erinnerns<br />
in privatem Rahmen, das mittlerweile<br />
jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag<br />
im In- und Ausland in hunderttausenden<br />
Wohnzimmern, Parks oder städtischen<br />
Kulturzentren sowie auch virtuell abgehalten<br />
wird. 2018 gab es insgesamt über<br />
750.000 solcher „Salons“ in Israel und in<br />
weiteren 50 Ländern. Dabei geht es der Initiatorin<br />
um die persönlichen Geschichten<br />
von Überlebenden und um den Dialog,<br />
der im Anschluss an deren Erzählung<br />
entsteht. Und es geht auch darum, dass jeder<br />
selbst die Verantwortung für das Erinnern<br />
übernehmen kann und sozusagen die<br />
Fackel weiterträgt.<br />
Dieses Jahr fanden die Zusammenkünfte<br />
erstmals nach den Corona-Beschränkungen<br />
wieder live statt und in größerem<br />
Umfang als je zuvor. Da leider die<br />
Zeitzeugen immer weniger werden, geben<br />
mittlerweile auch Betroffene der sogenannten<br />
„Zweiten Generation“ weiter,<br />
was sie von der Geschichte ihrer Eltern<br />
und ihrer Familie wissen. Das Event kann<br />
aber auch rund um eine Videoaufnahme<br />
oder einen Film geführt werden. Unter vielen<br />
anderen lud diesmal auch Präsident<br />
Herzog in den Salon der Residenz. Dort erzählte<br />
die ursprünglich aus Thessaloniki<br />
stammende Zeitzeugin Ines Nissim von<br />
ihrer einst idyllischen Heimatgemeinde,<br />
die vor dem Holocaust ein kulturelles jüdisches<br />
Zentrum gewesen war. Sie berichtete<br />
von den Schrecknissen nach der Invasion<br />
der Nazis und davon, wie sie selbst<br />
doch noch gerettet wurde.<br />
Zikaron BaSalon ist ein Begriff geworden<br />
– jeder dieser Salons hat seine Story,<br />
© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/<br />
12 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 12 07.06.22 13:51
Wohnzimmer der Erinnerungen<br />
© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/<br />
Living Room Memories<br />
wurden zu einem Projekt des<br />
gemeinsamen Erinnerns, das<br />
mittlerweile jedes Jahr am<br />
Holocaust-Gedenktag in hunderttausenden<br />
Wohnzimmern<br />
abgehalten wird.<br />
„Jetzt sind wir<br />
möglicherweise<br />
in einer neuen<br />
Phase des<br />
Erinnerns angekommen.“<br />
Adi Altshuler<br />
manchmal auch eine, die nicht dem gängigen<br />
Holocaust-Narrativ entspricht, wie<br />
etwa die Schicksale der Überlebenden aus<br />
der Sowjetunion oder aus Nordafrika. Da<br />
gibt es Erzählungen von Menschen, die<br />
als Babys oder Kleinkinder überlebt haben,<br />
und es ist auch Platz für die übernommenen<br />
Erinnerungen und Gefühle<br />
der zweiten und dritten Generation. Jeder,<br />
der zu so einem Salon lädt, bekommt<br />
Unterstützung und Anleitung von den Organisatoren,<br />
die meist auch die Verbindung<br />
zu einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen<br />
herstellen.<br />
Altshuler verweist darauf, wie sich<br />
in Israel die Einstellung zum Holocaust<br />
im Laufe der Jahrzehnte verändert hat.<br />
Ganz am Anfang gab es da nur ein großes<br />
Schweigen. Erst mit dem Eichmann-<br />
Prozess in den 1950er-Jahren entstand<br />
eine Kultur des Nachforschens und Erinnerns.<br />
Yad Vashem, Israels offizielle<br />
Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust,<br />
wurde gegründet und der nationale<br />
Gedenktag etabliert. Man begann in<br />
Israel die Wichtigkeit der Aufarbeitung<br />
und Weitergabe der Geschichte dieser<br />
schrecklichen Epoche zu verstehen. Seit<br />
damals wird die Shoah oft schon in den<br />
Kindergärten erklärt und in den Schulen<br />
unterrichtet. Und auch die Reisen der<br />
Schüler nach Polen sind zur fixen Tradition<br />
geworden. In den 1980er-Jahren kam<br />
dann auch die „Second Generation“ immer<br />
mehr zu Wort, und es entstand mehr<br />
Wissen darüber, wie sehr Traumata unbewusst<br />
über Generationen<br />
weitergeleitet<br />
werden.<br />
Jetzt sind wir, wie<br />
Altshuler meint,<br />
möglicherweise in<br />
einer neuen Phase<br />
des Erinnerns angekommen.<br />
Sie<br />
wünscht sich, dass<br />
Zikaron BaSalon ein<br />
Teil des nächsten<br />
Abschnitts dieser<br />
Evolution wird:<br />
„Dann werden die Geschichten des Holocaust<br />
weitergegeben werden wie die der<br />
Haggada zu Pessach. Und dann kann jeder<br />
von uns am Jom haSikaron die Straße<br />
entlang gehen und einfach in einen Salon<br />
eintreten für ein alternatives, persönliches<br />
und anregendes Zusammentreffen.“<br />
Dann also bis zum nächsten Jahr in unserem<br />
Salon!<br />
wına-magazin.at<br />
13<br />
juni22.indb 13 07.06.22 13:51
Blutgeld<br />
Das unrühmliche<br />
Ende der Sponsoren<br />
Nach einer Reihe anderer internationaler Museen hat zuletzt das<br />
Metropolitan Museum den Namen der prominenten Spenderfamilie<br />
Sackler verschwinden lassen.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Schmerzmittel mit Suchtpotenzial. Arthur,<br />
Mortimer und Raymond Sackler waren<br />
die Söhne von osteuropäischen jüdischen<br />
Einwanderern und wuchsen in den<br />
1930er-Jahren in Brooklyn auf. Wegen an-<br />
Nun also auch das Met.<br />
Im Dezember gab das<br />
Metropolitan Museum<br />
of Art bekannt, dass es<br />
künftig keinen „Sackler Wing“<br />
mehr geben werde. Der Name<br />
der bekannten amerikanischen<br />
Sponsorenfamilie<br />
werde nicht mehr aufscheinen.<br />
Schon seit zwei Jahren<br />
hatte das Museum von dieser<br />
keine zusätzlichen Gelder<br />
mehr angenommen. „Das Met<br />
wurde aufgebaut mit Hilfe der<br />
Unterstützung von Generationen<br />
von Spendern – und die Sacklers haben<br />
immer zu den großzügigsten Spendern<br />
gehört“, so der Geschäftsführer des Museums,<br />
Dan Weiss. Aber nun gehe das nicht<br />
mehr. Von Seiten der Familie hieß es zur<br />
Trennung resignativ in einer Presseaussendung:<br />
„Wir glauben, dass dies im besten<br />
Interesse des Museums und seiner Aufgabe<br />
ist.“<br />
Vor dem Met hatten sich schon andere<br />
internationale Institutionen von den Sacklers<br />
distanziert, die Zusammenarbeit eingestellt,<br />
teilweise ebenfalls deren Namen<br />
von Sammlungen oder Ausstellungsräumen<br />
entfernt. Darunter waren etwa der<br />
Pariser Louvre oder die Tate Modern Galerie<br />
in London.<br />
Wie kommt es, dass Museumsdirektoren,<br />
die sonst stets ihre Wohltäter umschmeicheln,<br />
einigen auf einmal die kalte<br />
Schulter zeigen? Der Grund liegt in der so<br />
Künstlerin Nan Goldin und die<br />
Gruppe P.A.I.N. bei einer Protestaktion<br />
gegen die Familie Sackler im<br />
Guggenheim Museum in New York.<br />
Goldin gibt der Familie auch die<br />
Schuld an ihrer eigenen schweren<br />
Schmerzmittelabhängigkeit.<br />
Die Pharmaunternehmer Sackler werden<br />
für die Opioid-Krise in den USA<br />
mitverantwortlich gemacht, weil sie am<br />
opiathaltigen Schmerzmittel OxyContin<br />
verdient, doch dessen Suchtpotenzial<br />
bewusst verharmlost haben sollen.<br />
genannten Opioid-Krise in den USA. Diese<br />
beschäftigt seit mehr als einem Jahrzehnt<br />
die Gesundheitsbehörden, die Gerichte<br />
und auch die Öffentlichkeit. Dabei geht es<br />
um das Vermarkten von Schmerzmitteln,<br />
die abhängig machen,<br />
die auch<br />
viele ihrer Nutzer<br />
direkt zum Umstieg<br />
auf harte<br />
Drogen brachten.<br />
Inmitten dieser<br />
Opioid-Krise befindet<br />
sich eben<br />
jene Familie des<br />
Kunstmäzenen Sackler mit ihrer Pharmafirma<br />
Purdue und dem Schmerzmittel<br />
OxyContin.<br />
tijüdischer Quoten mussten<br />
sie zum Medizinstudium nach<br />
England ausweichen. Später<br />
arbeiteten sie erfolgreich als<br />
Psychiater, aber auch im Marketing<br />
für Pharmazeutika, unter<br />
anderem von Valium. Anfang<br />
der 1950er-Jahre kauften<br />
sie eine kleine Pharmafirma,<br />
Purdue, diese wurde dann<br />
später der Erzeuger und äußerst<br />
profitable Vermarkter<br />
von OxyContin, einem Mittel<br />
zur Schmerzbekämpfung,<br />
über dessen Suchtpotenzial es<br />
allerdings schon medizinisches Wissen gegeben<br />
hatte.<br />
Dennoch drückten die Sacklers Oxy-<br />
Contin mit einer Kampagne, die sich direkt<br />
an die verschreibenden Ärzte richtete,<br />
rücksichtslos in den Markt. Es galt<br />
eine Zeit lang als eines der umsatzstärksten<br />
Medikamente der Welt. Die Besitzer<br />
machten damit ein Vermögen, was ihnen<br />
das viele Millionen umfassende Sponsoring<br />
von Museen, Spitälern und akademischen<br />
Institutionen ermöglichte. Eine<br />
kleine Auswahl: das Guggenheim Museum<br />
in New York, die Harvard University,<br />
die University of Oxford, die Medizinische<br />
Fakultät der Tel Aviv University<br />
oder ein pulmologisches Institut am Londoner<br />
King’s College.<br />
Doch der Höhenflug hielt nicht an.<br />
Mehrere investigative Journalisten, etwa<br />
der New York Times und des Magazins New<br />
Yorker, befassten sich genauer mit der Medikamentensucht<br />
– die Sacklers verweigerten<br />
stets die Kooperation. Dann begannen<br />
die Klagen betroffener Patienten,<br />
mittlerweile gibt es Tausende von Verfahren.<br />
Purdue Pharma ist inzwischen insolvent,<br />
aber die Klagen richten sich längst<br />
auch gegen die Besitzerfamilie. Und die<br />
einst strahlenden Profiteure der großzügigen<br />
Spender wenden sich sukzessive ab.<br />
© Yana Paskova / Eyevine / picturedesk.com<br />
14 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 14 07.06.22 13:51
HIGHLIGHTS | 02<br />
Die Filmpioniere aus Galizien<br />
Die beiden Kaufleute Isaak Isidor Fett und Karl Wiesel standen 1912<br />
an der Wiege der später einflussreichen Bavaria Film in München.<br />
Isidor Fett war Ende des 19. Jahrhunderts<br />
aus dem galizischen Debica,<br />
das heute in Polen liegt, über Wien<br />
nach München zugezogen. Dort<br />
hatte er dann ein eigenes Konfektionshaus<br />
gegründet, sah aber über<br />
die Mode hinaus eine neue, interessante<br />
Branche entstehen: den Film.<br />
Dafür fand er einen Partner, ebenfalls<br />
aus Galizien. Karl Wiesel war aus<br />
Zurawno unweit von Lemberg nach<br />
München gekommen und betrieb<br />
eine so genannte Partiewaren-Halle<br />
mit der „Specialität Schuhwaren“. Im<br />
Jahr 1910 gründeten die beiden ein<br />
Filmatelier in Geiselgasteig im Süden<br />
von München. Zwei Jahre später<br />
nutzten sie dann einen Saal in Bekleidungsgeschäft<br />
von Fett dazu, ihr<br />
eigenes Kino einzurichten, die Lichtspiele<br />
am Max-Weber-Platz. Es hatte<br />
etwa 150 Sitzplätze.<br />
Jahre intensiver Produktion der<br />
Bayerischen Filmgesellschaft Fett<br />
& Wiesel folgten. Diese avancierte<br />
„binnen kürzester Zeit zu einer der<br />
stadtweit einflussreichsten Firmen<br />
in der Branche“, so die Süddeutsche<br />
Zeitung (SZ). Fett & Wiesel brachten<br />
über 50 Stummfilme auf den<br />
Markt, eher leichte Unterhaltung, arbeiteten<br />
aber bereits mit dem damaligen<br />
Stummfilmstar Harry Piel<br />
zusammen, der unter anderem einen<br />
„Elektromenschen“ spielte, einen<br />
frühen Roboter. Isidor Fett war<br />
zeitweise auch Geschäftsführer der<br />
Harry Piel Film Company GmbH.<br />
Fett und Wiesel zählten laut SZ<br />
seinerzeit zu den „Big Playern in der<br />
Münchner Filmszene“. Ihre Firma gehörte<br />
dann auch zu jenen sieben<br />
süddeutschen Unternehmen, die<br />
sich gegen die große Ufa in Berlin<br />
stemmten und sich 1920 zur Emelka<br />
zusammenschlossen. „Ihr Name leitet<br />
sich von der Abkürzung MLK ab,<br />
was für Münchener Lichtspielkunst<br />
steht“, so die SZ. Die Emelka war europaweit<br />
tätig, betrieb 100 Kinos in<br />
Süddeutschland, die Filmateliers in<br />
Geiselgasteig von Fett & Wiesel sollten<br />
eine der Keimzellen der Bavaria<br />
Filmstudios werden.<br />
Doch schon ein Jahr nach der Fusion<br />
gingen Fett und Wiesel jeweils<br />
eigene Wege. Von 1921 bis 1926 war<br />
Fett noch im Namen der Münchner<br />
Lichtspiele AG am Wiener Filmverleih<br />
Hugo Engel beteiligt. 1923, als er<br />
nach Jahrzehnten in München um<br />
die bayerische Staatsbürgerschaft<br />
ansuchte, wollte man ihn sogar aus<br />
dem Freistaat ausweisen. Als Grund<br />
galt „schnelle Bereicherung“. Fett<br />
übersiedelte später nach Berlin und<br />
starb 1933 überraschend in einem<br />
Münchner Hotel. Seine Witwe wurde<br />
nach Theresienstadt deportiert und<br />
gilt offiziell als „in Riga verschollen“.<br />
Wiesel durfte als Jude unter den Nazis<br />
nicht in der Filmbranche arbeiten<br />
und emigrierte 1938 in die Schweiz.<br />
Er starb 1941 auf der Überfahrt Richtung<br />
Kuba an Typhus. RE<br />
film.tipp<br />
Erinnerung und Geschichte<br />
Die Filmreihe Beckermann und das<br />
Begleitbuch zur Reihe sind die studentische<br />
Hommage an Ruth Beckermanns<br />
Œuvre, organisiert vom Filmclub<br />
Tacheles. Ziel ist, den Diskurs um<br />
Judentum, Erinnerungskultur und Antisemitismus<br />
an der Universität Wien<br />
anzuregen. Aus diesem Anlass spricht<br />
Moderatorin Avia Seeliger in ihrer<br />
Podcastreihe Chuzpe mit Ruth<br />
Beckermann und den Organisatoren.<br />
Filmreihe: filmclubtacheles.com<br />
Podcast: anchor.fm/chuzpe<br />
Waldheims Walzer erzählt<br />
den Bruch des Opfermythos in Österreich, 2018.<br />
DIE LICHTSPIELE AM MAX-WEBER-PLATZ<br />
und die Filmgesellschaft „Fett & Wiesel“<br />
bis 31. <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
Haidhausen-Museum<br />
Kirchenstraße 24, München-Haidhausen<br />
(Nähe Max-Weber-Platz)<br />
Öffnungszeiten:<br />
So., 14–17 Uhr; Mo.–Mi., 17–19 Uhr<br />
© Haidhausen-Museum; Lukas Beck/Filmproduktion Ruth Beckermann<br />
wına-magazin.at<br />
15<br />
juni22.indb 15 07.06.22 13:51
Long Covid<br />
AUSGEBREMST<br />
Das Energiebündel“: So lautete der<br />
Titel eines WINA-Porträts der Marketingexpertin<br />
Viviane Shklarek,<br />
das 2015 erschien. Ihr Leben bewegte<br />
sich damals zwischen 60-Stunden-<br />
Woche als Marketing-Chefin in einer<br />
Agentur, viel Sport, gesundem Essen<br />
und Partymachen. <strong>2022</strong> sieht alles<br />
anders aus: Nach einer Covid-19-<br />
Infektion im Herbst 2020 erkrankte<br />
die inzwischen 40-Jährige an Long<br />
Covid. Schritt für Schritt bemüht sie<br />
sich nun, gesund zu werden – und<br />
möchte mit ihrem positiven Elan<br />
dabei auch andere motivieren,<br />
es ihr gleich zu tun: Auf Social Media<br />
dokumentiert sie ihren Heilungsprozess<br />
mit Hashtags wie<br />
#liveeverymoment, #longcovidrecovery<br />
und #projectrecovery.<br />
Von Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked<br />
16 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 16 07.06.22 13:51
Langer Weg zurück<br />
Mit Covid-19 infiziert<br />
hat sich Viviane<br />
Shklarek „im<br />
Fitnesscenter – also<br />
einer meiner Leidenschaften“. Es<br />
war ein Zirkeltraining, die Teilnehmer<br />
trainierten ohne Maske.<br />
„Ein paar Tage später habe ich ein E-Mail<br />
bekommen, dass einer der Trainer positiv<br />
getestet wurde.“ Am nächsten Tag in der<br />
Früh spürte sie bereits selbst Symptome:<br />
„Ich hatte 39 Grad Fieber und fühlte mich<br />
schlapp.“ Fieber und dieses Schwächegefühl<br />
sollten sie noch rund eine Woche begleiten.<br />
Husten habe sie keinen gehabt.<br />
Dann schien das Virus überstanden. Sie<br />
begann wieder zu arbeiten, ließ sich sogar<br />
von einer Internistin durchuntersuchen,<br />
um beruhigt wieder mit Sport beginnen<br />
zu können. „Sie hat mich durchgetestet,<br />
EKG gemacht, sich die Lungenfunktion<br />
angesehen und gesagt, es ist alles okay.“<br />
Etwa sechs Wochen später merkte sie,<br />
dass ihr Körper das etwas anders sah. Immer<br />
wieder hatte sie Temperatur, und es<br />
traten verschiedenste „Wehwehchen“ auf,<br />
wie Shklarek sagt: Blaseninfekte, Bauchschmerzen,<br />
Schleim im Hals, ein Heißgefühl,<br />
dann wieder Gänsehaut und Schüttelfrost.<br />
„Long Covid war damals noch<br />
kein Begriff. Ich bin von einem Arzt zum<br />
anderen gelaufen, aber jeder sagte, ich<br />
bin gesund.“<br />
„Aber es war<br />
ein bisschen<br />
so, wie wenn<br />
man das Leben<br />
durch<br />
einen Schleier<br />
sieht. Es geht<br />
schon, aber<br />
der Körper<br />
macht komische<br />
Sachen.“<br />
Viviane Shklarek<br />
Sie arbeitete weiter, nahm, wenn es gar<br />
nicht anders ging, dazwischen einen Krankenstandstag.<br />
Ende 2020 dachte sie sich,<br />
vielleicht sei ihr auch nur einfach alles<br />
zu viel und ein Urlaub könnte helfen. Sie<br />
buchte einen Flug mach Dubai, doch am<br />
Tag des Abflugs bekam sie wieder Temperatur.<br />
Eine Woche später flog sie doch, genoss<br />
den Urlaub, machte sogar etwas Sport.<br />
„Aber es war ein bisschen so, wie wenn<br />
man das Leben durch einen Schleier sieht.<br />
Es geht schon, aber der Körper macht komische<br />
Sachen.“<br />
Nach ihrer Rückkehr nach Wien arbeitete<br />
sie noch ein paar Wochen, doch irgendwann<br />
merkte sie, dass sie zwar im<br />
Home-Office vor ihrem<br />
Computer saß,<br />
aber nicht denken<br />
konnte. Und dann<br />
an einem Montag<br />
war es so weit:<br />
Sie ließ sich krankschreiben.<br />
Es ging<br />
nicht mehr. Eine<br />
Freundin lud sie<br />
ein, eine Woche zu<br />
ihr zu ziehen. Sie<br />
war es auch, die sie<br />
auf die Möglichkeit<br />
von Long Covid aufmerksam<br />
machte.<br />
Durch Glück ergatterte<br />
sie rasch einen<br />
Termin beim Neurologen Michael<br />
Stingl, der bereits seit Jahren Patienten<br />
mit dem Chronic-Fatigue-Syndrom behandelt<br />
und einer der Ersten war, der sich<br />
mit der neuen Erkrankung auseinandersetzte.<br />
Stingl bestätigte den Verdacht. Und<br />
dann war sie also auf dem Tisch, die Diagnose:<br />
Long Covid.<br />
„Die Diagnose hat mich so getroffen. Es<br />
hat mich so mitgenommen, dass es mir danach<br />
schlechter ging. So eine Diagnose ist<br />
wie ein Stempel, ich hatte das Gefühl, jetzt<br />
gibt es keine Heilung.“ Sie sei dann nur<br />
mehr zu Hause gewesen, habe sich mit<br />
Dingen wie Meditation beschäftigt. „Und<br />
wer mich vorher kannte, weiß: Eine Minute<br />
ohne Fernseher oder irgendeine Beschäftigung<br />
ist nicht meines. Ich musste mir<br />
das erst angewöhnen.“ Bis April 2021 ging<br />
es bergab, bis <strong>Juni</strong> wieder bergauf. Sie bekam<br />
die erste und zweite Covid-Impfung,<br />
hochdosierte Vitamine und Mineralstoffe<br />
und übte sich in dem von Stingl empfohlenen<br />
Pacing, was bedeutet, sich in langsamem<br />
Tempo an das heranzutasten, was<br />
der Körper zu leisten vermag.<br />
Das wichtigste Werkzeug dazu ist die<br />
Pulsuhr, die Shklarek bis heute Tag und<br />
Nacht trägt. Mehr als 110 sollte sie zunächst<br />
nicht anzeigen. Doch dieser Wert<br />
war schnell erreicht – manchmal sogar<br />
schon im Stehen. Das ist dann ein Zeichen,<br />
eine Pause zu machen – und jede Tätigkeit<br />
noch langsamer auszuführen. Das<br />
ließ sich zunächst ganz gut an, im <strong>Juni</strong> 2021<br />
war es ihr dann schon möglich, mit dem<br />
Auto von ihrer Wohnung in Wien-Döbling<br />
in die Innenstadt zu fahren und gemeinsam<br />
mit einer Freundin in einem Lokal<br />
mittagzuessen. Doch dann hörte sie von einer<br />
Erfolg versprechenden Therapie – einer<br />
Apherese, also einer Blutreinigung, die<br />
bei Long Covid helfen sollte. Gemeinsam<br />
mit ihrem Vater fuhr sie dafür zwei Wochen<br />
nach Bayern. „Das war jedoch leider zu viel<br />
für mich.“<br />
Bei Long Covid sei es auch so, dass von einem<br />
Tag auf den anderen jederzeit ein Crash kommen<br />
könne. Dann gehe gar nichts mehr.<br />
„Das ist ein Zustand, in dem du nicht mehr<br />
nachdenken kannst, dich nicht mehr bewegen<br />
kannst, in dem du nur mehr denkst, ich<br />
will sterben.“ Die Reise, die Behandlung,<br />
das alles habe sie zu sehr mitgenommen.<br />
„Von September bis Dezember war ich bettlägerig.<br />
Das war der Tiefpunkt“, erinnert<br />
sie sich heute. Sie habe sich nicht einmal<br />
mehr selbst etwas zu essen zubereiten können.<br />
Wenn sie Medikamente brauchte oder<br />
Hilfe beim Wäsche waschen, schrieb sie in<br />
ihre WhatsApp-Gruppe „Vivi’s Angels“, und<br />
ihr Vater und seine Partnerin oder Freundinnen<br />
kamen und halfen ihr. Dafür sei sie<br />
sowohl ihrer Familie wie auch ihren Freundinnen<br />
sehr dankbar, betont sie.<br />
An manchen Tagen habe sie in der Früh<br />
sogar überlegt, ob sie genügend Energie<br />
habe, das Gesicht einzucremen oder auf<br />
dem WC das Licht einzuschalten. „Das waren<br />
die schlimmsten Tage. Und man kann<br />
ja auch nicht die ganze Zeit schlafen. Also<br />
vegetiert man so vor sich hin. Man vegetiert<br />
und hofft.“ In dieser Zeit habe sie irgendwann<br />
auch nur mehr 40 Kilo gewogen.<br />
Zuvor sei sie sportlich gewesen, habe<br />
Muskeln gehabt. Doch durch das Liegen<br />
habe sie massiv Muskeln abgebaut.<br />
Die Hoffnung hat Viviane Shklarek<br />
aber nie aufgegeben. Mit Erfolg. Diesen<br />
<strong>Juni</strong> kann sie nun wieder anfangen, Teilzeit<br />
zu arbeiten. Ein langsames Tempo ist<br />
auch hier das Mittel der Wahl. Doch was<br />
ist zwischen der Bettlägerigkeit am Jahresende<br />
bis heute passiert? „Ich habe viele<br />
Dinge ausprobiert“, erzählt die Long-Co-<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
juni22.indb 17 07.06.22 13:51
Awareness lernen<br />
Die Gewissheit,<br />
„selbst wenn<br />
jeder Moment<br />
Scheiße ist, wird<br />
es wieder einen<br />
Moment geben,<br />
der es wert<br />
macht, das Leben<br />
zu leben“.<br />
Viviane Shklarek<br />
Neues Leben. „In so einem Jahr denkt man<br />
viel nach. Und rückwirkend bin ich eben auch<br />
froh, was mir die Krankheit gegeben hat.“<br />
den pro Woche sind es anfangs, langsam<br />
will Shklarek das steigern, dabei aber immer<br />
auf ihren Körper hören. Bei diesem<br />
Modell zahlt der Arbeitgeber für die Teilzeitarbeit,<br />
die Kasse schießt dann noch etwas<br />
zu.<br />
Dass sie stets finanziell abgesichert war,<br />
weiß Shklarek zu schätzen. Aus einer Online-Selbsthilfegruppe<br />
weiß sie, dass andere<br />
mit Existenzsorgen zu kämpfen haben.<br />
Stichwort Selbsthilfegruppe: Die<br />
Long-Covid-Austria-Gruppe leiste großartige<br />
Arbeit, was das Bekanntmachen<br />
der Krankheit und den Austausch mit<br />
dem Gesundheitsministerium und Ärzten<br />
und Ärztinnen betreffe. Rasch erkannte<br />
sie allerdings auch, dass ihr dieser<br />
ständige Austausch nicht gut tat, sondern<br />
sie eher herunterzog. Insgesamt legte sie<br />
nach der Diagnose Long Covid zunächst<br />
vid-Patientin. Geholfen hätten ihr vor allem<br />
drei Dinge. Erstens „loszulassen und<br />
nicht krampfhaft zu versuchen, gesund<br />
zu werden. Einfach sein lassen und Vertrauen<br />
haben.“ Erlernt habe sie das mittels<br />
der Grinberg-Therapie, einem Konzept des<br />
Israeli Avi Grinberg, das auf Körperarbeit<br />
basiert. „Es geht darum zu erkennen, wo<br />
im Körper es Anspannung gibt und diese<br />
zu lösen. Der Körper ist dazu gemacht, sich<br />
selbst zu heilen. Das macht man durch Körperachtsamkeitsübungen.“<br />
Zwei weitere Elemente haben Shklarek<br />
zudem vorangebracht: Physiotherapie<br />
und die Einnahme eines Antidepressivums,<br />
das auch stark entzündungshemmend<br />
ist. Das Medikament<br />
hilft einerseits, die Angst vor<br />
einem nächsten Crash in Zaum<br />
zu halten. Und da Long Covid<br />
eine Entzündung des Nervensystems<br />
sei, helfe die Medikation<br />
auch, diese Entzündung<br />
in den Griff zu bekommen.<br />
Das Antidepressivum habe<br />
zwar Nebenwirkungen wie<br />
abenteuerliche Träume, starkes<br />
Schwitzen in der Nacht und<br />
hohe Koffeinsensibilität, „aber<br />
das nehme ich in Kauf“. Inzwischen<br />
gehe es ihr von Woche zu<br />
Woche besser. Und nach mehr<br />
als einem Jahr im Krankenstand<br />
begann sie im <strong>Juni</strong> vorerst<br />
einmal zwölf Stunden in<br />
der Woche zu arbeiten.<br />
Dankbar ist Shklarek dabei<br />
auch ihrem derzeitigen Arbeitgeber Philip<br />
Morris. Niemals stand eine Kündigung<br />
im Raum, immer wurde ihr signalisiert, sie<br />
solle sich alle Zeit, die sie brauche, nehmen,<br />
um gesund zu werden. Nach dem Krankenstand<br />
beantragte sie Krankengeld, das<br />
wurde von der Krankenkasse für ein Jahr<br />
gewährt und betrug etwa die Hälfte ihres<br />
zuvor bezogenen Einkommens. „So bin ich<br />
gut über die Runden gekommen. Die Fixkosten<br />
waren gedeckt, und die Therapien<br />
habe ich mit meinen Ersparnissen bezahlt.“<br />
Danach kann man – wenn Aussicht auf<br />
Heilung besteht – für ein weiteres halbes<br />
Jahr Krankengeld beantragen. Das lehnte<br />
die Kasse zunächst ab. Doch mit Hilfe<br />
der Arbeiterkammer erhob Shklarek Einspruch<br />
– und bekam Recht. Dank des Programms<br />
Fit2Work zur Wiedereingliederung<br />
von Menschen in den Arbeitsmarkt,<br />
die eine lange Krankheit durchlitten haben,<br />
soll nun die Rückkehr an den Arbeitsplatz<br />
eben langsam erfolgen. Zwölf Stuneine<br />
Social-Media-Pause ein. Doch seit<br />
es wieder bergauf geht, möchte sie eben<br />
auch anderen Mut machen. Und dabei<br />
auch teilen, was sie die Krankheit gelehrt<br />
hat: die Gewissheit, „selbst wenn jeder<br />
Moment Scheiße ist, wird es wieder<br />
einen Moment geben, der es wert macht,<br />
das Leben zu leben“.<br />
Viel habe sie zudem durch die Krankheit<br />
gelernt, sagt Shklarek. Seit ihre Mutter<br />
an Brustkrebs starb, engagiert sie sich in<br />
der Charity Think Pink! für die Brustkrebshilfe.<br />
„Lebe jeden Moment“, sei schon seit<br />
damals ihr Motto. Doch heute weiß sie: „Offenbar<br />
habe ich das falsch interpretiert. Jeder<br />
Moment war für mich, jeden Moment<br />
mit etwas gefüllt haben. Nun<br />
weiß ich, jeder Moment muss<br />
nicht gefüllt sein, sondern<br />
ein Moment mit mir ist auch<br />
genug.“ Ja, das sei schon fast<br />
philosophisch. „Aber in so<br />
einem Jahr denkt man viel<br />
nach. Und rückwirkend bin<br />
ich eben auch froh, was mir<br />
die Krankheit gegeben hat.“<br />
Arbeit sei ihr Leben, habe<br />
sie früher gedacht. Heute<br />
wisse sie: Arbeit werde weiterhin<br />
ein wichtiger Bestandteil<br />
ihres Leben, aber<br />
eben nicht mehr ihr Leben<br />
sein. „Langsam“ sei allerdings<br />
nicht ihres, sobald<br />
dies möglich sei, werde sie<br />
wieder „ein schnelleres Leben<br />
führen“. Erkannt habe<br />
sie zudem, dass es ihr bei der Arbeit vor allem<br />
um die Zusammenarbeit mit anderen<br />
Menschen gehe, und das fehlte ihr zunehmend<br />
in den vergangenen Monaten.<br />
Was sie in Zukunft aber anders machen<br />
werde: „Mehr priorisieren, Dinge<br />
entspannter angehen, mich nicht mehr<br />
selbst stressen.“ Zeit für Freunde und Familie<br />
werde nun immer sein. Sport werde<br />
ebenfalls wichtig sein, aber nicht um jeden<br />
Preis. Wenn ihr Körper ihr in der Früh sage,<br />
dass er Ruhe brauche, dann werde der Tag<br />
eben nicht mit Laufen, auf dem Heimtrainer<br />
oder mit Pilates beginnen. „Ich habe<br />
nun einfach insgesamt mehr Awareness.“<br />
Nicht wichtig sei nun auch zu wissen,<br />
wann sie wieder ganz gesund werde. „Theoretisch<br />
kann es auch sein, dass ich nie ganz<br />
gesund werde. Aber daran denke ich gar<br />
nicht. Ich habe in den letzten Monaten so<br />
viel geschafft, dass ich weiß, dass ich irgendwann<br />
wieder ganz gesund werde –<br />
ohne Druck, ohne Zeitlimit.“<br />
18 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 18 07.06.22 13:51
LEBENS ART<br />
DAS SOMMERFEST-PROGRAMM<br />
Neben den über 40 Organisationen und Institutionen, die sich<br />
hier präsentieren, zeigen auch junge jüdische Designer:innen<br />
ihre Arbeiten. Außerdem gibt es ein Kinderprogramm, koschere<br />
Kulinarik und natürlich viel Live-Musik. Auf der<br />
Bühne werden der Wiener Jüdische Chor, Roman Grinberg<br />
(Foto) in Begleitung des Klezmer Swingtett sowie<br />
Special Guest Lea Kalisch (siehe auch Seite 48) performen.<br />
So., 12. <strong>Juni</strong>, 14:30–19 Uhr, Judenplatz<br />
Frischluft-Gaudi<br />
Im <strong>Juni</strong> feiert die IKG ihr jährliches Sommerhighlight: das<br />
jüdische Straßenfest! WINA hat deshalb eine kleine Grundausstattung<br />
für die Open-Air-Events in diesem Sommer zusammengestellt.<br />
EIN ECHTER LUFTIKUS<br />
Frische Prise gefällig? Der Kueatily-Handventilator<br />
ist Handschmeichler und Augenschmaus<br />
zugleich. Dank reduzierter Geräuschentwicklung<br />
ist er absolut konzerttauglich und mit<br />
einer Belüftungszeit von bis zu zehn Stunden<br />
sogar einsatzbereit für Festivals. Zum Aufladen<br />
einfach das beiliegende USB-Kabel mit Laptop,<br />
Power Bank oder Ähnlichem verbinden.<br />
Z. B. über otto.de<br />
HAT WAS<br />
Drin ist, was drauf steht: Die Wiener Manufaktur<br />
Mühlbauer hat vorsichtshalber<br />
HAT auf ihre Sommerkollektion<br />
gestickt. Wir hätten das Exponat<br />
vielleicht auch ohne den dezenten Hinweis<br />
erkannt. Der knautschige „Fisher Sepp“ ist aus leichtem Parasisolstroh,<br />
das aus der Agave gewonnen wird und aus<br />
dem südost-asiatischen Raum kommt.<br />
muehlbauer.at<br />
TOLL FÜR DEN RÜCKEN<br />
Eine Kraxe war früher ursprünglich aus<br />
Holz und wurde u. a. für den Transport<br />
von Lebensmitteln genutzt. Das gleichnamig<br />
Wiener Label hat jetzt ein etwas<br />
benutzerfreundlicheres Material eingesetzt<br />
und ihre in Europa hergestellte Tasche<br />
„Azoren“ aus Canvas und Leder gefertigt.<br />
Was darin befördert wird? Siehe<br />
restliche Seite. kraxe-wien.com<br />
SCHÖN IM SCHAUER<br />
Es gibt kein schlechtes Wetter – es<br />
gibt nur die falsche Kleidung. Wer<br />
auf Nummer sicher gehen will,<br />
packt also den Glockenschirm<br />
„Happy Rain“ ein, der genau das<br />
macht, was sein Name verspricht:<br />
glücklich trotz Niederschlag. Für jeden,<br />
der dem grauen Regenalltag<br />
etwas entgegensetzen und dabei<br />
den Durchblick bewahren möchte.<br />
u. a. über amazon.de<br />
MEERBLICK INKLUSIVE<br />
Der wellenförmig facettierte Rand dieser<br />
Sonnenbrille erinnert direkt an die seichten<br />
Wogen des Coral Beachs. Wer lieber durch eine<br />
rosarote Brille statt durch diese hellblaue von<br />
Chloé schauen möchte, kann sich übrigens<br />
auch durch das riesige Sortiment von<br />
Optikprofi Mister Spex graben.<br />
misterspex.at<br />
GEHT VOLL GUT!<br />
Wer eine flotte Sohle aufs Parkett legen oder<br />
einfach auch nur einen schlanken Fuß machen<br />
möchte, sollte sich beim israelischen Designduo<br />
Norman&Bella umschauen. Aus feinstem<br />
Leder fertigen sie ihre schicken Exemplare per<br />
Hand an, etwa „Viola“ mit Gurtdetail.<br />
normanandbella.com<br />
ADE, SCHMETTERLINGE<br />
Weil Kinderschminke so ziemlich das einzige<br />
ist, was nicht mit einem Taschentuch und<br />
Spucke aus dem Gesicht der Kleinen verschwindet,<br />
empfehlen wir den Eye-Makeup-Remover<br />
der israelischen Beauty-Brand<br />
Ahava. Rückt dem Make-up-Schmetterling<br />
mit kraftvollen Mineralien aus dem Toten<br />
Meer, Aloe Vera und Kamille auf die Pelle.<br />
ahava.com<br />
Fotos: Hersteller; S.Gansriegler<br />
19 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 19 07.06.22 13:51
Wiener Wurzeln<br />
INTERVIEW MIT MAYA KUPFERBERG<br />
„Ich habe keine Angst vor dem Tod,<br />
denn ich bin schon zweimal gestorben“<br />
Über die vier Leben ihres Vaters, des österreichisch-israelischen<br />
Historikers Walter Grab, sprach seine Tochter Maya<br />
Kupferberg mit Anita Pollak.<br />
Maya Kupferberg über<br />
Wien: „Ich gehe durch die<br />
Stadt und versuche sie mit<br />
den Augen meines Vaters<br />
zu sehen.“<br />
Für mich war ja der Einmarsch der Nazis<br />
in Österreich ungefähr so, wie wenn man<br />
heute irgendwo in einer Zeitung liest:<br />
Alle Brillenträger werden umgebracht.<br />
Ich bin Brillenträger. Ich kann nichts dafür, dass ich<br />
Brillenträger bin, so ist es nun mal, ich werde umgebracht.<br />
Also, wohin, was? Darunter steht eine ganz<br />
kleine Notiz: Die Hottentotten retten dich. Dann<br />
geht der Brillenträger zu den Hottentotten. So ging<br />
ich nach Palästina.“<br />
Diese Sätze stammen aus einem Interview<br />
mit Walter Grab. 1919 in Wien geboren,<br />
führte er in Israel zunächst den Lederhandel<br />
seiner Eltern weiter, bevor er als Spätberufener<br />
in Tel Aviv eine beachtliche akademische<br />
Karriere starten konnte. Als Historiker ist<br />
er vor allem im deutschen Sprachraum berühmt<br />
geworden. 2000 starb er in Israel.<br />
Seine Tochter Maya Kupferberg war nun<br />
beim Besuchsprogramm des Jewish Welcome<br />
Service, das nach zweijähriger Pause erstmals<br />
wieder im größeren Rahmen stattfinden<br />
konnte, in Wien zu Gast.<br />
„Die Fernsehserie<br />
Rex<br />
liebte er, weil<br />
das auf Wienerisch<br />
war.“<br />
WINA: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie im Wiener Rathaus eingeladen<br />
sind?<br />
Maya Kupferberg: Ich gehe durch die Stadt und versuche<br />
sie mit den Augen meines Vaters zu sehen. Er<br />
fühlte sich zu Wien sehr hingezogen, war aber andererseits<br />
extrem gekränkt und traurig. Das Trauma<br />
von seinem Rausschmiss hatte ihn sein ganzes Leben<br />
begleitet, abgesehen vom Verlust verschiedener Familienmitglieder.<br />
Ich verstehe auch die Tragik seines<br />
Lebens, denn er sagte immer, ich gehöre nicht hierher,<br />
und meinte damit Israel. Ich bin ein Europäer,<br />
aber Österreich hat mich rausgeworfen.<br />
Walter Grab hat hier 1994 eine Ehrenmedaille der Stadt erhalten.<br />
Wie war das für ihn?<br />
I Es war eine gewisse Gutmachung, aber in seinem<br />
Herzen war er bis zu seinem Tod sehr verbittert und<br />
verletzt. Vor dem Krieg hat er mit seinen Eltern auf<br />
dem Bauernfeldplatz 4 gewohnt, und als er 1946 das<br />
erste Mal nach Wien kam, hat er an der Wohnungstür<br />
angeklopft. Dort wohnte der Hausmeister. Und<br />
als dessen Frau ihm aufmachte, hat sie geschrien,<br />
© PID/ Walther Schaub-Walzer<br />
20 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 20 07.06.22 13:51
Leben in Tel Aviv<br />
„Der Jud ist wieder da!“ Vater hat gesagt, er wolle gar<br />
nichts, nur den Ort sehen, nach dem er sich so gesehnt<br />
hat, aber sie hat ihm die Tür zugeknallt. Er kam<br />
völlig fertig nach Israel zurück und sagte: „Es hat sich<br />
nichts verändert.“ Vielleicht spielte er mit dem Gedanken<br />
zurückzukehren. Aber meine Mutter, die Berlinerin<br />
war, hätte das nie mitgemacht.<br />
Er hat zu Israel immer ein sehr ambivalentes Verhältnis gehabt<br />
und in Tel Aviv in einem Zirkel deutscher Kultur gelebt,<br />
Heine, Goethe, Schiller, Büchner waren seine Hausgötter. Wie<br />
haben Sie das erlebt bzw. wie wurden Sie erzogen?<br />
I Die Eltern haben miteinander Deutsch gesprochen,<br />
aber mit uns nur Hebräisch, was sie sehr gut gelernt<br />
hatten. Zuhause hat mein Vater gern Kreisler gehört<br />
und Qualtinger und später im Fernsehen österreichische<br />
Sender empfangen, die Fernsehserie Rex<br />
liebte er, weil das auf Wienerisch war. Er fühlte sich<br />
in der Sprache und in der Kultur zuhause. Wir, seine<br />
Kinder, haben von der deutschen Kultur nichts mitbekommen.<br />
Aber meine beiden Töchter hat er sehr<br />
beeinflusst. Eine ist Journalistin und die andere Professorin<br />
für deutsch-jüdische Literatur an der TU<br />
Berlin. Sie hat über Heine dissertiert, das konnte er<br />
leider nicht mehr erleben. Meine Tochter Shelly Kupferberg<br />
hat jetzt ein Buch über den Onkel meines Vaters<br />
geschrieben – Isidor: Ein jüdisches Leben – und wird<br />
es auch in Wien präsentieren. Sie kennt alle Einzelheiten<br />
der Familiengeschichte.<br />
„Das<br />
Trauma<br />
von seinem<br />
Rausschmiss<br />
hatte ihn<br />
sein ganzes<br />
Leben<br />
begleitet.“<br />
I Ja, er war immer ein Linker, ging auf jede Demonstration<br />
mit, bei jedem 1. Mai, und wurde da immer mit<br />
Tomaten beworfen. Er war bei Peace Now sehr aktiv<br />
und hat immer alle Aufrufe unterschrieben. Die kommunistische<br />
Partei war lange sein Zuhause, aber die<br />
wurde damals in Israel sehr missachtet. Kommunist<br />
war ein Schimpfwort. Vor seinem Tod hat er mir gesagt:<br />
„Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn ich bin<br />
schon zweimal gestorben. Einmal, als die Wiener mich<br />
rausgeschmissen haben, und einmal, als die Kommunisten<br />
mich rausgeschmissen haben.“ Denn nachdem<br />
1956 bekannt wurde, was Stalin gemacht hatte, hat er<br />
der Partei gegenüber gemeint, das wäre ja schrecklich.<br />
Da haben sie gesagt, wenn du kapitalistische Zeitungen<br />
liest, dann raus mit dir.<br />
© PID/ Walther Schaub-Walzer<br />
Walter Grabs Autobiografie trägt den Titel Meine vier Leben.<br />
Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat.<br />
Allein sein Wikipedia-Eintrag zeigt aber, dass er noch<br />
mehr Leben gehabt haben muss.<br />
I Ja, Kindheit in Wien, dann Kaufmann in Israel, später<br />
Universitätsprofessor und schließlich Rentner.<br />
Ich sehe meinen Vater immer in seinem Arbeitszimmer,<br />
umgeben von tausenden Büchern und ab 7 Uhr<br />
früh auf der Schreibmaschine tippen. Er war enorm<br />
fleißig, denn er musste ja 20 Jahre aufholen, in denen<br />
er Kaufmann gewesen war, was er hasste, aber<br />
er musste die Familie erhalten. Daneben ging er als<br />
Abendstudent an die Uni in Tel Aviv und dann für drei<br />
Jahre nach Hamburg, für meine Mutter war das sehr<br />
schwer. Nach seiner Rückkehr hat er den Lehrstuhl<br />
an der Uni Tel Aviv bekommen und dort 1971 das Institut<br />
für Deutsche Geschichte gegründet, gegen sehr<br />
viel Widerstand, denn man wollte damals so etwas<br />
noch nicht. Um dafür Mittel zu bekommen, war er<br />
bei Kreisky, aber es war die Begin-Zeit, und Kreisky<br />
sagte, für eine rechte Regierung gebe ich nichts.<br />
Schließlich hat dann die Volkswagen-Stiftung fünf<br />
Millionen DM dafür gespendet.<br />
Bekannt ist Grab in akademischen Kreisen vor allem für seine<br />
historischen Arbeiten über revolutionäre Bewegungen wie<br />
die Jakobiner. Er dürfte selbst auch ein revolutionärer Freigeist<br />
gewesen sein.<br />
Ihr Bruder ist in den USA auch Historiker. Welchen Berufsweg<br />
haben Sie eingeschlagen?<br />
I Mein Bruder ist Napoleon-Forscher. Mein Vater<br />
war Spezialist für die Französische Revolution und<br />
hat sich immer für demokratische Strömungen interessiert.<br />
Die beiden haben stundenlang miteinander<br />
diskutiert. Ich war an der Jüdischen Grundschule<br />
in Berlin Lehrerin für Hebräisch. Nach dem Yom-<br />
Kippur-Krieg, von dem mein Mann sehr depressiv<br />
nach Hause kam, wollten wir vorerst für einige<br />
Jahre nach Deutschland gehen und sind nun schon<br />
47 Jahre dort. Israelin bin ich geblieben, aber ich bin<br />
in einem linken Haus aufgewachsen und habe einige<br />
Vorbehalte gegen die Politik in Israel.<br />
Ihre Großeltern hatten eine große Lederwarenerzeugung in<br />
Wien. Wurden ihre Eltern entschädigt?<br />
I Nach Vaters Tod habe ich Drucksorten von Emil Grab<br />
und Söhne, so hieß die Fabrik, gefunden und ging damit<br />
zum Rechtsanwalt für Restitutionen. Wir bekamen<br />
ungefähr 5000 Euro, was natürlich nichts ist.<br />
Wie bekannt ist Walter Grab heute als Wissenschaftler in<br />
Israel?<br />
I Gar nicht. Er war in Israel nur auf der Universität<br />
bekannt, sonst wenig. In Deutschland war er bei<br />
den Linken und vor allem als Jakobiner-Forscher angesehen.<br />
wına-magazin.at<br />
21<br />
juni22.indb 21 07.06.22 13:51
Prägender Einfluss<br />
Tilly Spiegel –<br />
Widerstandskämpferin,<br />
Frau, Linke, Jüdin<br />
Vor zwei Jahren schrieb Ina Markova<br />
vom Institut für Zeitgeschichte<br />
und vom österreichischen<br />
Volkshochschularchiv eine<br />
Biografie über Tilly Spiegel, die „in der Ersten<br />
Republik diejenige war, die die gesamte<br />
Basisarbeit der kommunistischen Partei<br />
machte“. Ottilie „Tilly“ Sali Spiegel wurde<br />
am 10. Dezember 1906 in Nowosielitza, Buko<strong>wina</strong>,<br />
geboren. Zu dieser Zeit regierte in<br />
den USA Theodore Roosevelt und in Russland<br />
Zar Nikolaus II. Die Buko<strong>wina</strong> gehörte<br />
zur österreichisch-ungarischen Monarchie<br />
und wurde von Wien aus regiert. In der Buko<strong>wina</strong><br />
lebte damals eine multikulturelle,<br />
auch jüdische Bevölkerung im friedlichen<br />
Nebeneinander. Nowosielitza hatte 1910<br />
etwa 2.176 Einwohner, die sich religiös in<br />
zwei Gruppen teilten: Anhänger des orthodoxen<br />
Christentums und Menschen<br />
jüdischen Glaubens. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />
sprach Deutsch, gefolgt von Rumänisch.<br />
Das Klima der kleinen Stadt war<br />
miserabel, unangenehme Feuchtigkeit und<br />
langanhaltender Nebel ergänzten die ärmlichen<br />
Lebensbedingungen. Vater Spiegel<br />
ernährte seine Frau und die fünf Kinder,<br />
Tilly war die Älteste, mit kleinen Handelstätigkeiten.<br />
Die kriegerischen Auseinandersetzungen<br />
zwischen<br />
der zaristischen mit<br />
der k.u.k. Armee des Ersten<br />
Weltkriegs bedeutete ab 1915<br />
für die Familie Spiegel Vertreibung<br />
und Flucht aus ihrem<br />
Heimatdorf mit vielen<br />
Umwegen, die sie dann nach<br />
Wien brachte.<br />
Wann sich Tilly Spiegel<br />
der Kommunistischen Partei<br />
in Wien anschloss, ist<br />
nicht ausreichend belegt. Es<br />
muss Ende der 1920er-Jahre<br />
gewesen sein, als sie dem<br />
Kommunistischen Jugendverband<br />
in Wien beitrat.<br />
„Bis Tilly 20 war“, beschreibt<br />
Ina Markova das Leben der<br />
… verdankt die<br />
österreichische<br />
Geschichtsforschung<br />
Tilly<br />
Spiegel „die<br />
Auseinandersetzung<br />
mit wichtigen<br />
Aspekten der<br />
Geschichte<br />
der Ersten und<br />
Zweiten<br />
Republik“.<br />
Ina Markova<br />
Tilly Spiegel war eine mutige Frau, die in grausamen<br />
historischen Zeiten für den Kommunismus und gegen<br />
die Nationalsozialisten kämpfte. Sie war eine der<br />
ersten Mitarbeiterinnen des Dokumentationsarchivs<br />
des Österreichischen Widerstandes und half, die Verbrechen<br />
der NS Zeit aufzuarbeiten.<br />
Von Viola Heilman<br />
Familie Spiegel in Wien, „hat die Familie<br />
im 16. Bezirk auf sehr beengtem Raum zusammengelebt.<br />
Sie waren zu acht in einer<br />
Wohnung in der Friedmanngasse. Tilly ist<br />
dann mit einem jungen Mann zusammengekommen<br />
und hat mit ihm in wilder Ehe<br />
gelebt. Ihr Vater hat das furchtbar gefunden,<br />
weil er konservative Ansichten hatte,<br />
andererseits war er froh, dass einer weniger<br />
in der Wohnung wohnt.“<br />
Nachdem die Kommunistische Partei<br />
1933 verboten wurde, übernahm<br />
Tilly Spiegel immer<br />
höhere Kaderfunktionen<br />
und wurde Kreisleiterin.<br />
Wegen illegaler Parteitätigkeit<br />
wurde sie aber verhaftet<br />
und zu einer zweijährigen<br />
Haftstrafe verurteilt.<br />
Wieder in Freiheit, ging<br />
Tilly Spiegel 1937 in die<br />
Schweiz und organisierte<br />
dort den Grenzübertritt<br />
von Spanienkämpfern aus<br />
Österreich. „Sie hielt sich<br />
wahrscheinlich in dieser<br />
Zeit in der Nähe von St. Gallen<br />
auf und wurde wegen<br />
dieser illegalen Tätigkeit<br />
wieder inhaftiert. Diesmal<br />
von den Schweizern. Sie<br />
hatte damit sehr großes Glück, denn genau<br />
in diese Zeit fällt der Anschluss und sie<br />
hätte eine Inhaftierung in Österreich nicht<br />
überlebt“, sagt Ina Markova. Im Mai 1938,<br />
nach ihrer Entlassung, wurde sie aus der<br />
Schweiz ausgewiesen und emigrierte daraufhin<br />
nach Paris.<br />
Bei den französischen Feierlichkeiten<br />
zum 14. Juli 1939 lernt Tilly Spiegel ihren<br />
späteren Ehemann Franz Marek kennen.<br />
Auch er floh um 1920 aus Galizien nach<br />
Wien und trat der Kommunistischen Partei<br />
1935 bei, zu diesem Zeitpunkt war Tilly<br />
bereits im Gefängnis. Sein Geburtsname<br />
war Ephraim Feuerlicht. Den Kampfnamen<br />
Franz Marek nahm er nach Eintritt in<br />
die Partei an, für die er im Untergrund die<br />
Agitation leitete. Als 1938 der „Anschluss“<br />
Österreichs erfolgte, floh Franz Marek nach<br />
Paris und baute die Leitung der KPÖ im Exil<br />
auf. Tilly Spiegel gründete im selben Jahr<br />
den Cercle Culturel Autrichien und engagierte<br />
sich in der Flüchtlingshilfe. Ihren Lebensunterhalt<br />
finanzierte sie als Turnlehrerin.<br />
Wie Marek schloss auch sie sich nach<br />
der Besetzung Frankreichs durch das NS-<br />
Regime dem kommunistischen Flügel der<br />
Résistance an.<br />
Frauen im Widerstand. Von 1941 bis 1943 war<br />
Tilly Spiegel Gebietsverantwortliche des<br />
© nap Verlag<br />
22 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 22 07.06.22 13:51
Gestalten im Hintergrund<br />
© nap Verlag<br />
Travail Anti-Allemand (TA) in Nancy. Das<br />
Ziel des Travail Anti-Allemand war, durch<br />
antifaschistische Aufklärung die faschistische<br />
Ideologie der Soldaten des NS-Regimes<br />
zu bekämpfen und zu unterwandern.<br />
1944 wurde sie von der Gestapo in<br />
Paris verhaftet und war bis zur Befreiung<br />
im Gefängnis in Fresnes. Wieder in Freiheit,<br />
kehrte sie 1945 nach Wien zurück und<br />
wurde Bezirksleiterin der KPÖ in Wien,<br />
was sie bis 1968 blieb. „Es ist schwierig zu<br />
beantworten, wie sie sich in einer konservativen<br />
Gesellschaft als Frau behauptet<br />
hat, wenn man sich ihren Werdegang<br />
in der Zweiten Republik anschaut. Trotz<br />
ihrer Meriten, die sie sich innerhalb der<br />
Partei erworben hatte, blieb sie immer im<br />
Schatten ihres Ehemanns und finanziell<br />
von ihm abhängig. Sie konnte sich zwar<br />
behaupten, aber sich so richtig durchzusetzen<br />
gelang ihr nur in den Jahren,<br />
in denen Männer in Lagerhaft interniert<br />
waren“, beschreibt Ina<br />
Markova die Karrieremöglichkeiten<br />
von Tilly<br />
dienen. 1974 wurde ihre Ehe mit Franz Marek<br />
geschieden.<br />
Als der Prager Frühling durch Truppen<br />
des Warschauer Paktes niedergeschlagen<br />
wurde, war das Ideologieverständnis<br />
durch die zunehmende Einflussnahme<br />
der sowjetischen politischen Führung zu<br />
groß geworden und Tilly Spiegel brach<br />
nach 40 Jahren kämpferischer Verteidigung<br />
der kommunistischen Leitlinie mit<br />
der Partei. „Ich finde die Nachkriegsgeschichte<br />
der KPÖ in ihrer ganzen Tragik<br />
sehr interessant, vor allem der Aspekt, wie<br />
lange bleibt man bei einer Partei, mit der<br />
man offenbar schon länger hadert. Wann<br />
kommt der Punkt, an dem man nicht mehr<br />
mitkann, besonders vor dem Hintergrund<br />
der Ersten und Zweiten Republik in Österreich“,<br />
sagt Markova.<br />
Bereits in den 1960er-Jahren zählte Tilly<br />
Spiegel zu den ersten NS-Forscherinnen<br />
Österreichs. Ihr Forschungsschwerpunkt<br />
Tilly Spiegel:<br />
Eine<br />
politische<br />
Biografie.<br />
nap, 228 S.,<br />
€ 19,80<br />
M. Graf, S. Knoll,<br />
I. Markova, K.<br />
Ruzicic-Kessler:<br />
Franz Marek.<br />
Ein europäischer<br />
Marxist.<br />
Mandelbaum,<br />
316 S., € 25<br />
Spiegel. Tilly Spiegel arbeitete<br />
als Turnlehrerin<br />
und Übersetzerin,<br />
um sich einen spärlichen<br />
Unterhalt zu verwar<br />
die Rolle von Frauen und Mädchen im<br />
Widerstand, worüber 1967 auch ein Buch<br />
unter demselben Titel erschien. An den Beginn<br />
des Buches stellte sie die Zeilen des<br />
türkischen Dichters Nâzim Hikmet:<br />
Wenn ich nicht brenne,<br />
Wenn du nicht brennst,<br />
Wenn wir nicht brennen,<br />
Wie soll die Finsternis erleuchtet werden?<br />
Tilly Spiegel brannte. Sie blieb aber immer<br />
in der zweiten Reihe, und obwohl so<br />
wenig über sie bekannt ist, „hat sie das<br />
letzte Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt“,<br />
beschreibt Ina Markova ihre Bedeutung.<br />
Nicht zuletzt verdankt die österreichische<br />
Geschichtsforschung Tilly<br />
Spiegel „die Auseinandersetzung mit<br />
wichtigen Aspekten der Geschichte der<br />
Ersten und Zweiten<br />
Republik“. Tilly Spiegel<br />
war eine der ersten<br />
ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen,<br />
die eine<br />
wichtige Rolle bei der<br />
Gründung und dem<br />
Aufbau des Dokumentationsarchivs<br />
des österreichischen Widerstandes<br />
ausübte.<br />
Leider gibt es sehr wenig historisch verwertbare<br />
Dokumente über das Leben von<br />
Tilly Spiegel. „Und trotzdem liegt jetzt ein<br />
Buch über sie vor – stellvertretend für alle<br />
diejenigen Frauen, die das letzte Jahrhundert<br />
mitgeprägt haben, nur um nachher<br />
aus vielerlei Gründen aus der Geschichte<br />
herausgeschrieben zu werden. Eine genaue<br />
biografische Untersuchung von Spiegels<br />
Vita ermöglicht über die bloße Würdigung<br />
des Lebens einer kämpferischen Frau<br />
hinaus die Auseinandersetzung mit wichtigen<br />
Aspekten der Geschichte der Ersten<br />
und Zweiten Republik.“<br />
1975 erhielt Tilly Spiegel das Goldene<br />
Ehrenzeichen der Republik Österreich.<br />
Bis zu ihrem Tod im Jahre 1988 setzte sie<br />
ihr Engagement im DÖW fort. Bis heute<br />
war es nicht möglich herauszufinden, wo<br />
diese mutige und bedeutende Frau begraben<br />
ist.<br />
B. Perz, V. Pawlowsky,<br />
I. Markova:<br />
Inbesitznahmen.<br />
Das Parlamentsgebäude<br />
in Wien<br />
1933–1956.<br />
Residenz,<br />
448 S., € 28<br />
DR. INA MARKOVA<br />
Senior Research Fellow am<br />
Institut für Zeitgeschichte,<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
des österreichischen<br />
Volkshochschularchivs.<br />
I. Markova:<br />
Die NS-Zeit im<br />
Bildgedächtnis<br />
der Zweiten<br />
Republik.<br />
Studienverlag,<br />
325 S., € 39,90<br />
wına-magazin.at<br />
23<br />
juni22.indb 23 07.06.22 13:51
MATOK & MAROR<br />
as müsst ihr alles essen, es schmeckt<br />
„D wie Chips.“ Ilan, der Patron des koscheren<br />
römischen Restaurants Ba’Ghetto,<br />
lässt bei den Touristen keine Zweifel aufkommen,<br />
was sein Signature Dish angeht: die Carciofo<br />
alla Giudia, die Artischocke auf jüdische<br />
Art. Da liegt sie jetzt in einem Alu-Reindl, präsentiert<br />
auf Papier, das einer Zeitung mit hebräischer<br />
Schrift nachempfunden ist. Ein wenig<br />
ähnelt sie einer alpinen Distel, scheinbar<br />
stachelig und goldbraun. Doch der Restaurantchef<br />
hat Recht: Die kross frittierten Blätter<br />
lassen sich leicht herunterbrechen und<br />
knacken zwischen den Zähnen wie selbstgemachte<br />
Kartoffelchips – mit einem feinen Zusatzgeschmack.<br />
Wer sich bis ans Herz der Artischocke<br />
durchgearbeitet hat, findet dort das<br />
gewohnte blassgrüne, zarte Fruchtfleisch. Es<br />
sind eigentlich zwei Gerichte in einem, simpel<br />
und raffiniert zugleich.<br />
Das Ba’Ghetto liegt in der Via del Portico<br />
d’Ottavia, einen Block vom Ostufer des Tiber<br />
und der großen Synagoge entfernt, mitten in<br />
der Jewish Food Alley von Rom. Hier wurlt es<br />
fast den ganzen Tag, hier stößt ein koscheres<br />
Lokal an das nächste, etwa das BellaCarne,<br />
bei dem schon im Namen sein fleischiger<br />
Charakter unübersehbar ist; dann die<br />
ebenfalls fleischigen Renato al Ghetto<br />
oder Su Ghetto sowie eine Reihe milchiger<br />
Konditoreien, Eisgeschäfte oder<br />
Bäckereien, etwa das fleischlose Schwesterchen<br />
von Ba’Ghetto, das Milky. Ba’Ghetto hat<br />
übrigens auch weitere Verwandte in Mailand<br />
oder Florenz.<br />
Zurück an den koscheren Tisch in Rom.<br />
Die Vorspeisenkarte beginnt eben mit der<br />
Carciofo alla Giudia (5 Euro), aber man<br />
kann auch um denselben Preis die traditionelle<br />
römische (gekochte) Variante kosten.<br />
Mit frittierten Zucciniblüten folgt noch eine<br />
weitere lokale Spezialität (3 Euro pro Stück),<br />
dann wird es schnell orientalisch-mediterran:<br />
jemenitische Focaccia mit scharfer<br />
Sauce (4 Euro), am gemischten mediterranen<br />
Teller (12 Euro) ist neben Falafel, Tabulé<br />
und Humus eine ganze Ecke für die grellrote<br />
Harissa reserviert, die tunesischen Buriks<br />
werden entweder mit Ei oder mit Kartoffel<br />
gefüllt (5 Euro). Polpettine BaGhetto<br />
Koscher in Rom<br />
Nur einen Block von der großen Synagoge entfernt, bietet<br />
sich jüdisch-mediterran-italienische Küchenkunst geballt an.<br />
Mitten drin das Restaurant Ba’Ghetto.<br />
Chef oder Kellner<br />
kommen vorbei<br />
und führen Schmäh<br />
auf Iwrit oder im<br />
weichen römischen<br />
Italienisch.<br />
Carciofo alla Giudia,<br />
die jüdische Artischocke<br />
– das Signature Dish im<br />
römischen Ba’Ghetto.<br />
WINA-TIPP<br />
BA’GHETTO<br />
Via del Portico d’Ottavia 57, I-00186 Roma<br />
Tel.: +39 (0)668 89 28 68<br />
baghetto.com<br />
aus fein faschiertem Kalbfleisch in<br />
Tomatensauce leiten dann schon zu<br />
den Hauptspeisen über (10 Euro).<br />
Wer davor noch einen Primo-<br />
Gang schafft, muss schon viele Besucher-Kilometer<br />
in den Sneakers<br />
haben –oder tagelange Entbehrungen<br />
hinter sich. Zur Wahl stehen<br />
etwa koschere Spaghetti Carbonara<br />
(12 Euro), Fettucine all ragú di agnello,<br />
Bandnudeln mit Lammsauce<br />
(12 Euro) oder klassischer Couscous<br />
mit Kichererbsen, Fleisch und Gemüse<br />
(14 Euro).<br />
Die Hauptspeisen bieten dann zwar auch<br />
einen Baccala alla Giudia, einen jüdischen<br />
Stockfisch (18 Euro), aber der Schwerpunkt<br />
liegt eindeutig auf Fleisch, geschmort oder<br />
gegrillt. In erstere Kategorie fällt das Gulasch<br />
BaGhetto (18 Euro), in der zweiten drängen<br />
sich Rindstournedos (24 Euro), köstliches<br />
Shish Kebab vom Rind mit Tahina (16 Euro)<br />
oder das ganz große italienische Steak, das<br />
florentinische, hier in der koscheren Variante.<br />
Dieses wird nach Gewicht berechnet<br />
und hat mindestens ein halbes Kilo.<br />
Die kulinarischen Highlights unterstützt<br />
das Ba’Ghetto mit einer vernünftig kalkulierte<br />
Weinkarte aus italienischen Regionen<br />
und aus Israel. Die einzelnen Weißen und Roten<br />
zeigen eine genaue Kennzeichnung, ob<br />
sie mevushal (abgekocht) wurden oder nicht,<br />
koscher sind sie alle.<br />
Dazu kommt dann noch der Unterhaltungs-aspekt.<br />
Zwar finden sich an der Mehrzahl<br />
der kleinen Tische zwischen Hauswand<br />
und Straße friedliche, hungrige und genießerische<br />
Touristenpärchen. Doch immer<br />
wieder kommen Haverim vom Chef oder den<br />
Kellnern vorbei, führen Schmäh auf Iwrit<br />
oder im weichen römischen Italienisch. Und<br />
natürlich gibt es dazwischen die langen Familientische,<br />
an denen die Sprachen durcheinander<br />
purzeln und die Bestellungen einmal<br />
passen und dann wieder lautstark reklamiert<br />
und geändert werden. Ob es Streit ist<br />
oder bloß Lust am lauten Diskurs, wird nicht<br />
ganz klar. Wer die Gruppe ist, kann der Kellner<br />
berichten: „Die kommen öfter, sie sind<br />
aus Panama.“ <br />
Paprikasch<br />
© Reinhard Engel<br />
24 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 24 07.06.22 13:52
WINAKOCHT<br />
Ist denn Mus ein Muss, …<br />
… und was gibt es Feines mit/ohne Holler? Die Wiener Küche steckt voller köstlicher Rätsel,<br />
die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Kochirrtum,<br />
Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Liebe <strong>wina</strong>-Redaktion,<br />
seit meiner Kindheit verbinde ich Schawuot mit<br />
dem Duft von Holunder, der zu dieser Zeit blüht<br />
und mit dem mein Elternhaus geschmückt war.<br />
Habt ihr eine kulinarische Anregung für mich,<br />
was ich – außer sie auszubacken oder zu Sirup zu<br />
verarbeiten – noch mit den hübschen Dolden anstellen<br />
könnte? Mirja W.<br />
Wenn Sie Schawuot und Holunderblüten<br />
schon olfaktorisch positiv<br />
verbinden, warum dann nicht auch kulinarisch?<br />
Unser milchiges Puddingrezept<br />
passt jedenfalls gut zum Erntedank.<br />
Aber natürlich schmeckt er auch vor und<br />
nach den Festtagen. Und keine Angst: Die<br />
schweißtreibende Wirkung, die man in<br />
der Volksheilkunde an den Blüten bei Erkältungen<br />
und grippalen Infekten schätzt,<br />
entfalten die Dolden im Pudding nicht. Insofern<br />
ist die Süßspeise absolut sommertauglich,<br />
da erzählen wir Ihnen keinen<br />
Holler vom Holler.<br />
Als Fans der weißen Dolden möchten<br />
wir Ihnen neben unserem Rezept auch<br />
noch die Lektüre von Wilhelm Raabes<br />
(1831–1910) Novelle Holunderblüte ans<br />
Herz legen. Der Autor verarbeitet darin<br />
die Erlebnisse, die er als junger Student<br />
während eines Pragaufenthaltes<br />
gemacht hat: Ein Arzt und Herzspezialist<br />
wird durch den Holunderblütenkranz einer<br />
verstorbenen Patientin an eine Begegnung<br />
in seiner Studienzeit erinnert. Auf<br />
dem alten jüdischen Friedhof traf er das<br />
Mädchen Jemima Löw, das ihm von den<br />
Bestatteten und den Legenden ihres Volkes<br />
berichtet. Mehr des Inhalts wollen wir<br />
hier nicht spoilern. Nur so viel noch: Wilhelm<br />
Raabe scheint dem Holunderblütenduft<br />
ebenfalls verfallen gewesen zu sein,<br />
wie dieser kurze Textauszug zeigt:<br />
HOLUNDERBLÜTEN-<br />
PUDDING<br />
ZUTATEN<br />
15 Holunderblüten-Dolden<br />
500 ml Schlagobers<br />
8 TL Speisestärke<br />
3 EL Zucker<br />
Mark einer Vanilleschote<br />
ZUBEREITUNG<br />
Am besten schneiden Sie die Dolden<br />
an trockenen Tagen um die Mittagszeit.<br />
Die Dolden vor der Verarbeitung leicht<br />
ausklopfen, um eventuell vorhandene<br />
Insekten zu entfernen. Nicht waschen,<br />
weil sie sonst ihr Aroma verlieren! Dolden<br />
in einem Topf mit dem Obers übergießen<br />
und über Nacht im Kühlschrank<br />
durchziehen lassen. Am nächsten Tag<br />
Obers samt Blüten kurz aufkochen und<br />
dann abseihen. Von der Holundersahne<br />
100 ml abnehmen und mit Speisestärke<br />
und Zucker verrühren. Danach zurück in<br />
die restliche Holundersahne geben, Vanillemark<br />
beifügen, verrühren und noch<br />
einmal kurz aufkochen. Die Mischung<br />
in Dessertschalen füllen und im Kühlschrank<br />
durchkühlen lassen. Vor dem<br />
Servieren mit Holunderblüten garnieren.<br />
„Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten Steintafeln<br />
und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste<br />
drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte in den engen<br />
Gängen und sah die Krüge von<br />
Levi, die Hände Aarons und die Tauben<br />
Israels. Zum Zeichen meiner<br />
Achtung legte ich, wie die anderen,<br />
ein Steinchen auf das Grab des Hohen<br />
Rabbi Löw bar Bezalel. […] Die Sonne<br />
schien wohl, und es war Frühling, und<br />
von Zeit zu Zeit bewegte ein frischer<br />
Windhauch die Holunderzweige und<br />
-blüten, dass sie leise über den Gräbern<br />
rauschten und die Luft mit süßem<br />
Duft füllten.“<br />
Werte Kulinarik-ExpertInnen,<br />
in meinem Garten wuchert der Rhabarber derart,<br />
dass ich so viel Mus gar nicht einkochen, geschweige<br />
denn essen mag. Habt ihr eine Idee,<br />
was man mit den sauren Stangen noch anfangen<br />
kann, um länger etwas von ihnen zu haben?<br />
Thomas M.<br />
Zum Glück kommt Rhabarber nicht als<br />
Kompott auf die Welt. In die Welt von<br />
morgen können Sie es auch als eingelegtes<br />
Gemüse bringen. Ja, Rhabarber ist ein<br />
Gemüse und gepickelt schmeckt er hervorragend<br />
zu grünem Spargel oder Fisch.<br />
Dafür werden die Stangen geschält<br />
und in grobe Stücke geschnitten – nicht<br />
zu klein, sonst wird es wieder Mus, und<br />
davon haben Sie ja schon genug. Stücke<br />
in ein Bügelglas geben. Für 400 g geschälten<br />
Rhabarber kochen Sie einen Sud aus<br />
drei Teilen Wasser (300 ml), einem Teil<br />
Reisessig (100 ml) und einem Teil Zucker<br />
(100 g) auf. Den kochenden Sud über die<br />
Rhabarberstücke gießen, Bügelglas verschließen,<br />
abkühlen lassen, fertig. Im<br />
Kühlschrank hält sich der Rhabarber ein<br />
paar Wochen.<br />
Sie möchten lieber ein bissfestes, süßsaures Chutney? Dann<br />
erhöhen Sie einfach den Zuckeranteil leicht. Und wenn Sie noch<br />
Pfefferkörner, Sternanis oder Kardamom dazugeben, erhalten<br />
Sie ein schönes Dressing für Salat.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />
schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at 25<br />
juni22.indb 25 07.06.22 13:52
Freundliches Transistland<br />
Exil in Portugal<br />
Portugal fällt vielen nicht als Erstes ein, wenn man an Zufluchtsorte für Juden und<br />
Jüdinnen auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Terrorregime denkt. Das Land<br />
bot allerdings zehntausenden Menschen vorübergehend oder dauerhaft Sicherheit:<br />
vorübergehend, da für viele Portugal vor allem ein Transitland war. Von hier aus konnten<br />
Schiffe in die westliche Hemisphäre starten. Das Buch Portugal. Zuflucht am Rande<br />
Europas. 1933–1945 widmet sich nun dem Alltag der dorthin Geflüchteten, aber auch dem<br />
Spannungsfeld, hier in einer anderen Form der Diktatur gelandet zu sein.<br />
Text & Foto: Alexia Weiss<br />
Eine persönliche Vorbemerkung<br />
zu Beginn: Seitdem ich in der<br />
Vorschau des Verlags Hentrich<br />
& Hentrich vom bevorstehenden<br />
Erscheinen dieses Buches gelesen<br />
habe, freue ich mich auf dessen Lektüre.<br />
Warum? Meine Großeltern emigrierten<br />
zunächst 1938 von Wien nach Paris und<br />
mussten dann erneut flüchten. In Portugal<br />
fanden sie einen sicheren Hafen, sie<br />
blieben schließlich auch nach Kriegsende<br />
in Lissabon. Was mich an dem Buch von<br />
Irene Flunser Pimentel und Christa Heinrich<br />
daher vor allem interessierte: Wie war<br />
das Leben für jüdische Geflüchtete bis 1945<br />
in Portugal? Wie waren die Rahmenbedingungen,<br />
wie sah der Alltag aus?<br />
Dazu haben die beiden Autorinnen<br />
viele Zeitzeugenberichte zusammengetragen.<br />
Der rote Faden, der sich hier durch<br />
die Erinnerungen durchzieht: Das Regime<br />
von Diktator Anónio de Oiveira Salazar war<br />
nicht antisemitisch. Judenfeindlichkeit<br />
war nicht spürbar. Dennoch war es nicht<br />
so, dass Portugal allen seine Türen öffnete.<br />
Ab Oktober 1938 verlangte das Land von<br />
Flüchtenden, deren Pässe ein „J.“ eingetragen<br />
hatten, ein Touristenvisum. Dieses berechtigte<br />
zu einem einmonatigen Aufenthalt.<br />
Nach und nach verstand sich Portugal<br />
nur als Transitland.<br />
Das bedeutete einen mühsamen<br />
Wettlauf zwischen Behörden, Botschaften,<br />
Schifffahrtsgesellschaften, denn es<br />
brauchte ein Visum, um weiterreisen zu<br />
können, ein (oft kostspieliges) Ticket für<br />
die Überfahrt und dazwischen immer wieder<br />
eine Verlängerung des Aufenthalts in<br />
Portugal. Erschwert wurde dies durch die<br />
Etablierung der residências fixas. Diese lagen<br />
meist in Ferienorten am Meer, und<br />
für die Fahrt nach Lissabon für Behördenwege<br />
musste wiederum eine Erlaubnis<br />
angesucht werden. Wer ohne diese in die<br />
Hauptstadt aufbrach und erwischt wurde,<br />
riskierte eine Verhaftung – allerdings ohne<br />
massive Konsequenzen. Portugal schickte<br />
niemanden nach NS-Deutschland zurück.<br />
Nicht allen Geflüchteten gelang es allerdings,<br />
eine Weiterreise zu organisieren.<br />
Visa waren immer schwerer zu ergattern,<br />
die Schiffspassage war teuer. Die residências<br />
fixas wurden für sie zum langfristigen<br />
Aufenthaltsort. Man darf sich darunter allerdings<br />
keine Lager oder Massenunterkünfte<br />
vorstellen. Residências fixas, das bedeutete<br />
vor allem, in einem Ort bleiben zu<br />
müssen und nicht im Land reisen zu dürfen.<br />
Untergebracht waren die Geflüchteten<br />
in Pensionen, Hotels, Privatunterkünften.<br />
Oft stellten portugiesische Haushalte<br />
auch ein Zimmer in ihren Wohnungen<br />
oder Häusern zur Verfügung.<br />
Irene Flunser Pimentel & Christa Heinrich:<br />
Portugal. Zuflucht am Rande Europas<br />
1933–1945.<br />
Hentrich & Hentrich <strong>2022</strong>,<br />
262 S., € 30,95<br />
Insgesamt wurden die Geflüchteten von<br />
der Bevölkerung sehr freundlich empfangen.<br />
Und das, obwohl sie sich nicht so benahmen,<br />
wie dies den Gepflogenheiten<br />
der Zeit in Portugal entsprach. Das betraf<br />
vor allem Frauen. Der Arzt Carlos Tavares<br />
aus Figueira da Foz war viel mit Flüchtlingen<br />
in Kontakt, sie kamen etwa zu ihm,<br />
weil sie ein Gesundheitszeugnis für ein<br />
Visum benötigten. „Alles, was die Flüchtlinge<br />
machten, war anders, wurde aber<br />
nicht abgelehnt“, erzählte er. Die Gäste<br />
sollten schließlich insgesamt das soziale<br />
Leben im Ort verändern.<br />
Als anders sei eben vor allem das Verhalten<br />
der ausländischen Frauen wahrgenommen.<br />
Eine Lokalzeitung berichtete<br />
etwa, dass sie Hosen trugen, rauchten,<br />
tranken, spielten, Fahrrad fuhren, Autos<br />
lenkten. Rauchende Frauen seien bis dahin<br />
ein Skandal gewesen, wird die portugiesische<br />
Zeitzeugin Rosa Amélia Faria<br />
e Silva zitiert. Als Frau allein ins Café<br />
zu gehen, galt als „unanständig“. Die geflüchteten<br />
Frauen gingen aber nicht nur<br />
ins Café, sie unterhielten sich dort auch<br />
mit portugiesischen Männern und gin-<br />
26 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 26 07.06.22 13:52
esidências fixas<br />
bedingungen waren<br />
1940 bereits erschwert, er durfte nicht einfach<br />
nach Lissabon fahren, um seinen Visaantrag<br />
unter Dach und Fach zu bekommen.<br />
Trotz der massiven Schwierigkeiten<br />
am Ende seines Aufenthalts „sei nochmals<br />
und dankbar festgehalten“, schrieb<br />
er rückblickend, dass sich Portugal „uns<br />
Emigranten gegenüber freundlicher und<br />
verständnisvoller als irgendein anderes<br />
unserer vorangegangenen Zufluchtsländer“<br />
zeigte. Er verließ Europa schließlich<br />
am 9. Oktober 1940 an Bord des amerikanischen<br />
Schiffes „S.S. Exeter“ gemeinsam<br />
mit dem deutschen Schriftsteller Leonhard<br />
Frank.<br />
Andere fanden in Portugal ihre neue<br />
Heimat. Erich Brodheim war 1939 im Algen<br />
mit diesen spazieren. Die Konsequenz<br />
war allerdings eben keine Feindseligkeit.<br />
Es begannen vielmehr die portugiesischen<br />
Frauen, es den Geflüchteten gleich zu tun:<br />
Junge Portugiesinnen gingen nun auch<br />
ohne männliche Begleitung aus.<br />
Kosmopolitisches Zentrum. Es gibt keine<br />
genauen Zahlen, wie viele Juden und Jüdinnen<br />
sich in der NS-Zeit kürzer oder<br />
länger in Portugal aufhielten. Forschungen<br />
gehen heute von 50.000 bis 80.000<br />
Flüchtenden aus, die in dem damals neutral<br />
agierenden Land eine kurz- oder langfristige<br />
Zuflucht fanden. Salazar erlaubte<br />
auch internationalen jüdischen und nichtjüdischen<br />
Organisationen 1940, ihre europäischen<br />
Hauptsitze nach Lissabon zu<br />
verlegen. Insgesamt verwandelte sich die<br />
Stadt damals in ein kosmopolitisches Zentrum.<br />
Nicht nur Geflüchtete waren nun in<br />
Lissabon präsent, auch Spione und Diplomaten<br />
waren von hier aus aktiv. Portugal<br />
wurde, wie es die Buchautorinnen formulieren,<br />
zu „einer internationalen Drehscheibe<br />
für Menschen, Güter, Informationen“.<br />
Während des Krieges waren auch<br />
Das Straßenschild in Wien<br />
erinnert an den portugisieschen<br />
Dipolmaten, der vielen Juden – auch<br />
unerlaubterweise – Visa ausstellte.<br />
etwa 40 Nachrichtenagenturen<br />
in Portugal<br />
präsent.<br />
Einer, der Europa<br />
schließlich über Portugal<br />
verlassen konnte,<br />
war Friedrich Torberg.<br />
Er war in Estoril untergebracht,<br />
die Rahmen-<br />
… dass sich<br />
Portugal „uns<br />
Emigranten<br />
gegenüber<br />
freundlicher<br />
und verständnisvoller<br />
als<br />
irgendein anderes<br />
unserer<br />
vorangegangenen<br />
Zufluchtsländer“<br />
zeigte.<br />
Friedrich Torberg<br />
ter von 18 Jahren allein, ohne Familie und<br />
ohne Geld aus Wien nach Portugal gekommen.<br />
Seinen Eltern und seiner Schwester<br />
gelang es nicht mehr nachzukommen,<br />
sie wurden schließlich in Polen ermordet.<br />
In Portugal erhielt Brodheim Unterstützung<br />
von Hilfsorganisationen, aber er<br />
versuchte Verschiedenstes, um weiterzukommen,<br />
wie die Buchautorinnen schreiben.<br />
Er habe „zum Beispiel Ausländern in<br />
Lissabon salzlose Butter und Schwarzbrot<br />
an der Tür verkauft und mit Kurzwaren<br />
gehandelt“. Nach dem Krieg bot ihm<br />
ein Bekannter, der in Amerika lebte, verschiedene<br />
Waren an. So verkaufte er mit<br />
seiner Frau Miriam „die ersten Nylonstrümpfe“<br />
aus Amerika, später auch Reißverschlüsse.<br />
„O rei dos fechos“ – König der<br />
Reißverschlüsse – habe man ihn genannt.<br />
Das Ehepaar gründete einen Großhandel<br />
für verschiedenste Modelabels. Das Unternehmen<br />
gibt es bis heute (www.brodheim.pt)<br />
und wird von Ronald Brodheim<br />
geführt. Ein Deutsch klingender<br />
Name ist heute also aus<br />
der portugiesischen Modewelt<br />
nicht mehr wegzudenken.<br />
Auf einen portugiesischen<br />
Namen stößt man dagegen in<br />
Wien, auf dem Weg von der<br />
U1-Station Kaisermühlen zum<br />
Austria Center. „Aristides-de-<br />
Sousa-Mendes-Promenade“<br />
heißt es da auf einem Straßenschild.<br />
Darunter gibt es<br />
eine erläuternde Zusatztafel:<br />
„Aristides de Sousa Mendes<br />
(1885–1954). Portugiesischer<br />
Diplomat, rettete tausenden<br />
Flüchtlingen durch Ausstellung<br />
von Visa das Leben.“<br />
Er tat dies auch noch zu einem<br />
Zeitpunkt, als ihm das<br />
das portugiesische Außenministerium<br />
untersagte. Er musste schließlich nach<br />
Portugal zurückkehren, und es wurde<br />
ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet.<br />
Die Konsequenz war eine Beurlaubung<br />
bei halben Bezügen für ein Jahr<br />
und danach die vorzeitige Versetzung in<br />
den Ruhestand. Er verarmte und wurde<br />
zeitweilig von jüdischen Hilfsorganisationen<br />
unterstützt. Sie ermöglichten zudem<br />
einigen seiner 14 Kinder eine Ausbildung<br />
in den USA. Sousa Mendes verstarb 1954<br />
und wurde erst im April 1974 in Portugal<br />
rehabilitiert. Yad Vashem zeichnete ihn als<br />
„Gerechten unter den Völkern“ aus. Auch<br />
in Lissabon ist eine Straße nach ihm benannt.<br />
wına-magazin.at<br />
27<br />
juni22.indb 27 07.06.22 13:52
Exakter Raum<br />
Tor des Vergessens,<br />
Portal der Erinnerung<br />
Ein neuer Band mit Aufsätzen über Venedig und das Ghetto: als<br />
konkreter Ort, als globale Metapher. Über Mythos, Gedächtnis,<br />
Ausgrenzung und Zukunft.<br />
Von Alexander Kluy<br />
Chiara Camarda,<br />
Amanda K. Sharick,<br />
Katharina G. Trostel (Hg.):<br />
The Venice Ghetto.<br />
A Memory Space that Travels.<br />
University of Massachusetts<br />
Press, 260 S., € 29<br />
Es war, „als treffe man in der Provinz<br />
ein, an irgendeinem unbekannten,<br />
unbedeutenden Ort<br />
– möglicherweise dem eigenen<br />
Geburtsort, nach Jahren der Abwesenheit.<br />
Diese Empfindung war nicht zuletzt<br />
auf meine eigene Anonymität zurückzuführen,<br />
auf die Ungereimtheit einer einsamen<br />
Gestalt auf den Stufen des Bahnhofs:<br />
ein leichtes Ziel für das Vergessen.<br />
Und ich erinnerte mich an die erste Zeile<br />
eines Gedichts von Umberto Saba, die ich<br />
vor langer Zeit, in einer früheren Inkarnation,<br />
ins Russische übersetzt hatte: ‚In<br />
den Tiefen der wilden Adria […].‘“<br />
Da stand er also, er, Iossif Alexandrowitsch<br />
Brodski. Zum wiederholten Mal<br />
war er in Venedig. Wie immer kam er im<br />
Dezember. Immer wieder. Er schrieb. Er<br />
machte sich Notizen. Er schrieb. Nach 17<br />
inverni in Venezia, Venedig-Winteraufenthalten,<br />
erschien 1989 sein Venedig-<br />
Buch Watermark; die deutsche Übersetzung,<br />
die zwei Jahre später erschien, war<br />
Ufer der Verlorenen betitelt.<br />
In diesem langen Essay über die wintergraue,<br />
winterneblige Lagunenstadt<br />
beschrieb der jüdisch-russische Poet,<br />
der 1972 brüsk wie brutal seiner Heimat<br />
und Heimatstadt, der Sowjetunion und<br />
Leningrad, heute wieder St. Petersburg,<br />
verwiesen worden war, kurz in Wien Halt<br />
machte, um dann weiterzureisen und sich<br />
in New York niederzulassen – dort fand er<br />
Dozenturen, erhielt Preise, 1987 auch den<br />
Nobelpreis für Literatur –, ein sehr persönliches<br />
lyrisches Venedig. Abseits und<br />
fern des Massentourismus.<br />
Im März 2020 erlebte Shaul Bassi Venedig<br />
ebenfalls anders. Ohne jeden Massentourismus.<br />
Der Professor für Englische Literatur<br />
an Venedigs Università Ca‘ Foscari,<br />
untergebracht im Palazzo Foscari im Bezirk<br />
Dorsoduro, ist Gründer von Beit Venezia,<br />
der Casa della cultura ebraica. Die<br />
Corona-Pandemie hatte eingesetzt, die<br />
Stadt war im Lockdown. Er machte einen<br />
Einkauf, er wollte Matze für Pessach kaufen.<br />
Und ging dafür ins Ghetto. Und blieb<br />
verdutzt, ja verblüfft stehen. Auf dem<br />
Campo del Ghetto Nuovo waren – er und<br />
ein gelangweilter Carabiniere. Sonst: niemand.<br />
Der sonst so beliebte, ja überfüllte<br />
Platz: leer. Ein Sinnbild. Ein Symbol. Eine<br />
Metapher.<br />
Und das mitten in einer anderen Metapher,<br />
die sich lange vor der ökonomischen<br />
Globalisierung global verbreitet<br />
hatte – dem Ghetto.<br />
Ghetto. Und „Ghetto“. In Venedig mit seinen<br />
sechs Synagogen, unter anderem<br />
Verbindungsbrücke –<br />
zwischen altem und neuem<br />
Ghetto. Im ersten sogenannten<br />
Ghetto mussten<br />
ab 1516 alle Juden Venedigs<br />
Zwangsquartier nehmen.<br />
„[…] das Ghetto<br />
zu Venedig<br />
ist ,ein Tor zu<br />
dem, was gut<br />
ist, und zu dem,<br />
was böse ist, zu<br />
dem, was erinnert<br />
wird und<br />
was oft vergessen<br />
wird‘.“<br />
Marjorie Agosin<br />
© Naftali Hilger / laif / picturedesk.com<br />
28 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 28 07.06.22 13:52
Fluides Erinnerungspanorama<br />
© Naftali Hilger / laif / picturedesk.com<br />
der Scola Grande Tedesca, der prachtvollen<br />
Scola Canton, der noch prächtigeren<br />
Scola Spagnola im Ghetto Vecchio, wurde<br />
dieser Ausdruck geprägt, der mittlerweile<br />
für viele abgelöst ist vom Ursprungs- und<br />
Ausgangsort. Elvis Presley sang 1969 „In<br />
the ghetto“; und Ghettoisierung ist zum<br />
freischwebenden urbanistischen Schlagwort<br />
geworden.<br />
Am 29. März 1516 hatte inmitten wieder<br />
einmal aufbrandender antijüdischer<br />
Stimmung der Senat der Stadt ein einschneidendes<br />
Dekret verkündet. Demzufolge<br />
mussten alle jüdischen Bewohner<br />
der Stadt Zwangsquartier in einem eingegrenzten,<br />
dezidiert abgesonderten und<br />
winzigen Gebiet nehmen, einer recht jämmerlichen<br />
Insel im Norden von Cannaregio.<br />
Dessen lokaler Name leitete sich von<br />
einer nahen Gießerei ab, von „geto“, auf<br />
Deutsch „Guss“.<br />
Auch wenn es da schon separierte Judenviertel,<br />
besser: Gassen, in Speyer<br />
gab, seit etwa dem 11. Jahrhundert, und<br />
in Frankfurt am Main seit dem 15. Jahrhundert,<br />
der italienische Name setzte<br />
sich durch. Weltweit. Als Bezeichnung. Als<br />
Brandmarkung. 1797 erst wurde Venedigs<br />
Ghetto geöffnet. Bis heute ist es Kristallisations-<br />
und Kernpunkt jüdischer Identität<br />
und jüdischen Lebens – inklusive des<br />
für viele kulinarisch Interessierte obligatorischen<br />
Besuchs des koscheren Restaurants<br />
Gam Gam.<br />
The Venice Ghetto, ein Band mit klugen<br />
Aufsätzen, der zurückgeht auf ein internationales<br />
Symposion von Wissenschaftlerinnen<br />
und Wissenschaftler anno 2016, dem<br />
500. Jahrestag, beugt sich nun anregend,<br />
gelehrt und klug über unterschiedliche<br />
Aspekte, von den sozialen und wirtschaftlichen<br />
Dimensionen jüdischen öffentlichen<br />
Lebens (und Zusammenlebens mit<br />
der christlichen Stadtrepublik mit ihren<br />
Entfaltungshöhepunkten wie dem im 18.<br />
Jahrhundert einsetzenden Dämmer) zu<br />
Archiven und dem Ghetto als Archiv per<br />
se, hebräischen Büchern und den Archetypen,<br />
die sich über 500 Jahre perpetuiert<br />
haben. Es geht auch um Shakespeare – und<br />
die sehr oft und viel zu leicht ignorierte<br />
Basisfrage: Wieso eigentlich spielt dessen<br />
Kaufmann von Venedig überhaupt in Venedig?<br />
– und um Primo Levi. Es geht um die<br />
Zukunft der Erinnerung wie um den sechzehnminütigen<br />
Film El Hara von Margaux<br />
Fitoussi und Mo Scarpelli, der um Segregation,<br />
Festungswohnen und das einstige<br />
jüdische Ghetto von Tunis kreist, in dem<br />
der jüdische Intellektuelle und Soziologe<br />
Albert Memmi zur Welt kam.<br />
Memoria, Mythos, Parabel, Metapher.<br />
Geografisch exakt bestimmbarer Raum<br />
und fluides Erinnerungspanorama. Oder<br />
wie es die Dichterin Marjorie Agosin ausdrückte,<br />
das Ghetto zu Venedig ist „ein Tor<br />
zu dem, was gut ist, und zu dem, was böse<br />
ist, zu dem, was erinnert wird und was<br />
oft vergessen wird. Ein Portal der Auslöschung<br />
und des In-sich-Behaltens.“ Nicht<br />
nur ein Tor oder Portal. Auch und recht ein<br />
Spiegel, der Verwerfungen zeigt, Entwicklung<br />
und Verstörung, Verachtung und,<br />
auch das, Klugheit und Bildung reflektiert.<br />
Der Historiker James E. Young schreibt<br />
in seinem Einleitungsessay schön: „Die<br />
Wasserkante ist auch die Stadtkante, aber<br />
natürlich ist diese ‚Kante‘ keine fixierte,<br />
unverrückbare Linie, es ist auch nicht<br />
die faktische Begrenzung von Land hier<br />
oder Wasser dort, sondern die permanent<br />
schwappend schmirgelnde, wogende, sich<br />
zurückziehende und daher vergängliche<br />
Linie zwischen ihnen.“<br />
wına-magazin.at<br />
29<br />
juni22.indb 29 07.06.22 13:52
Verschwundene Welt<br />
WAS VILLEN ERZÄHLEN<br />
Vor wenigen Wochen wurde<br />
die aktuelle Schau im Kaiserhaus<br />
Baden, Sehnsucht nach Baden.<br />
Jüdische Häuser erzählen<br />
Geschichte(n), eröffnet. Die von<br />
Marie-Theres Arnbom kuratierte<br />
Ausstellung liefert dokumenten-<br />
und facettenreich<br />
vielfach bislang unbekannte<br />
Einblicke in die zum Teil bis<br />
heute noch bestehenden, zum<br />
Teil auch zerstörten und aus<br />
dem Stadtbild verschwundenen<br />
Villen der einst jüdischen<br />
Bewohner:innen. WINA hat die<br />
Ausstellung besucht und im<br />
Vorfeld mit der Kuratorin<br />
gesprochen.<br />
Von Angela Heide<br />
Villa Epstein. 1867 von Gustav Epstein<br />
in Auftrag gegeben und vom damals<br />
25-jährigen Otto Wagner geplant, erzählt<br />
Kuratorin Marie-Theres Arnbom.<br />
Kuratorin Marie-Theres Arnbom,<br />
seit diesem Jahr neue<br />
wissenschaftliche Direktorin<br />
des Wiener Theatermuseums,<br />
arbeitet aktuell auch an einem Begleitband<br />
ihrer erfolgreichen Reihe Häuser<br />
mit Geschichte(n), in dem sie eine weit größere<br />
Zahl an Badener Villen und Lebensgeschichten<br />
vorstellen wird. Für die vor wenigen<br />
Wochen eröffnete Ausstellung hat<br />
sich die renommierte Theater- und Musikhistorikerin<br />
auf zehn Villen konzentriert,<br />
jene der Familien Epstein (Rainerweg<br />
1), Heller (Marchetgasse 76), Benbassat<br />
(Christalniggasse 7), Jellinek-Mercedes<br />
(Wienerstraße 41-45), Gallia (Weilburgstraße<br />
20), Gutmann (Helenenstraße 72),<br />
Klinger (Schlossgasse 31), Hahn (Weilburgstraße<br />
81-85) sowie der befreundeten Familien<br />
Bienenfeld (Radetzkystraße 4) und<br />
Rothberger (Radetzkystraße 10).<br />
Viele der Villen sind bis heute erhalten,<br />
manche auch gänzlich zerstört worden.<br />
Sie erzählen von ihren Besitzer:innen<br />
und Erbauer:innen, von Aufstieg und Verfolgung,<br />
von gewachsenen Imperien, die<br />
weit über die niederösterreichische Kaiserstadt<br />
hinausführten, Emigration und<br />
das oft dramatische Ende schillernder Dynastien.<br />
„Mir ist immer wichtig zu erzählen,<br />
was die Menschen geleistet haben, was<br />
sie auch beigetragen haben für eine Stadt,<br />
für die Gesellschaft“, betont Arnbom dabei<br />
ihren Ansatz, immer wieder auch<br />
anekdotenreich über ihre Forschungen zu<br />
erzählen, auch wenn sie hinzufügt: „Das<br />
schreckliche Ende muss man sehr wohl<br />
auch erzählen, aber ich will diese Familien<br />
nicht darauf reduzieren, sondern zeigen,<br />
was wir ihnen verdanken.“<br />
Dokumentenbasiertes Konzept. Anhand des<br />
vorhandenen Materials hat Arnbom eine<br />
zwischen Originalen und Reproduktionen<br />
fein dosierte Schau gestaltet. Im ersten<br />
Raum wird etwa die stadträumliche<br />
Aufteilung der vorgestellten Villen mit einem<br />
schlichten Plan vorgestellt, während<br />
auf den geschlossenen Fenstern aller Ausstellungsräume<br />
des Badener Kaiserhauses<br />
Videostills zur aktuellen Situation der<br />
Orte zu sehen sind. Die Ausstellung fokussiert<br />
auf die einstigen Bewohner der<br />
jeweiligen Villen, die in kurzen Biografien<br />
vorgestellt werden. Gezeigt werden<br />
Familienporträts, Pläne und Fotografien,<br />
die versammelten Originale weisen eine<br />
große Bandbreite auf und reichen von einem<br />
verzierten Bösendorfer-Klavier, das<br />
sich einst in Besitz der Familie Gutmann<br />
befand, bis zu historischen Zuckerl-Prospekten<br />
und -dosen der Familie Heller.<br />
Die älteste Villa, die in der Schau vorgestellt<br />
wird, wird 1867 von Gustav Epstein<br />
in Auftrag gegeben und vom damals<br />
25-jährigen Otto Wagner geplant.<br />
Bereits 1873 verliert der Wiener Bankier<br />
im Zuge des Börsenkrachs sein Vermögen<br />
© Cedrick Kollerics; Rollettmuseum Baden; Rollettmuseum Baden/ Thomas Magyar; Stadtarchiv Baden; Rollettmuseum Baden<br />
Villa Gutmann. Bleistiftzeichnung von<br />
Gustav Schwartz von Mohrenstern, um 1885.<br />
Villa Gutmann um 1885<br />
(unbekannter Künstler).<br />
30 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 30 07.06.22 13:52
Reiche Materialsammlung<br />
© Cedrick Kollerics; Rollettmuseum Baden; Rollettmuseum Baden/ Thomas Magyar; Stadtarchiv Baden; Rollettmuseum Baden<br />
steigerung entdeckt wurde<br />
und nun wieder zurück<br />
nach Baden gefunden hat.<br />
Und auch das wiedergefundene<br />
Klavier, das zuletzt in<br />
einem Wiener Wintergarten<br />
nahezu vergessen wurde,<br />
gehört zu ihren wunderbaren<br />
Funden, freut sich die<br />
Historikerin: „Es hat gerufen,<br />
bitte nimm mich mit<br />
und bring mich dahin, wo<br />
ich hingehöre.“<br />
Zu den weiteren Entdeckungen<br />
gehört ein Versteigerungskatalog<br />
aus dem<br />
Jahr 1937, dessen umfangreiches<br />
Fotomaterial Einblicke<br />
in das damalige Interieur<br />
der Villa der Familie Benbassat bietet.<br />
Im Falle dieser Villa zeigt die Schau auch<br />
Grund- und Aufrisse sowie Familienfotos,<br />
die ein Nachkomme der Familie erstmals<br />
zur Verfügung stellt.<br />
Letzte Spuren. 1884 kauft Heinrich Klinger<br />
(1832–1905), damals einflussreicher Präsident<br />
der israelitischen Kultusgemeinde<br />
in Wien, gemeinsam mit seiner Frau Charlotte<br />
eine bereits bestehende ältere Villa in<br />
Baden, die die Familie auch über den Tod<br />
Heinrichs hinaus für die Sommerfrische<br />
nutzt. Heinrichs Sohn Norbert, der die<br />
Schwester des Komponisten Oscar Straus’,<br />
Seraphine, heiratet, stirbt 1941 in jenem<br />
Wiener israelitischen Spital, das sein Vater<br />
einst wesentlich unterstützt hat, Seraphine<br />
1943 im KZ Theresienstadt. Heute<br />
„Mir ist immer<br />
wichtig zu erzählen,<br />
was<br />
die Menschen<br />
geleistet haben,<br />
was sie auch<br />
beigetragen<br />
haben für eine<br />
Stadt, für die<br />
Gesellschaft.“<br />
Marie-Theres Arnbom<br />
und muss seine Villa an Erzherzog Rainer<br />
verkaufen.<br />
Wilhelm Gutmann, der als „Kohlen-<br />
Gutmann“ ein Vertriebssystem in Wien<br />
aufbaut, das, erzählt Arnbom, „den Energiemarkt<br />
revolutioniert“, gehört gemeinsam<br />
mit seinem Bruder David neben Epstein<br />
zu den wichtigsten Industriellen<br />
und Mäzenen im Wien der Gründerzeit.<br />
Die Brüder Gutmann lassen die Poliklinik<br />
erbauen sowie Häuser für Arbeiter:innen<br />
und Angestellte und unterstützen jüdische<br />
Wohlfahrtseinrichtungen. 1882–<br />
1884 lässt Wilhelm für seine Frau Ida in<br />
Baden eine Villa vom prominenten Architekten<br />
Alexander Wielemans planen.<br />
Bald darauf kauft auch David eine – heute<br />
ebenfalls nicht mehr erhaltene – Villa in<br />
der Nähe seines Bruders. Wilhelms „Villa<br />
Ida“, einer der spektakulärsten späthistoristischen<br />
Bauten der Stadt, ist eine weitläufige<br />
Anlage, zu der ein zeittypisches „Salettl“,<br />
aber auch eine Kegelbahn gehören.<br />
Wilhelm stirbt 1895, Ida 1924 und hinterlässt<br />
die Villa ihrem Enkel Rudolf. Dieser<br />
kann zwar vor der Verfolgung durch das<br />
NS-Regime fliehen, das Gebäude wird jedoch<br />
von der „Gauselbstverwaltung des<br />
Reichsgaus Niederdonau“ „arisiert“. 1948<br />
erhält Rudolf das Haus zurück, wie viele<br />
andere Überlebende verkauft aber auch er<br />
den Besitz Mitte der 1950er-Jahre. In der<br />
Ausstellung ist ein Gemälde zu sehen, das<br />
durch Zufall bei einer internationalen Verfinden<br />
sich an der Stelle<br />
der einstigen Badener Villa<br />
Garagen. „Ich bin unzählige<br />
Male hierhergekommen<br />
und habe die Villa gesucht“,<br />
verrät Arnbom, bis<br />
sie endlich an den „völlig<br />
verschandelten“ Resten<br />
des ehemaligen Gebäudes,<br />
die in den Bau der Garagen<br />
intergiert wurden, dessen<br />
Spuren erkennen konnte.<br />
Die Geschichte des Hauses<br />
konnte erst in den letzten<br />
zwei Jahren sowohl von<br />
der Stadt Baden selbst wie<br />
nun mit wichtigen neuen<br />
Erkenntnissen von Arnbom<br />
aufgearbeitet und<br />
dokumentiert werden. „Diese Villa ist ein<br />
gutes Beispiel, wie unterschiedliche Forschungsvorhaben<br />
produktiv zusammengeführt<br />
werden können“, freut sich Arnbom<br />
über das nun zusammengetragene<br />
Material zur Geschichte dieses aus dem<br />
Stadtbild verschwundenen Hauses.<br />
Ebenfalls ab 1884 ist auch Emil Jellinek-<br />
Mercedes, der es als Handels- und Versicherungsvertreter<br />
in Algerien zu beachtlichem<br />
Wohlstand bringt, in seiner neuen<br />
Badener Villa zuhause, die er Jahr um Jahr<br />
vergrößert, bis sie zu einem Anwesen mit<br />
50 Räumen angewachsen ist. Jellinek vertreibt<br />
in Österreich Daimler-Fahrzeuge<br />
und lässt später ein Fahrzeug konstruieren,<br />
das es nach seiner 1889 in Baden geborenen<br />
Tochter benennt: Mercedes. Emil<br />
Jellinek stirbt 1918, sein Sohn Raoul, nur<br />
Villen in der Marchetstraße<br />
(früher Bergstraße), um 1850.<br />
Villa Jellinek-Mercedes,<br />
Wienerstraße 41–43, nach 1945.<br />
wına-magazin.at<br />
31<br />
juni22.indb 31 07.06.22 13:52
Einprägsame Familienporträts<br />
ein Jahr älter als seine Schwester, nimmt<br />
sich Anfang 1939 nach einem Verhör durch<br />
die Gestapo in der Badener Familienvilla<br />
das Leben. 1945 geht diese beim Einmarsch<br />
der russischen Truppen „in Flammen<br />
auf“, schließt Arnbom die Geschichte<br />
zu einer der einst imposantesten Villen der<br />
Stadt. „Das Einzige, was erhalten ist, sowohl<br />
in Baden wie von der anderen Villa<br />
der Familie in Nizza, sind die Garagen – ein<br />
sonderbarer Zufall für eine Familie, die vor<br />
allem für ihre Nähe zur Autoindustrie in<br />
die Geschichte eingegangen ist.“ Eine weitere<br />
besondere Freude: Die umfangreiche<br />
Partiturensammlung Raouls, die vor Kurzem<br />
in Essen entdeckt wurde, kam im Zuge<br />
der Ausstellungsvorbereitung wieder zurück<br />
nach Österreich.<br />
Auch Adolf Gallia, einer der damals<br />
bekanntesten Patentanwälte Wiens, kauft<br />
um die Jahrhundertwende eine Villa in Baden,<br />
die er vom vor allem für seine Synagogenbauten<br />
bekannten Architekten Jakob<br />
Gartner gestalten lässt. Nach dem Tod<br />
Adolfs 1925 und wenige Jahre später seiner<br />
Frau wird das erbenlose Haus an den<br />
Weingroßhändler Hugo Glattauer und dessen<br />
Frau Elsa verkauft. Das Paar muss aufgrund<br />
seiner jüdischen Herkunft 1938 fliehen,<br />
kann jedoch aus dem australischen<br />
Exil die Villa 1945 zurückerhalten. 1954<br />
verkauft Glattauer seine Badener Villa –<br />
sie wird abgerissen und durch eine Wohnhausanlage<br />
ersetzt. Die Wiener und Badener<br />
Möbel der Familie hatten es jedoch<br />
auf schier unglaubliche Weise ebenfalls<br />
nach Australien geschafft.<br />
Andere Besitzer, wie das Ehepaar Weintraub,<br />
das 1927 die Villa Bienenfeld ersteht,<br />
werden 1944 in Buchenwald (Josef) und Ravensbrück<br />
(Jana Weintraub) ermordet; deren<br />
überlebende Tochter verkauft den Familiensitz<br />
Ende der Fünfzigerjahre. Auch<br />
Rudolf Bienenfelds enger Freund Moriz<br />
Rothberger verliert 1939 seine Badener<br />
Villa, er stirbt 1944 im jüdischen Altersheim<br />
in der Malzgasse; seine Erbin erhält<br />
den Familiensitz zwar nach Kriegsende zurück,<br />
verkauft ihn aber ebenfalls später.<br />
Die von Otto Wagner errichtete Badener<br />
Villa des Bankiers Samuel Ritter von Hahn<br />
INFOKASTEN<br />
Sehnsucht nach Baden – Jüdische<br />
Häuser erzählen Geschichte(n)<br />
bis 6. November <strong>2022</strong><br />
Kaiserhaus Baden, Hauptplatz 17, 2500 Baden<br />
Di.–So. u. an Feiertagen, 10–18 Uhr<br />
kaiserhaus-baden.at<br />
kann 1938 hingegen von Hahns Tochter<br />
Margarethe vor der „Arisierung“ gerettet<br />
werden, indem sie das Anwesen ihrem<br />
nicht-jüdischen Mann Paul Aulegk überträgt.<br />
Nur Teile sind heute noch erhalten.<br />
Arnbom gelingt es, anhand kurzer, informativer<br />
Familienporträts die Geschichten<br />
der vorgestellten Villen von ihrer Erbauung<br />
bis 1938 vorzustellen; in wenigen<br />
ausgewählten Fällen erzählt sie auch in einem<br />
abschließenden Raum die Nachgeschichten<br />
der Häuser bis in deren jüngste<br />
Vergangenheit. So kaufte 1938 der Komponist<br />
Heinrich Strecker den Familiensitz<br />
der Familie Heller. Der Vergleich, den es<br />
gegeben haben mag, ist heute ebenso verschwunden<br />
wie Teile des Arisierungsaktes,<br />
berichtet Arnbom. „Es wäre eine wichtige<br />
Aufgabe, diesen Fall zu dokumentieren“, ist<br />
sich die Kulturhistorikerin sicher.<br />
Architektonisch führen die Villen von<br />
Gründerzeit und Historismus bis zu Jugendstil<br />
und frühe Moderne. Die dank akribischer<br />
Recherchen und vor allem des<br />
großen gewachsenen Netzwerks von Marie-Theres<br />
Arnbom zusammengestellten<br />
Daten und Objekte geben einen weiteren<br />
faszinierenden Einblick in die verschwundene<br />
jüdische Welt des Wiener Großbürgertums<br />
vor 1938.<br />
Sie haben<br />
Fragen an das<br />
Bundeskanzleramt?<br />
service@bka.gv.at<br />
0800 222 666<br />
Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />
(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />
+43 1 531 15 -204274<br />
Bundeskanzleramt<br />
Ballhausplatz 1<br />
1010 Wien<br />
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />
32 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />
auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />
bundeskanzleramt.gv.at<br />
juni22.indb 32 07.06.22 13:52
Thema<br />
ROTHSCHILDS URWALD<br />
In Niederösterreich befindet sich im Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal<br />
der letzte nennenswerte Urwaldrest Österreichs:<br />
der Rothwald. In das rund 400 Hektar große Waldareal<br />
wurde seit der letzten Eiszeit nicht vom Menschen eingegriffen.<br />
Zu verdanken ist dieses einmalige heutige Forschungsobjekt<br />
vor allem Albert Rothschild (1844–1911), der den Wald<br />
(und auch umliegende Areale, die im Gegensatz bereits zur<br />
Holzgewinnung genutzt wurden) 1875 kaufte und verfügte,<br />
dass er nicht angetastet wird.<br />
Von Alexia Weiss<br />
wına-magazin.at<br />
33<br />
juni22.indb 33 07.06.22 13:52
UNESCO-Weltnaturerbe<br />
Das Urwaldareal bietet der Forschung<br />
vielfältige Chancen, das Potenzial von<br />
Wäldern zur Bekämpfung des Klimawandels<br />
oder als CO 2<br />
-Speicher zu untersuchen.<br />
Der Rothwald hieß übrigens schon<br />
Rothwald, bevor Albert Rothschild<br />
ihn erwarb. Hier handelt es sich<br />
also bloß um eine Namenskoinzidenz. Dass<br />
Rothschild entschied, dass der Wald so unberührt<br />
bleiben sollte, wie er ihn vorfand,<br />
war dagegen ganz und gar kein Zufall. „Albert<br />
Rothschild war aber kein Naturschützer,<br />
so wie wir uns das heute vorstellen“,<br />
sagt Christoph Leditznig, Geschäftsführer<br />
der Schutzgebietsverwaltung Wildnisgebiet<br />
Dürrenstein-Lassingtal, im Gespräch<br />
mit WINA. „Er hat das Gebiet zwar jagdlich<br />
genutzt. Aber er war ein Naturromantiker<br />
und hat erkannt, dass dieser Wald etwas<br />
Besonderes ist. Er hat daher seinen Forstleuten<br />
verboten, den Wald zu nutzen. Da-<br />
mit hat er eine Naturschutzgroßtat vollbracht.“<br />
Rothschild stieß dabei bei seinen Zeitgenossen<br />
– Forscher und seine eigenen<br />
Forstleute inkludiert – auf Unverständnis.<br />
Ein Professor der Forstakademie Marienbrunn,<br />
der Vorläuferinstitution der Universität<br />
für Bodenkultur, hielt dazu anlässlich<br />
einer Exkursion mit Studenten in<br />
das Waldstück fest: „[...] nicht ungezügelte<br />
Üppigkeit in ungeschwächter Urkraft, eingehüllt<br />
in rauschende Duftfülle, romantischer<br />
Gestaltenreichtum und Lebensfrische,<br />
sondern Leichenhof, gebrochene<br />
Kraft, Verfall und Modergeruch, Verkommenheit,<br />
wie überall dort, wo die ordnende<br />
Hand des Menschen nicht hinkommt.“<br />
Der Zeitgeist tickte anders als Rothschild:<br />
Der Mensch sollte sich die Erde<br />
untertan machen, ordnend eingreifen,<br />
vor allem aber die massiven Holzmengen<br />
nutzen. Naturwälder galten als unzivilisiert.<br />
Der Wald hatte die Jahrhunderte<br />
zuvor trotz wechselnder Besitzer vor allem<br />
deshalb unbeschadet überstanden,<br />
da es auf Grund der Geländemorphologie<br />
schwierig war, das Holz aus dem Wald hinauszutransportieren.<br />
Doch in der zweiten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre dies<br />
kein unüberwindbares Problem mehr gewesen<br />
– man sei da schon entsprechend<br />
technisch gerüstet gewesen und hätte das<br />
Holz mittels Pferdeeisenbahn aus dem Gebiet<br />
abtransportieren können. „Dass man<br />
diese Möglichkeit nicht nutzte, war für die<br />
Forstleute einfach unverständlich“, erläutert<br />
Leditznig.<br />
Dafür bietet das Urwaldareal heute der<br />
Forschung vielfältige Chancen, das Potenzial<br />
von Wäldern zur Bekämpfung des<br />
Klimawandels oder als CO 2<br />
-Speicher zu<br />
untersuchen. In herkömmlichen Forstgebieten<br />
werden die gesetzten Bäume nach<br />
80 bis 120 Jahren geschlägert. Sie liefern<br />
dann einen Festmeter Holz. Die Buchen,<br />
Tannen, Fichten des Rothwalds werden<br />
600 bis 700 Jahre, manche sogar bis zu<br />
1.000 Jahre alt und teils über 60 Meter<br />
hoch. Würde man sie dann zur Holzgewinnung<br />
nutzen, brächten speziell Tannen 30<br />
bis 40 Festmeter Holz pro Baum.<br />
© Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />
34 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 34 07.06.22 13:52
Thema<br />
© Hans Glader/Wildnis Dürrenstein-Lassingtal<br />
Wenn so ein Baum absterbe,<br />
könne er noch an<br />
die 100 Jahre stehen, irgendwann<br />
komme er zum<br />
Liegen: Im scheinbar toten<br />
Holz nisten sich Tiere ein,<br />
zum Beispiel große Käferarten<br />
wie der Alpenbock oder<br />
der Scharlachrote Plattkäfer.<br />
Gleichzeitig siedeln sich<br />
Pilze an wie der Duftende<br />
Feuerschwamm. Das Totholz<br />
hat mehrere wichtige Eigenschaften: Einerseits<br />
bindet es CO 2<br />
, andererseits wirkt<br />
es bei Niederschlägen wie ein Schwamm<br />
und beugt so auch Überschwemmungen<br />
vor, erklärt Leditznig. Durch die Tiere, die<br />
sich auf ihm einnisten, wird es in einem<br />
Zeitraum von rund 300 Jahren nach und<br />
nach zersetzt, bis es in Humus umgewandelt<br />
wurde, der Teil des Waldbodens ist<br />
und auf dem neue Bäume wachsen können.<br />
Aber auch dieser gesunde Waldboden<br />
könne viel CO 2<br />
speichern.<br />
Verwildern lassen. Klimarelevant könnte es<br />
daher sein, mehr Waldareale nicht mehr<br />
für die Holzgewinnung zu nutzen, sondern<br />
sich selbst zu überlassen, also verwildern<br />
zu lassen. Wobei Leditznig zu bedenken<br />
gibt, dass es auch im Fall der Holznutzung<br />
bessere und schlechtere Verwertungsmöglichkeiten<br />
gibt. Werden etwa Häuser<br />
aus Holz gefertigt, bindet auch dieses Holz<br />
„Aber er [Albert<br />
Rothschild]<br />
war ein<br />
Naturromantiker<br />
und hat<br />
erkannt, dass<br />
dieser Wald<br />
etwas Besonderes<br />
ist. […]<br />
Damit hat er<br />
eine Naturschutzgroßtat<br />
vollbracht.“<br />
Christoph Leditznig<br />
CO 2<br />
. Wird allerdings Karton<br />
oder Papier produziert,<br />
werde das CO 2<br />
nach<br />
kurzer Zeit wieder freigesetzt.<br />
Ratsam wäre daher<br />
eine Mischung: einerseits<br />
Wälder der Wildnis<br />
zu überlassen, andererseits<br />
Holz sinnvoll zu verarbeiten.<br />
Leditznig erzählt allerdings<br />
auch von weiteren<br />
interessanten Beobachtungen, etwa, dass<br />
Bäume – im Rothwald sind dies vor allem<br />
Buchen, Fichten und Tannen – miteinander<br />
kommunizieren. Wird ein Baum etwa<br />
vom Borkenkäfer befallen, sendet er über<br />
die Luft Terpene, also Botenstoffe, die Bestandteil<br />
ätherischer Öle sind, aus. Bringt<br />
der Wind die Botenstoffe zu anderen Bäumen,<br />
produzieren diese mehr Harz, in<br />
diesem ersticken die sich in die Rinde einbohrenden<br />
Borkenkäfer dann.<br />
Kommunizieren könnten Bäume aber<br />
auch über die Pilze, die sich mit den<br />
Baumwurzeln verbinden würden. Sie<br />
helfen auch den jüngeren und kleineren<br />
Bäumen, mit Nährstoffen versorgt zu werden.<br />
Photosynthese funktioniere nämlich<br />
für die kleineren Bäumen mangels Licht<br />
im dichten Wald nicht in ausreichendem<br />
Maße. Über die großen Bäume würden<br />
sie aber ausreichend mit Zucker versorgt.<br />
Sterbe ein großer Baum neben einem klei-<br />
neren ab, schaffe es der kleinere nach und<br />
nach, sich über Licht und Photosynthese<br />
selbst zu ernähren. „Wir sind hier erst am<br />
Anfang zu erkennen, was sich da wirklich<br />
abspielt. Manche in der Fachwelt zweifeln<br />
noch heute.“<br />
Worum man sich ebenfalls bemühe:<br />
die Biodiversität im Rothwald – darunter<br />
Tierarten, vor allem Insektenarten, die<br />
nirgends sonst mehr vorkommen –, zu<br />
dokumentieren, aber auch zu erhalten.<br />
In 99,99 Prozent des europäischen Waldes<br />
habe der Mensch in der Vergangenheit<br />
eingegriffen, weiß Leditznig. Auch<br />
das macht nachvollziehbar, um welche<br />
Kostbarkeit es sich beim Rothwald handelt.<br />
Buchenwälder gibt es übrigens nur<br />
in Europa – der Urwald in Niederösterreich<br />
habe daher auch diesbezüglich Seltenheitswert.<br />
Die Familie Rothschild blieb übrigens<br />
bis vor wenigen Jahren Eigentümerin des<br />
Urwaldfleckchens in den Alpen. Im Nationalsozialismus<br />
wurde der Besitz „arisiert“<br />
und 1942 offiziell unter Naturschutz gestellt,<br />
nach 1945 dann aber wieder restituiert.<br />
2017 wurde der Rothwald gemeinsam<br />
mit Teilen des Nationalparks Kalkalpen<br />
zum UNESCO-Weltnaturerbe erhoben.<br />
Inzwischen gehört der Rothwald zur<br />
Prinzhorn Group. Sie darf wegen der Unter-Schutz-Stellung<br />
den Wald allerdings<br />
nicht nutzen, dafür gab es eine Entschädigung<br />
durch die öffentliche Hand.<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
juni22.indb 35 07.06.22 13:52
Sprachliche Qualifikation<br />
Das JBBZ hat den neu Angekommenen aus der Ukraine<br />
angeboten, einen Fragebogen zu ihren Qualifikationen<br />
und ihrer Berufserfahrung auszufüllen.<br />
Am Deutschlernen<br />
führt kein Weg vorbei<br />
Geflüchteten aus der Ukraine<br />
steht mit der blauen<br />
Karte zwar der Zugang<br />
zum Arbeitsmarkt offen.<br />
Ohne Deutschkenntnisse<br />
ist es aber schwierig, einen<br />
Job zu finden. Im Jüdischen<br />
Beruflichen Bildungszentrum<br />
(JBBZ)<br />
haben an den beiden<br />
Standorten in der Adalbert-Stifter-Straße<br />
und in<br />
der Gredlerstraße bereits<br />
89 Männer und Frauen einen<br />
der inzwischen sechs<br />
angebotenen Deutschkurse<br />
begonnen.<br />
Text: Alexia Weiss,<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
Ein Vormittag in der zweiten Maiwoche<br />
am JBBZ in Wien-Brigittenau:<br />
„Woher kommen Sie?“, fragt<br />
Yilmaz Duman eine Kursteilnehmerin.<br />
„Ich bin Ukrainerin“, antwortet<br />
sie. „Ich spreche Ukrainisch und Russisch.“<br />
Eine andere Frau sagt: „Ich spreche<br />
Ukrainisch, Russisch, Englisch und klein<br />
Schwedisch.“ „Ein wenig Schwedisch“,<br />
korrigiert sie der Deutschtrainer.<br />
Seit mehr als 15 Jahren arbeitet er in<br />
dem Beruf, erzählt er WINA, er hat Tschetschenen<br />
unterrichtet, Afghanen, Syrer,<br />
Somalis. Nun ist er positiv überrascht.<br />
Die Gruppe ist erst in ihrer zweiten Lernwoche.<br />
„Sie sind kognitiv gut unterwegs.<br />
Sie sind gebildet und lernen schnell. Man<br />
merkt, dass das gut qualifizierte Leute<br />
sind.“ Yilmaz freut besonders, dass es<br />
mit dieser Gruppe bisher zu keinen Konfliktsituationen<br />
kam. „Sie sind respektvoll,<br />
aufnahmefähig und motiviert. Sie<br />
machen die Übungen, fragen nach, arbeiten<br />
mit.“<br />
JBBZ-Geschäftsführer Markus Meyer<br />
betont, man habe versucht, die schnellstmögliche<br />
Kursvariante anzubieten. Der Österreichische<br />
Integrationsfonds, der seine<br />
Kurse an verschiedensten Standorten abhalte,<br />
biete hier verschiedene Kursdesigns<br />
an. Am JBBZ wird nun ein Sprachniveau gemäß<br />
des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens<br />
für Sprachen – am Anfang ist<br />
es das Level A1 – innerhalb von zwei Monaten<br />
in insgesamt 96 Stunden unterrichtet.<br />
Halten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen<br />
das rasche Lerntempo durch, könnten<br />
sie bereits im Winter 2023 das Sprachlevel<br />
B2 erreichen. Das entspreche einer fortgeschrittenen,<br />
selbstständigen Sprachverwendung.<br />
Das sei ein ambitionierter Plan. Ein Plan<br />
allerdings, an dem kein Weg vorbeigeht:<br />
Das JBBZ hat den Neuangekommenen aus<br />
der Ukraine angeboten, einen Fragebogen<br />
zu ihren Qualifikationen und ihrer Berufserfahrung<br />
auszufüllen. Wer über entsprechende<br />
Dokumente verfügt, kann diese<br />
ebenfalls vorlegen, um so zu überprüfen,<br />
was für eine Nostrifizierung nötig ist. 272<br />
Personen haben bis Mitte Mai von diesem<br />
Angebot Gebrauch gemacht, davon waren<br />
241 über 18 Jahre alt, 80 Männer. Frauen<br />
sind also klar in der Mehrheit, viele von<br />
36 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 36 07.06.22 13:52
Chancen am Arbeitsmarkt<br />
Nachweise über bereits<br />
absolvierte Ausbildungen<br />
an. Gut 70 Prozent der Personen,<br />
die den Fragebogen<br />
des JBBZ ausfüllten, können<br />
übrigens keine Dokumente,<br />
die ihre Ausbildung belegen, vorweisen.<br />
Wer flüchtet, hat, wie auch frühere<br />
Fluchtbewegungen zeigen, oft keine Möglichkeit<br />
mehr, solche Belege mitzunehmen.<br />
Und selbst wenn jemand zum Beispiel<br />
ein Medizinstudium nachweisen kann,<br />
ist es ein langer Weg, hier auch in diesem<br />
Beruf arbeiten zu können, wie Janker betont.<br />
Hier seien exzellente Deutschkenntnisse<br />
unabdingbar, und auch der Nostrifizierungsprozess<br />
nehme einige Zeit in<br />
Anspruch.<br />
Yaacov Frenkel, der den Standort Gredlerstraße<br />
leitet, wo aktuell zwei der sechs<br />
Deutschkurse abgehalten werden, die sich<br />
an jene Geflüchteten richten, die traditionell<br />
leben, erzählt von einem Urologen und<br />
einer Pharmazeutin. Für beide wünscht er<br />
sich, dass sie möglichst rasch auch in Österreich<br />
in ihrem Beruf arbeiten können.<br />
Dafür gilt es aber, das Deutschniveau C1 zu<br />
erreichen.<br />
Mögliche Tätigkeitsfelder seien jedoch<br />
eher jeweils in Hilfsberufen zu finden, erläutert<br />
Janker. Für einen Koch oder eine<br />
Köchin beispielsweise sei eine Anstellung<br />
als Küchenhilfskraft auch mit geringeren<br />
Deutschkenntnissen möglich. Allerdings<br />
sei eine solche Tätigkeit dann auch immer<br />
mit wesentlich weniger Einkommen verbunden,<br />
gibt sie zu bedenken.<br />
Meyer unterstreicht daher auch die<br />
Wichtigkeit einer guten sprachlichen Quaihnen<br />
haben kleine Kinder und damit Betreuungspflichten.<br />
Einige wenige konnten bereits auf<br />
Grund ihrer Qualifikationen am Arbeitsmarkt<br />
Fuß fassen, erzählt Rebecca Janker,<br />
die pädagogische Leiterin des JBBZ. Dazu<br />
gehören Lehrerinnen, die als muttersprachliche<br />
Lehrkraft arbeiten, sowie ein<br />
Geiger, der bereits auf freiberuflicher Basis<br />
Engagements ergattern konnte. Ärzte,<br />
Ärztinnen sowie Pflegekräfte befinden sich<br />
noch im Bewerbungsprozess, ebenso ein<br />
Ingenieur. Eine Finanzfachkraft habe in einem<br />
internationalen Bereich einer großen<br />
Bank einen Job ergattert. Hier sei es ausreichend,<br />
Englisch zu sprechen. Eine erfolgreiche<br />
Vermittlung scheitere aber eben<br />
meist an den fehlenden Deutschkenntnissen,<br />
weiß Janker.<br />
Das JBBZ sei jedenfalls bei der Betreuung<br />
von ukrainischen Menschen in engem Austausch<br />
mit dem Arbeitsmarktservice (AMS)<br />
Wien, betont Meyer. Von diesem wurden<br />
so genannte Beratungs- und Betreuungseinrichtungen<br />
damit beauftragt, bei der<br />
Vermittlung in Dienstverhältnisse am ersten<br />
Arbeitsmarkt zu unterstützen. Die zumeist<br />
sehr gut qualifizierten Menschen aus<br />
der Ukraine benötigen als formale Voraussetzungen<br />
für die erfolgreiche Vermittlung<br />
die blaue Karte, die Geflüchtete nach ihrer<br />
Registrierung erhalten, sowie eine Sozialversicherungsnummer<br />
(E-Card oder Ersatzbeleg)<br />
und die Beschäftigungsbewilligung,<br />
um die der zukünftige Arbeitgeber<br />
beim AMS ansuchen muss.<br />
Mögliche Tätigkeitsfelder. Am JBBZ sieht man<br />
sich die erworbenen Qualifikationen und<br />
„Sie sind respektvoll,<br />
aufnahmefähig<br />
und motiviert.<br />
Sie machen<br />
die Übungen,<br />
fragen nach,<br />
arbeiten mit.“<br />
Yilmaz Duman,<br />
Deutschtrainer<br />
lifikation. Das Gros der nun hier Arbeitssuchenden<br />
seien Frauen mit Kindern. Meist<br />
sei da nur Teilzeitarbeit möglich. Mit Teilzeitarbeit<br />
in einer Hilfstätigkeit komme<br />
man aber kaum auf mehr Geld, als es nun<br />
an staatlichen Unterstützungsleistungen<br />
für die Geflüchteten gibt. Das Verpflegungsgeld<br />
beträgt für eine<br />
erwachsene Person 215 Euro<br />
und für ein Kind 100 Euro<br />
pro Monat plus 300 Euro an<br />
Wohnzuschuss (pro Familie,<br />
nicht pro Person). Die Zuverdienstgrenze<br />
beträgt 110 Euro<br />
(plus 80 Euro für jedes weitere<br />
Familienmitglied). „700<br />
bis 800 Euro muss ich aber<br />
erst einmal verdienen als alleinerziehende<br />
Frau mit einer<br />
Hilfstätigkeit als Teilzeitjob.“<br />
Auch Dezoni Dawaraschwili,<br />
Obmann des JBBZ<br />
und Vizepräsident der IKG<br />
Wien, betont: „Zuerst ist es<br />
einmal wichtig, Deutsch zu<br />
lernen. Ohne Deutsch ist<br />
keine Integration möglich.“<br />
Noch wisse man nicht, ob alle jüdischen<br />
Geflüchteten aus der Ukraine am Ende<br />
auch in Wien bleiben würden. Die Gemeinde<br />
bemühe sich aber, alles zu tun, um<br />
ihnen zu ermöglichen, sich hier eine neue<br />
Existenz aufzubauen.<br />
Die Männer und Frauen verschiedensten<br />
Alters, die am JBBZ Deutsch lernen,<br />
können inzwischen einfache Dialoge führen.<br />
Dadurch, dass sie nicht in Flüchtlingssammelunterkünften,<br />
sondern großteils<br />
bereits in Wohnungen untergebracht<br />
sind, lernen sie auch im Alltag Tag für Tag<br />
ein bisschen mehr Deutsch.<br />
Eine der Kursteilnehmerinnen macht<br />
sich nach Kursende mit der Straßenbahn<br />
auf nach Wien-Floridsdorf, wo sie inzwischen<br />
mit ihren Kindern und ihrer Mutter<br />
wohnt. Auf dem Handy hat sie den Routenplaner<br />
der Wiener Linien eingeschalten,<br />
Station für Station verfolgt sie den Namen<br />
des nächsten Halts, um ja nicht zu spät auszusteigen.<br />
Learning by doing, Tag für Tag.<br />
Was Janker allerdings auch zu bedenken<br />
gibt: Die einen hätten bereits die<br />
Kraft, nun mit dem Lernen zu starten.<br />
Andere seien zu sehr mit der Betreuung<br />
sehr kleiner Kinder oder der Aufarbeitung<br />
von Traumata beschäftigt. Worum<br />
man sich als JBBZ jedenfalls bemühe: allen,<br />
die dies möchten, Sprachunterricht<br />
zu ermöglichen und so die Chancen am<br />
Arbeitsmarkt zu erhöhen.<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
juni22.indb 37 07.06.22 13:52
WINAERINNERT<br />
Abschied von<br />
der Disco Queen<br />
Anfang Mai starb Régine Zylberberg 92-jährig in der Nähe von<br />
Paris. Die polnische Holocaust-Überlebende hatte einige der elegantesten<br />
Nachtclubs in Europa und den USA gegründet.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Hier galten harte Bekleidungsvorschriften.<br />
Sogar Mick Jagger<br />
wurde in der noblen New<br />
Yorker Diskothek Regine’s am Eingang<br />
abgewiesen, Turnschuhe und fehlende<br />
Krawatte gingen gar nicht. In<br />
den 1970er-Jahren war der Nachtclub<br />
auf der Park Avenue an der 59. Straße der<br />
Ort für die Reichen und Schönen des Big<br />
Apple: Liza Minelli traf man dort und Jack Nicholson,<br />
Peter Falk oder Warren Beatty, das Supermodel<br />
Imam sowie den ehemaligen Außenminister<br />
Henry Kissinger.<br />
Zusammengebracht hatte sie alle Régine Zylberberg. Sie war<br />
als Tochter jüdisch-polnischer Emigranten 1929 in Belgien geboren<br />
worden. Ihre Mutter hatte sie und ihren Vater früh verlassen,<br />
die beiden überlebten die Nazi-Zeit versteckt in einem<br />
französischen Konvent. Nach dem Krieg verkaufte sie Wäsche<br />
als fliegende Händlerin, ihr Vater eröffnete in Paris ein Café.<br />
Eigentlich wollte sie Sängerin werden, aber die Karriere hob<br />
nach einigen Anfangserfolgen nicht wirklich ab. Später sollte<br />
sie sie dann eine einzige Schallplatte herausbringen, eine Cover-Version<br />
von I will survive von Gloria Gaynor.<br />
1957 eröffnete sie in Paris im Quartier Latin ihr erstes Lokal,<br />
Chez Régine. Es war bald beliebt unter Literaten und Prominenten,<br />
gesehen wurden dort etwa Brigitte Bardot, Rudolf Nureyev<br />
oder der Herzog von Windsor, der ehemalige englische<br />
König. Der Erfolg des neuen Modells Disco Style – Platten von<br />
einem DJ aufgelegt statt von einer Live-Band gespielt – ließ sie<br />
bald expandieren: Régine eröffnete weitere Clubs in London,<br />
Monte Carlo oder Los Angeles, es sollten mehr als 20 werden.<br />
„Ich bin diejenige, die die Stadt<br />
vor der Pleite gerettet hat. Ich<br />
habe sie wieder glücklich gemacht.“<br />
Régine Zylberberg<br />
Anfang der 1970er-Jahre übersiedelte<br />
Régine nach New York und wohnte<br />
dauerhaft im Hotel Delmonico. Im selben<br />
Gebäude etablierte sie dann den<br />
Nachtclub, für das Kulinarische war<br />
der Starkoch Michel Guérard verantwortlich.<br />
Später entwarf sie sogar eine<br />
eigene Disco-Bekleidungskollektion, die<br />
bei Bloomingdale’s verkauft wurde. Ein<br />
weiteres elegantes Restaurant in Paris folgte,<br />
schließlich übersiedelte sie mit ihrem zweiten<br />
Ehemann nach Saint-Tropez.<br />
Die New Yorker Edel-Disco bekam allerdings zunehmend<br />
harte Konkurrenz, vor allem das legendäre Studio 54 zog bald<br />
die Reichen und Schönen ab. Andy Warhol gehörte zu denjenigen,<br />
die Regine’s noch länger treu blieben. Anfang der Neunzigerjahre<br />
musste sie endgültig schließen. Doch Régine resümierte<br />
ihre erfolgreichen New Yorker Nächte durchaus<br />
selbstbewusst. In einem Interview mit dem New York Magazine<br />
sagte sie, sie habe „Mund-zu-Mund-Beatmung“ geleistet und<br />
sei „diejenige, die die Stadt vor der Pleite gerettet hat. Ich habe<br />
sie wieder glücklich gemacht.“ Régine starb am 1. Mai 92-jährig<br />
in einem Vorort von Paris.<br />
© Regis Duvignau / Reuters / picturedesk.com<br />
38 wına | März <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 38 07.06.22 13:52
Zeichnen ist Welt<br />
Eine Stéphane-Mandelbaum-Schau<br />
in Frankfurt am Main<br />
Nur 25 Jahre wurde der Belgier Stéphane Mandelbaum.<br />
Er starb 1986. In den zehn Jahren vor seinem<br />
Tod schuf er Hunderte von Porträtzeichnungen.<br />
Und man ist, wie vor einigen Jahren bei einer großen<br />
Retrospektive Jean-Michel Basquiats in der Frankfurter<br />
Schirn Kunsthalle, jetzt im Frankfurter Museum Moderner<br />
Kunst, diesem tortenstückgleichen Haus, wieder mitten<br />
in den Achtzigerjahren, bei Punk, Pop und Subkultur,<br />
die so plötzlich und schnell Mainstream wurden. Mandelbaums<br />
Zeichnungen mit Kugelschreiber, Filzstift und<br />
Bleistift wimmeln, sind übervoll,<br />
schier vollgepresst mit Ein- und<br />
Überfällen, mit Details, Andeutungen<br />
und Gedankenstiftstürmen.<br />
Und von Stéphanes, dem<br />
Sohn eines Künstlers und einer Illustratorin,<br />
vergötterten Genies,<br />
von Rimbaud bis Pasolini. Und<br />
abscheutief gehassten „Persönlichkeiten“:<br />
Er zeichnete auch Nazis<br />
und koppelte dies mit Pornografie.<br />
Aufschlussreich ist auch<br />
die Information, dass Mandelbaum<br />
Legastheniker war. Mühsamer<br />
als andere musste er sich die<br />
Welt zusammenbuchstabieren.<br />
Dafür wurde sie ihm Zeichen, Ornament,<br />
Element. Diese wichtige<br />
Schau ist erst die dritte Ausstellung<br />
seit seinem Tod. A.K.<br />
STÉPHANE MANDELBAUM<br />
Museum für Moderne Kunst<br />
Frankfurt am Main<br />
bis 30. Oktober <strong>2022</strong><br />
mmk.art./de<br />
Stéphane Mandelbaum:<br />
Bacon et frise (1982), Sammlung<br />
Paula Hauser, Brüssel.<br />
Eine Leuchtreklame des<br />
Capitel Jewish Museum, Washington,<br />
dient als Titelsujet<br />
zu Ausgestopfte Juden? in<br />
Hohenems.<br />
Ausgestopfte Juden?<br />
Geschichte, Gegenwart<br />
und Zukunft jüdischer<br />
Museen<br />
Als der damalige Vorsitzende<br />
der Israelitischen Kultusgemeinde,<br />
Paul Grosz, vor vielen<br />
Jahren gefragt wurde, was er<br />
von der Gründung eines Jüdischen<br />
Museums halte, stellte er<br />
eine bittere Gegenfrage: Ob Jüdinnen<br />
und Juden dort „wie ausgestopfte<br />
Indianer“ bestaunt<br />
werden sollten?<br />
Die über 120 jüdischen Museen<br />
weltweit haben keine einheitliche<br />
Antwort auf die Frage, was ein jüdisches Museum<br />
sei, gefunden: Den einen gilt die Institution selbst<br />
als eine jüdische, für die anderen ist ihr Gegenstand<br />
das Judentum. Für die einen ist das Adjektiv „jüdisch“<br />
eindeutig, für die anderen ist es nicht nur mehrdeutig,<br />
sondern steckt gar voller Widersprüche. Und so unterschiedlich<br />
die Frage nach der Definition ist, so unterschiedlich<br />
sind auch die musealen Inhalte und Praktiken.<br />
Ab Ende <strong>Juni</strong> geht die von den Kuratoren Felicitas<br />
Heimann-Jelinek und Hannes Sulzenbacher kuratierte<br />
Ausstellung Ausgestopfte Juden? Diesen Fragen nach,<br />
beleuchtet Geschichte und Gegenwart der Institution<br />
Jüdisches Museum, ihre Sammlungen und ihren Kanon<br />
– und reflektiert damit die drängende Frage nach ihrer<br />
gesellschaftlichen Rolle in der Zukunft. Der Katalog zur<br />
Ausstellung erscheint im Wallenstein Verlag.<br />
AUSGESTOPFTE JUDEN<br />
Geschichte, Gegenwart und Zukunft<br />
jüdischer Museen<br />
Jüdisches Museum Hohenems<br />
ab 26. <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
jm-hohenems.at<br />
MUSIKTIPPS<br />
ARGERICH – PACINI<br />
Über die Pianistin Martha Argerich<br />
zu schwärmen, ist so einfach wie auf<br />
der Hand liegend. Es ist jüngst vieles von ihr greifbar<br />
gemacht worden, Früh Eingespieltes, reif Eingespieltes.<br />
Meisterhaftes. Nun gibt es auf Blu-ray<br />
New Year’s Impressions from Vienna (Arthaus),<br />
ihr Silvesterkonzert 2020 mit Mozarts D-Dur-Sonate<br />
und Liszts Reminiscences de Don Juan de Mozart<br />
für 2 Klaviere. Das Konzert selbst – ohne Publikum<br />
im Wiener Konzerthaus! – bestritt sie mit<br />
der jungen Sophie Pacini aus München.<br />
MENDELSSOHN-HENSEL<br />
Bis heute steht Fanny Mendelssohn-<br />
Hensel (1805–1847) im Schatten ihres<br />
Bruders Felix. Die Sopranistin Chen Reiss hat nun<br />
auf Fanny Hensel & Felix Mendelssohn Bartholdy<br />
(Onyx) eine kluge und subtile Auswahl ihrer Lieder<br />
mit dem Jewish Chamber Orchestra unter Da-<br />
niel Grossmann aufgenommen, Bekannteres wie<br />
das Gondellied, , aber auch schöne Entdeckungen.<br />
Einstieg ist das rare Infelice! von Felix mit der Geige-<br />
rin Arabella Steinbacher, Ausklang die ebenso rare<br />
Erstfassung seiner Hebriden-Ouvertüre.<br />
MEHLDAU<br />
Der amerikanische Jazzpianist Brad<br />
Mehldau ist ein hochintellektueller,<br />
viel zu kluger und zu vielseitig interessierter Zeitgenosse,<br />
um sich nur aufs Tastendrücken für Standards<br />
zu beschränken. Das bestätigt er neuerlich<br />
mit Jacob’s Ladder (Nonesuch), auf dem er Progrock<br />
der 1970er-Jahre mit Religiosität verbindet, Dynamik<br />
mit Ekstaseanklängen, Komplexes mit Luftigem<br />
und dann wieder klanglich Extraausgefallenem.<br />
12 Tracks für all jene, die beim Musikhören<br />
nicht aufs (Mit)Denken vergessen. A.K.<br />
© Kunsthalle Krems; Museum für Moderne Kunst; Verlage<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
juni22.indb 39 07.06.22 13:52
Opern- & Filmkomponist<br />
Vom Höselberg nach Hollywood<br />
Musikalischer Schwerpunkt der Festwochen Gmunden<br />
zum 125. Geburtstag von Erich Wolfgang Korngold,<br />
dem Wunderkind aus Brünn und Wien.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Sommerfrische.<br />
Erich Wolfgang<br />
Korngold mit<br />
seiner Ehefrau<br />
beim Flanieren in<br />
Alt-Aussee, 1924.<br />
„W<br />
ir glaubten immer noch –<br />
mehr mit dem Herzen als<br />
mit dem Verstand – , daß<br />
wir eine Heimat hatten, in<br />
die wir zurückkehren konnten, die wir nicht<br />
verlassen wollten“, erinnert sich Luzi Korngold.<br />
„Es war Selbstbetrug, eine holde Täuschung: das<br />
naiv-zuversichtliche ‚Uns-kann-nichts-Geschehen‘<br />
glücklicher Menschen. So träumten wir im<br />
Winter bei strahlender kalifornischer Sonne von<br />
unseren regenfeuchten Wiesen daheim.“*<br />
Dieses melancholisch, sehnsuchtsvolle<br />
Zitat gleicht so vielen, die wir von<br />
jüdischen Menschen kennen, die 1938<br />
aus Österreich vertrieben wurden. Aber<br />
in diesem Fall handelt es sich um das<br />
Künstlerehepaar Luzi und Erich Wolfgang<br />
Korngold, das glücklicherweise bereits<br />
ab 1934 wenigstens ein Standbein in den<br />
USA, konkret in Hollywood, hatte. Das realistische<br />
bis verklärte Bild der Sängerin,<br />
Schauspielerin, Pianistin und Schriftstellerin<br />
Luzi Korngold beschreibt als<br />
Heimat das Gut Höselberg in Gschwandt<br />
bei Gmunden, wo die 1900 in Wien geborene<br />
Luise von Sonnenthal, Enkelin<br />
des berühmten Schauspielers und Theaterdirektors<br />
Adolf Ritter von Sonnenthal,<br />
unvergessliche fünf Sommer verbrachte.<br />
1924 heiratet Luise Sonnenthal jenen<br />
Mann, der sich ab 1933 den Ankauf dieses<br />
Hauses leisten kann: Erich Wolfgang<br />
Korngold, geboren am 29. Mai 1897 in<br />
Brünn, aufgewachsen in Wien, konnte<br />
mit 36 Jahren bereits auf eine höchst erfolgreiche<br />
Karriere als angesehener und<br />
erfolgreicher Komponist und Dirigent<br />
zurückschauen. Heuer jährt sich der 125.<br />
Geburtstag von Erich Wolfgang, Sohn des<br />
„Am 4. Februar 1938<br />
erreichen die Korngolds<br />
Amerika –<br />
nicht wissend, aber<br />
ahnend, dass dies<br />
die Rettung ist.“<br />
Marie-Theres Arnbom in<br />
Die Villen vom Traunsee<br />
jüdischen Musikkritikers Julius Korngold,<br />
der für die Neue Freie Presse schrieb.<br />
Dieser Geburtstag wird in der Nähe der<br />
ehemaligen Sommerresidenz des Ehepaars<br />
Luzi und Erich Wolfgang Korngold<br />
gebührend und würdig gefeiert: „Den<br />
Salzkammergut Festwochen Gmunden ist<br />
es ein großes Anliegen, Komponisten mit<br />
Bezug zur Region besondere Aufmerksamkeit<br />
zu schenken. Das geschieht am<br />
besten, in dem wir ihre Werke aufführen“,<br />
lacht Christian Hieke, seit 2019 künstlerischer<br />
Leiter der Festwochen Gmunden.<br />
Der Facharzt für Orthopädie und ortho-<br />
© ullstein bild - Ludwig Boedecker / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
40 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 40 07.06.22 13:52
Zweifahcher Oscargewinner<br />
© ullstein bild - Ludwig Boedecker / Ullstein Bild / picturedesk.com<br />
pädische Chirurgie mit Praxis in Wien<br />
wuchs in einer stark kultur- und musikaffinen<br />
Familie auf: Seine Mutter und<br />
Schwester führen die Kunstgalerie Hieke<br />
in der Grünangergasse. „Die Eltern haben<br />
uns seit Jugendtagen ins Theater und<br />
in die Oper mitgenommen. Auch neben<br />
meinem Studium galt mein größtes persönliches<br />
Interesse der Kultur, aber vor<br />
allem der Oper als unübertroffenes Gesamtkunstwerk.“<br />
Die Verbundenheit zum<br />
Salzkammergut entstand sowohl in den<br />
sommerlichen Ferien wie auch durch die<br />
Ehe mit einer Gmundnerin, deren Vater<br />
sogar zu den Gründungsmitgliedern der<br />
Festwochen vor 35 Jahren zählt.<br />
„Viele Details über die illustre Vergangenheit<br />
des Traunsees habe ich erst von<br />
der Historikerin Marie-Theres Arnbom<br />
erfahren. Auch über Erich Wolfgang<br />
Korngold hat sie Neues entdeckt und in<br />
ihrem 2019 erschienen Buch Die Villen vom<br />
Traunsee - Wenn Häuser Geschichten erzählen**<br />
festgehalten und so dem Vergessen entrissen“,<br />
freut sich Hieke. Der Vater von<br />
vier Kindern leistet sich – nach eigenen<br />
Angaben – einen rund 20-Stunden-Job<br />
zusätzlich zur Arztpraxis für die künstlerische<br />
Gestaltung der Festwochen. „Es ist<br />
gleichzeitig faszinierend und berührend<br />
zu wissen, dass Korngold 1937 seine letzte<br />
Oper Die Kathrin in seiner Sommerfrische<br />
in Gschwandt, im Schloss Höselberg komponiert<br />
hat.“ Die Oper sollte im März 1938<br />
an der Wiener Staatsoper uraufgeführt<br />
werden. Doch nach dem „Anschluss“ Österreichs<br />
an Hitler-Deutschland war das<br />
nicht mehr möglich. „Erst am 7. Oktober<br />
1939 ist das Werk erstmals zu hören, und<br />
zwar an der königlichen Oper in Stockholm<br />
unter der Leitung von Fritz Busch“,<br />
schreibt Arnbom. Zur österreichischen<br />
Erstaufführung in Wien gelangte Korngolds<br />
Die Kathrin erst am 19. Oktober 1950.<br />
Korngold galt in Wien nicht zu Unrecht<br />
als Wunderkind: Mit elf Jahren macht er<br />
bereits auf sich aufmerksam, seine Komposition<br />
des pantomimischen Balletts Der<br />
Schneemann wird 1910 an der Wiener Hofoper<br />
uraufgeführt. Zu seinen Lehrern<br />
zählten neben anderen Alexander von<br />
Zemlinsky und Hermann Grädener. Mit<br />
dreizehn Jahren schreibt er Klaviersonaten;<br />
es folgen eine Schauspiel-Ouvertüre<br />
und eine Sinfonietta. Die Aufführungen<br />
seiner Jugendwerke erfolgen häufig<br />
durch prominente Musiker des frühen<br />
20. Jahrhunderts, wie Bruno Walter, Artur<br />
Schnabel, Arthur Nikisch, Wilhelm<br />
Furtwängler, Felix Weingartner oder Richard<br />
Strauss.<br />
Korngolds Opernkompositionen Der<br />
Ring des Polykrates und Violanta (beide<br />
1916), Die tote Stadt (1920) und Das Wunder<br />
der Heliane (1927) hatten zu seiner<br />
Zeit großen Erfolg und ließen ihn – neben<br />
Richard Strauss – zum meistgespielten<br />
Opernkomponisten Österreichs und<br />
Deutschlands werden. Sein wohl bedeutendster<br />
Erfolg war die Oper Die tote Stadt.<br />
Obwohl er sich als ein Vertreter der Moderne<br />
empfand, verließ er nie die Tonalität.<br />
Seine G-Dur-Violinsonate op. 6 wurde<br />
dennoch im März 1919 in Schönbergs Verein<br />
für musikalische Privataufführungen<br />
gespielt.<br />
Julius Korngold war äußerst dominant,<br />
und sein Sohn litt nicht wenig darunter.<br />
Trotzdem übernahm Erich in den<br />
1920er-Jahren zusehends die Ansichten<br />
seines Vaters, der ein ausgesprochener<br />
Gegner der musikalischen Moderne war.<br />
1931 komponierte er die Vier kleinen Karikaturen<br />
für Kinder op. 19, in denen er die<br />
Musikstile Schönbergs, Igor Strawinskys,<br />
Béla Bartóks und Paul Hindemiths karikierte.<br />
Max Reinhardt – der Retter aus Hollywood.<br />
1934 folgt Korngold der Einladung Max<br />
Reinhardts nach Hollywood, um für dessen<br />
Film A Midsummer Night’s Dream (Ein<br />
Sommernachtstraum) die Filmmusik anhand<br />
Mendelssohns Schauspielmusik zu<br />
arrangieren. Korngold und Reinhardt<br />
waren bereits in Europa durch die Bearbeitung<br />
der Operetten Die Fledermaus<br />
und La Belle Hélène miteinander befreundet.<br />
Mit der Arbeit am Sommernachtstraum<br />
setzte Korngold neue Maßstäbe in<br />
der noch jungen Geschichte der Filmmusik:<br />
Er vergrößert das Orchester von<br />
Tanzbandstärke auf Symphonieorchestergröße.<br />
Er griff teilweise in die Regie ein,<br />
um die Sprache der Schauspieler an den<br />
Rhythmus der Musik anzupassen. Und<br />
er passte Mendelssohns Musik an Reinhardts<br />
Dramaturgie an und fügte sogar<br />
eigene Dialoge hinzu. Während der Film<br />
Reinhardts von der Kritik zerrissen wird,<br />
erntet Korngolds Musik viel Lob.<br />
In den nächsten Jahren verbringt der<br />
ideenreiche Musiker die Winter in Kalifornien<br />
als Filmkomponist der Warner<br />
Brothers. Korngold wird zweimal<br />
mit dem Oscar ausgezeichnet: Einen bekommt<br />
er für den 1936 entstandenen<br />
Film Anthony Adverse, den zweiten 1938<br />
für The Adventures of Robin Hood. Diese und<br />
seine anderen Werke sollten für die gesamte<br />
Branche prägend werden, sie beeinflussten<br />
noch Jahrzehnte später die<br />
Musik von Hans Zimmer und John Williams<br />
zu Star Wars. In der Zeit von 1935 bis<br />
1946 entsteht die Musik für 19 Filme.<br />
„Im Jänner 1938 erreicht Korngold in<br />
Wien ein Telegramm mit der dringlichen<br />
Frage, ob er innerhalb von zehn Tagen in<br />
Hollywood sein könne, um die Musik zu<br />
Robin Hood zu komponieren“, schreibt Marie-Theres<br />
Arnbom. „Er sagt zu und reist<br />
mit Frau und Sohn nach Le Havre, von<br />
wo ihn das Schiff ,Normandie‘ nach New<br />
York bringt. An Bord befindet sich auch<br />
der große Sängerstar Jan Kiepura, der<br />
eigentlich in der Uraufführung von Die<br />
Kathrin singen sollte. Am 4. Februar 1938<br />
erreichen die Korngolds Amerika – nicht<br />
wissend, aber ahnend, dass dies die Rettung<br />
ist.“<br />
Ab 1946 beendet Korngold die Arbeit<br />
beim Film und wendet sich wieder der<br />
klassischen Orchestermusik zu. Es entstehen<br />
das Cellokonzert op. 37 und das Violinkonzert<br />
D-Dur. Zwischen 1949 und 1951<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
juni22.indb 41 07.06.22 13:52
Renaissance in Gmunden<br />
Ankunft in New York.<br />
1934 reist Erich mit seiner<br />
Frau Luise in die USA,<br />
um die Musik für Max<br />
Reinhardts Sommernachtstraum-Film<br />
zu<br />
komponieren.<br />
hält er sich in Österreich auf, wo er vom<br />
Publikum, aber nicht von der Musikkritik<br />
positiv empfangen wird. In dieser<br />
Zeit werden die Symphonische Serenade B-<br />
Dur op. 39 von den Wiener Philharmonikern<br />
unter Wilhelm Furtwängler sowie<br />
die Stumme Serenade op. 36 in Wien uraufgeführt.<br />
Während einer zweiten Europareise<br />
1954/1955 kommt es zur Premiere<br />
seiner einzigen Symphonie in Fis-Dur<br />
op. 40. Der Versuch, nach 1946 zur klassischen<br />
Musik zurückzufinden, beschert<br />
keine großen Erfolge. Die Kompositionen<br />
Korngolds geraten zunehmend in Vergessenheit.<br />
Erst die Neuauflage seiner Werke<br />
in den USA ab 1972 führt zu einer internationalen<br />
Renaissance.<br />
Klaus Maria Brandauer zu Korngolds Leben.<br />
„Obwohl Korngolds wunderbare Oper Die<br />
tote Stadt in meiner Jugend selten gespielt<br />
wurde, hat sie mich gleich fasziniert, sodass<br />
ich mich schon damals auf die Musik<br />
dieser Epoche, also auf Alexander Zemlinsky<br />
und Viktor Ullmann gestürzt habe“,<br />
erzählt Christian Hieke, der mit einem<br />
kleinen Team die Gmundner Festwochen<br />
heuer von Anfang Juli bis 21. August <strong>2022</strong><br />
veranstaltet. Bereits am 8. Juli kann man<br />
Orchestermusik des Jubilars Korngold<br />
hören: Das Bruckner Orchester Linz mit<br />
Markus Poschner als Dirigent und Startenor<br />
Pjotr Beczala werden ein Open-<br />
air-Konzert geben. „Im<br />
Toscanapark Gmunden<br />
haben wir eine Tribüne<br />
mit 1.600 Sitzplätzen errichtet,<br />
ganz ähnlich der<br />
in Schönbrunn“, freut<br />
sich Hieke. „Da wird an<br />
vier Abenden musiziert.“<br />
Korngolds Werke<br />
beeinflussten<br />
noch Jahrzehnte<br />
später die Musik<br />
von Hans Zimmer<br />
und John<br />
Williams zu<br />
Star Wars.<br />
Dem Geburtstagskind<br />
Korngold wird<br />
nicht nur auf musikalischem<br />
Wege gratuliert:<br />
„Ich freue mich sehr,<br />
dass Korngold jetzt auf<br />
so vielfältige Art wieder<br />
das Interesse weckt“, sagt Marie-Theres<br />
Arnbom, die auch mit den Nachkommen<br />
des jüdischen Musikers in Kontakt<br />
ist. „Die freuen sich sehr darüber. Es entsteht<br />
gerade auch ein Korngoldbuch, ich<br />
werde dazu einen Vortrag in Gmunden<br />
halten. Außerdem darf ich die Dramaturgie<br />
für einen Leseabend mit Klaus Maria<br />
Brandauer machen“, so die Historikerin<br />
und Autorin. Unter dem Titel Alles nur ein<br />
böser Traum? Erich Korngold – Von Brünn über<br />
Wien und Gmunden nach Hollywood gibt der<br />
Schauspieler am 13. August <strong>2022</strong> anhand<br />
bekannter und unbekannter Quellen<br />
Einblicke in diese faszinierende Künstlerpersönlichkeit.<br />
* Luzi Korngold: Erich Wolfgang Korngold. Ein Lebensbild. Wien: Lafite 1967.<br />
** Marie-Theres Arnbom: Die Villen vom Traunsee. Wien: Amalthea 2019.<br />
Das junge siebenköpfige Festwochenteam<br />
hat seit 2020 mit großem Engagement<br />
eine neue Programmierung und Positionierung<br />
erarbeitet, deren Ziel es ist,<br />
verstärkt Jung und Alt in den Genres Klassik,<br />
Literatur, Crossover und Jazz, Bühne,<br />
Architektur und bildende Künste einzubinden.<br />
„Im Spannungsfeld zwischen<br />
Tradition und Innovation bemühen wir<br />
uns um künstlerische Vielfalt, achten<br />
aber trotzdem darauf, dass die Qualität<br />
die Quantität bestimmt“, erklärt Hieke,<br />
dem die kaufmännische Geschäftsführerin<br />
Johanna Mitterbauer tatkräftig zur<br />
Seite steht. „Es ist uns eine große Freude,<br />
dass wir Karin Bergmann, die ehemalige<br />
Burgtheater-Direktorin für Gmunden gewinnen<br />
konnten. Sie wird bereits heuer<br />
das Literatur- und Theaterprogramm<br />
verantworten.“<br />
Am 12. April 1941 wurde in Los Angeles<br />
unter der Leitung Korngolds sein Passover<br />
Psalm op. 30 Come, let us hail Him (Lasset<br />
uns preisen) als Auftragswerk<br />
von Jacob Sonderling<br />
uraufgeführt. Der Text<br />
stammt aus der Pessach-<br />
Haggada, die Komposition<br />
ist ein Chorwerk für<br />
Sopran, gemischten Chor,<br />
Orgel und Orchester. Auftraggeber<br />
Korngolds war<br />
niemand Geringerer als der<br />
deutsch-amerikanische<br />
Rabbiner Sonderling: Er<br />
war der väterliche Freund<br />
der deutschsprachigen<br />
Migrantenszene in Los Angeles,<br />
wo er Komponisten<br />
zu Aufträgen für Musikstücke<br />
verhalf, zu denen er<br />
großteils die Texte schrieb.<br />
Am 18. April 1941 wird im Gau Oberdonau<br />
das Gut Höselberg bei Gmunden<br />
dem „Deutschen Reich – Reichsarbeitsdienst“<br />
einverleibt. Von der Gestapo beschlagnahmt<br />
wurde der Besitz des Ehepaares<br />
Korngold schon kurz davor. Dazu<br />
recherchierte Arnbom akribisch: „Die<br />
Rückstellung des Besitzes erfolgt mit Beschluss<br />
vom 12. Mai 1949 – doch verbringen<br />
die Korngolds keinen Sommer mehr<br />
in ihrem einstmals so schönen Besitz,<br />
sondern kommen nur noch ein einziges<br />
Mal nach Gmunden.“ Darüber schreibt<br />
Luzi Korngold: „Erich hätte Europa nicht<br />
verlassen, ohne von seinem Höselberg<br />
Abschied zu nehmen.“<br />
© AP / picturedesk.com<br />
42 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 42 07.06.22 13:52
Der Antisemitismus,<br />
der gerne zur Seite geschoben wird<br />
Die Nähe des traditionellen<br />
christlichen Judenhasses<br />
zum modernen<br />
eliminatorischen<br />
Antisemitismus werde<br />
in der deutschen Antisemitismus-Debatte<br />
immer<br />
noch verschleiert,<br />
meint der deutsche Jurist<br />
Tilman Tarach. Sein<br />
Befund ist auf Österreich<br />
wohl ebenso umzulegen.<br />
Mit Teuflische<br />
Allmacht hat er nun ein<br />
Buch zu dem Thema<br />
vorgelegt.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Der Vater der Juden ist der Teufel.<br />
Jesus Christus. NSDAP Eschenbach“,<br />
steht auf einer Tafel, deren<br />
Foto das Cover von Tarachs Buch ziert.<br />
Aufgenommen wurde es im Juli 1935 am<br />
Ortseingang von Eschenbach in Bayern, es<br />
befindet sich heute im Stadtarchiv Nürnberg.<br />
Damit vermittelt der Autor bereits<br />
die Botschaft, die sich wie der sprichwörtliche<br />
rote Faden durch das Buch zieht: Erst<br />
auf Basis des christlichen Judenhasses, genährt<br />
von Jahrhundert zu Jahrhundert,<br />
konnte der Vernichtungsantisemitismus<br />
der Nationalsozialisten entstehen. Damit<br />
ist es aber auch bis heute schwer, den Judenhass<br />
wirklich nachhaltig zu überwinden,<br />
denn die Gesellschaft sei bis heute<br />
von diesen tief sitzenden christlichen<br />
Mustern geprägt.<br />
Tarach führt ein ums andere historische<br />
Beispiel an, das von der Ablehnung<br />
von Juden und Jüdinnen zeugte, der Höhepunkt<br />
dabei natürlich die Shoah, doch<br />
davor eine lange Kette von Vorwürfen, die<br />
schließlich in unliebsame Vorkommnisse<br />
und Verfolgung mündeten. Da ist etwa<br />
das Bild des „Christusmörders“, das auch<br />
Adolf Hitler immer wieder in Reden bemühte,<br />
wie Tarach nachzeichnet. Da<br />
ist aber auch das Gerücht des „Kindermordes“.<br />
Christliche Kinder würden<br />
von Juden getötet und deren Blut<br />
dann für die Zubereitung ritueller<br />
Speisen verwendet. Die erste solche<br />
Erzählung geht auf das Jahr 415 zurück<br />
und stammt aus der Region Antiochia,<br />
Hochkonjunktur hatte sie<br />
seit dem Hochmittelalter. Von „Ritualmordlegenden“<br />
spricht die Wissenschaft<br />
heute, und – surprise, surprise<br />
– auch Der Stürmer der Nazis, der grundsätzlich<br />
antiklerikal ausgerichtet war, bediente<br />
diesen Topos. Antiklerikal: ja. Antichristlich:<br />
nein.<br />
„Die Verfolgung und Ermordung von Juden,<br />
ihre Vertreibung, der Raub an ihrem<br />
Eigentum zogen sich als Konstante durch<br />
die europäische Geschichte als Teil des<br />
Selbstverständnisses des Christentums“,<br />
schreibt Anetta Kahane im Geleitwort zum<br />
Buch. Es habe zwar Phasen ohne Grausamkeiten<br />
gegeben, „doch die Drohung, die Erinnerung,<br />
das Muster, nachdem sich Juden<br />
niemals sicher sein dürfen, sich nicht willkürlich<br />
dem nächsten Pogrom ausgesetzt zu<br />
sehen, gehörten zur Kulturtechnik Europas<br />
und sind tief eingegraben.“<br />
Tarach macht seinerseits gleich zu Beginn<br />
seines Buches klar: Es sei keines<br />
über die „Verbrechen der Kirchen“. Es<br />
gehe eben vielmehr um die Frage, in welchem<br />
Verhältnis die Gründungsmythen<br />
„Die Verfolgung und Ermordung von Juden, ihre<br />
Vertreibung, der Raub an ihrem Eigentum zogen sich<br />
als Konstante durch die europäische Geschichte als Teil<br />
des Selbstverständnisses des Christentums.“ Anetta Kahane<br />
Tilman Tarach:<br />
Teuflische Allmacht.<br />
Über die verleugneten<br />
christlichen Wurzeln<br />
des modernen Antisemitismus<br />
und Antizionismus.<br />
Edition Telok, 224 S., € 15,95<br />
und Leitideen der christlichen Lehre als<br />
solche zum Antisemitismus stehen. Das<br />
betreffe den nationalsozialistischen Antisemitismus<br />
ebenso wie den heutigen israelbezogenen.<br />
Eine seiner spannenden<br />
Schlussfolgerungen: In Ländern ohne größeren<br />
christlichen Bevölkerungsanteil wie<br />
Indien, Thailand, Vietnam oder China sei<br />
das Ressentiment gegen die Juden nie gesellschaftlich<br />
relevant geworden. Anders<br />
sehe es in der islamischen Welt aus. Dort<br />
habe sich der Antisemitismus im letzten<br />
Jahrhundert – und damit schon vor und<br />
unabhängig von der Gründung Israels –<br />
verschärft. Eine erhellende und ernüchternde<br />
Lektüre.<br />
wına-magazin.at<br />
43<br />
juni22.indb 43 07.06.22 13:52
Fotograf des Kriegs<br />
Gerda Tarot und Robert Capa in<br />
Paris. Fotografiert von Fred Stein.<br />
„Die Wahrheit<br />
ist das beste Bild“<br />
Der ungarisch-jüdische Fotograf Robert Capa<br />
erlangte Weltruhm als Kriegsberichterstatter.<br />
Aber er widmete sich auch humoristisch-humanistischen<br />
Fotografien jenseits des Krieges.<br />
Ruhig, dezent und architektonisch<br />
balanciert wirkt die Villa<br />
Bassi Rathgeb auf jene, die sich<br />
ihr nähern. Das städtische Museum<br />
(Museo Civico) des beschaulichen<br />
norditalienischen Kurorts Abano Terme<br />
ist hier untergebracht. Zum bevorstehenden<br />
110. Geburtstag und 68. Todestag war<br />
hier bis vor Kurzem eine Ausstellung jenem<br />
Mann gewidmet, der alles andere als<br />
ruhig und ausgeglichen war: Robert Capa,<br />
geboren 1913 in Budapest als André Ernö<br />
Friedmann, zählt zu den besten Fotoreportern<br />
des 20. Jahrhunderts – und zwar<br />
als Kriegsberichterstatter. Seine große Bekanntheit<br />
verdankt er seinen Aufnahmen<br />
von Menschen im Krieg, kämpfend oder<br />
leidend. Viele seiner Fotografien sind im<br />
öffentlichen Bewusstsein eingraviert und<br />
Von Marta S. Halpert<br />
können, ohne zu übertreiben, als Ikonen<br />
des kollektiven Bildgedächtnisses<br />
bezeichnet werden: Einzelne seiner Aufnahmen<br />
stehen als Synonym für den Spanischen<br />
Bürgerkrieg (1936–1939), die Landung<br />
der Alliierten am 6. <strong>Juni</strong> 1944 oder<br />
die Geburt des jüdischen Staates, dessen<br />
Entwicklung Capa von 1948 bis 1950<br />
in mehreren Reisen dokumentierte.* Bis<br />
er selbst Opfer eines Krieges wurde: Im<br />
Auftrag des Life Magazins soll er am 25. Mai<br />
1954 die Evakuierung verwundeter Soldaten<br />
aus Dien Bien Phu in Vietnam fotografieren.<br />
Dabei tritt er auf eine Antipersonenmine<br />
und stirbt mit 40 Jahren. Seine<br />
letzten Fotografien zeigen einen Minensuchtrupp<br />
bei der Arbeit sowie jenen Wall,<br />
auf dem Capa kurz nach der Aufnahme<br />
auf die tödliche Mine tritt.<br />
Doch es gab auch den humorvollen,<br />
scharfsinnigen Capa, der seine Kamera<br />
auf ganz andere Situationen des Lebens<br />
richtete. Vornehmlich diesem Aspekt widmete<br />
sich die Ausstellung Robert Capa – Fotografie<br />
oltre la guerra (Fotografien jenseits des<br />
Krieges). Im derzeitigen Alltag – angesichts<br />
des grausamen Krieges mitten in Europa<br />
– beherrschen einen zwei Gedanken: Man<br />
freut sich zwar über die Ablenkung und<br />
die schönen Seiten in Capas Leben. Doch<br />
plötzlich zuckt man in der Erkenntnis zusammen,<br />
in welcher Lebensgefahr Reporter<br />
und Fotografen in früheren und gegenwärtigen<br />
Kriegen arbeiten.<br />
Robert Capa, als zweiter von drei Söhnen,<br />
in eine jüdische Schneiderfamilie geboren,<br />
entwickelt schon sehr früh ein politisches<br />
Gewissen und engagiert sich im<br />
linken Spektrum. Bereits mit 18 Jahren<br />
muss er ins Gefängnis, weil er gegen den<br />
ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy<br />
demonstriert hat. Nach kurzer Haft wird er<br />
1931 vor die Wahl gestellt, Ungarn zu verlassen<br />
oder vor Gericht gestellt zu werden.<br />
Capa emigriert nach Berlin und beginnt ein<br />
Studium der Journalistik an der Deutschen<br />
Hochschule für Politik. Nebenbei jobbt er<br />
als Fotolaborant beim Ullstein Verlag.<br />
Sein Talent für Fotografie entdeckten<br />
zwei Persönlichkeiten, die in der Folge auch<br />
zu Capas eifrigen Förderern zählten: Die<br />
ungarisch-jüdische Fotografin Éva Besnyö<br />
lebte im selben Budapester Haus wie die Familie<br />
Friedmann. Sie motivierte ihn, beim<br />
Deutschen Photodienst (Dephot) als Assistent<br />
anzuheuern. Diese Fotoagentur gründete<br />
und leitete der Wiener Simon Guttmann,<br />
der 1933 nach Frankreich und später<br />
nach London emigrierte, wo er eine eigene<br />
Pressefotoagentur betrieb. Bereits 1932<br />
sorgte Guttmann dafür, dass Capa seine<br />
ersten Fotos im Berliner Weltspiegel, veröffentlichte:<br />
Diese zeigen Leo Trotzki bei einer<br />
Rede in Kopenhagen.<br />
Mit der Machtübernahme der Nazis in<br />
Berlin floh Robert Capa zuerst nach Wien<br />
und schließlich nach Paris. Dort begannen<br />
sich im Herbst 1934 die privaten und professionellen<br />
Verbindungen zu verflechten.<br />
Die Stuttgarter Sozialistin und Jüdin Gerta<br />
Pohorylle war ebenfalls nach Paris geflohen,<br />
wo sie bald darauf Capas Schülerin und Lebensgefährtin<br />
wurde.<br />
Sie hatte auch die Idee zur Namensänderung,<br />
um sich für die künstlerische Karriere<br />
interessanter zu machen. Robert nahm<br />
den Namen seines Bruders Cornell Capa<br />
© Fred Stein / dpa Picture Alliance / picturedesk.com<br />
© Wikipedia/GerdaTaro<br />
44 wına | Mai <strong>2022</strong><br />
* Aus urheberrechtlichen Gründen können wir leider keine Fotos von Robert Capa hier veröffentlichen.<br />
juni22.indb 44 07.06.22 13:52
Ikone des Bildgedächtnisses<br />
Robert Capa im Mai 1937. Fotografiert<br />
von Gerda Tarot, die kurz danach<br />
von einem Panzer getötet wird.<br />
© Fred Stein / dpa Picture Alliance / picturedesk.com<br />
© Wikipedia/GerdaTaro<br />
an – und aus Gerta Pohorylle wurde Gerda<br />
Taro. In Paris freundeten sich die beiden<br />
mit den bereits arrivierteren Fotografen-<br />
Kollegen André Kertész, David „Chim“ Seymour<br />
und Henri Cartier-Bresson an.<br />
Bereits 1935, also ein Jahr vor dem Militärputsch<br />
in Spanien, entsandte Fotoagent<br />
Simon Guttmann das junge Paar gemeinsam<br />
mit Chim Seymour auf eine Fotoreportage<br />
nach Spanien. Mit Ausbruch der<br />
Kämpfe 1936 kehrten sie als politisierte<br />
Menschen in das geplagte Land zurück.<br />
In den folgenden Monaten fotografierten<br />
Taro und Capa die Gräuel des Spanischen<br />
Bürgerkrieges für verschiedene internationale<br />
Zeitungen. Taro war damit die erste<br />
Frau, die an einer Kriegsfront fotografierte.<br />
Am 25. Juli 1937 wurde sie während<br />
eines Angriffs der deutschen Legion Condor<br />
von einem Panzer überrollt, als sie aus<br />
der Kampfregion flüchten wollte. Ihr Trauerzug<br />
in Paris wurde von Pablo Neruda und<br />
Louis Aragon angeführt und artete in eine<br />
Protestkundgebung gegen den Faschismus<br />
aus. Niemand Geringerer als Alberto Giacometti<br />
gestaltete ihren Grabstein.<br />
Capas Aufnahmen aus Spanien begründeten<br />
seinen weltweiten Ruhm; insbesondere<br />
die Fotografie eines fallenden republikanischen<br />
Soldaten im Augenblick seines<br />
Todes. Dieses bekannteste Einzelbild des<br />
Bürgerkrieges avancierte zu einer fotografischen<br />
Ikone des 20. Jahrhunderts. Nach<br />
dem tragischen Tod Taros reiste Capa 1938<br />
nach China und berichtete über den chinesischen<br />
Widerstand gegen die japanische<br />
Besatzung. Im Sommer 1939, kurz<br />
vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, fand<br />
noch die Tour de France statt – und im Auftrag<br />
von Paris Match fotografierte Capa diese<br />
Rumpfveranstaltung mit lediglich 79 Teilnehmern.<br />
„Ungewöhnlich für die damalige Zeit<br />
entschied sich Capa, mit einer kleinen<br />
35-mm-Contax-Kamera zu arbeiten, die<br />
ihm sowohl die Möglichkeit gab, viel mehr<br />
Bilder zu schießen wie auch schneller und<br />
flexibler zu sein“, erzählt uns der Ausstellungstext,<br />
der damit auch Capas Credo untermauert:<br />
„Wenn deine Bilder nicht gut genug<br />
sind, warst du nicht nah genug dran!“<br />
Ingrid Bergman und Hollywood. Als es in Europa<br />
brenzlig wird, übersiedelt Capa 1939<br />
in die USA, wo er für die Zeitschriften Time,<br />
Life und Collier’s unter anderem in Nordafrika,<br />
in Sizilien sowie am Omaha Beach<br />
bei der ersten Landung alliierter Soldaten<br />
in der Normandie am 6. <strong>Juni</strong> 1944 fotografiert<br />
und dokumentiert. Nach dem Krieg<br />
erhält er die amerikanische Staatsbürgerschaft,<br />
kehrt aber immer wieder nach Europa<br />
zurück. Im <strong>Juni</strong> 1945 trifft er in Paris<br />
Ingrid Bergman, die zur Unterhaltung<br />
der alliierten Truppen auf Europa-Tournee<br />
ist. Eine große und intensive Liebesgeschichte<br />
entsteht und bringt Capa unversehens<br />
nach Hollywood, wo Bergman u. a.<br />
Filme mit Alfred Hitchcock dreht. In dieser<br />
Zeit entstehen nicht nur atemberaubende<br />
Aufnahmen des verliebten Capa von<br />
der Schauspielerin, sondern auch die witzigsten<br />
Fotos von diversen Hollywood-Größen.<br />
„Hollywood ist die größte Scheiße, in<br />
die ich je getreten bin.“ (Dieses Robert Capa<br />
zugeschriebene Zitat stammt aus dem Dokumentarfilm<br />
In Love and War.)<br />
1947 zerbricht die Liebesbeziehung,<br />
Capa kehrt nach Paris zurück. Gemeinsam<br />
mit Henri Cartier-Bresson, David Seymour<br />
und George Rodger gründet er Magnum,<br />
die renommierteste Fotoagentur der Welt.<br />
Als Genossenschaft organisiert, ist sie im<br />
Besitz ihrer Mitglieder. Es war ein Zusammenschluss<br />
von humanistisch gesinnten<br />
Menschen, die sowohl die Rechte der Fotografen<br />
wie auch den Respekt und das Verantwortungsgefühl<br />
gegenüber der Öffentlichkeit<br />
zum Ziel hatten. Bis heute haben<br />
108 Fotografen die Geschichte dieser Agentur<br />
geschrieben, u. a. auch die Österreicher<br />
Ernst Haas, Erich Lessing und Inge Morath.<br />
Capa fotografiert weiter, vermeidet jedoch<br />
zunehmend die Kriegsberichterstattung.<br />
Er reist mit dem amerikanischen<br />
Schriftsteller John Steinbeck im Auftrag<br />
der New York Herald Tribune einen Monat lang<br />
durch die Sowjetunion, um das Leben des<br />
einfachen Volkes nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
zu dokumentieren. Sie besuchen<br />
Moskau, Stalingrad, Georgien, die Ukraine.<br />
„Wenn deine Bilder<br />
nicht gut genug<br />
sind, warst du nicht<br />
nah genug dran!“<br />
Robert Capa<br />
Im Mai und <strong>Juni</strong> 1948 und erneut 1949<br />
und 1950 begleitet er die Gründung des<br />
Staates Israel mit seiner Kamera und wird<br />
Augenzeuge der ersten kriegerischen Auseinandersetzungen.<br />
Er fotografiert zusammen<br />
mit dem israelischen Kollegen<br />
Rudi Weissenstein die israelische Unabhängigkeitserklärung<br />
in Tel Aviv durch<br />
David Ben-Gurion. Unvergesslich sind<br />
seine Fotos von der Ankunft jüdischer<br />
Flüchtlinge im Hafen von Haifa. Das Foto<br />
einer jungen Frau im weißen Kleid, die<br />
einen Koffer schultert, während sich ein<br />
kleiner Junge an ihrem Rockzipfel festhält,<br />
wurde zur Ikone des zionistischen Narrativs.<br />
Auf Drängen des Life Magazins kehrt<br />
Capa zur gefährlichen Kriegsberichterstattung<br />
zurück: 1954 im Ersten Indochinakrieg<br />
braucht die Redaktion dringend<br />
einen Fotojournalisten – bei diesem Einsatz<br />
kommt er ums Leben.<br />
Ihm zu Ehren stiftete der Overseas Press<br />
Club of America 1955 die Robert Capa Gold<br />
Medal, mit der jährlich die beste Fotoreportage<br />
ausgezeichnet wird, die ungewöhnliche<br />
Einsatzbereitschaft und besonderen<br />
Mut erfordert.<br />
Um das fotografische Erbe von Robert<br />
Capa – rund 70.000 Negative – wie auch anderer<br />
Fotografen zu bewahren, gründete<br />
sein Bruder Cornell Capa 1966 den International<br />
Fund for Concerned Photography.<br />
Für diese Sammlung richtete er 1974<br />
das International Center of Photography in<br />
New York ein. In seinem Nachlass befinden<br />
sich seit 2008 auch über 3.000 lange verschollen<br />
geglaubte Negative von Capa, Taro<br />
und Seymour aus dem Spanischen Bürgerkrieg,<br />
die nach dem Krieg von einem General<br />
nach Mexiko in Sicherheit gebracht<br />
worden waren. Zum Glück, denn Robert<br />
Capas Motto bleibt gültig: „Die Wahrheit<br />
ist das beste Bild.“<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
juni22.indb 45 07.06.22 13:52
INTERVIEW MIT RAFAEL SELIGMANN <br />
„Die Lust an<br />
der Provokation<br />
ist nach wie vor da“<br />
Die Aufzeichnungen seines früh verstorbenen Vaters<br />
waren für Rafael Seligmann die Initialzündung<br />
für seinen autobiografischen Roman Rafi, Judenbub, erzählt<br />
der Autor anlässlich der Buchpräsentation<br />
im Wiener Jüdischen Museum. Interview:<br />
Anita Pollak<br />
© HORSTMANN,KAI / Action Press / picturedesk.com<br />
46 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 46 07.06.22 13:52
Tikkun Olam<br />
Rafael Seligmann, geboren 1947 in Jaffa, Israel,<br />
ist Schriftsteller, Historiker, Publizist und Politologe.<br />
Sein Roman Rubinsteins Verstei gerung gehörte 1988<br />
zu den ersten einer Reihe jüngerer deutsch-jüdischer<br />
Gegenwarts romane. Es folgten zahlreiche weitere<br />
literarische Werke. Darüber hinaus ist er Sachbuchautor<br />
und Gründer und Herausgeber der Jewish<br />
Voice from Germany.<br />
© HORSTMANN,KAI / Action Press / picturedesk.com<br />
Als „Landjude“ in einem deutschen<br />
Kaff gehörte Vater Ludwig vor dem<br />
Krieg einer heute ausgestorbenen,<br />
besser gesagt vernichteten Spezies an. Auch<br />
um daran zu erinnern, was diese Generation<br />
für das deutsche Judentum geleistet hat und<br />
diese Geschichte für die nächste Generation<br />
zu bewahren, habe er seine Familientrilogie<br />
geschrieben, erklärte Seligmann in einem Gespräch<br />
mit seinem Sohn Jonathan.<br />
WINA: Wie ist das für Sie, wenn Sie Ihr Sohn moderiert?<br />
Rafael Seligmann: Toll! Er lebt ja in Wien<br />
und ist meinem Herzen besonders nah. Ich<br />
hab aber drei Kinder, meine Tochter lebt in<br />
Israel, mein Sohn Jehuda Ludwig, benannt<br />
nach meinem Vater, in der Schweiz.<br />
Sie haben bereits 2010 Ihre Autobiografie Deutschland<br />
wird dir gefallen vorgelegt und jetzt nochmals<br />
Ihre Kindheitserfahrungen als dritten Teil der<br />
Familientrilogie erzählt. Betrachten Sie Ihr eigenes<br />
Leben in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte<br />
als beispielhaft?<br />
I Natürlich bin ich deutscher Jude und ein Teil<br />
dieser 1.700 Jahre alten Geschichte. Aber ich<br />
bin ein eigener Mensch mit meiner individuellen<br />
Geschichte, und dieses Spannungsverhältnis<br />
zwischen mir als Person, dem Judentum<br />
dieses Landes, der jüdischen Geschichte<br />
des deutschen Sprachraums, überhaupt der<br />
deutschen Gesellschaft, das ist der Zweck des<br />
Buches, plus dem Vergnügen und dem Leid<br />
des Schreibens.<br />
chern, Fernseh- und Streaming-Serien. Nun, da sich<br />
die Welt verändert hat, Stichwort Zeitenwende, ist<br />
das vielleicht auch eine Art Rückzug ins Private?<br />
I Man kann sich nicht aus der Geschichte<br />
davonstehlen, wir sind und bleiben ein Teil<br />
der Geschichte, und so sehe ich mich auch.<br />
Wir stehen in einer globalen, einer europäischen<br />
und im deutschen Sprachraum in einer<br />
deutsch-jüdischen Geschichte. Auch wenn<br />
man es will, kann man sich nicht vollkommen<br />
ins Private zurückziehen.<br />
Unsere Eltern sind tot, und wir, die s. g. Zweite Generation,<br />
auch nicht mehr die Jüngsten. Besteht da<br />
auch eine Art Verpflichtung zur Zeitzeugenschaft,<br />
d. h. die Geschichte, wie wir Sie erfahren haben,<br />
weiterzugeben, bevor sie ganz vergessen wird?<br />
I Pflicht ist ein strenges Wort. Mir macht es<br />
Spaß, auch wenn es manchmal weh tut. Ich<br />
glaube, das Leben jedes Menschen hat einen<br />
Zweck, und meiner Ansicht ist dieser Sinn<br />
auch, Gutes zu tun, das ist der Kern des jüdischen<br />
Gesetzes: Liebe deinen Nächsten wie<br />
dich selbst.<br />
Ich glaube nicht, dass die Geschichte vergessen<br />
wird, aber damit die individuelle Geschichte<br />
nicht vergessen wird, hab ich unter<br />
anderem dieses Buch geschrieben. Ein<br />
Sachbuch ist schnell geschrieben, aber wie<br />
ein Mensch fühlt, wenn seine Familie ermordet<br />
wird, das darf nicht vergessen werden.<br />
Aber wir leben hier und müssen uns mit den<br />
Menschen versöhnen, wir müssen, was im Judentum<br />
sehr wichtig ist, die Welt verbessern:<br />
Tikkun Olam. Als Einzelner und als Gemeinschaft.<br />
Sie gelten als Israel-Experte und gleichzeitig als<br />
Experte fürs deutsche Judentum. Sind Sie noch<br />
immer beiden Welten gleichermaßen verbunden?<br />
I Ja, doch. Israel ist heute das Zentrum des Judentums,<br />
ich bin da geboren, und es ist meine<br />
Heimat. Meine kulturelle Heimat ist Deutschland,<br />
und beides kann vereint werden. Israel<br />
ist ein herrliches Experiment, einer der<br />
wenigen Staaten, in denen Demokratie und<br />
Rechtsstaatlichkeit herrschen, mit allen mög-<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
Es scheint eine Zeit für Familiensagas zu sein, in Bü-<br />
juni22.indb 47 07.06.22 13:52
Altersmilder Provokateur<br />
lichen Fehlern, und darauf sollten alle stolz<br />
sein. Und zur Not ist es das letzte Asyl.<br />
Sie galten lange Zeit auch als Provokateur. Sie<br />
haben gern und viel provoziert, legt sich die Lust<br />
„Wenn man früher<br />
über jüdischen Sex<br />
geschrieben hat,<br />
war man der Super-<br />
Provokateur.“<br />
Rafael Seligmann<br />
I Das Judentum ist ein sehr dynamisches, und<br />
das von <strong>2022</strong> ist nicht mehr das Judentum von<br />
1958, aber auch die deutsche Gesellschaft hat<br />
sich gewandelt, denn in den Städten hat die<br />
Hälfte der Bevölkerung Migrationshintergrund.<br />
Das Judentum wandelt sich,<br />
und wir müssen uns wandeln, und<br />
vielleicht ist diese Internationalität<br />
einer der Gründe, weshalb das<br />
Judentum so erfolgreich war: weil<br />
man sich immer wieder neu anpassen<br />
und neu erfinden musste. Und<br />
gleichzeitig das ewige Gesetz hatte.<br />
Also der bleibende Wert der Humanität<br />
und die Notwendigkeit, sich an<br />
andere Gesellschaften anzupassen.<br />
Rafi, Judenbub.<br />
Die Rückkehr der<br />
Seligmanns nach Deutschland.<br />
Im dritten Teil der Familientrilogie blickt der<br />
Autor darauf zurück, was seine Eltern und<br />
er im Deutschland der Adenauer-Zeit erlebten.<br />
Mit welchen Vorurteilen der zehnjährige<br />
„Judenbub“ vor allem in der Schule<br />
konfrontiert wurde, welchem Antisemitismus<br />
seine Eltern in ihrer ehemaligen Heimat<br />
begegneten und wie sie als Außenseiter<br />
in die Isolation gedrängt wurden.<br />
Über die Familiengeschichte hinaus, ist<br />
das Buch ein Sittenbild der vielfach von<br />
kleinbürgerlichem Mief und Spießertum<br />
geprägten deutschen Nachkriegszeit, in<br />
der von Vergangenheitsbewältigung noch<br />
keine Rede war. Unsentimental, lakonisch<br />
und oft witzig erzählt der Autor aus der<br />
dreifachen Ich-Perspektive: seiner eigenen,<br />
der seiner Mutter und der seines Vaters. Ein<br />
Stück deutsch-jüdischer Zeitgeschichte.<br />
Langen-Müller/Herbig <strong>2022</strong>,<br />
400 S., € 25,70<br />
daran mit dem Alter, mir kommt vor, Sie sind altersmilde<br />
geworden?<br />
I Ich bin überhaupt nicht altersmilde geworden,<br />
dagegen verwahre ich mich (lacht). Wenn<br />
man früher über jüdischen Sex geschrieben<br />
hat, war man der Super-Provokateur, wenn<br />
man heute beschreibt, wie Menschen sich lieben,<br />
ist das was Selbstverständliches. Ich hab<br />
meine Meinung nicht geändert, und die Lust<br />
an der Provokation ist nach wie vor da.<br />
Was muss man heute noch sagen oder schreiben,<br />
um überhaupt zu provozieren?<br />
I Eine gute Frage, denn heute heißt es ja,<br />
anything goes. Provokation um der Provokation<br />
willen finde ich blöd. Aber die größte<br />
Provokation ist es immer, wenn man die<br />
Wahrheit sagt.<br />
Das Judentum in Deutschland hat sich seit Ihrer<br />
Jugend soziologisch total verändert. Russische<br />
Immigranten und auch Einwanderer aus Israel<br />
sind in großer Zahl dazugekommen und teilweise<br />
dominant. Wie sehen Sie das, ist das noch Ihr<br />
deutsches Judentum?<br />
Wie wird sich Ihrer Ansicht nach die Situation der<br />
europäischen Juden durch den Krieg verändern,<br />
nachdem sich bereits die Anzeichen mehren, dass<br />
Selenskyjs Judentum immer mehr zum unschönen<br />
Thema wird? Der Antisemitismus boomt, haben<br />
Sie da auch Angst?<br />
I Ich hab keine Angst, ich hab in Israel mehrere<br />
Kriege erlebt. Wir haben in Europa bisher<br />
in einer unnormalen Zeitspanne des Friedens<br />
gelebt und jetzt normalisiert sich das. In<br />
Kriegen und Krisen sind Juden oft die Opfer.<br />
Aber heute gibt es einen Staat Israel, und aus<br />
der Ukraine gehen viele Flüchtlinge nach Israel.<br />
Natürlich wittern die Antisemiten Morgenluft,<br />
aber wir wollen ihnen in die Suppe<br />
spucken.<br />
Berlin – Tel Aviv – Berlin sind die Stationen Ihrer<br />
Familie. Haben Sie in dem Zusammenhang daran<br />
gedacht, für immer zurück nach Israel zu gehen?<br />
I Mit 75 ist für immer eine relative Entscheidung,<br />
aber wenn „Führer“ wie Putin und Le<br />
Pen in Europa das Sagen haben werden, dann<br />
ist Israel der Platz, an dem man als Jude bleiben<br />
muss.<br />
48 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 48 07.06.22 13:52
FARBE,<br />
LANDSCHAFT,<br />
ATMOSPHÄRE<br />
© Courtesy of and © The Gordon Parks Foundation<br />
Die Kunsthalle Krems zeigt Gemälde<br />
und Zeichnungen von<br />
Helen Frankenthaler,<br />
einer der wichtigsten Repräsentantinnen<br />
des amerikanischen<br />
abstrakten Expressionismus.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Gordon Parks: Untitled – Helen Frankenthaler, umgeben von ihrer Malerei, New York, 1957.<br />
wına-magazin.at<br />
49<br />
juni22.indb 49 07.06.22 13:52
Thema<br />
„Ihr Werk wurde<br />
im deutschsprachigen<br />
Raum sehr<br />
selten umfassend<br />
gezeigt.“<br />
Florian Steininger<br />
Es sind feine Gespinste auf Papier<br />
und mächtige Gemälde. Konkrete<br />
Gegenstände, Orte, Menschen<br />
findet man wohl nicht<br />
auf den Werken von Helen Frankenthaler.<br />
Aber ihre abstrakten Farbkompositionen<br />
lassen immer wieder Landschaften<br />
erahnen, geben das Gefühl von Sonne,<br />
Hitze und Flirren der Luft wider, führen<br />
die Betrachterinnen und Betrachter ihrer<br />
Bilder in andere Welten, meist mit einer<br />
positiven Grundstimmung. Kaum einmal<br />
wird es düster oder derb.<br />
Florian Steininger, künstlerischer Direktor<br />
der Kunsthalle Krems und Kurator<br />
der Ausstellung, hat vor drei Jahren mit<br />
den Vorbereitungen für die Frankenthaler-<br />
Schau begonnen. Er selbst hat sich schon<br />
im Studium intensiv mit den amerikanischen<br />
„abstract expressionists“ befasst, und<br />
man sieht ihm die Freude an, dass es gelungen<br />
ist, mehr als 70 Arbeiten Frankenthalers<br />
nach Krems zu bekommen.<br />
„Ihr Werk wurde im deutschsprachigen<br />
Raum sehr selten umfassend gezeigt“,<br />
erzählt der österreichische Kunsthistoriker.<br />
Es ist auch in europäischen Museen<br />
und Sammlungen kaum vertreten. Le-<br />
© <strong>2022</strong> Helen Frankenthaler Foundation, Inc. / Bildrecht Wien, Foto © Jim Banks; Reinhard Engel<br />
50 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 50 07.06.22 13:52
Körperlicher Einsatz<br />
Helen Frankenthaler.<br />
Malerische Konstellationen.<br />
bis 30.10.<strong>2022</strong> i. d. Kunsthalle Krems<br />
kunsthalle.at<br />
© <strong>2022</strong> Helen Frankenthaler Foundation, Inc. / Bildrecht Wien, Foto © Jim Banks; Reinhard Engel<br />
diglich ein großes Gemälde findet sich<br />
im Wiener Museum Moderner Kunst –<br />
und bildet jetzt den Abschluss der Ausstellung<br />
in Krems. Dazu kommt noch<br />
eine kleine Arbeit aus Privatbesitz eines<br />
österreichischen Sammlers. Hauptleihgeberin<br />
und Kooperationspartnerin der<br />
Ausstellung ist die Helen Frankenthaler<br />
Foundation in New York, erzählt Steiniger,<br />
der die Schau kuratiert hat – eine Kooperation<br />
mit dem Museum Folkwang in<br />
Essen, das ab Jahresende unter demselben<br />
Titel die beinahe idente Werkauswahl<br />
zeigen wird.<br />
Wer war Helen Frankenthaler?<br />
Sie wurde 1928 in New York in eine liberale<br />
jüdische großbürgerliche Familie<br />
hineingeboren. Ihr Vater Alfred Frankenthaler<br />
urteilte als Richter am Obersten<br />
Gericht des Staates New York, ihre<br />
Mutter, eine geborene Löwenstein, war<br />
als kleines Kind mit ihrer Familie aus<br />
Deutschland in die USA gekommen. Die<br />
Familie lebte auf der eleganten Upper<br />
East Side, und Helen konnte ebenso wie<br />
ihre beiden Schwestern studieren.<br />
Sie absolvierte erst eine so genannte<br />
Prep School für wohlhabende Kinder in<br />
Sie experimentierte auf dem Papier, um das dann später<br />
in großen Gemälden umzusetzen. Billboard Study, 1966.<br />
New York, die Dalton School, und besuchte<br />
dann das Bennington College in<br />
Vermont, wo sie Malerei studierte. Das<br />
setzte sie dann nach ihrem Abschluss mit<br />
Privatstunden fort, unter anderem bei<br />
Hans Hofmann. In Krems sieht man ein<br />
ganz frühes Werk der jungen Künstlerin,<br />
das offensichtlich in der Tradition von<br />
Pablo Picasso und George Braque steht.<br />
Doch dann wandte sie sich anderen<br />
Vorbildern und Strömungen zu. Es war<br />
vor allem Jackson Pollock, der sie mit seinen<br />
großformatigen abstrakten Tropfbildern<br />
beeinflusste, sie besuchte ihn wiederholt<br />
in seinem Atelier. Und sie war<br />
im Frühjahr 1951 bereits bei einer großen<br />
Ausstellung, der 9th St. Exhibition<br />
of Paintings and Sculpture, vertreten,<br />
die als Gründungsausstellung des New<br />
Yorker abstrakten Expressionismus gilt.<br />
Diese wurde von 61 Männern und nur<br />
elf Frauen bestritten. Für die 23-Jährige<br />
war es ein bedeutender Schritt, hier dabei<br />
sein zu können, etwa neben Lee Krasner,<br />
der Frau von Jackson Pollock.<br />
Nun findet sie auch ihren Stil. Kurator<br />
Steininger erzählt dazu: „1952 entstehen<br />
Frankenthalers revolutionäre, großformatige<br />
Soak-Stain-Bilder. Sie breitet<br />
dafür unbehandelte Leinwände auf dem<br />
Boden aus und trägt dann verdünnte<br />
Ölfarbe mit unterschiedlichen Werkzeugen<br />
auf: direkt aus Farbdosen geschüttet,<br />
mit Pinseln, Schwämmen, Wischmops<br />
oder anderen Mitteln.“ Dabei bewegt sie<br />
sich auch direkt im Bild, kommt damit<br />
schon in die Näher des Action Paintings.<br />
Ölgemälde mit Kohlestrichen. Aus dem Jahr<br />
1952 datiert auch eines ihrer berühmtesten<br />
Werke: das in Pastellfarben gehaltene<br />
Ölgemälde mit Kohlestrichen Mountains<br />
and Sea. Es zeigt weder konkrete Berge<br />
noch das Meer und fasziniert dank seiner<br />
kräftigen Dynamik. 1955 wird ein erstes<br />
Werk von Frankenthaler vom Museum<br />
of Modern Art angekauft.<br />
Privat war sie in diesen Jahren mit<br />
dem bekannten Kunstkritiker Clement<br />
Greenberg liiert, er galt als Spezialist für<br />
die abstrakten Expressionisten. Nach der<br />
Trennung heiratete sie den Maler Robert<br />
Motherwell, das Paar ließ sich Anfang der<br />
1970er-Jahre scheiden.<br />
Frankenthaler, die 2011 starb, blieb<br />
zwar ihrem grundsätzlichen Malstil treu,<br />
änderte aber immer wieder ihre Perspektiven<br />
und Schwerpunkte. So findet sich<br />
etwa eine Phase mit streng horizontal gegliederten<br />
abstrakten Gemälden, die aber<br />
dennoch an Landschaften erinnern. „Sie<br />
hat gesagt, sie spielt auch mit dem Zufall,<br />
sie experimentiert auf dem Papier,<br />
um das dann später in großen Gemälden<br />
umzusetzen“, erläutert Steininger.<br />
Er hat sie zu seinem Bedauern nicht<br />
mehr persönlich kennen gelernt, „aber<br />
man weiß, dass sie eine starke Persönlichkeit<br />
war, sehr selbstbewusst.“ Die gefühlvoll<br />
präsentierten Werke von Helen<br />
Frankenthaler werden mit einer<br />
Schwarz-Weiß-Fotoserie des in Wien geborenen<br />
Magnum-Fotografen Ernst Haas<br />
ergänzt, der sie im Jahr 1969 bei ihrer Arbeit<br />
im Atelier begleiten durfte. Höchste<br />
Anspannung, dann wieder Nachdenklichkeit,<br />
schließlich körperlicher Einsatz<br />
beim Beugen über die großen Leinwände<br />
werden über die Jahrzehnte hinweg frisch<br />
ins Heute transponiert und wieder zum<br />
künstlerischen Leben erweckt.<br />
wına-magazin.at<br />
51<br />
juni22.indb 51 07.06.22 13:52
WINA WERK-STÄDTE<br />
Der goldene Ring aus<br />
dem Schatz von Colmar<br />
wird im Musée de Cluny in<br />
Paris aufbewahrt.<br />
Colmar<br />
Die jüdische Trauung, hebräisch<br />
Chuppa, ist gespickt mit symbolträchtigen<br />
Ritualen. Im Mittelalter<br />
spielte ein besonderer Hochzeitsring<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Von Esther Graf<br />
er Ringwechsel, der heute bei<br />
keiner Trauung fehlen darf,<br />
hat im Judentum seinen Ursprung<br />
im „Erwerb“ der<br />
Braut. Die Halacha, das jüdische<br />
Religionsgesetz, sieht<br />
vor, dass der Bräutigam die<br />
Braut mit Edelmetall „erwirbt“ und sie<br />
dadurch abgesichert ist. Wenn es sich dabei<br />
um einen Ring handelt, wie es sich im<br />
Mittelalter etabliert hat, muss dieser einen<br />
bestimmten Wert haben. In der Regel<br />
war er aus Gold, musste am Stück gegossen<br />
sein und durfte keine Schmucksteine<br />
haben – Vorsichtsmaßnahmen, um einen<br />
Betrug zu vermeiden, der verheerende<br />
Folgen für die Rückabwicklung<br />
der unter falschen Voraussetzungen geschlossenen<br />
Ehe bedeutet hätte.<br />
Meistens waren diese besonders ausgeführten<br />
Hochzeitsringe im Eigentum<br />
einer jüdischen Gemeinde und wurden<br />
nur für die Zeremonie verwendet (und<br />
die Braut erhielt ein anderes Stück Edelmetall<br />
vom Bräutigam).<br />
Die beeindruckendsten Fundstücke<br />
haben einen Aufsatz in Form eines Hauses<br />
und tragen den Schriftzug „Masal<br />
tow“. Das Haus symbolisiert aber nicht<br />
das gemeinsame Heim, sondern erinnert<br />
an den Jerusalemer Tempel, dessen Zerstörung<br />
bis heute auch beim Zerbrechen<br />
eines Glases gedacht wird.<br />
Der goldene Ring aus dem Schatz von<br />
Colmar stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert<br />
und ist mit Emaileinlagen verziert.<br />
Auf einem mit Miniatursäulen versehenen<br />
sechseckigen gotischen Aufsatz<br />
befindet sich ein Pyramidendach mit der<br />
Inschrift „Masal tow“.<br />
COLMAR<br />
In der drittgrößten Stadt im Elsass leben Juden seit dem 13. Jahrhundert. Im Zuge der<br />
Pestpogrome 1349 wurde die jüdische Gemeinde ausgelöscht. Nach einer zaghaften<br />
Wiederansiedlung kam es 1512 zur endgültigen Vertreibung. Erst im Zuge der Französischen<br />
Revolution entstand eine florierende jüdische Gemeinde. Als das Elsass 1940 von<br />
den Nazis besetzt wurde, wurden die verbliebenen Juden deportiert und größtenteils<br />
ermordet. Heute leben in Colmar rund 1.000 Jüdinnen und Juden, deren Zentrum die<br />
1843 eingeweihte Synagoge bildet.<br />
© Marie-Lan Nguyen, 2009 Commons Wikimedia https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Jewish_wedding_ring_MNMA_Cl20658_n2.<br />
52 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 52 07.06.22 13:52
URBAN LEGENDS<br />
Betroffen ist<br />
die ganze Welt<br />
Rastlos taumelnd bewegen wir uns durch die gegenwärtigen<br />
Ambivalenzen und Unsicherheiten.<br />
ie letzten Wochen sind geprägt von einer<br />
täglichen Flut an Meldungen über<br />
neue Phasen des Gemetzels, unfassbare<br />
Kriegsverbrechen, Berichten über Einzelschicksale<br />
Geflohener, wiederkehrende<br />
Von Paul Divjak<br />
Helden-Storys. Unerträgliche Bilder der<br />
Zerstörung und des Mordens prägen unseren Alltag. Prominente<br />
britische Musiker musizieren in provisorischen Schutzräumen<br />
im Kriegsgebiet, und die Farben der Nationalfahne des<br />
überfallenen Landes zieren Profilfotos auf Social-Media-Accounts<br />
wie Gebäude europäischer Institutionen; Solidaritätsbekundungen<br />
und Verurteilungen des russischen Aggressors<br />
sind Grundtenor. Führende Intellektuelle treten für Aufrüstung<br />
und gegen blinden Pazifismus ein, andere versuchen sich<br />
an differenzierteren Analysen einer durch und durch verworrenen<br />
Situation.<br />
Die Europäische Union sieht sich mit einem Weltzustand<br />
konfrontiert, dem aktuell mit vehementer Militarisierung begegnet<br />
wird, während der ukrainische Präsident zum Coverstar<br />
renommierter Magazine avanciert und ihn deutsche Medien<br />
gar zu einer Filmplakatikone stilisieren – als wäre der Krieg<br />
eine kinematografische Inszenierung à la Hollywood.<br />
Gegenwärtig drohen Hungerkatastrophen, Versorgungsengpässe,<br />
Schieflagen in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und<br />
ökologischen Gefügen, die noch gar nicht absehbar sind. Betroffen<br />
ist die ganze Welt. So gibt es beispielsweise in Thailand<br />
Regionen, die nach dem Covid-Desaster nunmehr weiterhin<br />
touristenleer bleiben. Auf Phuket liegen ganze Orte brach; Hotels,<br />
Lokale und Läden sind verlassen – es fehlen die ukrainischen<br />
und russischen Touristen – und damit das Einkommen<br />
vieler Großfamilien. Im Zentrum Wiens wiederum wurde noch<br />
nie so viel ukrainisch und russisch gesprochen wie dieser Tage.<br />
Und wie man hört, hat der Zuzug aus dem Osten bereits Auswirkungen<br />
auf das Portfolio der großen Internetdatingplattformen<br />
und Partnerbörsen. Von der grausamen Realität des Human<br />
Trafficking ganz zu schweigen.<br />
Neben jenen, die spenden oder sich zivilgesellschaftlich engagieren,<br />
die demonstrieren, Displaced Persons helfen, Wohnraum<br />
für Geflohene zur Verfügung stellen – auch hier blüht<br />
freilich ein grauer Markt, in dem Zwischenhändler vom Ausgeliefertsein<br />
und Leid profitieren –, ist aktuell nicht selten ein<br />
beschleunigtes „Business-as-usual“ zu beobachten. In unsicheren<br />
Zeiten scheint das getriebene Beschäftigtsein Halt zu<br />
„We want to say that any form of evil<br />
and aggression makes people cry,<br />
that´s why U CRY NOW” <br />
Betty, Miriam & Siona Endale aka FO SHO*<br />
geben: „Arbeiten bis zum Umfallen“ (Der Spiegel) als Versuch,<br />
der empfundenen Ohnmacht angesichts von postpandemischer<br />
Erschütterung, Klimaveränderungen, allgegenwärtigem<br />
militärischem Wahnsinn (der „Logik des Krieges“), menschlichem<br />
Leid und offensichtlich aus dem Lot geratener und bedrohter<br />
gewohnter Lebenswelten ein Stück weit Kontrollvermögen<br />
entgegenzuhalten? Rastlos taumelnd bewegen wir uns<br />
durch die gegenwärtigen Ambivalenzen und Unsicherheiten.<br />
„Oy oy oy Belz, mayn shtetele Belz …“<br />
Und dann begegnen wir unvermittelt zwei beeindruckenden<br />
jungen Menschen, die mit den ÖBB reisen. Ihr Ziel ist Venedig.<br />
Der eine trägt lange Haare, Hut, Strümpfe, Zizit und einen<br />
langen gestreiften Mantel, der andere eine weiße gestrickte<br />
Kippa, wie in einem 1970er-Kibbuz, und ein dunkles Sweatshirt<br />
mit dem aufgestickten Symbol einer lodernden Flamme<br />
über seinem Tallit, dazu Jeans. Sie haben ihre Gebetsbücher<br />
auf dem Tisch im Großraumwaggon platziert, sprechen einen<br />
Segensspruch, schneiden konzentriert den Brotlaib an,<br />
essen, trinken. Sie widmen sich innig dem Gebet, lachen und<br />
singen fröhlich laut. Dann folgt ein gemeinsames Backgammon-Spiel.<br />
Das Smartphone wird nur fürs gezielte Fotografieren<br />
der vorbeiziehenden Landschaften und für ein Telefonat<br />
mit der Mutter zur Hand genommen. „Mayn heymele,<br />
dort vo ikh hob mayne kindishe yorn farbrakht …“ Ein Jegliches<br />
hat seine Zeit, und die Aufmerksamkeit gilt jeweils ganz<br />
und gar einer Sache. Was von den beiden jungen Menschen<br />
ausgeht, sind Selbstbewusstsein, Präsenz und Lebensfreude<br />
– in einem Ordnungssystem, das ihnen Halt gibt.<br />
Womöglich könnte dies auch im säkularen Leben hilfreich<br />
sein, gerade in Zeiten, in denen das Getöse des Weltgeschehens<br />
und die Komplexität des Wahnsinns zur täglichen Überforderung<br />
werden: den allgegenwärtigen kleinen Bildschirm,<br />
der uns scheinbar mit der Welt und allem und jedem verbindet,<br />
bisweilen wegzulegen, bewusst innezuhalten und den Fokus<br />
der Wahrnehmung auf jeweils eine Sache zu lenken, um<br />
dann gesammelt handlungsfähig zu sein.<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
*FO SHO ist ein ukrainisches Hip-Hop-Projekt von Betty, Miriam und Siona Endale, drei Schwestern mit äthiopisch-jüdischen<br />
Wurzeln, deren neuer Song U CRY NOW auf die Lage in der Ukraine aufmerksam machen will.<br />
wına-magazin.at<br />
53<br />
juni22.indb 53 07.06.22 13:52
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal<br />
besonders „leakalisch“ habe ich<br />
mich gefühlt, ... als ich gestern ein<br />
Mini-Jiddish-Konzert gegeben habe<br />
beim Schabbat-Dinner meiner israelischen<br />
Kindheitsfreundin Enat und ihrer<br />
dreißigköpfigen Familie in Tel Aviv.<br />
Das letzte Mal einen besonders schönen<br />
jiddischen Ausdruck gerappt habe<br />
ich … im Dezember 2021, als ich mit meinem<br />
neuen Song Shetl Neshume aufgetreten<br />
bin. Shtetl Neshume ist ein Wort,<br />
das ein Bekannter von mir erfunden hat,<br />
um mich zu beschreiben: ein Mensch<br />
mit einer Shtetl-Seele, einer Seele, die<br />
nach dem Shtetl-Leben strebt und Nostalgie<br />
für das jüdische Leben vor dem<br />
Krieg empfindet.<br />
Das letzte Mal, dass ich mir dachte,<br />
Wien ist Minneapolis gar nicht so unähnlich,<br />
war ... noch nie! Die Städte<br />
könnten nicht unterschiedlicher sein.<br />
Wien hat so viel Geschichte und fühlt<br />
sich majestätisch an – was man von<br />
Minneapolis nicht gerade sagen kann.<br />
Und die Kaffeehaus-Kultur in Wien … unschlagbar!<br />
Das letzte Mal Schtreimel getragen<br />
habe ich … vor zwei Wochen, als ich<br />
ein Fotoshooting für das Cover meines<br />
neuen Albums hatte, das im Sommer<br />
veröffentlicht wird. Der Schtreimel ist<br />
mein Lieblingsaccessoire, er gibt mir irgendwie<br />
„magic power“, und paradoxerweise<br />
fühle ich mich damit femininer.<br />
Das letzte Mal, dass ich vor Freude einen<br />
dreifachen Axel gesprungen bin,<br />
war … in meinen Träumen. Ich muss ehrlich<br />
sein: Ich bin nie einen Dreifach-Axel<br />
gesprungen, ich habe es nur bis zum<br />
doppelten geschafft. Ich träume jedoch<br />
sehr oft vom Eiskunstlaufen, und in meinen<br />
Träumen ist das Springen so leicht<br />
und unbeschwert. Allerdings schiebe ich<br />
immer Panik, dass ich entweder meine<br />
Kür vergesse oder meine Haare sich öffnen<br />
... seltsam, ist mir nämlich im echten<br />
Leben nie passiert.<br />
TRAUMHAFTER<br />
DOPPEL-AXEL<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />
In diesem Monat erzählt die Sängerin und Schauspielerin<br />
Lea Kalisch von ihrer Shtetl-Seele und der magischen<br />
Kraft des Schtreimel-Tragens.<br />
Die gebürtige Zürcherin Lea Kalisch lebt als Sängerin und Schauspielerin<br />
in New York und Minneapolis. Sie setzt sich viel mit ihrer jüdischen<br />
Herkunft und Jiddischkeit auseinander und mischt Sprachen,<br />
Traditionen und Stile: Von Rap bis Rumba, von Hip-Hop bis<br />
Chassidisch, von Jazz bis Jiddisch. Was an der früheren<br />
Eiskunstläuferin typisch Schweizerisch ist?<br />
Ihre Liebe zu guter Schokolade.<br />
leakalisch.com<br />
Lea Kalisch spielt auf dem Straßenfest der IKG Wien,<br />
12. <strong>Juni</strong>, 14:30 Uhr, Judenplatz<br />
Heute Abend: So wie musikalisch, aber leakalisch! in Begleitung von<br />
Bela Koreny, 14. <strong>Juni</strong>, 20 Uhr, Porgy & Bess<br />
© Jonathan Hauerstock<br />
54 wına | <strong>Juni</strong> <strong>2022</strong><br />
juni22.indb 54 07.06.22 13:52
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