Bild, Raum, und Interaktion - Hochschule Furtwangen
Bild, Raum, und Interaktion - Hochschule Furtwangen
Bild, Raum, und Interaktion - Hochschule Furtwangen
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Daniel Fetzner / Stefan Selke (Hg.)<br />
Image, Space and Interaction Center (ISIC)<br />
www.isic-furtwangen.de<br />
Fakultät Digitale Medien<br />
Arbeitspapier Nr. 4<br />
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung <strong>und</strong> Verbreitung,<br />
sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner<br />
Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne<br />
schriftliche Genehmigung der Fakultät reproduziert oder unter Verwendung<br />
elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet,<br />
vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />
Copyright © 2007 Fakultät Digitale Medien | <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong><br />
ISBN 3-9810384-3-6<br />
ReDAKTION: Stefan Selke<br />
COVER: Daniel Fetzner unter der Verwendung einer Fotografie von Katja Wahl<br />
SATZ: Fabian Maier<br />
DRUCK: Druckerei <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>
Daniel Fetzner / Stefan Selke (Hg.)<br />
BILD – RAUM – INTERAKTION<br />
Angewandte empirische Wirkungsforschung.<br />
ergebnisse interdisziplinärer Zusammenarbeit<br />
Schriftenreihe Fakultät Digitale Medien
Inhalt<br />
Vorwort 1<br />
DANIel FeTZNeR / STeFAN SelKe 3<br />
einleitung<br />
ARBeITSBeReICH BIlD<br />
I. Gr<strong>und</strong>lagen – Empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
STeFAN SelKe 11<br />
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann.<br />
Voraussetzungen empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
STeFAN SelKe 35<br />
Rekonstruktive Sozialforschung online. Qualitative<br />
<strong>Bild</strong>analyse-Chats mit der Open Source Software VeraICON<br />
TOBIAS BOlTe 45<br />
entwicklung von Systemkomponenten für die Software VeraICON<br />
II. <strong>Bild</strong>kampagnen <strong>und</strong> kollektive Identitäten<br />
aus Sicht der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR 53<br />
Das Auge entscheidet mit – Exemplarische Ergebnisse<br />
aus Wahlplakatanalysen zur B<strong>und</strong>estagswahl 2005<br />
STeFAN SelKe 65<br />
Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />
als Anwendungsfeld empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung
MelTeM ACARTÜRK 75<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
im Kontext der Kampagne „Du bist Deutschland“<br />
GUNNAR HANSeN 91<br />
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong>: Bedeutung der<br />
Plakatkampagnen „Deutschland bewegt sich“ <strong>und</strong><br />
„Warum? Darum!“ im Rahmen der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />
III. Projektentwürfe, Dokumentation,<br />
studentische Abschlussarbeiten<br />
STeFAN SelKe 111<br />
Visuelle Kompetenz für junge Bürger. Einübung von<br />
Wahrnehmungskompetenz am medienpädagogischen lernort Schule<br />
PATRICK BURST 129<br />
ConVis - ein visuelles Chatsystem für die Unterstützung<br />
von Online-Gruppendiskusionen
ARBeITSBeReICH RAUM<br />
I. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Methode – Virtuelle Testräume<br />
STeFAN SelKe 141<br />
Techniken der Sichtbarmachung.<br />
Nutzungsbedingungen virtueller Testräume<br />
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR 157<br />
VeRTeX beta - <strong>Bild</strong>wirkungsmessung durch Wahrnehmungssimulation<br />
ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl 165<br />
Umsetzung von VeRTeX beta<br />
DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />
Translocation<br />
173<br />
II. Projektentwürfe<br />
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR 183<br />
Wirkungsmessung von Erlebniswelten – Konzeptionelle<br />
<strong>und</strong> methodologische Überlegungen zu zukünftigen Projekten<br />
DANIel FeTZNeR 193<br />
Zwischen Raster <strong>und</strong> Nebelkörper. Max Bense<br />
in San Francisco – Rekonstruktion einer Körperspannung
STeFAN SelKe 203<br />
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität.<br />
Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis im Kontext digitalisierter<br />
Regionalmanagementprozesse<br />
III. Studentische Abschlussarbeiten<br />
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl 219<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum Pretesting<br />
von Messeständen im Rahmen von erlebnismarketing<br />
ROlF GASSNeR 235<br />
Environmental Scene Design – Imitation <strong>und</strong><br />
Verräumlichung von Geräuschkulissen<br />
NADjA SCHANZ 241<br />
Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung von installativen<br />
virtuell-immersiven <strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />
AleXANDeR lUDWIG 247<br />
3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />
PATRICK SCHWAB 255<br />
Informationsvisualisierung mit Hilfe von<br />
Processing zur Darstellung von Websitestatistiken
ARBeITSBeReICH INTeRAKTION<br />
I. <strong>Interaktion</strong>skonzepte – Angewandte Forschung<br />
WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR 267<br />
Interaktive Medieninstallationen im Spannungsverhältnis<br />
von medialer Gestaltung <strong>und</strong> technischer Konstruktion<br />
WOlFGANG TAUBe 275<br />
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR 291<br />
<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien-Technologien<br />
im labor Neue Medien (lNM) der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong><br />
STeFAN SelKe 301<br />
MyTown. Implizite Einflussfaktoren auf die Entwicklung eines<br />
Computerspiels. eine mediensoziologische Rekonstruktion
II. Studentische Abschlussarbeiten<br />
KATRIN STANGWAlD 323<br />
Entwicklung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung<br />
des BOE-BOT in Max/MSP/Jitter<br />
MATTHIAS HeINTZ 329<br />
Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />
KATjA WAHl 337<br />
Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance
Vorwort<br />
Vor gut zwei jahren gründeten wir das Zentrum für <strong>Bild</strong>-, <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung<br />
<strong>Furtwangen</strong> (ISIC) - damals noch unter dem Namen „Center for Visual<br />
Studies“. Unser gemeinsames Interesse an bildwissenschaftlichen Themen<br />
führte uns über gemeinsame Projektideen zusammen. Ziel war die Entwicklung<br />
von Methoden im Bereich der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung im Rahmen von lehrveranstaltungen<br />
gemeinsam mit Studierenden. Von Anfang an wurde also keine einzelforschung<br />
betrieben, sondern ein integrativer Ansatz verfolgt. So sind dann<br />
auch die in diesem Arbeitsbericht präsentierten ergebnisse <strong>und</strong> Arbeitsstände<br />
das ergebnis vereinter Bemühungen von lehrenden <strong>und</strong> Studierenden der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong>. Dies ist dann auch das Besondere an der hier präsentierten<br />
Publikationsform. ein Arbeitsbericht ist eine Querschnittsaufnahme aus der praxisbezogenen<br />
Forschung, die in Seminarkontexten gemeinsam von Lehrenden<br />
<strong>und</strong> Studierenden durchgeführt wurde. Es ist immer eine vorläufige Dokumentation<br />
von ergebnissen, aber auch von Hindernissen. Dabei folgten wir der Prämisse,<br />
dass es im Kern um „reflektierendes Produzieren“ geht, d.h. die interdisziplinäre<br />
Annäherung an Themenfelder, die Verschränkung methodischer Zugänge<br />
<strong>und</strong> im besten Fall die kritische Reflektion der eigenen Arbeitsergebnisse.<br />
Im Sommer 2005 gaben wir unseren ersten Arbeitsbericht heraus, der unter dem<br />
Titel „selling politics“ unsere Bemühungen dokumentierte, sich der visuellen<br />
Kommunikation mit politischen Inhalten auf methodisch innovative Art <strong>und</strong><br />
Weise zu nähern. Diese Publikation wurde mit viel Interesse rezipiert. Allen, die<br />
uns durch einladungen zu Kongressen <strong>und</strong> Workshops die Gelegenheit gaben,<br />
unseren Ansatz vorzustellen, möchten wir hiermit herzlich danken. Sie bestärkten<br />
uns damit in unserer inhaltlichen <strong>und</strong> methodischen Ausrichtung. Wir hoffen,<br />
dass der hier vorliegende Arbeitsbericht auf ähnlich fruchtbaren Boden fällt.<br />
Daniel Fetzner <strong>und</strong> Stefan Selke<br />
<strong>Furtwangen</strong>/Karlsruhe, im Sommer 2007<br />
1
DANIel FeTZNeR / STeFAN SelKe<br />
einleitung<br />
Angewandte Wirkungsforschung am Zentrum für <strong>Bild</strong>-,<br />
<strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung (ISIC)<br />
Das Zentrum für <strong>Bild</strong>-, <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung <strong>Furtwangen</strong> ist ein interdisziplinäres<br />
Forschungszentrum. Hierunter werden heterogene Ansätze der<br />
Wirkungsforschung unter einer übergreifenden Fragestellung vereint. In unseren<br />
drei unterschiedlichen Arbeitsfeldern – <strong>Bild</strong>, <strong>Raum</strong>, <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong> – stellen wir<br />
den Begriff „Wirkung“ in den Mittelpunkt. Um eine Vorstellung der Ausrichtung<br />
von ISIC zu bekommen, ist es angebracht, das Spektrum der von uns verfolgten<br />
– interdisziplinären – Forschungsfragen kurz dazustellen.<br />
Interdisziplinäre Fragestellungen zwischen <strong>Bild</strong>, <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong><br />
Im Arbeitsbereich „<strong>Bild</strong>“ erforscht ISIC anwendungsbezogen Fragestellungen<br />
interdisziplinärer <strong>Bild</strong>wissenschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die<br />
Bedeutung von <strong>Bild</strong>ern entsteht <strong>und</strong> welche Dimensionen von <strong>Bild</strong>wirkungen<br />
sich empirisch f<strong>und</strong>iert rekonstruieren lassen. Im Untersuchungsfeld „<strong>Bild</strong>wirkungen<br />
im Kontext öffentlicher Diskurse“ fragen wir danach, wie sich die Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern in kontextvariablen Distributionskontexten<br />
verändert. <strong>Bild</strong>er sind mit einigen wenigen Ausnahmen immer in öffentliche<br />
Diskurse eingeb<strong>und</strong>en. Beispiele hierfür sind Wahlplakate <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>werbung. Im<br />
3
DANIel FeTZNeR / STeFAN SelKe<br />
Untersuchungsfeld „Empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung“ forschen wir auf einer<br />
empirischen Basis nach <strong>Bild</strong>wirkungen, da allein die theoretische Betrachtung<br />
von <strong>Bild</strong>lichkeit <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen medialen Aspekten für das Verständnis<br />
des Phänomens <strong>Bild</strong> nicht ausreichend ist. Dabei fragen wir danach, wie sich die<br />
einzelnen Dimensionen von <strong>Bild</strong>wirkungen methodisch trennen, operationalisieren<br />
<strong>und</strong> empirisch vermessen lassen. Mit neuen Versuchsanordnungen messen<br />
wir die unbewussten Aufmerksamkeitsleistungen, ebenso wie erinnerungsleistungen<br />
<strong>und</strong> Selbstdeutungsprozesse von Rezipienten.<br />
Im Arbeitsfeld „<strong>Raum</strong>“ fragen wir nach neuen Formen der Orts- <strong>und</strong> <strong>Raum</strong>bezogenheit.<br />
Orte <strong>und</strong> Räume werden durch die globalisierten entgrenzungsprozesse<br />
vereinheitlicht <strong>und</strong> neutralisiert. landschaften werden zu Standorten <strong>und</strong><br />
die Welt zur Benutzeroberfläche. Angesichts dieser Disneyfizierung von Städten,<br />
Gebäuden <strong>und</strong> Bekleidungen bis hin zum menschlichen Körper entstehen hybride<br />
Territorien mit einem austauschbaren erscheinungsbild. Der physische <strong>Raum</strong><br />
wird mit dynamischen Daten überzogen <strong>und</strong> reale Umgebungen mit kontextuellen<br />
Formaten zur Augmented Reality erweitert. Diese Überlagerung analoger<br />
Räume mit digitalen Symbolen eröffnet neue Perspektiven der angewandten <strong>Bild</strong>forschung.<br />
In diesem weiten Feld liegen die Forschungsfragen zum Thema <strong>Raum</strong><br />
bei ISIC. Wie Probanden diese symbolischen Welten erleben <strong>und</strong> sich interaktiv<br />
darin verhalten ist die Kernfrage. Dabei wurde in den letzten zwei jahren der<br />
Versuch unternommen, bildwissenschaftliche Fragestellungen einerseits mit Methoden<br />
der empirischen Sozialforschung zu bearbeiten, andererseits klassische<br />
Methoden der Sozialforschung in Online-Instrumente zu überführen bzw. für<br />
virtuelle Testräume nutzbar zu machen.<br />
Alle Arbeiten im Arbeitsbereich „<strong>Interaktion</strong>“ basieren auf der Tatsache, dass virtuelle<br />
Umgebungen von der <strong>Interaktion</strong> leben. erst durch eigene Handlungen<br />
in der virtuellen Umgebung werden sie für die BesucherInnen als neue Qualität<br />
erfahrbar. Aufbauend auf einer Modellierung des statischen <strong>Raum</strong>es werden<br />
dynamische <strong>und</strong> interaktive elemente in die Umgebung integriert. Dynamische<br />
elemente wie etwa Veränderungen der Beleuchtung <strong>und</strong> die einbeziehung von<br />
selbständig handelnden Agenten sowie die interaktiven Handlungsmöglichkeiten<br />
unterstützen das Eintauchen in die virtuelle Umgebung – „suspension of disbelief“.<br />
Die Fragestellungen im Feld <strong>Interaktion</strong> beschäftigen sich mit dem Entwurf<br />
interaktiver Handlungsmöglichkeiten in virtuellen Umgebungen <strong>und</strong> dem Verhältnis<br />
von notwendiger Realitätsabbildung der Umgebung <strong>und</strong> erwünschter Realitätskonstruktion<br />
bei der BesucherIn. Trotz immenser Fortschritte der Grafik-<br />
Hardware ist der entwurf virtueller Umgebungen immer noch ein differenziertes<br />
Austarieren von widersprüchlichen Anforderungen. Interaktive Handlungsgesten<br />
müssen in echtzeit technisch wahrgenommen <strong>und</strong> kontinuierlich visualisiert<br />
werden. Beim Entwurf muss das Erleben der Besucher (user experience) im<br />
Zentrum der Überlegungen stehen.<br />
4
Institutionelle einbindung trotz Virtualität<br />
ISIC ist ein virtuelles Forschungszentrum mit institutionellen Anbindungen. Diese<br />
werden von den ISIC-Gründern <strong>und</strong> ihren beruflichen Kontexten repräsentiert.<br />
ISIC ist im Rahmen von Forschung <strong>und</strong> lehre angeb<strong>und</strong>en an die Fakultät<br />
Digitale Medien der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> <strong>und</strong> die Pädagogische <strong>Hochschule</strong><br />
Karlsruhe. Seit 2006 ist ISIC gleichzeitig Mitglied des Instituts für angewandte<br />
Forschung (IAF) der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>. Damit wird nochmals die interdisziplinäre<br />
Ausrichtung unterstrichen. Diese institutionelle einbindung legt<br />
Themenfelder, Arbeitsformen <strong>und</strong> Methodenkanon weitgehend fest. Vor allem<br />
liefert sie die paradigmatische Ausrichtung, die sich am Begriff „angewandte“<br />
Forschung festmacht. Dies bedeutet eine Abgrenzung von Gr<strong>und</strong>lagenforschung,<br />
die in dem hier vorliegenden Kontext nicht geleistet werden kann. Dafür bietet<br />
das institutionelle Umfeld eine reichhaltige Fülle von Querbezügen, die nutzbar<br />
gemacht werden konnten <strong>und</strong> im vorliegenden Bericht dokumentiert werden.<br />
Ziel <strong>und</strong> Aufbau des Arbeitsberichts<br />
Der vorliegende Arbeitsbericht dient der Dokumentation aller Arbeiten, die die<br />
im Kontext <strong>und</strong> Umfeld von ISIC zwischen 2005 <strong>und</strong> 2007 entstanden sind. Der<br />
Sammelband enthält Gr<strong>und</strong>lagentexte, Forschungsergebnisse, Projektentwürfe<br />
<strong>und</strong> studentische Abschlussarbeiten. Aufgenommen wurden auch Arbeiten von<br />
ForscherInnen anderer <strong>Hochschule</strong>n, die sich in ihrer Arbeit auf unseren ersten<br />
Arbeitsbericht „selling politics“ beziehen.<br />
Die Publikation hat das Format eines „Arbeitsberichts“, d.h. die Sammlung heterogener<br />
Themen <strong>und</strong> Textformate ist durchaus gewollt, um das Spektrum von<br />
ISIC zu dokumentieren. Der Arbeitsbericht gliedert sich in drei Teile (<strong>Bild</strong>, <strong>Raum</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>), die die Arbeitsbereiche von ISIC widerspiegeln. Innerhalb dieser<br />
drei Hauptbereiche wird folgende Abfolge den Arbeitsbericht (soweit als möglich)<br />
strukturieren:<br />
• Teil I: Theoretische bzw. methodische/methodologische<br />
Gr<strong>und</strong>lagentexte<br />
• Teil II: Forschungsergebnisse bzw. Ergebnisse aus Modellprojekten<br />
• Teil III: Zusammenfassungen studentischer Abschlussarbeiten<br />
sowie weitere Texte<br />
einleitung<br />
Unser Dank gilt an dieser Stelle den AutorInnen, die, oft unter erheblichem Zeitdruck,<br />
ihre Beiträge erstellt haben sowie weiteren Personen, ohne die der vorliegende<br />
Band nicht hätte realisiert werden können: Heike Schmidt-Bäumler für ihr<br />
zuverlässiges Lektorat, Fabian Maier für das Setzen des Textes sowie Horst Nopper<br />
für die Vorbereitung des Drucks. Wie immer liegt die alleinige Verantwortung<br />
für den Inhalt bei den Herausgebern.<br />
5
ARBeITSBeReICH BIlD
I. Gr<strong>und</strong>lagen – Empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung
STeFAN SelKe<br />
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
Voraussetzungen empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
1 Genese <strong>und</strong> disziplinäre einordnung der empirischen<br />
<strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
Während sich die Wissenschaft, insbesondere die Philosophie, gerne mit theoretischen<br />
Fragen zum „Wesen“ des <strong>Bild</strong>es beschäftigt, treten in anderen, weniger<br />
handlungsentlasteten Bereichen die <strong>Bild</strong>wirkungen in den Mittelpunkt der Betrachtung.<br />
In der Werbebranche, bzw. der daran angegliederten Mediaforschung,<br />
werden diese Wirkungen möglichst konkret mit dem Ziel einer Wirkungsoptimierung<br />
untersucht. Seit den 1920er Jahren spielt daher das Phänomen „<strong>Bild</strong>wirkung“<br />
vor allem in der Werbetheorie <strong>und</strong> -praxis eine Rolle. Seit den 1960er<br />
jahren ist die besondere Wirkung der <strong>Bild</strong>kommunikation Gegenstand empirischer<br />
Forschungen in den Sozialwissenschaften (Bauer et al. 1998). Wissenschaftliche<br />
Disziplinen, die sich mit <strong>Bild</strong>wirkungen auseinandersetzen, sind<br />
vor allem die Psychologie (Werbe-, Wahrnehmungs- <strong>und</strong> lernpsychologie; vgl.<br />
Naumann 2000), die Medien- <strong>und</strong> Kommunikationswissenschaften, die Werbewirkungsforschung<br />
(vgl. Bongard 2002; Bonfandelli 2004) sowie die Gehirn-,<br />
Kognitions- <strong>und</strong> Imageryforschung. Trotz zahlreicher Bemühungen gibt es über<br />
den Forschungsgegenstand <strong>Bild</strong>, oder genauer: <strong>Bild</strong>wirkung jedoch keine empi-<br />
11
STeFAN SelKe<br />
rischen Verallgemeinerungen, die das F<strong>und</strong>ament für eine gegenstandsbegründete<br />
Theoriebildung liefern.<br />
empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />
In aller Kürze soll das hier vorgeschlagene Konzept einer empirischen <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
in das Großprojekt „<strong>Bild</strong>wissenschaften“ eingeordnet werden.<br />
Sachs-Hombach (2001) stellt einen Rahmen für eine interdisziplinäre <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />
zur Verfügung. Ausdruck der intensivierten Bemühungen, die zu einer<br />
interdisziplinären erforschung des <strong>Bild</strong>es führen, sind die bekannten Metabegrifflichkeiten<br />
Imagic Turn (Fellmann 1991: 26), Pictural Turn (Mitchell 1992:<br />
89) oder Iconic Turn (Boehm 1994: 13). Trotz dieser Begriffe bestehen erhebliche<br />
Unklarheiten: „Nach wie vor ist jedoch unklar, in welchem Maße wir überhaupt<br />
in der lage sein werden, die innerhalb der <strong>Bild</strong>verwendung als wesentlich erachteten<br />
eigenschaften <strong>und</strong> Funktionen nach wissenschaftlichen Standards zu<br />
erfassen“ (a.a.O.: 4). Da bisher bildwissenschaftliche Fragestellungen innerhalb<br />
von einzeldisziplinen verhandelt wurden, lässt sich immerhin der Wunsch nach<br />
Interdisziplinarität formulieren: „Obschon das <strong>Bild</strong> neben der Sprache als das<br />
wichtigste Medium der Darstellung <strong>und</strong> der Mitteilung gelten kann, hat sich […]<br />
im Unterschied zur Sprachwissenschaft bisher keine disziplinübergreifende, allgemeine<br />
<strong>Bild</strong>wissenschaft herausgebildet“ (a.a.O.: 14). <strong>Bild</strong>wissenschaften sind<br />
alle jene Disziplinen, die einen systematischen Beitrag zum <strong>Bild</strong>verständnis liefern.<br />
Die Formen dieser Beiträge lassen sich nach dem Grad ihrer Theorie- bzw. Praxisnähe<br />
systematisieren. In weiteren konzeptionellen Rahmenüberlegungen nimmt<br />
Sachs-Hombach (2005) daher folgende (grobe) einteilung vor: 1. Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen,<br />
2. Historisch orientierte Disziplinen, 3. Sozialwissenschaftlich orientierte<br />
Disziplinen, 4. Anwendungsbezogene Disziplinen <strong>und</strong> 5. Praxisbereich<br />
moderner <strong>Bild</strong>medien. Wie können wir uns in diesem Spektrum verorten? Die<br />
Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen sind nicht auf einen <strong>Bild</strong>typ oder eine bestimmte Form der<br />
<strong>Bild</strong>verwendung fixiert, sondern untersuchen das <strong>Bild</strong> als Phänomen insgesamt.<br />
Interessanterweise rechnet Sachs-Hombach neben Philosophie, Semiotik, Mathematik/logik,<br />
Psychologie/Kognitionswissenschaften, Kommunikations- <strong>und</strong> Medienwissenschaft<br />
sowohl die Kunstwissenschaft <strong>und</strong> Kunstgeschichte, als auch<br />
die Medienwirkungsforschung zu den Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen! Deren empirische<br />
Ausrichtung hat ja eine deutliche Nähe zu den bei ISIC verfolgten Ansätzen – wir<br />
könnten uns in diesem Sinne durchaus den Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen zurechnen.<br />
Die historisch orientierten Disziplinen brauchen wir für die hier notwendigen<br />
Überlegungen nicht weiter beachten, wohl aber die sozialwissenschaftlichen. Im<br />
Rahmen dieser Disziplinen wird nach „konkreten <strong>Bild</strong>verwendungen“ gefragt.<br />
Hierzu gehören <strong>Bild</strong>gebrauchsanalysen, die auf die <strong>Bild</strong>verwendung <strong>und</strong> ihrer<br />
Einbettung in soziale Kontexte abzielen. Genau diese (Re-)Kontextualisierung<br />
steht jedoch bei der von uns entwickelten <strong>Bild</strong>chatsoftware VeraICON im Mittel-<br />
12
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
punkt. Anwendungsorientierte Disziplinen, so Sachs-Hombach weiter, würden<br />
zur Integration technischer Verfahren beitragen <strong>und</strong> einen Bezug zur Praxis der<br />
<strong>Bild</strong>herstellung <strong>und</strong> -bearbeitung leisten. Diese Vermittlung zwischen der ebene<br />
der <strong>Bild</strong>produktion <strong>und</strong> den (sozialen) Verwendungsbedingungen von <strong>Bild</strong>ern ist<br />
eben das Programm von ISIC. Da in der Werbewirkungsforschung nach der Ableitung<br />
von <strong>Bild</strong>theorien <strong>und</strong> deren gezielter Umsetzung in Gebrauchskontexte<br />
geforscht wird, zählt diese Disziplin zu diesem Bereich.<br />
Fasst man diese konzeptionellen Rahmenüberlegungen zusammen, dann ist der<br />
von ISIC vertretene Ansatz einer angewandten empirischen <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
gleich mehreren bildwissenschaftlichen Forschungsbereichen zuzurechnen,<br />
1. dem Gr<strong>und</strong>lagenbereich, weil hier bildtyp- <strong>und</strong> bildfunktionenübergreifend<br />
nach empirisch zu bestimmenden Wirkungen geforscht wird, 2. dem sozialwissenschaftlichen<br />
Bereich, weil der Inhalt der von ISIC verfolgten Fragestellungen<br />
(der sog. content) sich nur vor den innerhalb der dortigen Spezialdiskurse (Visuelle<br />
Politik, Visuelle Soziologie) verorten <strong>und</strong> verstehen lässt, <strong>und</strong> 3. dem anwendungsorientierten<br />
Bereich, da es uns vor allem um die gezielte Optimierung von<br />
<strong>Bild</strong>wirkungen analog zu den Anforderungen der Werbewirkungsforschung geht.<br />
Die von uns betriebene <strong>Bild</strong>wirkungsforschung ist also eindeutig anschlussfähig<br />
an bestehende Diskurse <strong>und</strong> das Gesamtprojekt „<strong>Bild</strong>wissenschaft“. Der empirische<br />
Nachweis von <strong>Bild</strong>wirkungen ist in allen diesen Diskursen allerdings ein<br />
offenes Forschungsfeld. Genau diese lücke versuchen wir zu schließen.<br />
2 Paradigmatische Gr<strong>und</strong>thesen zur Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern<br />
Visualisierungen <strong>und</strong> visuelle Repräsentationen nehmen in modernen Gesellschaften<br />
<strong>und</strong> deren Kommunikationsstruktur eine exponierte Stellung ein. <strong>Bild</strong>er<br />
umgeben uns, wir leben mit, durch <strong>und</strong> in <strong>Bild</strong>ern. Diese exponierte Stellung des<br />
<strong>Bild</strong>es wird immer wieder betont (z.B. Müller 2003: 13ff.; Schelle 2005: 523f.).<br />
Die Begründung der visuellen Omnipräsenz fällt allerdings im Vergleich dazu<br />
schwer! Meist wird auf die Verhaltenswirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern sowie auf das Evokationspotenzial<br />
der <strong>Bild</strong>er für emotionen verwiesen.<br />
Fasst man die verfügbaren deskriptiven <strong>und</strong> empirischen Bef<strong>und</strong>e aus der literatur<br />
zusammen, so lässt sich eine paradigmatische Gr<strong>und</strong>these zur Wirksamkeit<br />
von <strong>Bild</strong>ern formulieren: Visuelle Stimuli sind textuellen Stimuli überlegen.<br />
Man könnte dies die These der Überlegenheitswirkung nennen. Tatsächlich<br />
lautet der Fachbegriff in der Literatur „picure superiority effect“. Im Vergleich<br />
zu textlichen Stimuli werden visuellen Reizen (in Form von <strong>Bild</strong>ern) eine umfangreiche<br />
Wirkung auf den menschlichen Organismus, d.h. erst einmal: auf den<br />
Prozess der kognitiven Verarbeitung von Sinnesreizen, nachgesagt. Damit wird<br />
ein <strong>Bild</strong>wirkungseffekt postuliert, dessen ergebnis zwar bekannt, dessen Zustandekommen<br />
aber weitgehend unklar ist. Sprache, so der Ausgangspunkt der mei-<br />
13
STeFAN SelKe<br />
sten Argumentationsketten, ist „komplizierter“ als <strong>Bild</strong>haftigkeit. Sprache ist ein<br />
„verschlüsseltes“ Zeichensystem, dass erst unter hohem Aufwand „entschlüsselt“<br />
(decodiert) werden muss. <strong>Bild</strong>er hingegen werden meist als etwas „quasi-natürliches“<br />
empf<strong>und</strong>en, zu dem man meist einen direkten Zugang hat (vgl. Kroeber-<br />
Riel 1993; Paivio 1986). <strong>Bild</strong>er sind wie ein Zimmer, dessen Tür unverschlossen<br />
offen steht <strong>und</strong> in das jeder eintreten kann <strong>und</strong> auch gerne eintritt.<br />
Präzisierung des <strong>Bild</strong>wirkungsbegriffs auf Basis der <strong>Bild</strong>überlegenheitswirkung<br />
Neben der Frage nach disziplinärer Zuständigkeit ist es angeraten, den <strong>Bild</strong>wirkungsbegriff<br />
selbst zu präzisieren. Welche Formen von <strong>Bild</strong>wirkung gibt es <strong>und</strong><br />
welche sind von Interesse? Dabei ist in der Literatur nicht immer klar, was mit<br />
„<strong>Bild</strong>wirkung“ gemeint ist. Die oben postulierte Überlegenheitswirkung von <strong>Bild</strong>ern<br />
könnte sich potenziell auf eine Vielzahl von Aspekten (Wahrnehmung, Verarbeitung,<br />
Speicherung, Abruf von <strong>Bild</strong>ern im Vergleich zu Texten) beziehen. Im<br />
weiteren Sinne soll hier unter <strong>Bild</strong>wirkung eine Veränderung verstanden werden,<br />
die sich beim <strong>Bild</strong>betrachter im Kontext der <strong>Bild</strong>wahrnehmung ereignet. Gegenstand<br />
der angewandten Forschungen bei ISIC ist die genaue Bestimmung dieser<br />
Veränderungen. Potenzielle eingrenzungsmöglichkeiten für <strong>Bild</strong>wirkungen sind<br />
dabei 1. die Beschränkung auf nur einen bestimmten <strong>Bild</strong>typ, 2. die Beschränkung<br />
auf nur einen bestimmten Aspekt von <strong>Bild</strong>wirkung, 3. die Beschränkung<br />
auf bestimmte <strong>Bild</strong>betrachter, 4. die Beschränkung auf bestimmte <strong>Bild</strong>betrachtungskontexte.<br />
Diese Einschränkungen ergeben sich aus der Dimensionierung<br />
von <strong>Bild</strong>wirkungen, wie sie – im engeren Sinne – in der Werbeforschung vorgenommen<br />
wird. Dabei geht es immer um die feststellbare Wirkung von <strong>Bild</strong>ern auf<br />
das Verhalten der Konsumenten. In den Begrifflichkeiten der Werbewirkungsforschung<br />
kann die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern auf folgenden ebenen untersucht<br />
werden:<br />
14<br />
• Spontane (unbewusste) Aufmerksamkeit (Aktivierung)<br />
• Bewusste Aufmerksamkeit<br />
• Einstellungsänderungen (mit dem Ergebnis einer sog. Imagebildung)<br />
• Lernen <strong>und</strong> Erinnern (Gedächtniswirkungen)<br />
• Verhaltenswirkungen (Auslösen von Handlungen durch <strong>Bild</strong>er)<br />
Man erkennt, dass die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern sich von „einfachen“ bis zu „komplexen“<br />
Phänomenen fortsetzt. Man erkennt weiter, dass es einen Bereich gibt,<br />
in dem <strong>Bild</strong>er unbewusst wirken <strong>und</strong> der mit Messmethoden nur sehr schwer<br />
zugänglich ist. Die Herausforderung auf der empirischen ebene besteht genau<br />
darin, für diese Ebenen Indikatoren zu finden <strong>und</strong> diese messtechnisch exakt<br />
zu operationalisieren. es macht keinen Sinn, die einzelnen <strong>Bild</strong>wirkungsebenen<br />
gleichzeitig in einem Test abzufragen.
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
3 Gr<strong>und</strong>legende Theorien bildlicher Informationsverarbeitung<br />
Ausgangslage der Beurteilung von <strong>Bild</strong>wirkungen ist immer wieder die Prämisse<br />
der Quasi-Natürlichkeit visueller Reize im Vergleich zur Verarbeitung semantischer,<br />
syntaktischer oder grammatikalischer Strukturen. So folgern etwa Bauer<br />
et al. (1998): „Die kognitive Verarbeitung von <strong>Bild</strong>ern läuft weitgehend automatisch<br />
ab <strong>und</strong> erfordert nur eine geringe gedankliche Kontrolle durch den Rezipienten“.<br />
Folgende Ergebnisse aus Untersuchungen zur kognitiven Verarbeitung<br />
von <strong>Bild</strong>ern gelten inzwischen als gesichert <strong>und</strong> stellen Allgemeinplätze der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
dar:<br />
• Visuelle Reize werden effizienter verarbeitet, sie sind, nach einem klassischen<br />
Zitat von Kroeber-Riel (1993: 53) „schnelle Schüsse ins Gehirn“.<br />
• <strong>Bild</strong>er lassen sich also schneller „verarbeiten“ <strong>und</strong> auch leichter im Gedächtnis<br />
behalten (vgl. esch 1998; Rossiter/Percy 1996; edell/Staelin 1983).<br />
• Für die Speicherung eines <strong>Bild</strong>es mittlerer Komplexität benötigt man ca. 1-2<br />
Sek<strong>und</strong>en – in der gleichen Zeit können nur ca. 7-10 Wörter aufgenommen<br />
werden (Kroeber-Riel 1993).<br />
• Visuelle Reize sind daher die bevorzugte Form von Informationsaufnahme<br />
(esch 1998; jeck-Schlottmann 1987; Kroeber-Riel 1986; Spoehr/lehmkuhle<br />
1982; Pylyshyn 1981).<br />
• <strong>Bild</strong>er weisen im Vergleich zu Texten bei einer vergleichbaren Anzahl von<br />
Informationseinheiten einen wesentlich höheren Informationsgehalt auf<br />
(Bauer et al. 1998: 2).<br />
Zur Verarbeitung visueller Informationen greifen verschiedene Prozesse ineinander.<br />
Im Folgenden werden diese Prozesse der encodierung, der Repräsentation,<br />
des Wiederfindens, des Vergleichs <strong>und</strong> der Expression (Ausdruck) vorgestellt <strong>und</strong><br />
zueinander in Beziehung gesetzt.<br />
15
STeFAN SelKe<br />
Abb. 1: Prozessmodell der Informationsverarbeitung<br />
16<br />
Prozess Funktion Speicher<br />
encodierung (1) Transformation eines externen<br />
physikalischen Stimulus in einen<br />
internalen Code<br />
Schnittstelle zwischen sensorischer<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong><br />
Kurzzeitgedächtnis<br />
Repräsentation (2) Aufrechterhaltung eines Codes Innerhalb des Kurzzeitgedächtnisses<br />
Wiederfinden (3) Suche nach bereits gespeicherten<br />
Informationen<br />
Vergleich (4) Beurteilung der Ähnlichkeit<br />
zweier Stimuli<br />
Ausdruck (Expression) (5) Transformation eines internalen<br />
Codes in einen beobachtbaren<br />
Output wie Sprache oder<br />
Handeln<br />
(Quelle: Bauer et al. 1998: 6)<br />
Schnittstelle zwischen Kurz-<br />
<strong>und</strong> langzeitgedächtnis<br />
Innerhalb des langzeitgedächtnisses<br />
Schnittstelle zwischen langzeitgedächtnis<br />
<strong>und</strong> Verhaltensebene<br />
Die physikalischen eigenschaften eines visuellen Stimuli werden zuerst in einen<br />
bildlichen Code umgewandelt (1). erst derart ist ein Reiz dem Kurzzeitgedächtnis<br />
zugänglich (2). Ausgehend vom Kurzzeitgedächtnis wird eine Abstimmung mit<br />
bereits gespeicherten Informationen vorgenommen, um vorhandene Gedächtnisspuren<br />
zu aktivieren (3). Der <strong>Bild</strong>code wird dabei stabilisiert, um ihn in das langzeitgedächtnis<br />
zu integrieren. Um die kognitive Verarbeitung der Informationen<br />
in beobachtbares Verhalten zu überführen, wird von der Ausdrucksfähigkeit (5)<br />
Gebrauch gemacht. Dieses Prozessmodell der Informationsverarbeitung gibt nur<br />
einen idealtypischen <strong>und</strong> sehr abstrakten Überblick über die Prozesshaftigkeit<br />
von Rezeptions-, Konsolidierungs- <strong>und</strong> Rekonstruktionsvorgängen im Gehirn.<br />
Wie genau visuelle Reize bzw. Informationen darin verarbeitet werden, geht<br />
daraus nicht hervor. Vor allem kann damit die Überlegenheit von <strong>Bild</strong>ern noch<br />
nicht erklärt werden. Betrachten wir also im Folgenden zwei konkurrierende Informationsverarbeitungstheorien,<br />
die genau dies versuchen. Dabei stehen sich<br />
– prototypisch <strong>und</strong> paradigmatisch – erstens die Theorien analoger Informationsverarbeitung<br />
<strong>und</strong> zweites die Theorien propositionaler Informationsverarbeitung<br />
gegenüber.<br />
erstens: Theorien analoger Informationsverarbeitung<br />
Dieses theoretische Paradigma lässt sich bis zu den griechischen Atomisten<br />
(Demokrit) zurückverfolgen. Sie entwickelten eine ikonische Abbildtheorie, die<br />
besagt, dass reale Objekte materielle Abbilder „ausstrahlen“, die über die Sinnesorgane<br />
in das Gehirn gelangen. Kern dieser Abbildtheorie ist die Annahme<br />
einer konkreten Analogiebeziehung zwischen Objekt <strong>und</strong> Abbild (vgl. Kosslyn<br />
1994). Analogie bedeutet in diesem Zusammenhang: Das Abbild ist zwar vom<br />
Objekt verschieden, dennoch von ihm abhängig. Ohne Objekt kein Abbild. Das
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
Abbild ist eine objektive Eigenschaft der Materie, nicht aber die Materie selbst<br />
(Nöth 1985). 1<br />
Neuere Theorien der analogen Informationsverarbeitung gehen weiter, indem<br />
sie die ikonische Abbildtheorie um linguistische Aspekte erweitern. Sie behaupten,<br />
dass mentale (bildliche oder sprachliche) Vorstellungen bestimmte Stimuli<br />
in strukturerhaltender Weise abbilden (Steiner 1988). Dies ist gleichzeitig eine<br />
Abschwächung wie auch eine Weiterentwicklung der Gr<strong>und</strong>aussage der Theorie<br />
analoger Informationsverarbeitung. Was bedeutet es, wenn visuelle Reize<br />
in strukturerhaltender Weise erhalten werden? Es bedeutet, dass es sich bei der<br />
inneren Repräsentation nicht um ein kleines Abbild der äußeren Wirklichkeit<br />
handelt, sondern dass zwischen den eigenschaften der äußerern Gegebenheiten<br />
in der internalen (inneren) Repräsentation eine Analogie besteht. Zwischen<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> Vorstellen bzw. zwischen äußerer <strong>und</strong> innerer Welt gibt es<br />
einen Zusammenhang, der nun jedoch komplexer modelliert wird als nur über<br />
die „Verkleinerung“ des großen Abbildes als inneres Vorstellungsbild. Innere visuelle<br />
Vorstellungen stehen in einem Analogieverhältnis zu externalen Gegebenheiten,<br />
die sie isomorph abbilden (Hänggi 1989: 16). Isomophie ist eine andere<br />
Formulierung für strukturerhaltende Abbildung. Solche isomorphen, strukturerhaltenden<br />
Merkmale können sein: Informationen über räumliche Ausdehnung,<br />
figurale Anordnung, Kombination <strong>und</strong> Orientierung (Betrachtungswinkel) von<br />
elementen, visuelle eigenschaften wie Farbe, Struktur oder Kontrast. Paivio (1971,<br />
1983, 1986) gilt als der bekannteste Vertreter der analogen Informationsverarbeitungstheorie.<br />
er geht von zwei funktional unabhängigen, aber miteinander interagierenden<br />
Kodierungssystemen aus <strong>und</strong> behauptet, dass es ein sprachliches <strong>und</strong><br />
ein visuelles (imaginales) System gibt. Hier findet sich ein Erklärungsansatz für<br />
die Überlegenheitswirkung von <strong>Bild</strong>ern, denn Text wird hauptsächlich im sprachlichen<br />
System verarbeitet <strong>und</strong> aufbewahrt. <strong>Bild</strong>er werden – umgekehrt – hauptsächlich<br />
im imaginalen System verarbeitet <strong>und</strong> gespeichert. Gleichzeitig werden<br />
sie jedoch als „teilweise verbalisierte Kopie“ auch im verbalen System abgelegt.<br />
Die einzige Ausnahme, die seine Theorie enthält, bestätigt seine Gr<strong>und</strong>annahme<br />
zugleich: Anschauliche Textteile werden ebenfalls visualisiert <strong>und</strong> somit in das<br />
imaginale Kodierungssystem überführt werden.<br />
Das Prinzip der „doppelten Kodierung“ bedeutet, dass prinzipiell Text <strong>und</strong> faktisch<br />
<strong>Bild</strong>er zweifach gespeichert werden. Hieraus ließe sich dann mühelos der<br />
„picture-superiority-effekt erklären: <strong>Bild</strong>er können stets aus zwei unabhängigen,<br />
aber miteinander interagierenden Gedächtnissystemen abgerufen werden (vgl.<br />
dazu auch Ballstaedt/Molitor/Mandl 1986), Texte werden nur aus einem Speichersystem<br />
rekapituliert. Dies wäre in der Tat eine plausible erklärung für die<br />
größere Effizienz des imaginalen Codes.<br />
1 Platon veranschaulichte die Analogiebeziehung mit der Metapher des Wachstabletts: Internale (innere)<br />
Repräsentationen seien mit den eindrücken eines Siegelrings im Wachs vergleichbar. Hieraus<br />
leitet sich übrigens auch der Begriff Imagery ab.<br />
17
STeFAN SelKe<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass <strong>Bild</strong>er nach der Theorie der analogen<br />
Informationsverarbeitung deshalb (im Vergleich zur Sprache) so wirksam sind,<br />
weil visuelle Reize 1. anders verarbeitet, 2. doppelt gespeichert <strong>und</strong> 3. häufig in<br />
Form von Verknüpfungen abgerufen bzw. erinnert werden. Das Problematische<br />
an dieser Theorie soll hier bezogen auf unsere eigenen <strong>Bild</strong>wirkungstests skizziert<br />
werden: Die Affinität, in <strong>Bild</strong>ern zu denken, wäre dann aber eine intervenierende<br />
Variable bei Recalltests, d.h. man müsste im Samplingprozess die Affinität<br />
zu bestimmten Denkstilen erfragen (z.B. darüber, wie sich Personen eine Wegbeschreibung<br />
merken, sich auf einen Test vorbereiten, über ein Buch sprechen<br />
o.ä.). Die Verbalizer (Personen, die einen sprachlichen Denkstil bevorzugen) <strong>und</strong><br />
Visualizer (Personen, die bevorzugt in <strong>Bild</strong>ern denken) wären dann als getrennte<br />
Kontrollgruppen zu behandeln. Stimmt die Theorie der analogen Informationsverarbeitung,<br />
dann ist dies deshalb wichtig, weil ansonsten nicht festgestellt werden<br />
kann, ob die Varianz in den Untersuchungsergebnissen aus der unterschiedlichen<br />
Güte von <strong>Bild</strong>ern oder Plakaten herrührt oder aus den unterschiedlichen,<br />
schon vor dem Test vorhandenen <strong>und</strong> generell wirksamen Informationsverarbeitungsmodi<br />
der Testpersonen. Diese Informationsverarbeitungsmodi sind in der<br />
Sprache der empirischen Sozialforschung eine intervenierende Variable.<br />
Zweitens: Theorien propositionaler Informationsverarbeitung<br />
Den Theorien analoger Informationsverarbeitung stehen theoretische Positionen<br />
gegenüber, die sich nicht unmittelbar auf die strukturerhaltenden Merkmale des<br />
visuellen Vorstellens beziehen. Sie werden deshalb als Theorien propositionaler<br />
Informationsverarbeitung oder strukturelle Beschreibungstheorien bezeichnet<br />
(Hänggi 1989). Hierbei lautet die Kernannahme, dass die von der Außenwelt replizierten<br />
<strong>und</strong> die intern generierten Informationen symbolisch in einem einheitlichen<br />
Format für <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Sprache repräsentiert werden, womit auch gesagt<br />
wird, dass mentale Repräsentationen sich gr<strong>und</strong>sätzlich von der realen Wahrnehmung<br />
unterscheiden (Mecklenbräuker et al. 1992, Farah 1988). Informationen<br />
würden, so die Vertreter dieses Paradigmas, in Bedeutungseinheiten (Propositionen)<br />
gespeichert, als abstrakte Darstellungen, die Wahrheitsgehalt haben <strong>und</strong><br />
untereinander über „Verknüpfungsregeln“ organisiert sind. In ihrer Abstraktheit<br />
stehen dieses Bedeutungseinheiten jenseits des sprachlichen <strong>und</strong> visuellen Bereichs<br />
– sie sind amodale symbolische Wissensrepräsentationen (Ballstaedt et<br />
al. 1986). Propositionen entziehen sich also wegen ihres amodalen Charakters<br />
dem sprachlichen <strong>und</strong> visuellen Ausdrucksvermögen. Sie sind eher als „Eigenschaftslisten“<br />
vorstellbar, wobei dann einige in Bezug auf ein wahrgenommenes<br />
Objekt zutreffen oder nicht. Diese möglichen Eigenschaften sind untereinander<br />
logisch verknüpft, weshalb man auch von „konzeptioneller Wissensrepräsentation“<br />
(Mecklenbräuker et al. 1992) spricht.<br />
Der Single-Code-Ansatz der propositionalen Informationsverarbeitung radikalisiert<br />
dann auch das Verständnis visueller Kommunikation: <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Sprache,<br />
18
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
so Pylyshyn (1981) können jeweils in die andere Dimension konvertiert werden.<br />
Letztlich entsteht eine sog. „Interlingua“. Wie aber kann dieser interne Code der<br />
Speicherung <strong>und</strong> Verarbeitung von Informationen in Form von Bedeutungseinheiten<br />
die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern erklären? Konzeptionelle Repräsentationen<br />
können schneller aktiviert werden als Wörter, da <strong>Bild</strong>er in der Regel bedeutungshaltiger<br />
sind bzw. weil sich eine zusätzliche phonemische Analyse wie bei der<br />
Sprache erübrigt.<br />
Auch für diese Theorie sprechen einige empirische Bef<strong>und</strong>e, die zeigen, dass es<br />
Asymmetrien zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> internaler Repräsentation gibt. Vorgestellte<br />
Objekte scheinen bei näherer Betrachtung nicht einem „<strong>Bild</strong> im Kopf“<br />
zu entsprechen, sondern detailarm, verzerrt <strong>und</strong> zerlegt in bedeutungshaltige<br />
<strong>und</strong> bedeutungslose Details oder einheiten zu sein. <strong>Bild</strong>er werden besser erinnert,<br />
wenn sie etwas bedeuten, d.h. wenn sie interpretiert werden können, bzw.<br />
wenn ihre Bedeutung bekannt ist. erinnerung scheint also doch eher in Form<br />
konzeptueller Informationen oder abstrakter Bedeutungseinheiten zu funktionieren<br />
– für das Gedächtnis wäre dies zumindest ökonomischer. Andererseits<br />
entsteht hier ein Zirkularitätsproblem, da die abstrakten Konzepte wiederum aus<br />
eigenschaften bestehen, die erinnert werden müssen usf.<br />
In ihrer vergleichenden Analyse kommen Bauer et al. (1998: 15f.) dann zum ergebnis,<br />
dass das „Imagery-Phänomen, d.h. die Erfahrung, ein ‚<strong>Bild</strong> im Kopf’ zu<br />
haben, […] nicht geleugnet werden [kann]. Wenn wir ein Objekt betrachten, speichern<br />
wir typischerweise einige Eigenschaften in einer modalitätsspezifischen<br />
Weise, so z.B. die Maserung eines Holzstücks. Die Sinne scheinen das Tor zum<br />
Geist zu sein, das jede neue Information ‚passieren’ muss. Deswegen sind Gedächtnisinhalte,<br />
die nicht ursprünglich aus unserer Wahrnehmung erwachsen,<br />
schwer vorstellbar“.<br />
4 Zur Verhaltenswirksamkeit visueller Kommunikation<br />
Werbliche <strong>Bild</strong>kommunikation zielt auf Verhaltensbeeinflussung ab. Das Verhalten<br />
ändert sich infolge veränderter Denk- <strong>und</strong> Bewusstseinshaltungen. ein <strong>Bild</strong><br />
kann aber nur wirken, wenn es überhaupt wahrgenommen wird. letztendlich<br />
muss sich ein <strong>Bild</strong>motiv in einer von visuellen Reizen überfluteten Umwelt von<br />
anderen absetzen <strong>und</strong> dadurch durchsetzen. Wahrnehmung ist also die notwendige<br />
aber noch nicht hinreihende Bedingung für <strong>Bild</strong>wirksamkeit. In der Werberwirkungsforschung<br />
hat sich gezeigt, dass diejenigen <strong>Bild</strong>motive die größte<br />
Aufmerksamkeit erregen <strong>und</strong> am wirksamsten sind die die konkrete erlebnisse<br />
darstellen (s.o.) <strong>und</strong> damit konservieren (Dieterle 1992: 3). Darstellungen, die erlebnisse<br />
illustrieren, rufen beim Betrachter stärkere affektive Reaktionen hervor,<br />
die sich positiv auf die Informationsverarbeitung <strong>und</strong> -speicherung auswirken.<br />
Die Frage hierbei ist, welche Gefühle derart viel Aufmerksamkeit erzeugen, dass<br />
19
STeFAN SelKe<br />
sich dies verhaltenswirksam auswirkt. Kennt man die erlebnisdimensionen, die<br />
verhaltenswirksam sind, lässt sich die Werbung derart transformieren, dass sie<br />
„wirkungsvoller“ ist. Diese Betonung einer gleichsam intersubjektiv nachvollziehbaren<br />
Erlebnisorientierung muss jedoch nicht zwangsläufig auf eine Emotionalisierung<br />
hinauslaufen. Es kann sogar sein, dass die <strong>Bild</strong>motive eine „Emotionalisierung<br />
mit umgekehrtem Vorzeichen“ hervorrufen, weil sie sich nicht an den<br />
Bedürfnissen der Betrachter sondern an den Vorlieben der Produzenten orientieren.<br />
Tatsächlich werden <strong>Bild</strong>motive häufig nach (impliziten) Regeln gestaltet, die<br />
auf die intersubjektive Erlebnisorientierung verzichten. Vielmehr steht die Selbstbezogenheit<br />
der <strong>Bild</strong>produzenten im Vordergr<strong>und</strong>. Dies wird jedoch nur selten<br />
offen kritisiert, so z.B. von Dieterle (1992: 3f.): „Die überwiegende Mehrheit der<br />
in der Werbung verwendeten <strong>Bild</strong>motive ‚lässt den Betrachter bzw. Konsumenten<br />
kalt’, da diese Motive nicht auf Verhaltenswirksamkeit, sondern auf die individuellen<br />
Vorlieben des Kreativen oder des Auftraggebers ausgerichtet sind“. So ist es<br />
nicht eben verw<strong>und</strong>erlich, dass manche „Emotionalisierungsversuche“ fehlschlagen,<br />
da die <strong>Bild</strong>motive keine ausreichende psychologische Attraktivität (im Sinne<br />
von lebensweltlichen Anknüpfungspunkten) aufweisen. Zwischen Konsumenten<br />
<strong>und</strong> Werbern klaffen Abgründe. ergebnisse halbherziger Marktforschungen können<br />
– wenn sie denn überhaupt betrieben werden – nicht automatisch auf die<br />
Gestaltung von Plakaten übertragen werden. Was fehlt, ist ein empirisch verlässliches<br />
Testinstrument, das die Ergebnisse explorativer Einstellungstests direkt<br />
mit der wahrnehmungsleitenden Optimierung von <strong>Bild</strong>kommunikation in Verbindung<br />
setzt. es besteht also insgesamt eine Forschungslücke also im Bereich<br />
der Untersuchung verhaltenswirksamer <strong>Bild</strong>motive <strong>und</strong> der ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Argumentationsmuster.<br />
Verhaltenswirksame <strong>Bild</strong>motive – Begriffliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />
Verhaltenswirksamkeit im Rahmen von <strong>Bild</strong>werbung bedeutet, dass ein <strong>Bild</strong> 1.<br />
Aufmerksamkeit erregt, 2. es erinnerungsstark ist <strong>und</strong> 3. die im Motiv konservierten<br />
erlebnisse sich möglichst lebendig abrufen lassen. Diese Gr<strong>und</strong>begriffe<br />
sollen hier kurz erläutert werden.<br />
20<br />
• Aufmerksamkeit zielt auf die Aktivierung des Betrachters ab. Zur erzielung<br />
von Aufmerksamkeit stehen Sozialtechniken wie die Verwendung physisch<br />
intensiver, emotionaler oder überraschender Reize zur Verfügung (Kroeber-<br />
Riel 1988: 121-130; Bösel 1986). Die Anwendung von Sozialtechniken auf<br />
<strong>Bild</strong>kommunikation verfolgt den Zweck der Aufmerksamkeitsmaximierung.<br />
• Die erinnerungsstärke eines <strong>Bild</strong>es hängt von dessen Kapazität ab, innere<br />
<strong>Bild</strong>er zu erzeugen. Ziel von Werbung ist es, ein Wahrnehmungsbild in ein<br />
stabiles Gedächtnisbild zu überführen (Kroeber-Riel 1986: 81). Zur erzeugung<br />
innerer <strong>Bild</strong>er sollte das Wahrnehmungsbild konkret sein, der Inhalt<br />
sich durch thematische Klarheit <strong>und</strong> einmaligkeit auszeichnen. Dabei vereinfacht<br />
sich die Informationsverarbeitung durch affektive Reaktionen, d.h.
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
die erinnerungsstärke, der Abrufungsprozess, vollzieht sich über die Suche<br />
nach kongruenten „emotionalen Etiketten“.<br />
• Die lebendigkeit (vividness) beeinflusst die Verhaltenswirksamkeit am<br />
deutlichsten. Damit ein inneres <strong>Bild</strong> verhaltenswirksam wird, muss es „psychische<br />
Nähe“ besitzen (Kroeber-Riel 1986: 90).<br />
Wie korrespondieren diese leitbegriffe mit den Dimensionen von <strong>Bild</strong>wirkung,<br />
die wir oben vorgestellt haben. Aufmerksamkeit kann in spontane, d.h. unbewusste<br />
<strong>und</strong> bewusste Aufmerksamkeit zerlegt werden. einstellungsänderungen<br />
(Imagebildung) sowie lernen <strong>und</strong> erinnern (Gedächtniswirkungen) sind Ausdruck<br />
der erinnerungsstärke. Und Handeln (Verhaltenswirkungen) korrespondiert<br />
mit der lebendigkeit. Somit lässt sich das eine Kategoriensystem kongruent<br />
in das zweite überführen.<br />
Abb. 2: Dimensionen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>begriffe der <strong>Bild</strong>wirkung im Vergleich<br />
ebene der Verhaltenswirksamkeit<br />
Situativer Kontext <strong>und</strong> Medienselektion<br />
Dimension der <strong>Bild</strong>wirkung<br />
Aufmerksamkeit Aktivierung (spontane Aufmerksamkeit)<br />
Aufmerksamkeit (bewusste<br />
Aufmerksamkeit)<br />
erinnerungsstärke einstellungsänderungen<br />
(Imagebildung)<br />
lernen <strong>und</strong> erinnern (Gedächtniswirkungen)<br />
lebendigkeit Handeln (Verhaltenswirkungen)<br />
Wahrnehmungsselektion <strong>und</strong><br />
Aktivierung im Kurzzeitspeicher<br />
Anmutung <strong>und</strong> spontane Bewertung<br />
im Kurzzeitspeicher<br />
Kognitive Verarbeitung in<br />
lern- <strong>und</strong> Verhaltensprozessen<br />
(langzeitspeicher)<br />
Herausbildung von einstellungen<br />
<strong>und</strong> Images (langzeitspeicher)<br />
Handeln<br />
Dieterle (1992) Bauer et al. (1992) Naumann (2000)<br />
Naumann (2000) nimmt in seiner systematischen Darstellung der Methoden der<br />
Medienwirkungsforschung eine andere Systematisierung vor, deren Übertragbarkeit<br />
in den Kontext der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung nur begrenzt gegeben ist. Versucht<br />
man diese verschiedenen Klassifikationssysteme zu einer brauchbaren Synthese<br />
zusammen zu fassen, so bilden übergreifend die Schritte 1. kontextgeb<strong>und</strong>ene<br />
Selektion, 2. Differenzherstellung durch aufmerksamkeitsmaximierende Motivinhalte,<br />
3. qualitative Transformation (Überführung in stabile Gedächtnisbilder),<br />
4. intentionale Verarbeitungsprozesse <strong>und</strong> 5. intersubjektive, handlungsleitende<br />
21
STeFAN SelKe<br />
Erlebnisqualität die gr<strong>und</strong>sätzlichen Komponenten zur Rekonstruktion der Wirkung<br />
von <strong>Bild</strong>kommunikation. Werden sie beachtet, können derart gestaltete<br />
<strong>Bild</strong>er im Idealfall die objektive Wahrnehmung von Marken, Produkten, Unternehmen<br />
oder Personen nachhaltig verändern. Über die etablierung einer erlebniswelt<br />
lassen sich über die Scheinrealität der <strong>Bild</strong>er Erlebnisqualitäten erstellen<br />
bzw. manipulieren: „Das <strong>Bild</strong> manipuliert dabei die objektive Wahrnehmung der<br />
Marke, indem es dem Konsumenten emotionale Zusatzinformationen bietet, welche<br />
in einer für ihn nicht durchschaubaren Weise auf die entwicklung seines Gesamtausdrucks<br />
von der Anzeige bzw. dem Spot Einfluss nehmen“ (Dieterle 1992:<br />
7). <strong>Bild</strong>er haben, derart eingesetzt, einen „manipulativen Effekt“ (dazu z.B. Mitchell/Olson<br />
1981: 318ff.). Dieser verhaltenswirksame Einfluss innerer <strong>Bild</strong>er auf<br />
die Präferenzbildung sind jedoch enge Grenzen gesetzt. Grenzen, die durch die<br />
Technik des Neuromarketings in seiner momentanen Perfektionierung langsam<br />
aber sich noch ein Stück weiter in Richtung der etablierung verhaltenswirksame<br />
erlebniswelten verschoben werden.<br />
5 empirische Messung von <strong>Bild</strong>wirkungen<br />
Den oben genannten Ebenen der <strong>Bild</strong>wirkung können jeweils verschieden Methoden<br />
der <strong>Bild</strong>wirkungsmessung zugeordnet werden.<br />
Erste Ebene: Kontextgeb<strong>und</strong>e Selektion<br />
Hierunter fallen alle Methoden zur erfassung situativer Gegebenheiten <strong>und</strong> des<br />
erweiterten Kontextes der <strong>Bild</strong>kommunikation. Diese Ebene ist insbesondere<br />
dann wichtig, wenn es sich um Fragestellungen im Rahmen sozialwissenschaftlicher<br />
<strong>Bild</strong>gebrauchsanalysen handelt. Hierbei wird gefragt, wie sich die Kontexte<br />
<strong>und</strong> situativen Gegebenheiten des <strong>Bild</strong>gebrauchs auf die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern<br />
auswirken. In der Medienwirkungsforschung werden dabei a) direkte 2 von b)<br />
indirekten Methoden unterschieden. Eine direkte Abfrage zielt auf eine objektive<br />
Rekonstruktion der Situation, unabhängig von der Wirkung auf die Zielgruppe.<br />
Eine indirekte Abfrage versucht, die subjektiven, d.h. vor allem die psychologischen<br />
Wirkungen bei der eigentlichen Zielgruppe zu erfragen.<br />
2 Methoden zur Messung der Medienselektion können prinzipiell im Rahmen von <strong>Bild</strong>wirkungsanalysen<br />
eine Rolle spielen. Ziel ist es hierbei, herauszufinden, über welche Informationskanäle sich<br />
ein K<strong>und</strong>e/Verbraucher/Wähler etc. informiert. In der Mediaforschung werden dazu zahlreiche Daten<br />
zur Auswahl <strong>und</strong> zum Umgang mit Medien in Media-Analysen (MA) zusammengestellt <strong>und</strong><br />
veröffentlicht. Hierbei geht es vor allem um die Bestimmung der „Reichweite“ bestimmter Medien<br />
sowie der soziodemografischen Zusammensetzung der Nutzer.<br />
22
Zweite ebene: Herstellung von Differenzen<br />
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
Die Messung der Aufmerksamkeitsstärke <strong>und</strong> das Aktivierungspotenzial eines<br />
<strong>Bild</strong>motivs lässt sich mit Hilfe der Aktivierungsmessung kontrollieren (so etwa<br />
Dieterle 1992: 8). Aktivierungsmessung kann dabei auf drei ebenen, der physiologischen,<br />
der subjektiven <strong>und</strong> der motorischen Ebene stattfinden (Kroeber-Riel<br />
1990b: 60).<br />
• Aktivierungsmessung auf der physiologischen ebene kann erfolgen durch<br />
Messung elektrophysiologischer (z.B. Hautreaktionen), viszerokortikaler<br />
(z.B. Blutdruck, Atmung) oder biochemischer Indikatoren. Neu hinzukommen<br />
die Möglichkeiten der sog. bildgebenden Verfahren. Die Vorteile der<br />
Aktivierungsmessung auf der physiologischen ebene liegen in der Ausschaltung<br />
von Störvariablen wie Auskunftsbereitschaft oder sprachliches Auskunftsvermögen<br />
einer Versuchsperson. Allerdings kann mit physiologischen<br />
Messmethoden weder die Richtung noch die Qualität des Reizes bestimmt<br />
werden, der eine körperliche Reaktion auslöst (Weinberg 1988: 46). letztlich<br />
sind hier Probleme auf der ebene der Validität vorhanden. Gerade aber diese<br />
Dimensionen sind für eine Wirkungsanalyse verhaltenswirksamer <strong>Bild</strong>motive<br />
von Interesse.<br />
• Messmethoden zur Bestimmung der Aktivierung auf der subjektiven ebene<br />
lassen sich nach verbalen <strong>und</strong> nichtverbalen Verfahren unterscheiden. Vorteil<br />
von verbalen Verfahren, z.B. in Form mündlicher oder schriftlicher Befragungen<br />
ist, dass sich damit Daten über die Richtung <strong>und</strong> den erlebnisgehalt<br />
emotionaler Reize erheben lassen. Andererseits können mit dieser Verfahrensgruppe<br />
keine unbewussten Emotionen erfasst werden, deren Existenz<br />
gemäß psychoanalytischer Forschungen als gesichert gelten darf (Zimbardo<br />
1983: 406). Zusätzlich besteht die Gefahr von Falschaussagen, oder abgemildert<br />
ausgedrückt: mangelnder Auskunftsbereitschaft sowie das Problem,<br />
dass sich das Antwortverhalten oft an soziale Normen anpasst (effekt der sozialen<br />
erwünschtheit). Zudem wird die Qualität von Befragungsergebnissen,<br />
durch die individuelle Sprachkompetenz der Versuchsperson eingeschränkt.<br />
Letztere Schwierigkeit kann jedoch durch Polaritätenprofil (semantisches<br />
Differential) vermieden werden. Nichtverbale Methoden zur erhebung subjektiver<br />
Aktivierung sind z.B. der Programmanalysator, die Magnitudenskalierung<br />
sowie <strong>Bild</strong>er- oder Farbskalen. Hiermit können emotionsaspekte<br />
erfasst werden, die nur bedingt sprachlich artikuliert (<strong>und</strong> aktiviert) werden<br />
können.<br />
• Auf der motorischen ebene schließlich kann die Beobachtung mimischer<br />
oder gestischer Ausdrucksmuster Auskunft über die emotionale Aktivierung<br />
geben. Der damit verb<strong>und</strong>ene Verfahrensaufwand steht jedoch meist nicht<br />
im Verhältnis zur Qualität der identifizierten Emotionen.<br />
23
STeFAN SelKe<br />
Zahlreiche Methoden zur Messung der Wahrnehmungsselektion versuchen zu<br />
rekonstruieren, wie eine (visuelle) Information in den Kurzzeitspeicher des Gehirns<br />
gelangen kann. Daneben gibt es Methoden zur Messung der allgemeinen<br />
Aktivierung (Involvements), z.B. durch direkte Verhaltensbeobachtung oder indirekte<br />
Befragung. Gefühle sind „schneller“ als die mit einem Reiz zusammenhängen<br />
Kognitionen (erkenntnisvorgänge). Daher spielt neben dem Involvement in<br />
den Methoden zur Messung der Anmutung der erste spontane eindruck, den eine<br />
Anzeige oder ein Produkt beim Konsumenten hinterlässt, eine zentrale Rolle. es<br />
ist notwendig diesen „ersten Eindruck“ zu untersuchen, weil der überwiegende<br />
Teil von Alltagshandlungen (darunter z.B. auch Käufe) unreflektiert vollzogen<br />
wird. Handeln ist nur scheinbar rational <strong>und</strong> wird eher von emotionalen Motiven<br />
ausgelöst. Gerade Werbebilder werden nur flüchtig <strong>und</strong> erst nach zahlreichen<br />
Kontakten bewusst wahrgenommen, so dass eine bewusste Zuwendung die erste<br />
Anmutung im Idealfall konkretisieren <strong>und</strong> präzisieren soll.<br />
Dritte ebene: Qualitative Transformation in stabile Gedächtnisbilder<br />
Bei den Verfahren zur Messung der quantitativen/qualitativen Skalierung des<br />
klar bewussten eindrucks geht es übergreifend darum, den Weg eines <strong>Bild</strong>es von<br />
der Perzeption hin zu einer handlungsleitenden Qualität nachzuverfolgen, d.h.<br />
die Transformation in stabile Gedächtnisbilder, in intentionale Verarbeitungsprozesse<br />
<strong>und</strong> letztlich in Verhaltensänderungen. Hierzu zählen Methoden zur<br />
Messung von lern- <strong>und</strong> Verhaltensprozessen. Am häufigsten werden dabei Recallmessungen<br />
angewendet. Hierbei werden die Versuchspersonen zuerst mit<br />
den zu testenden Informationen konfrontiert <strong>und</strong> danach dazu befragt, woran sie<br />
sich erinnern können oder ob sie eine bestimmte Vorlage erkennen können. Recalltests<br />
dienen als direkte Methode der Abfrage der erinnerungsstärke. Daneben<br />
dienen Recognitiontests zur Wiedererkennung einer bestimmten Vorlage. Sie liefern<br />
höhere Werte als Recalltests. In der literatur zu Recall- <strong>und</strong> Recognitiontests<br />
wird empfohlen, dass der Kontakt zwischen Versuchspersonen <strong>und</strong> Testinformationen<br />
am besten „biotisch“ erfolgen sollte. Ein Problem dieser Testform ist daher<br />
die Messung der erinnerungsstärke ohne Wechsel der Modalitätsebene. Wesentliches<br />
Kennzeichen für die Validität eines erinnerungstest ist die Operation auf<br />
derselben Modalitätsebene, d.h. die erinnerung an bildhafte Informationen sollte<br />
ebenfalls bildhaft erfolgen. Wird die Modalitätsebene beibehalten, können erinnerungsinhalte<br />
erfasst werden, die sich durch Recallmessungen nicht aktivieren lassen.<br />
Der Wechsel der Modalitätsebene ist umgekehrt einer der häufigsten Fehler<br />
bei Recall-Recognitiontests. Recalltests sind allerdings dann sinnvoll einsetzbar,<br />
wenn die Messung der erinnerungsstärke von verhaltenswirksamen <strong>Bild</strong>motiven<br />
unter laborbedingungen erfolgt, die ein hohes Maß an situativem Involement<br />
beinhalten.<br />
Um Aussagen über die erinnerungsstärke eines <strong>Bild</strong>es treffen zu können, ist<br />
zu überprüfen, welche bildlichen Detailinformationen tatsächlich abgespeichert<br />
24
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
wurden. Diese Prämisse ist Ausgangspunkt aller lern- <strong>und</strong> erinnerungstests.<br />
Dabei ist jedoch die Messung gespeicherter Informationen keineswegs unproblematisch.<br />
Die diversen Messverfahren liefern bei gleichen Bedingungen unterschiedliche<br />
ergebnisse (Krugmann 1985: 45ff.). Diese Methoden werden allgemein<br />
zur Überprüfung von Gedächtniswirkungen akzeptiert, jedoch hinsichtlich<br />
möglicher Aussagen bezogen auf Verhaltenswirkungen kritisiert (Blair 1987).<br />
Recallmessungen zu <strong>Bild</strong>ern sind besonders problematisch, da die unbewussten<br />
<strong>Bild</strong>verarbeitungsprozesse nur bedingt zu erfassen sind (Krugman 1977: 7ff.,<br />
1986: 83). Deshalb sind zur Überprüfung der erinnerungsstärke von <strong>Bild</strong>ern Recognitiontests<br />
zu bevorzugen (Krugman 1986: 85).<br />
Vierte ebene: Intentionale Verarbeitungsprozesse<br />
Zur Messung intentionaler Reizverarbeitungsprozesse werden Methoden zur<br />
Messung von Einstellungen/Images angewandt. Im quantitativen Bereich kommt<br />
hier z.B. das Polaritätenprofil zum Einsatz, im qualitativen Bereich projektive Fragen<br />
(im Gegensatz zu direkten Fragen), likes & Dislikes-Fragen, die sich nur auf<br />
die Extrempole einer möglichen Einstellung beziehen, assoziative Verfahren, Expertendelfis<br />
oder sog. Imagery-Messmethoden.<br />
Fünfte Ebene: Handlungsleitende Erlebnisqualität<br />
Zur Messung der lebendigkeit eignen sich insbesondere introspektive Verfahren,<br />
z.B. verbale Ratingskalen oder nonverbale <strong>Bild</strong>erskalen. Beide Verfahren können<br />
kombiniert werden. So zeichnet sich das von Marks (1973) entwickelte VVIQ (Vividness<br />
of Visual Imagary Questionnaire) durch Validität <strong>und</strong> Reliabilität aus. es<br />
umfasst eine fünfstufige Ratingskala mit 16 Items zur Einschätzung der Lebendigkeit<br />
innerer <strong>Bild</strong>er. Bipolare <strong>Bild</strong>erskalen haben demgegenüber den Vorteil,<br />
dass sie die „kognitive Kontrolle“ unterlaufen <strong>und</strong> so ansonsten schwer erfassbare<br />
Empfindungen erfasst werden können.<br />
Insgesamt weist Dieterle (1992: 12) darauf hin, dass es zwar eine ganze Palette<br />
an Verfahren zur Messung der Aktivierung, der erinnerungsstärke <strong>und</strong> der lebendigkeit<br />
von <strong>Bild</strong>ern gibt, in der Praxis jedoch aus forschungspragmatischen<br />
Gründen eine sinnvolle Auswahl aus diesem Angebot getroffen werden muss.<br />
Zusätzlich ist für eine empirisch f<strong>und</strong>ierte <strong>Bild</strong>wirkungsmessung die einhaltung<br />
der klassischen Gütekriterien der Sozialforschung zu beachten. Hierbei zeichnet<br />
sich schon jetzt ab, dass sich das Phänomen <strong>Bild</strong>, bzw. visuelle <strong>Bild</strong>kommunikation<br />
gegenüber diesen Gütekriterien (Reliabilität, Validität <strong>und</strong> Objektivität) sehr<br />
„sperrig“ verhält.<br />
25
STeFAN SelKe<br />
6 Bewusstheit visueller Kommunikation <strong>und</strong> Verhaltensänderung<br />
duch <strong>Bild</strong>er<br />
Bei der Messung von <strong>Bild</strong>wirkungen konnten bisher die ebenen Aufmerksamkeit,<br />
erinnerung <strong>und</strong> lebendigkeit unterschieden werden. Nun ist weiter zu fragen, ob<br />
<strong>und</strong> wie man die „verborgenen“ Bewusstseinsinhalte eines <strong>Bild</strong>betrachters analysiert.<br />
Wir können nicht angeben, bis zu welchem Grad sich die Verhaltenswirksamkeit<br />
von <strong>Bild</strong>ern letztlich auf diese unbewussten kognitiven Vorgänge stützt.<br />
Die Notwendigkeit, über die Bewusstheit visueller Kommunikation nachzudenken,<br />
besteht aber in jedem Fall. Hierbei sind Exkurse in verschiedene wissenschaftliche<br />
Disziplinen notwendig, die sich aus je unterschiedlicher Perspektive<br />
mit dem Über-Individuellen unserer erfahrungen <strong>und</strong> erlebnisinhalte auseinandersetzen.<br />
Bevor wir aber die Frage angehen können, wie unbewusst oder bewusst<br />
<strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wahrnehmung ist, müssen wir uns mit den Graden der Bewusstheit unseres<br />
menschlichen Verhaltens insgesamt beschäftigen. Menschliche Verhaltensmuster<br />
unterscheiden sich dabei nach der Art des Auslösers (interne Faktoren<br />
= Triebe, kognitive Prozesse oder externe Faktoren = Umweltreize), der Art der<br />
entstehung <strong>und</strong> Tradierung (biologische versus kulturelle evolution) sowie der<br />
Art der Bewusstheit (bewusst vs. unbewusst). Die Messung von <strong>Bild</strong>wirkungen<br />
zielt letztlich auf die methodische Isolierung von Differenzen ab. es geht nicht<br />
um Verhalten, sondern um Verhaltensänderung durch <strong>Bild</strong>er. Dabei ist zu fragen,<br />
welchen Determinanten eine Verhaltensänderung durch <strong>Bild</strong>er eigentlich<br />
unterliegt. Im Rahmen der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung muss die Frage beantwortet<br />
werden, durch welche Auslöser eine Änderung eines Verhaltens herbeigerufen<br />
wird. Die Determinanten der Verhaltensänderung werden von den verschiedenen<br />
wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich eingeschätzt.<br />
26<br />
• Triebtheoretische Ansätze (Psychoanalyse) gehen davon aus, das menschliches<br />
Verhalten auf unabhängige <strong>und</strong> starke innere Kräfte (Triebe, Instinkte)<br />
zurückzuführen (Freud 1933 Rensch 1965) ist. Hierbei wird erklärt, warum<br />
ein gleichartiger Reiz zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder bei unterschiedlichen<br />
Personen verschiedene Reaktionen auslöst – indem man interne,<br />
intervenierende Faktoren annimmt. Um Verhalten in dieser Perspektive<br />
zu erklären, muss nach „Symbolen des Unbewussten“ (in <strong>Bild</strong>ern) gesucht<br />
werden. Situativen Umwelteinflüssen wird zu wenig Beachtung geschenkt.<br />
So wird z.B. mit diesen Ansätzen nicht erklärt, wie etwa das Lernen, das ja<br />
definitiv mit Umwelteinflüssen zu tun hat, sich in Form von Verhaltensänderungen<br />
auswirkt.<br />
• Behavioristische Theorien postulieren hingegen, dass menschliches Verhalten<br />
vollständig durch Umweltreize determiniert ist. In dieser einstellung<br />
macht es dann Sinn, die Stärke von Reizen zu untersuchen <strong>und</strong> Reaktionen<br />
auf diese Reize dazu ins Verhältnis zu setzen. Der Behaviorismus vernachlässigt<br />
jedoch in extremer Weise kognitive Prozesse, da Menschen als umfassend<br />
fremd gesteuerte Wesen betrachtet werden.
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
• Kognitivistische Ansätze versuchen Individuen als relativ unabhängig von<br />
äußeren Situationsfaktoren, also Trieben <strong>und</strong> Reizen, zu verstehen. Menschen<br />
haben in dieser einstellung einsicht in ihr Handlungspotential, sie<br />
können ihr Verhalten selbst regulieren <strong>und</strong> ihr leben eigenständig mit Sinn<br />
füllen. Innerhalb des kognitivistischen Paradigmas sind die Determinanten<br />
der Verhaltensänderung durch offene Befragungen zu rekonstruieren. Aktive<br />
Informationsverarbeitungs- <strong>und</strong> Sinngebungsprozesse können so plausibel<br />
gemacht werden. Übersehen wird jedoch dabei, wie sich Bedürfnisse, Stimmungen<br />
etc. sich auf genau dieses Informationsmanagement auswirken. Der<br />
freie Wille <strong>und</strong> die Rationalität von entscheidungen, die diesem Paradigma<br />
zu Gr<strong>und</strong>e liegen, müssen durch die neuesten ergebnisse der Neurobiologie<br />
zudem stark in Zweifel gezogen werden.<br />
Insgesamt kann jeder theoretische Ansatz bzw. jedes Paradigma mit seinem spezifischen<br />
Menschenbild nur je einen Ausschnitt menschlichen Verhaltens erklären.<br />
Im Allgemeinen ergibt sich menschliches Verhalten aus einer Kombination<br />
unterschiedlicher Determinanten. eine Wirkungsmessung von verhaltenswirksamen<br />
<strong>Bild</strong>ern muss zwischen bewusstem <strong>und</strong> unbewusstem Verhalten unterscheiden.<br />
Der Zustand „Bewusst“ umfasst dabei gr<strong>und</strong>legend zwei Aspekte, die<br />
im Rahmen von <strong>Bild</strong>wirkungstests differenziert werden <strong>und</strong> auf der ebene der<br />
Operationalisierung beachtet werden müssen.<br />
• Bewusstheit (awareness) meint hierbei die Fähigkeit, ereignisse <strong>und</strong> Vorgänge<br />
bezogen auf eine Umwelt oder den eigenen Organismus im „Hier<strong>und</strong>-Jetzt“<br />
der eigenen Lebenswelt wahrzunehmen <strong>und</strong> dementsprechend zu<br />
reagieren.<br />
• Bewusstsein (consciousness) umfasst die subjektive Bewertung <strong>und</strong> Reflektion<br />
des bewusst erlebten. Festzuhalten ist ebenfalls, dass Bewusstheit eine<br />
notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Bewusstsein ist.<br />
Das „Unbewusste“ umfasst im Kontrast dazu psychische Prozesse, die einer<br />
konkret entäußerbaren Reflektion verschlossen bleiben. Selbst bewusstes Nachdenken<br />
oder bewusste Willensanstrengungen können dem Bewusstsein das Unbewusste<br />
nicht zugänglich machen. Diese Tatsache hat weit reichende Auswirkungen<br />
auf <strong>Bild</strong>wirkungstests: „Die unbewussten psychischen Prozesse steuern<br />
in weiten Bereichen das menschliche Verhalten, dies sollte in der Analyse von<br />
Verhaltensmustern berücksichtigt werden“ (Dieterle 1992: 27).<br />
Der Stellenwert von <strong>Bild</strong>ern in der Triebtheorie <strong>und</strong> Kulturwissenschaft<br />
ein Trieb oder ein Bedürfnis hat eine interne Quelle. er ist geknüpft an einen somatischen<br />
Vorgang in einem Organ oder Körperteil. Dies wäre die physiologische<br />
Komponente des Triebes. Aufgr<strong>und</strong> des physiologischen Ursprungs sind Triebe<br />
(entgegen der landläufigen Meinung) unabhängig von Außenreizen, sie entstehen<br />
intern <strong>und</strong> müssen intern befriedigt werden. Dabei ist nicht der Trieb selbst,<br />
27
STeFAN SelKe<br />
sondern sind die Triebrepräsentanzen Gegenstand des Bewusstseins. Hiermit<br />
sind Vorstellungen <strong>und</strong>/oder Phantasien gemeint. Im Unbewussten wird der<br />
Trieb durch diese Triebrepräsentanzen abgebildet. Nur auf Basis dieser Vorstellungen<br />
kann der Trieb in das Bewusstsein gelangen. Kann ein Trieb aufgr<strong>und</strong> von<br />
Dissonanzen mit moralischen, ethischen oder normativen Bedingungen nicht<br />
befriedigt werden, beginnt ein psychischer Vorgang der Abwehr, d.h. die Triebrepräsentanzen<br />
müssen unabänderlich in das Unbewusste abgelegt werden. Im<br />
Positivfall ist das Ziel jedoch die „lustvolle“ Triebbefriedigung, die zu einer Veränderung<br />
des mit dem Trieb verb<strong>und</strong>enen erregungszustandes führt. Das Mittel,<br />
um zu dieser Triebbefriedigung zugelangen, ist das Triebobjekt, das nicht mit<br />
der Triebrepräsentanz verwechselt werden darf! Nach Freud ist das Triebobjekt<br />
die variabelste Komponente des Triebes, d.h. ein Objekt ist nicht an einen Trieb<br />
geb<strong>und</strong>en, sondern eignet sich nur in mehr oder weniger typischer Weise zur<br />
Befriedigung eines Triebes.<br />
<strong>Bild</strong>er in der Werbung können im Idealfall die darauf abgebildeten Objekte zu<br />
Triebobjekten machen, wenn die Erlebnisqualitäten der Abbildung den psychischen<br />
Triebrepräsentanzen eines Triebes entsprechen. In diesem Fall würde<br />
das <strong>Bild</strong> sicher am wirkungsvollsten sein. Umgekehrt ist im Rahmen von <strong>Bild</strong>wirkungsstudien<br />
zu fragen, welche möglichen Triebrepräsentanzen aus Sicht der<br />
Betrachter in einem <strong>Bild</strong>motiv wahrgenommen werden.<br />
Die Theorie des Unbewussten auf Basis der Psychoanalyse ist nur eine Möglichkeit,<br />
die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern zu erklären. es liegt vielleicht näher, sozialwissenschaftliche<br />
bzw. kulturanthropologische Theorien zu Rate zu ziehen, was hier<br />
abschließend getan werden soll. Dabei geht man davon aus, dass die Verhaltenswirksamkeit<br />
von <strong>Bild</strong>motiven an symbolische <strong>und</strong> intersubjektiv verständliche<br />
Sinnformeln geb<strong>und</strong>en ist. Im Rahmen der Kulturanthropologie wird behauptet,<br />
dass individuelle Verhaltensweisen von kulturspezifischen symbolischen Sinnformeln<br />
(den sog. transkulturellen Verhaltensuniversalien) überformt werden, die<br />
als eine Art „kulturelle Fixpunkte“ (Tiger/Fox 1973: 23) fungieren <strong>und</strong> unser Verhalten<br />
in seinen Möglichkeitsformen einschränken. Symbolische Sinnformeln<br />
sind die operationalisierbaren Inhalte des Konstrukts Kultur. Sie überformen das<br />
Wissen des Einzelnen, sie nehmen Einfluss auf sein Tun <strong>und</strong> Lassen. Im Rahmen<br />
von sozialen lernprozessen werden solche symbolischen Sinnformeln angeeignet.<br />
In jeder Gesellschaft lernen Individuen, flüchtige Informationen durch<br />
begriffliches Denken zu objektivieren <strong>und</strong> schafft sich so eine allgemein verständliche<br />
Sammlung von Symbolen. Das daran geb<strong>und</strong>ene Wissen ist dann objektunabhängig,<br />
es lässt sich durch soziale Diffusionsprozesse tradieren bzw. vererben.<br />
Individuelles Wissen wird dabei institutionalisiert, d.h. in typisierte Routinen <strong>und</strong><br />
Rituale überführt, die allgemeinverständliche Hintergr<strong>und</strong>folien zur Gestaltung<br />
des Alltags, zur Bewältigung konkreter Handlungssituationen <strong>und</strong> zur Deutung<br />
der Wirklichkeit darstellen. Diese objektivierten <strong>und</strong> institutionalisierten Wissensbestände<br />
müssen jedoch legitimiert werden, damit sie wirksam bleiben. Le-<br />
28
Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />
gitimation geschieht durch die „Beilegung“ von Sinn. Zu diesem Zweck sind also<br />
symbolische Sinnformeln notwendig, die allgemein zugänglich <strong>und</strong> verständlich<br />
sind. Sinnformeln basieren dabei hauptsächlich auf sog. atheoretischem Wissen,<br />
d.h. Moralvorstellungen, Werten, Glaubensgr<strong>und</strong>sätzen, Sprichwortweisheiten,<br />
Mythen, Märchen, legenden, Riten etc. (Berger/luckmann 1987: 56ff.). Derart<br />
formt sich die eigene Sicht auf die Wirklichkeit, das eigene Weltbild, aus.<br />
Symbolische Sinnformeln legitimieren also die wissensbasierten Institutionen<br />
einer Kultur. Dies tun sie meist bildhaft. Symbolische Sinnformeln kleiden ihre<br />
Aussagen oft in <strong>Bild</strong>motive, wodurch sich ansonsten abstrakte ethische Prinzipien<br />
besser, d.h. wirksamer darstellen lassen. es ist bemerkenswert, dass unterschiedliche<br />
Kulturen sehr ähnliche symbolische Sinnformeln ausweisen. Als erklärung<br />
für diese Universalität der Motive können die angeborenen Triebe <strong>und</strong> Bedürfnisse<br />
angeführt werden, die es im Kontext kultureller <strong>und</strong> sozialer Ordnung zu<br />
kanalisieren gilt. Im Zusammenhang zwischen erlebnisbetonter Gestaltung von<br />
<strong>Bild</strong>motiven in der Werbung <strong>und</strong> der Verhaltenswirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern kann<br />
der Wert symbolischer Sinnformeln erkannt werden. „Als visuelle Operationalisierung<br />
von symbolischen Sinnformeln sind solche <strong>Bild</strong>motive allgemein verständlich<br />
<strong>und</strong> verfügen über einen Bedeutungsgehalt, der sich auf Probleme des<br />
menschlichen Daseins gründet <strong>und</strong> somit eine (fast) uneingeschränkt gültige<br />
Aktualität besitzt“ (Dieterle 1992: 50). Hieraus lässt sich als Aufgabe für eine empirische<br />
<strong>Bild</strong>wirkungsforschung die Rekonstruktion <strong>und</strong> Systematisierung dieser<br />
symbolischen Sinnformeln ableiten. Zu fragen ist also, welche (formoffenen) Basismotive<br />
es eigentlich gibt <strong>und</strong> wie diese jeweils kontextbezogen in eine Form<br />
gebracht werden. Zu fragen ist weiter, inwieweit es den <strong>Bild</strong>betrachtern eigentlich<br />
bewusst ist, dass sie nicht auf ein konkretes Motiv sondern auf eine typische Sinnformel<br />
reagieren.<br />
7 Zusammenfassung<br />
In diesem Beitrag wurden gr<strong>und</strong>legende Prämissen <strong>und</strong> Prinzipien einer empirischen<br />
<strong>Bild</strong>wirkungsforschung vorgestellt. Der Überlegenheitseffekt von <strong>Bild</strong>ern<br />
wurde anhand einer vergleichenden Darstellung von Theorien der Informationsverarbeitung<br />
visueller Reize näher erläutert. Auf dieser Basis konnten dann<br />
verschiedene Messmethoden vorgestellt werden, die versuchen, einzelne Dimensionen<br />
von <strong>Bild</strong>wirkung empirisch zu erfassen. Keine dieser Methoden kann als<br />
allgemeingültig eingeschätzt werden. Weiterhin stand der Aspekt der Unbewusstheit<br />
im Mittelpunkt der Diskussion. Hier zeigte sich eine gr<strong>und</strong>sätzliche <strong>und</strong><br />
auch mit den ausgefeiltesten Methoden kaum auflösbare Ambivalenz: Einerseits<br />
machen gerade die Anteile unbewusster Wahrnehmung <strong>und</strong> Verarbeitung den<br />
Reiz des Visuellen aus, andererseits ist genau dieser Anteil per definitionem nicht<br />
messbar. Daher ist abschließend festzustellen, dass lediglich ein sensibler Umgang<br />
mit dem Wissen um die prinzipielle Undarstellbarkeit für die Konzeption<br />
von Testinstrumenten hilfreich ist. Alles andere ist pure Illusion.<br />
29
STeFAN SelKe<br />
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32
STeFAN SelKe<br />
Rekonstruktive Sozialforschung online<br />
Qualitative <strong>Bild</strong>analyse-Chats mit der Open Source Software<br />
VeraICON<br />
1 Rekonstruktion kommunikativer <strong>Bild</strong>wirkungen durch Online-<br />
Gruppendiskussionen<br />
<strong>Bild</strong>er haben eine spezifische Anschaulichkeit bzw. Potenzialität im Deutungsprozess<br />
individueller <strong>und</strong> kollektiver Wirklichkeiten. Unter allen Kommunikationsmedien<br />
kommt ihnen eine herausragende Bedeutung zu, da sie extrem bedeutungsoffen<br />
<strong>und</strong> damit anfällig für Kontextualisierungen sind.<br />
Zuletzt hat der Streit um die massenmediale Veröffentlichung von Karikaturen<br />
des Propheten Mohammed deutlich gemacht, wie intensiv das evokationspotenzial<br />
von <strong>Bild</strong>ern ausgeprägt ist. Im Fall der Karikaturen kann sogar behauptet<br />
werden, dass diesen <strong>Bild</strong>ern eine unmittelbare handlungsleitende Funktion zukommt.<br />
Sie regen nicht nur die Kommunikation über die Inhalte der <strong>Bild</strong>er an,<br />
sie aktivieren auch Handlungen als Reaktion auf die <strong>Bild</strong>motive. Auch „alltäglichere“<br />
<strong>Bild</strong>sorten – private Fotos, Werbefotografien, Wahlplakate – sind von derartigen<br />
handlungsleitenden Wirkungen betroffen.<br />
Genau diese Kausalkette von Wahrnehmung, Selbstdeutung, Kommunikation<br />
über <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> daraus resultierenden Handlungen steht im Mittelpunkt des Kon-<br />
35
STeFAN SelKe<br />
zepts zu Online-Gruppendiskussionen mit visuellen Stimuli, kurz: VeraICON.<br />
Dabei geht es darum, die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern empirisch nachzuweisen, indem<br />
ein entsprechendes Testverfahren entwickelt, erprobt <strong>und</strong> angewandt wird.<br />
Der folgende Beitrag beschreibt daher skizzenhaft das Konzept der Open Source<br />
Software VeraICON, die es ermöglicht, Online-Gruppendiskussionen, sog. qualitative<br />
<strong>Bild</strong>analyse-Chats, durchzuführen <strong>und</strong> stellt gr<strong>und</strong>legende Überlegungen<br />
zu diesem Verfahren vor.<br />
2 Reden über <strong>Bild</strong>er als kommunikative Gattung<br />
Wir alle sind gewohnt, über <strong>Bild</strong>er zu kommunizieren. Dies betrifft sowohl <strong>Bild</strong>er<br />
im privaten <strong>Raum</strong> (Familienfotos etc.), <strong>Bild</strong>er im öffentlichen <strong>Raum</strong> (Werbefotos,<br />
Plakate) als auch <strong>Bild</strong>er, die in andere Medien eingebettet sind (Pressefotos,<br />
Anzeigenfotos, etc.). Alle Formen der Kommunikation über <strong>Bild</strong>er finden sozial<br />
eingebettet im Alltag statt. Jedoch können diese Alltagskontexte, in denen <strong>Bild</strong>bedeutungen<br />
kommunikativ hergestellt werden, können aufgr<strong>und</strong> ihrer Dislokalität<br />
<strong>und</strong> Komplexität unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten kaum je<br />
erforscht werden. Deshalb wird hier die Frage verfolgt, ob es möglich ist, online<br />
über <strong>Bild</strong>er zu kommunizieren <strong>und</strong> damit die diskursive Wirkung von <strong>Bild</strong>ern<br />
empirisch f<strong>und</strong>iert zu rekonstruieren.<br />
Die Wissenssoziologie bietet sich für ein deratiges Vorgehen als leitparadigma<br />
an, fragt sie doch im Kern, wie gesellschaftliche Wirklichkeit sozial, kommunikativ<br />
<strong>und</strong> interaktiv konstruiert wird (gr<strong>und</strong>legend dazu Berger/luckmann 1997).<br />
Individuelle Erkenntnisprozesse sind immer in soziale Kontexte <strong>und</strong> vorgängige<br />
Wissenshorizonte <strong>und</strong> erfahrungsbedingungen eingebettet. Die Wissenssoziologie<br />
bezeichnet diesen Umstand mit „Sozialität des Wissens“. Die Sozialität von<br />
Wissen <strong>und</strong> erkennen ist die zentrale These <strong>und</strong> das Kernthema der Wissenssoziologie:<br />
„Wissen […] ist eine Funktion des Sozialen. […] Die Gesellschaft ist<br />
nicht nur ein Gegenstand des Wissens, sie geht konstitutiv in das Wissen mit ein“<br />
(Knoblauch 2006: 17ff.). Dies bedeutet aber auch, dass Gruppenstrukturen als<br />
Konkretion der „Sozialität“ das typologisierende Denken <strong>und</strong> die konsenssuchende<br />
Meinungsbildung fördern. Dieser „Common Sense“ ist kein „Abfallprodukt“<br />
sozialer Prozesse sondern vielmehr als integrativ für die Sozialstruktur einer Gesellschaft<br />
anzusehen.<br />
Der wichtigste Mechanismus zur erzeugung von Konsens <strong>und</strong> Integration ist dabei<br />
die Sprache. Wirklichkeit, dies zeigen einschlägige Studien (Knoblauch 1995,<br />
1996) zur Konstitution unterschiedlichster Mileus <strong>und</strong> deren „Objektivität“, wird<br />
hauptsächlich kommuniktiv erzeugt. In Bereich der qualitativen Sozialforschung<br />
spricht man dann von sog. „Kommunikativen Gattungen“ (Knoblauch/Luckmann<br />
2000). In der gemeinsamen Kommunikation bildet sich eine intersubjektive<br />
Wirklichkeit aus. Diese kann, von außen betrachtet, komplett irrational wirken,<br />
36
Rekonstruktive Sozialforschung online<br />
ist jedoch für die Teilnehmer der Kommunikation verbindlich <strong>und</strong> selbstverständlich.<br />
Hier gilt in jedem Fall das Thomas-Theorem: „What man defines as real, is<br />
real in his consequences“.<br />
Wie lässt sich nun die Kommunikation über <strong>Bild</strong>er in diesen Kontext einordnen?<br />
Hierbei stellt sich die Frage, wie sich die <strong>Bild</strong>sprache mit der Sprache über <strong>Bild</strong>er<br />
verhält. Hierbei lautet die Forschungsfrage: Wie kann man die Wirkung von<br />
<strong>Bild</strong>ern rekonstruieren, indem man die Kommunikation über diese <strong>Bild</strong>er interpretiert?<br />
<strong>Bild</strong>er, so die Kernthese, sind immer mit kollektiven Sinnbildungsprozessen<br />
verb<strong>und</strong>en (vgl. auch Michel 2003), die methodisch rekonstruiert werden<br />
können.<br />
3 <strong>Bild</strong>bedeutung als ergebnis aktiver Sinngenerierungsprozesse<br />
epistemologischer Ausgangspunkt von VeraICON ist die einsicht, das bedeutungsvolle<br />
Aussagen über <strong>Bild</strong>er nur vor dem Hintergr<strong>und</strong> variabler <strong>und</strong> aktiver<br />
Sinngebungsprozesse real agierender Betrachter in sozialen <strong>und</strong> kommunikativen<br />
Kontexten entstehen. Diese genuin wissenssoziologische Perspektive auf <strong>Bild</strong>er<br />
grenzt sich explizit von solchen <strong>Bild</strong>inhaltsanalysen ab, die versuchen, allein von<br />
der manifesten Formstruktur eines <strong>Bild</strong>es auf dessen latenten Sinngehalt zu<br />
schließen (exemplarisch Beck 2003; Fuhs 2003; Pilarczyk/Mietzner 2003). Statt<br />
also die „Sprache der <strong>Bild</strong>er“ zu analysieren, sollte die Sprache analysiert werden,<br />
mit der über <strong>Bild</strong>er gesprochen wird. Jeder Betrachter erweitert „von sich aus“ je<br />
nach Erkenntnisinteresse oder kulturellen Kontext das Dargestellte über die bloße<br />
erscheinung hinaus. Diese Tatsache verlangt das eintreten des wissenschaftlichen<br />
Interpreten in einen erweiterten Kommunikationsprozess. Viele <strong>Bild</strong>interpretationsmethoden<br />
untersuchen z.B. die Relation von <strong>Bild</strong>ern zum abgebildeten Realitätsausschnitt<br />
(Objektivitätsproblematik). Eine <strong>Bild</strong>bedeutung wird – unabhängig<br />
vom Gebrauchskontext – als Entität/Konstante angenommen.<br />
<strong>Bild</strong>er sollen in diesem Untersuchungsansatz jedoch gerade nicht als entitäten<br />
behandelt werden, die einen festgelegten Inhalt oder Motiv aufweisen. Vielmehr<br />
wird der Versuch gemacht, die aktiven <strong>und</strong> variablen Sinngenerierungsprozesse,<br />
die mit bedeutungsoffenen Kommunikationsprozessen über <strong>Bild</strong>er verb<strong>und</strong>en<br />
sind, angemessen zu rekonstruieren. Dabei kann auf ein erprobtes Verfahren<br />
der rekonstruktiven Sozialforschung zurückgegriffen werden. In Gruppendiskussionen<br />
emergiert die Gruppenmeinung derart, dass die gemeinsam erzeugte<br />
Sinnkonstruktion sichtbar wird. Unter den verschiedenen Variationen, die im<br />
Methodenkanon der qualitativen Sozialforschung gehandelt werden, hat sich die<br />
dokumentarische Methode der Gruppendiskussion für diesen Ansatz als besonders<br />
fruchtbar erwiesen.<br />
37
STeFAN SelKe<br />
4 Die dokumentarische Methode als Verfahren zur Gewinnung typischer<br />
Argumentationsmuster<br />
Kommunikation über <strong>Bild</strong>inhalte findet immer vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines kulturspezifischen<br />
<strong>und</strong> damit kollektiven Erfahrungsraums statt. Die entscheidende<br />
Frage lautet also: Wie kann das Bedeutungsspektrum eines öffentlich zirkulierenden<br />
<strong>Bild</strong>es (z.B. eines Plakates) methodisch rekonstruiert werden? Um diese<br />
Frage zu beantworten, wird theoretisches Handwerkszeug benötigt. Aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer methodenimmanenten Zielsetzung eignet sich besonders die dokumentarische<br />
Methode zur Rekonstruktion von <strong>Bild</strong>wirkungen. Durch Adaption der<br />
Methode der dokumentarischen Gruppendiskussionen auf Basis der Wissenssoziologie<br />
Karl Mannheims <strong>und</strong> in Anlehnung an die Erkenntnisse der sog. „Rekonstruktiven<br />
Sozialforschung“ (Bohnsack 2003) ist es möglich, die Variabilität von<br />
Sinngebungsprozessen bei der Kommunikation über <strong>Bild</strong>er zu rekonstruieren.<br />
Diese Sichtweise auf <strong>Bild</strong>er grenzt sich explizit von solchen Analysen ab, die versuchen,<br />
allein von der manifesten Formstruktur eines <strong>Bild</strong>es auf dessen latenten<br />
Sinngehalt zu schließen (z.B. kunstgeschichtliche ikonografisch-ikonologische<br />
Verfahren oder das Verfahren der objektiven Hermeneutik).<br />
Dokumentarische Gruppendiskussionen stimulieren argumentationsreiche <strong>und</strong><br />
begründungsintensive sprachliche <strong>Interaktion</strong>en <strong>und</strong> ermöglichen in „Fokussierungsmetaphern“<br />
latent vorhandene Gruppenmeinungen auf den Punkt zu bringen.<br />
Dies kann insbesondere für Fragestellungen nutzbar gemacht werden, bei<br />
denen Gruppen hinsichtlich dominant vergemeinschaftender Kriterien (z.B. politische<br />
Meinung) verglichen werden. Der „Dokumentsinn“ (daher der Name der<br />
Methode) verweist darauf, wie typischerweise eine <strong>Bild</strong>bedeutung kommunikativ<br />
hergestellt wird <strong>und</strong> welcher allgemeingültige, kollektive Charakter dadurch repräsentiert<br />
wird. Dieser unterscheidet sich vom augenscheinlichen, immanenten<br />
Sinngehalt des Motivs radikal. jede <strong>Bild</strong>analyse nach der dokumentarischen Methode<br />
verweist daher auf den intersubjektiv geteilten Interpretationsrahmen einer<br />
Realgruppe, die eine „Weltanschauung“ teilt.<br />
es ist der Verdienst von Bohnsack (2001a), diese Methode auch für <strong>Bild</strong>analysen<br />
erprobt <strong>und</strong> somit erschlossen zu haben. Anhand der dokumentarischen Methode<br />
lassen sich Gruppendiskussionen so konzipieren, dass kollektiv gültige Bedeutungen<br />
(„Weltbilder“) rekonstruiert werden. Die dokumentarische Methode<br />
ist bisher sowohl für einzelbildanalysen (Bonsack 2001) nutzbar gemacht worden<br />
als auch exemplarisch in einer Gruppendiskussion (Michel 2001) zu <strong>Bild</strong>ern.<br />
38
Rekonstruktive Sozialforschung online<br />
5 Übertragung von Offline-Methoden in den Online-Bereich<br />
Die Forschungslücke, die mit dem vorliegenden Konzept geschlossen wird, liegt<br />
in der Übertragung dieser Methode in den Onlinebereich. Da die Organisation<br />
<strong>und</strong> Durchführung dokumentarischer face-to-face Gruppendiskussionen sehr<br />
aufwendig ist, wurde bei ISIC nach einem forschungspragmatischen Weg gesucht,<br />
mehrere Personen synchron <strong>und</strong> asynchron ohne großen Aufwand zu <strong>Bild</strong>ern<br />
<strong>und</strong> deren Wirkungen zu befragen <strong>und</strong> sie gemeinsam über <strong>Bild</strong>er kommunizieren<br />
zu lassen. Die lösung des Problems liegt in der Durchführung virtueller<br />
Gruppendiskussionen, die gleichwohl vom Gr<strong>und</strong>satz her der dokumentarischen<br />
Methode folgen. Die Software VeraICON erlaubt die Durchführung netzbasierter<br />
Gruppendiskussionen mit visuellen Stimuli. 1<br />
Mit VeraICON liegt nun eine bereits praxiserprobte <strong>Bild</strong>analysesoftware <strong>und</strong> ein<br />
Untersuchungsinstrumentarium vor, das für verschiedene Projekte adaptiert<br />
wurde. VeraICON ist ein Verfahren zur empirisch validen, reliablen <strong>und</strong> objektiven<br />
Rekonstruktion von <strong>Bild</strong>wirkungen. Die Online-Befragungsplattform liegt<br />
inzwischen in der Betaversion vor. Sie ermöglicht sowohl synchrone live-Chats<br />
als auch asynchrone Diskussionsforen zu beliebig vielen, frei wählbaren <strong>Bild</strong>ern,<br />
Filmen <strong>und</strong> (zukünftig auch) 3D-Darstellungen (vgl. Abb. 1). Diese können als<br />
visuelle Reize eingespielt <strong>und</strong> von Besuchern der Online-Befragungsplattform besprochen<br />
werden. Die dabei erzeugten <strong>und</strong> protokollierten Datenprotokolle (chatlogs)<br />
aus den bildbasierten Gruppendiskussionen werden in ein QDA (Qualitative<br />
Data Analysis)-Programm exportiert, dort kodiert <strong>und</strong> analysiert (vgl. Abb. 2). Aus<br />
der komparativen Analyse des Deutungshandelns mehrerer, je nach Ausgangsfrage<br />
definierter, Gruppen lassen sich schließlich Rückschlüsse über die Wirkung<br />
der untersuchten <strong>Bild</strong>er ziehen. Die Anwendung netzbasierter erhebungsmethoden<br />
bedeutet auch ein Überschreiten von Disziplingrenzen.<br />
1 Vgl. dazu auch den folgenden Beitrag „Entwicklung von Systemkomponenten für die Software Vera-<br />
ICON“ von Tobias Bolte in diesem Arbeitsbericht.<br />
39
STeFAN SelKe<br />
Abb. 1: Screenshot VeraICON (Frontend)<br />
Abb. 2: Software für computergestützte qualitative Datenanalyse<br />
40
6 Qualitative Verfahren als Heuristiken – quantitative als Letztbegründung?<br />
VeraICON ist ein innovatives Verfahren zur Analyse von <strong>Bild</strong>rezeptionsprozessen.<br />
es entstand aus pragmatischen Überlegungen heraus, die dazu führten, eine<br />
klassische Methode der qualitativen Sozialforschung in den Bereich des Online-<br />
Research zu übertragen. VeraICON bietet einen qualitativen Zugang zum Phänomen<br />
<strong>Bild</strong>. Damit ist das Verfahren natürlich angreifbar, denn es erzeugt weder Repräsentativität<br />
noch „harte“ Daten, wie sie etwa in der Werbewirkungsforschung<br />
gefordert werden. Messbarkeit im Sinne von letztbegründung, wie sie aus dem<br />
deduktiven, positivistischen Paradigma der quantitativen Sozialforschung hervorgeht,<br />
ist jedoch gar nicht das Ziel von VeraICON. Es geht viel mehr darum,<br />
tragfähige <strong>und</strong> plausible Heuristiken zu erzeugen, die sich forschungsleitend<br />
für weitere Untersuchungen auswirken. Im Ideallfall werden Schlüsselkonzepte<br />
hervorgebracht, die komplexe Zusammenhänge begrifflich auf den Punkt bringen<br />
<strong>und</strong> durch Hinzufügen empirisch „gesättigter“ Daten immer konkreter <strong>und</strong><br />
anschaulicher werden zu lassen. Diese Heuristiken sind dann Ausgangspunkt<br />
für die Suche nach weiteren Daten, Hypothesen, Denkansätzen oder begründete<br />
Vermutungen, die dazu dienen, neue erkenntnisse zu sammeln <strong>und</strong> bereits vorhandenen<br />
zuzuordnen. Im Alltag finden sich Heuristiken in unseren Ad-hoc-Systematisierungen<br />
<strong>und</strong> Typisierungen („Der erste Blick“ etc.). Sie können als „theoretisches<br />
Raster“ verwendet werden, welches durch empirische Beobachtungen<br />
immer weiter aufgefüllt wird. Das forschungsleitende Potenzial dieser Ansätze<br />
besteht darin, den Blick auf bestimmte Prozesse zu lenken (<strong>und</strong> dafür andere<br />
auszublenden). Deshalb besteht die Funktion von VeraICON auch darin, „Heuristiken<br />
der Sichtbarmachung“ zu erzeugen.<br />
literatur<br />
Rekonstruktive Sozialforschung online<br />
Beck, C. (2003): Fotos wie Texte lesen: Anleitung zu einer sozialwissenschaftlichen<br />
Fotoanalyse. In: ehrenspeck, Y./Schäffer, B. (Hg.), Film- <strong>und</strong> Fotoanalyse<br />
in der erziehungswissenschaft. Opladen, 55-71.<br />
Berger, P. l./luckmann, T. (1997): Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit.<br />
eine Theorie der Wissenssoziologie. München.<br />
Bohnsack, R. (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative<br />
Methoden. Opladen.<br />
Bonsack, R. (2001a): Die dokumentarische Methode in der <strong>Bild</strong>- <strong>und</strong> Fotointerpretation.<br />
In: Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./Nohl, A.-M. (Hg.), Die dokumentarische<br />
Methode <strong>und</strong> ihre Forschungspraxis. Gr<strong>und</strong>lagen qualitativer<br />
Sozialforschung. Opladen, 67-90.<br />
41
STeFAN SelKe<br />
Bonsack, R. (2001b): „Heidi“: Eine exemplarische <strong>Bild</strong>interpretation auf der Basis<br />
der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./<br />
Nohl, A.-M. (Hg.), Die dokumentarische Methode <strong>und</strong> ihre Forschungspraxis.<br />
Gr<strong>und</strong>lagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 323-338.<br />
Fuhs, B. (2003): Fotografie als Dokument qualitativer Forschung. In: Ehrenspeck,<br />
Y./Schäffer, B. (Hg.), Film- <strong>und</strong> Fotoanalyse in der erziehungswissenschaft.<br />
Opladen, 37-54.<br />
Knoblauch, H. (1995): Kommunikationskultur. Berlin.<br />
Knoblauch, H. (1996) (Hg.): Kommunikative Lebenswelten. Zur Ethnografie einer<br />
„geschwätzigen Gesellschaft“. Konstanz.<br />
Knoblauch, H. (2006): Wissenssoziologie. Konstanz.<br />
Knoblauch, H./luckmann,T. (2000): Gattungsanalyse. In: Flick, U./von Kardoff,<br />
e./Steinke, I. (Hg.), Qualitative Forschung. ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg,<br />
538-546.<br />
Michel, B. (2001): Fotografien <strong>und</strong> ihre Lesarten. Dokumentarische Interpretation<br />
von <strong>Bild</strong>rezeptionsprozessen. In: Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./<br />
Nohl, A.-M. (Hg.), Die dokumentarische Methode <strong>und</strong> ihre Forschungspraxis.<br />
Gr<strong>und</strong>lagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 91-120.<br />
Michel, B. (2003): Dimensionen der Offenheit. Kollektive Sinnbildungsprozesse<br />
bei der Rezeption von Fotografien. In: Ehrenspeck, Y./Schäffer, B. (Hg.), Film<strong>und</strong><br />
Fotoanalyse in der erziehungswissenschaft. Opladen, 227-249.<br />
Pilarczyk, U./Mietzner, U. (2003): Methoden der Fotografieanalyse. In: Ehrenspeck,<br />
Y./Schäffer, B. (Hg.), Film- <strong>und</strong> Fotoanalyse in der erziehungswissenschaft.<br />
Opladen, 19-36.<br />
42
TOBIAS BOlTe<br />
eintwicklung von Systemkomponenten für die Software<br />
VeraICON<br />
Seit dem Wintersemester 2005/06 wird an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University<br />
im Rahmen einer interdisziplinären Veranstaltung der Prototyp einer Kommunikationsplattform<br />
für Gruppendiskussionen entwickelt. Das Besondere am<br />
Inhalt dieser Gruppendiskussionen ist, dass es sich dabei ausschließlich um <strong>Bild</strong>analysen<br />
handelt. Die Gruppendiskussionen sind in Chats organisiert. ein Nutzer<br />
kann an einem Chat teilnehmen <strong>und</strong> mit anderen Teilnehmern über <strong>Bild</strong>er, die<br />
durch eine vorgegebene Fragestellung bestimmt sind, diskutieren. Dies geschieht<br />
online über einen Webbrowser. Der Teilnehmer muss also nicht wie üblich zu<br />
Diskussionsr<strong>und</strong>en eingeladen werden <strong>und</strong> persönlich erscheinen, sondern kann<br />
bequem von seinem Heim-PC aus teilnehmen. Die Diskussion wird durch einen<br />
Moderator geleitet <strong>und</strong> die Daten dieser Diskussion werden protokolliert <strong>und</strong> später<br />
ausgewertet. Als dieses Projekt im Oktober 2005 vorgestellt wurde, kristallisierte<br />
sich schnell heraus, dass der technische <strong>und</strong> konzeptionelle Aufwand sehr<br />
viel größer werden würde als erwartet. Ich werde in diesem Beitrag nur kurz auf<br />
die technischen Details der Implementation <strong>und</strong> der Plattform eingehen. Hier<br />
sollen eher das Konzept <strong>und</strong> die Funktionalitäten im Vordergr<strong>und</strong> stehen.<br />
45
TOBIAS BOlTe<br />
1 Gr<strong>und</strong>anforderungen an die Software<br />
Das System sollte primär eine Möglichkeit bieten, mit einer Anzahl registrierter<br />
Teilnehmer <strong>und</strong> einem Moderator eine Diskussion führen zu können. Hierfür<br />
mussten die typischen Chat-Funktionen implementiert werden. Des Weiteren<br />
sollte der Moderator die Möglichkeit besitzen, die Anzeige von <strong>Bild</strong>ern, Videos<br />
<strong>und</strong> Texten zeitgesteuert im Chat-Klienten des Nutzers anzeigen zu lassen. Diese<br />
Inhalte sollten nicht erst während des Chats zusammengetragen <strong>und</strong> gesucht<br />
werden, sondern als fertige Pakete dem Moderator zur Verfügung stehen. Um<br />
verschiedene Diskussionen vergleichen zu können, ist dies besonders wichtig.<br />
Das bedeutet, dass vor Beginn eines Chats ein solcher Inhalts-Ablauf geplant werden<br />
muss.<br />
Um eine soziodemografische Auswahl der registrierten Teilnehmer für einen<br />
Chat vornehmen zu können, musste die Möglichkeit bestehen, die soziodemografischen<br />
Daten zu erfassen, erweitern zu können <strong>und</strong> nach diesen zu filtern.<br />
Des Weiteren sollte es ermöglicht werden, Diskussionsgruppen in ihrer Größe<br />
zu beschränken <strong>und</strong> dieses im System zu speichern. ein Chat sollte frühzeitig<br />
bekannt gegeben werden, damit die Teilnehmer zu- bzw. absagen <strong>und</strong> sich darauf<br />
vorbereiten können. Das System musste also eine Mail-Methode besitzen. Aus<br />
diesen Hauptfunktionen <strong>und</strong> Wünschen leitete sich ein System ab, welches aus<br />
drei Komponenten besteht:<br />
46<br />
1. Dem Backend-System, das für die erstellung <strong>und</strong> Haltung der Daten zuständig<br />
ist, aber auch die Funktionalitäten der Auswahl von Teilnehmern, Chatinhalten<br />
<strong>und</strong> Terminplanung beinhaltet. Darüber hinaus ist das Backend für<br />
die Verteilung der e-Mails zuständig.<br />
2. Dem Kommunikations-Server, der die Synchronisation des Chats gewährleistet.<br />
es besteht keine direkte physikalische Verbindung zwischen den Computern<br />
der einzelnen Teilnehmer. eine weitere Aufgabe des Servers ist es,<br />
den Diskussionsverlauf zu protokollieren.<br />
3. Dem Chat-Klienten, der in eine Website eingeb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> dem Nutzer die<br />
Kommunikation mit anderen Teilnehmern ermöglicht.
entwicklung von Systemkomponenten für die Software VeraICON<br />
2 Die Einzelkomponenten – Frontend<br />
Das Backend-System ist ein den Funktionen angepasstes Content-Management-<br />
System, das in PHP implementiert wurde. Alle Daten, die hier erfasst werden<br />
(alle außer den Chat-Protokollen), sind in einer MySQl-Datenbank gespeichert.<br />
Der Kommunikations-Server ist in java implementiert. er beinhaltet die Funktionalitäten<br />
der Vermittlung der Daten, der Protokollierung <strong>und</strong> der Instantiierung<br />
der einzelnen Chat-Räume. er ist das Herzstück des gesamten Systems <strong>und</strong> kommuniziert<br />
sowohl mit dem Backend (Anmeldung <strong>und</strong> Chatinhalte) wie auch mit<br />
den Chat-Klienten während des Chats.<br />
Der Chat-Klient wurde in Flash geschrieben. Flash wurde vor allem wegen der<br />
vielfältigen Möglichkeiten zur Oberflächenentwicklung <strong>und</strong> Funktionalitätsimplementation<br />
genutzt. Des Weiteren hat Flash den Vorteil, dass es auf den meisten<br />
Heim-PCs installiert ist oder aber einfach einzurichten ist.<br />
Findet ein Chat statt, so meldet sich der Teilnehmer mit dem Chat-Klienten an.<br />
Dieser überprüft, ob die Anmeldung erfolgreich <strong>und</strong> ob der Teilnehmer zur Teilnahme<br />
berechtigt ist. Ist dies der Fall, wird er einem Chat-<strong>Raum</strong> zugeteilt. jede<br />
weitere Kommunikation wird dann über den Kommunikations-Server geregelt.<br />
Schreibt der Teilnehmer etwas im Chat, so sendet der Chat-Klient diesen Text<br />
zum Kommunikations-Server <strong>und</strong> dieser verteilt die Nachricht an alle teilnehmenden<br />
Chat-Klienten.<br />
Der Moderator des Chats kann Inhalte wie Texte <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>er den Teilnehmern<br />
zusenden. Das heißt, dass er in den Ablauf einer Diskussion eingreifen oder sie<br />
vorantreiben kann. Um dies zu realisieren, hat der Moderator eine andere Oberfläche<br />
als die Teilnehmer. Er sieht einerseits, wie die Darstellung im Teilnehmer-<br />
Chat aussieht <strong>und</strong> hat andererseits eine Oberfläche mit Funktionalitäten um den<br />
Chat zu leiten. Im Gegensatz zu den Teilnehmern stehen dem Moderator noch<br />
weitere Funktionalitäten zur Verfügung. er kann einem Teilnehmer eine private<br />
Nachricht schicken <strong>und</strong> ihn, wenn er es für nötig hält, von dem Chat ausschließen.<br />
Insgesamt soll der Moderator als leitende Person <strong>und</strong> nicht als Teilnehmer<br />
auftreten.<br />
Eine zukünftige Erweiterung soll die grafische Anzeige der Chataktivitäten der<br />
Teilnehmer werden. Dies soll auch protokolliert werden, um das Verhalten innerhalb<br />
einer solchen Online-Diskussion 1 zu untersuchen. Um genauer zu verstehen,<br />
welche Vorbereitungen ein solcher Chat benötigt, gehe ich im Folgenden<br />
Absatz auf das Backend-System ein.<br />
1 Vgl. dazu den Beitrag „ConVis - Ein visuelles Chatsystem für die Unterstützung von Online-Gruppendiskusionen“<br />
von Patrik Burst in diesem Arbeitsbericht.<br />
47
TOBIAS BOlTe<br />
3 Die Einzelkomponenten – Backend<br />
Das Backend-System ist für die erstellung <strong>und</strong> Haltung aller Daten zuständig.<br />
es ist die Verwaltungseinheit der Plattform, die von Administratoren (hier sind<br />
keine Personen mit einer informatischen oder netzwerktechnischen Ausbildung<br />
gemeint) geführt wird. Hier werden einerseits alle Teilnehmer, Moderatoren <strong>und</strong><br />
Administratoren verwaltet. jeder Teilnehmer ist mit seinem Pseudonym, seiner<br />
E-Mail-Adresse <strong>und</strong> seinem Passwort sowie seinen soziodemografischen Werten<br />
– wie beispielsweise „Geschlecht = männlich“ – gespeichert. Andererseits ist<br />
dieses System zuständig, für die Terminplanung sowie die Chatplanung <strong>und</strong> die<br />
Medienverwaltung.<br />
Um einen Chat zu planen, benötigt man zuerst ein Thema <strong>und</strong> die dazu gehörigen<br />
Daten wie <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Texte. Sind diese vorhanden, so können sie über das<br />
System eingegeben bzw. hochgeladen werden. Nun können diese Inhalte einem<br />
sogenannten Panel hinzugefügt werden. Panels bestimmen den Ablauf eines<br />
Chats <strong>und</strong> repräsentieren dessen Inhalt. Ist ein solches Panel erstellt, wird es in<br />
der Datenbank hinterlegt <strong>und</strong> kann von den Moderatoren während eines Chats<br />
geladen werden. Bevor ein Chat stattfinden kann, muss allerdings zuerst ein Termin<br />
angelegt werden. Diesem Termin wird ein Thema <strong>und</strong> ein Panel zugeordnet.<br />
Die Teilnehmer werden in Gruppen zusammengefasst. Dies erfolgt über eine Filterfunktion,<br />
die nach den gewünschten soziodemografischen Werten sucht. Ist<br />
dies geschehen, werden die Teilnehmer per e-Mail über den Termin informiert<br />
<strong>und</strong> eingeladen. Sie können daraufhin mitteilen, ob sie an diesem Termin teilnehmen<br />
möchten oder nicht. Möchten sie teilnehmen, werden sie vom System<br />
freigeschaltet <strong>und</strong> können sich zum angegebenen Termin einloggen.<br />
In der Regel haben nur die Administratoren Zugriff zu dem Backend. Die Moderatoren<br />
sind nicht in den Verwaltungsprozess eingeb<strong>und</strong>en. So wird eine klare<br />
Trennung der Aufgaben erreicht. Die erstellung der Inhalte ist nur den Betreibern<br />
des Portals zugänglich. So können auch andere Personen, die sich nicht mit<br />
der speziellen Materie der <strong>Bild</strong>analyse <strong>und</strong> der Auswahl der Materialien auskennen,<br />
als Moderatoren agieren. Allerdings ist es auch möglich einem Moderator<br />
Administrationsrechte zu erteilen.<br />
48
4 Anwendungspotenzial<br />
entwicklung von Systemkomponenten für die Software VeraICON<br />
Die Kommunikationsplattform befindet sich noch in der Entwicklung. Momentan<br />
ist nur ein Prototyp verfügbar, welcher noch Schwierigkeiten mit sich bringt.<br />
einerseits gibt es noch einige technische Probleme, andererseits sind noch nicht<br />
alle Funktionalitäten fehlerfrei implementiert. Sollte diese Plattform in Zukunft<br />
zum einsatz kommen, wird sie neue Möglichkeiten der <strong>Bild</strong>analyse <strong>und</strong> in anderen<br />
Bereichen eröffnen. Gleichzeitig muss man sich allerdings der Vor- <strong>und</strong><br />
Nachteile eines solchen Systems bewußt sein:<br />
• Die Teilnehmer verhalten sich, wenn sie anonym agieren können, anders, als<br />
wenn ihre Diskussionspartner sich im selben <strong>Raum</strong> befinden.<br />
• Mimik <strong>und</strong> Gestik sowie Auftreten spielen im virtuellen <strong>Raum</strong> keine Rolle.<br />
• Meinungen, Aussagen <strong>und</strong> Antworten können länger <strong>und</strong> genauer überlegt<br />
werden.<br />
• Die Rollenverteilung im virtuellen <strong>Raum</strong> kann sich anders gestalten, als im<br />
reellen <strong>Raum</strong>.<br />
Ich gehe davon aus, dass virtuell geführte Diskussionen eine andere Herangehensweise<br />
erfordern. Vorteile sind:<br />
• Durch ein solches System kann man schneller mehr Teilnehmer erreichen.<br />
• Die Erreichbarkeit der Teilnehmer steigt, vor allem da keine Anreise zum<br />
Diskussionsort nötig ist.<br />
• Die Verwaltung der Teilnehmer wird vereinfacht, da die Daten intern <strong>und</strong><br />
zentral gespeichert werden, ohne dass persönliche Kontaktdaten (Ausnahme:<br />
e-Mail-Adresse) erhoben werden. So ist die Anonymität der Teilnehmer gewahrt.<br />
Diese neuen Möglichkeiten der Gruppendiskussionen können nach meiner einschätzung<br />
die klassischen Gruppendiskussionen lediglich ergänzen, aber nicht<br />
ersetzen.<br />
49
II. <strong>Bild</strong>kampagnen <strong>und</strong> kollektive Identitäten aus Sicht der<br />
<strong>Bild</strong>wirkungsforschung
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
Das Auge entscheidet mit<br />
Exemplarische Ergebnisse aus Wahlplakatanalysen zur B<strong>und</strong>estagswahl<br />
2005<br />
1 Forschungsschwerpunkt „Wirkungsanalyse <strong>und</strong> Wirkungssteigerung<br />
politischer Ikonografie“<br />
Angewandte <strong>Bild</strong>wirkungsanalyse fragt nach der kommunikativen leistung von<br />
Plakaten <strong>und</strong> deren diskursiver Wirkung, sowie nach gr<strong>und</strong>legenden einsichten<br />
in typische Wahrnehmungsstrukturen von Wahlplakaten. Da sich visuelle Kommunikation<br />
immer mehr neuen Konsum- <strong>und</strong> Wahrnehmungsgewohnheiten anpasst,<br />
wird auch neues Gr<strong>und</strong>lagenwissen über die Struktur der Wahrnehmung<br />
von Wahlplakaten benötigt. Die im Folgenden vorgestellten exemplarischen<br />
ergebnisse zeigen, dass wir versucht haben, <strong>Bild</strong>wirkung empirisch auf zwei<br />
Analyseebenen zu erfassen: im direkten Fallvergleich <strong>und</strong> in Form einer typologisierenden<br />
Auswertung. Die Fallvergleiche zielten darauf ab, im Kontext einer<br />
konkreten Wahl (B<strong>und</strong>estagswahl 2005) zu begründbaren Aussagen über die<br />
Qualität der dabei je eingesetzten Plakate zu gelangen. Hauptziel war es jedoch,<br />
den <strong>Bild</strong>typus, bzw. die <strong>Bild</strong>sorte „Wahlplakat“ näher zu untersuchen <strong>und</strong> dabei<br />
die Besonderheiten des Gebrauchs der Plakate <strong>und</strong> der Kommunikation über die<br />
Plakate zu rekonstruieren. Die ergebnisse sollten nicht im Sinne einer Wertung<br />
der Qualität der jeweiligen Kampagne missverstanden werden. Von Interesse war<br />
53
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
lediglich, welche Art von Aussagen getroffen wird <strong>und</strong> welche Zusammenhänge<br />
zwischen Begründungen bestehen. Im Folgenden werden stichwortartig ausgewählte<br />
Thesen vorgestellt.<br />
2 Analyse der Wahlplakate anlässlich der B<strong>und</strong>estagswahl 2005<br />
Im Zeitraum vom 9. bis zum 12. September 2005 hatten die leser der Online-<br />
Ausgabe der Süddeutschen Zeitung die Gelegenheit, an einem Diskussionsforum<br />
zu Plakaten der B<strong>und</strong>estagswahl 2005 teilzunehmen. In diesem Zeitraum griffen<br />
gut 2.200 Personen auf unsere Webseite zu, auf der das Forum stattfand. Aus den<br />
insgesamt knapp 300 einträgen im Forum wurde eine Trendanalyse erstellt, die<br />
hier dokumentiert wird. Aufgr<strong>und</strong> der schmalen Datenbasis erhebt sie keinen<br />
Anspruch auf Repräsentativität. Ähnlich wie beim Projekt „selling politics“ werden<br />
vielmehr gr<strong>und</strong>legende Argumentationsmuster rekonstruiert, die über die<br />
Wahrnehmung des <strong>Bild</strong>motivs hinausgehen <strong>und</strong> zeigen, nach welchen strukturellen<br />
Prinzipien Politik visuell kommuniziert <strong>und</strong> rezipiert wird.<br />
Diskussionsgr<strong>und</strong>lage im SZ-Forum waren je ein ausgewähltes Wahlplakat der<br />
Parteien CDU, SPD, Die linke.PDS, Bündnis 90/Die Grünen sowie der FDP.<br />
Für die <strong>Bild</strong>diskussion wurden von VisualStudies die Kategorien „Spontaner Eindruck“,<br />
„Gestaltung des Plakats“, „Inhaltliche Aussage“, Assoziationen zum Plakat“<br />
sowie „Emotionen“ vorgegeben, um die Beiträge zu strukturieren. Da sich im<br />
Projekt „selling politics“ gezeigt hatte, dass viele Diskussionsteilnehmer kritische<br />
Beiträge zur Politik der Parteien in das Forum einstellen, wurde zusätzlich präventiv<br />
die Kategorie „Meinungen zur Partei“ eingeführt, um diese Beiträge zu kanalisieren<br />
<strong>und</strong> von den reinen <strong>Bild</strong>betrachtungen zu trennen. Selbstverständlich<br />
gab es auch eine offene Kategorie „Sonstige Kommentare“. Das Forum ließ es<br />
außerdem zu, dass jeder Diskussionsteilnehmer selbst eine inhaltliche Kategorie<br />
anlegte. Davon wurde jedoch bis auf wenige Ausnahmen kein Gebrauch gemacht,<br />
was zeigt, dass das Meinungsspektrum ausreichend durch die vorgegebenen Dimensionen<br />
aufgefangen wurde.<br />
Aus Platzgründen werden nur lediglich die Analysen von zwei Plakaten vorgestellt.<br />
1 Da sich die B<strong>und</strong>estagswahl knapp zwischen den beiden Spitzenparteien<br />
entschied, greifen wird die entsprechenden Plakate von CDU <strong>und</strong> SPD heraus.<br />
Die Darstellung folgt einem einheitlichen Muster: Nach einer Gesamteinschätzung<br />
werden nacheinander die Punkte „Gestaltung“, „personenbezogene Aussagen“<br />
sowie „inhaltliche Aussage“ behandelt. Natürlich gibt es hierbei auch<br />
Überschneidungen <strong>und</strong> Besonderheiten. Originalkommentare der Diskussionsteilnehmer<br />
werden kursiv <strong>und</strong> in Anführungszeichen wiedergegeben.<br />
1 Ausführliche Darstellungen der Ergebnisse finden sich auf www.isic-furtwangen.de<br />
54
„Mehr Wachstum. Mehr Arbeit.“ (CDU)<br />
Bei dem Plakat der CDU gibt es aus Sicht der Diskussionsteilnehmer im Vergleich<br />
aller vorgestellten Plakate die geringste Korrespondenz zwischen Gestaltungs-<br />
<strong>und</strong> Inhaltsebene: <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Text stimmen offensichtlich nicht überein <strong>und</strong><br />
erzeugen, jeweils für sich genommen, Irritationen <strong>und</strong> ablehnende Reaktionen.<br />
Dem <strong>Bild</strong>motiv wird zwar eine recht gelungene <strong>Raum</strong>aufteilung zugestanden,<br />
dennoch sieht man ihm eine eher liebelose Entstehungsgeschichte an: „Foto,<br />
Schrift drauf, fertig. Passt doch, oder?“ Daher sind sich die meisten Besucher des<br />
SZ-Forums darin einig, dass hier ein „08/15-Plakat ohne jede Aussage“ vorliegt,<br />
Allerdings zeigt auch kein anderes Plakat so deutlich die Wirkmechanismen politischer<br />
Ikonografien. Analogschlüsse <strong>und</strong> Assoziationen, die bei der Markenwerbung<br />
gewollt sind, bewusst inszeniert <strong>und</strong> im perfekten Zusammenspiel professionalisiert<br />
werden, haben für die kommunikative leistung von Wahlplakaten<br />
oft kontraproduktive Wirkungen. Die Auswertung des SZ-Forums ist daher in<br />
der Summe eine Dokumentation derartiger kontraproduktiver Wirkungen. Viele<br />
davon sind so klar zu erkennen, dass zu fragen ist, warum sie nicht hätten vermieden<br />
werden können.<br />
Abb. 1: Wahlplakat zur B<strong>und</strong>estagswahl (CDU)<br />
Das Auge entscheidet mit<br />
So werden beim Plakat der CDU die wenigen positiven Gestaltungselemente<br />
durch eine insgesamt dissonante Inszenierung in ihrer Wirksamkeit extrem eingeschränkt.<br />
Aus Sicht der Diskussionsteilnehmer beinhaltet das Plakat dabei zwei<br />
Irritationsfelder: erstens die Künstlichkeit des Ausdrucks der Kandidatin <strong>und</strong><br />
zweitens die Bedeutungsoffenheit der inhaltlichen Aussage. Beides zieht Glaubwürdigkeitsverluste<br />
<strong>und</strong> emotionale Reaktanzen nach sich.<br />
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STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
ein Gr<strong>und</strong> für die entstehung dieser dissonanten <strong>Bild</strong>wirkung ist erstens die<br />
Blickrichtung der Kandidatin: Sie sieht knapp am Betrachter vorbei. Für den Betrachter<br />
wirkt dies irritierend <strong>und</strong> sogar abweisend. ein Diskussionsteilnehmer:<br />
„Zu wem spricht sie? An wen wendet sie sich? Jedenfalls nicht zu mir!“ Zwar wird<br />
dem Blick eine unterschwellige Wirksamkeit zugestanden – ein Diskussionsteilenehmer<br />
sieht darin einen Blicktypus, „wie ihn Gurus aufsetzen, wenn sie ihre<br />
jünger hypnotisieren wollen“. Dennoch erzeugt er eher eine abweisende Reaktion<br />
durch mangelhafte Ansprache des Rezipienten.<br />
Zwischen Sender <strong>und</strong> Empfänger schieben sich jedoch zweitens noch weitere,<br />
akzeptanzmindernde Filter in der visuellen Kommunikation. So wird die Körperhaltung<br />
der Kandidatin als „unecht“, ja die gesamte Person als „künstlich“ – <strong>und</strong><br />
damit auf jeden Fall mehr, als nur inszeniert. empf<strong>und</strong>en. Dieser Avatareffekt<br />
wird durch die Feststellung auf den springenden Punkt gebracht, dass sie auf dem<br />
Plakat eine Pose einnimmt, „die nicht ihr gehört“. Dieses Motiv der Instrumentalisierung<br />
<strong>und</strong> Fremdbestimmtheit taucht in der Diskussion um das Merkel-Plakat<br />
immer wieder auf. einige <strong>Bild</strong>betrachter sehen darin die Abhängigkeit von<br />
Vorgaben des Medienberaters, die von der Kandidatin - „einer verunsicherte Frau<br />
Merkel“ - nur unzureichend umgesetzt werden. In diesem Arrangement „scheint<br />
sie sich nicht wirklich wohl zu fühlen“. Diese Aussagen dokumentieren jedoch<br />
weniger die Sorge um das Wohlergehen <strong>und</strong> die emotionale Ausgeglichenheit<br />
der fremdbestimmten Kandidatin, sondern sind Quelle eines Ärgernisses, das im<br />
Verlust von Glaubwürdigkeit gipfelt. Die Geste, die nicht zur Aussage passt, das<br />
zu glatte Erscheinungsbild einer „optisch modifizierten Frau“, die Fehlansprache<br />
des eigentlichen (Wahl-)Publikums – dies sind in der Summe Gründe für emotionale<br />
Gegenreaktionen – <strong>und</strong> gleichzeitig für eine verminderte Kompetenzzuschreibung.<br />
Diese Gegenreaktionen werden aber nicht nur aus der dissonanten Inszenierung,<br />
sondern auch aus einem Wahrnehmungsdetail gespeist, das zeigt, wie subtil die<br />
Wirkung von Plakaten auf den Betrachter eigentlich ist. Hierin besteht bei allen<br />
Diskussionsteilnehmern die größte einigkeit: die Geste der Bestätigung geht<br />
in eine Geste des Belehrens über. Die Geste soll wohl ein Ausdruck souveräner<br />
entschlossenheit <strong>und</strong> zugleich motivierende Ansprache sein <strong>und</strong> doch wirkt sie<br />
nur wie eine besserwisserische Lektion („Ja, hab ich’s denn nicht schon zehn Mal<br />
erklärt?“) oder ein Ausdruck von Hilflosigkeit. („Hab ich doch schon h<strong>und</strong>ertmal<br />
erklärt!“).<br />
Dieses Deutungsmuster zieht starke emotionale Abwehrreaktionen bei den Betrachtern<br />
nach sich, die sich abgewiesen fühlen. ein Teilnehmer bringt es auf<br />
den Punkt: „Alles in allem habe ich das Gefühl, außen vor zu stehen“. Damit ist<br />
die Geste insgesamt künstlich, missglückt <strong>und</strong> erzielt eine kontraproduktive Wirkung:<br />
„Sie scheint eher eine schlechte Roboterimitation darzustellen!“ In diesen<br />
Aussagen zeigt sich auch, welcher Kontexteffekt die öffentliche Diskussion um<br />
das erscheinungsbild der Kandidatin auf die Wahrnehmung des Plakats hat. Die<br />
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Das Auge entscheidet mit<br />
(unterstellte) Hilflosigkeit wird zum <strong>Bild</strong> des „Politrobbi mit eingebauter Phrasendatenbank“<br />
komprimiert. Die optische Glättung wird durchaus auch im übertragenen<br />
Sinne als kritisch eingeschätzt. „Wie soll ich vertrauen, wenn nicht mal ihr<br />
Gesicht so gezeigt wird, wie es wirklich ist?“ Es ist allerdings falsch anzunehmen,<br />
diese Übertragung hätte primär mit dem Geschlecht der Kandidatin zu tun. Der<br />
Schluss von (gezeigten oder nicht gezeigten) Körpermerkmalen eines Kandidaten<br />
auf das leistungsspektrum der dahinter stehenden Partei gehört zum kleinen<br />
Einmaleins der Wahrnehmung <strong>und</strong> Wirkung von Wahlplakaten. Beispiele finden<br />
sich auch bei den meisten anderen, männlichen, Kandidaten. Verw<strong>und</strong>erlich nur,<br />
dass den Agenturen diese einfache Arithmetik bisher scheinbar verborgen blieb.<br />
Der künstlichen <strong>und</strong> abweisenden Wirkung des körperlichen Ausdrucks steht als<br />
weiteres dissonantes element die Bedeutungsoffenheit der Scheinaussage gegenüber,<br />
wobei hier noch einmal zwischen der Bedeutungsoffenheit unterschieden<br />
werden muss, die durch das <strong>Bild</strong>motiv selbst entsteht, <strong>und</strong> derjenigen, die durch<br />
die Textaussage erzeugt wird.<br />
Das gesamte <strong>Bild</strong>motiv potenziert nur noch einmal die Frage, die schon durch<br />
die gestische Ansprache gestellt wurde, die Frage, an wen die Kandidatin sich<br />
eigentlich wendet. Von den Personen im Hintergr<strong>und</strong> ist sie zu weit entfernt,<br />
um mit ihnen kommunizieren zu können, am Plakatbetrachter blickt sie knapp<br />
vorbei, alleine mit dieser optischen Verzerrung könnten die meisten Betrachter<br />
noch leben, wäre da nicht die aus der Sicht fast aller Diskussionsteilnehmer unverständliche<br />
Textaussage. Hierbei ist erstens unklar, was genau gemeint ist <strong>und</strong><br />
zweitens, wie das, was behauptet wird, erreicht werden soll.<br />
Die heftigste Irritation geht aber von der ungenügenden Unterscheidung zwischen<br />
„Arbeit“ <strong>und</strong> „Arbeitsplätzen“ aus. Hier wird nicht genügend differenziert,<br />
denn (wirtschaftliches) Wachstum zieht nicht automatisch mehr Arbeitsplätze<br />
nach sich. Fast alles bleibt im Unklaren: Für wen soll Wachstum <strong>und</strong> Arbeit<br />
zustande kommen? Was soll eigentlich wachsen? Die Phrase ist aus Sicht der<br />
Diskussionsteilnehmer also viel zu ungenau <strong>und</strong> grenzt sich zudem zu wenig<br />
von den Aussagen anderer Parteien ab. In der Summe ist es eher eine diffuse<br />
Forderung als eine inhaltlich verständliche Aussage. ein Premiumbeispiel für<br />
eine Null-Aussage: „eine identische Aussage wäre: Weniger Krankheit. Mehr Ges<strong>und</strong>heit“.<br />
Neben der Verständlichkeit der Aussage bleiben auch die Mittel der<br />
Zielereichung offen. Zwar gibt es eine Zielvorgabe, aber der „Weg aber dorthin<br />
wird nicht verraten“. Somit bleibt die Aussage insgesamt „völlig nebulös“. Diese<br />
Reaktionen decken sich mit den Ergebnissen aus dem Projekt „selling politics“ zu<br />
den Plakaten der Agenda 2010. ein Hauptkritikpunkt der Diskussionsteilnehmer<br />
war, dass mit den Plakaten zwar „utopische Fiktionen“ der Regierung entworfen<br />
wurden, aber durch die Offenheit der <strong>Bild</strong>-Text-Bezüge <strong>und</strong> der Absenz tiefergehender<br />
Informationen die Mittel zur Zielereichung völlig im Unklaren bleiben<br />
<strong>und</strong> eher latente Unsicherheiten beim Betrachter aktiviert werden als positive<br />
emotionen. Aufgr<strong>und</strong> der Bedeutungsoffenheit des CDU-Claims verw<strong>und</strong>ert es<br />
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STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
nicht, wenn bei den <strong>Bild</strong>betrachtern Assoziationen auftauchen, die noch einmal<br />
deutlich machen, wie schwierig es ist, auf der politischen Bühne ein inhaltliches<br />
Produkt, die „Wa(h)re Politik“ zu verkaufen. Die Ähnlichkeit des Plakats mit der<br />
„Titelseite des Geschäftsberichts einer Versicherungsgesellschaft“, so ein Diskussionsteilnehmer,<br />
zeigt zumindest, dass hier um Vertrauen geworben wird, wenn<br />
auch letztlich die Emotionalisierung nicht gelingt. Die Textzeile „Mehr Wachstum,<br />
mehr Arbeit“ verweist im Gegensatz zum Versuch der Poetisierung von Politik mit<br />
dem Versprechen „blühender Landschaften“ (H. Kohl) eher auf einen instrumentellrationalen<br />
oder fast schon technokratischen Charakter von Politikauffassung,<br />
einer Form der Ansprache, die von vielen ernsthaft besorgten, <strong>und</strong> damit emotionalisierten<br />
Bürgern, sicher nicht geteilt werden kann. eine Teilnehmerin der<br />
Diskussion brachte die Gesamtwirkung des Plakats in einer Fokussierungsmetapher<br />
stellvertretend auf den Punkt: „Das Plakat löst bei mir spontanes Befremden<br />
darüber aus, wie es möglich ist, dass offenbar komplett zynische Werbeprofis der<br />
CDU dieses Motiv verkaufen konnten. Außer der aufgehübschten Frau Merkel<br />
ist nichts Neues dabei, außerdem keinerlei Identifikationsmöglichkeit, keine Inhalte.<br />
es gibt keinen Versuch, mit diesem Motiv an meine Intelligenz, mein Herz<br />
oder mein Informationsbedürfnis zu appellieren“.<br />
„Wer Arbeit schaffen will, braucht Mut für Reformen.“ (SPD)<br />
Das für die Diskussion der B<strong>und</strong>estagswahlplakate ausgewählte SPD-Plakat zeichnet<br />
sich aus Sicht der Betrachter durch eine fast idealtypische Korrespondenz von<br />
<strong>Bild</strong>motiv <strong>und</strong> Textaussage aus. Insgesamt überwiegen zu beiden Dimensionen<br />
eindeutig die positiven Aussagen. Dennoch gibt es auch in dieser Diskussion eine<br />
deutliche Meinungsvarianz, die von Aussagen des Typs „ein Layout mit […] klaren<br />
Elementen, die eine positive Spannung […] aufbauen“ bis zur Feststellung reicht,<br />
dass das Plakat „nicht ansprechend“ sei. Die Kritik bezieht sich dabei auf die verwirrende<br />
Gestaltung des Plakats: „Alles scheint nicht dort zu sein, wo es eigentlich<br />
hingehört“. Die (unterstellte) chaotische Gestaltung des Plakats wird – wieder<br />
ein erkennbarer Effekt der öffentlichen Kontextdiskussion – symbolisch als Ausdruck<br />
eines vermeintlichen Chaos in der Partei gesehen. Wenig ansprechend sind<br />
explizit die Farben, die (mit negativen Vorzeichen versehen) als, „blass“, oder (mit<br />
positiven Vorzeichen versehen) als „dezent“ eingeordnet werden <strong>und</strong> bestenfalls<br />
an eine Werbung für Luxusautomarken erinnern. Mit dieser Farbkombination, so<br />
die Diskussionsteilnehmer, „sticht das Plakat nicht ins Auge“. So verkommt eine<br />
„passende, klare Aussage“ auf „kraftlosen Farben“. Ebenfalls wenig ansprechend<br />
oder gar irritierend wirkt für viele Diskutierende das „erpresserbrief-Image“, das<br />
dadurch entsteht, dass die weißen Schriftfelder „wie aus der Zeitung ausgeschnitten“,<br />
„zusammengeklebt“ <strong>und</strong> „angepappt“ wirken.<br />
Die Person Schröders selbst wird zwar vereinzelt auch als „Leitfigur“ einer<br />
„schwachen Mannschaft“ tituliert, die Aussagen beziehen sich jedoch mehrheitlich<br />
auf den körperlichen Zustand des Kanzlers. In den Augen der Betrachter<br />
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wirkt dieser „angestrengt“, aber auch, „wie einer, der anpackt“: „er schwitzt, er<br />
schafft!“, so ein Diskussionsteilnehmer. Schröder hat also schon einmal besser<br />
ausgesehen, nun wirkt er wie ein „müder <strong>und</strong> abgekämpfter Kanzler“. Diese vom<br />
Körper ablesbare Anstrengung hat jedoch überraschenderweise einen akzeptanzförderlichen<br />
effekt. jemandem, der sich so anstrengt, vertraut man eher. Auf der<br />
Basis dieses Images erfolgt eine positive Kompetenzattribuierung: „Der kann‘s,<br />
dem vertrau‘ ich“, so ein Teilnehmer der Diskussion. Hierin zeigt sich dann vielleicht<br />
doch noch ein vorherrschendes Stereotyp der Zweigeschlechtlichkeit. Für<br />
die Inszenierung eines akzeptablen Politikers ist eine dominante Ausstrahlung<br />
notwendig. Bei einem Mann kann diese wie selbstverständlich gerade auch durch<br />
eine „raue Schale“ symbolisiert werden. Eine Politikerin tappt jedoch in die Falle<br />
ihrer doppelten Vergesellschaftung: Als Frau muss sie der Hübschungsnorm entsprechen,<br />
damit untergräbt sie aber gleichzeitig ihr Dominanzimage, das sie in<br />
ihrer Funktion haben sollte.<br />
Abb. 2: Wahlplakat zur B<strong>und</strong>estagswahl der SPD<br />
Das Auge entscheidet mit<br />
Bei der Darstellung Schröders wird das quasi inkorporierte Dominanzimage noch<br />
durch den Blick <strong>und</strong> die „Vertretergeste“ der Hand unterstützt. Der Blick wirkt<br />
auf die Betrachter „grimmig“, „wild“ aber auch „unreflektiert entschlossen“. Obwohl<br />
dies nicht gerade positive Kennzeichnungen sind, entsteht dabei eine selbstwertdienliche<br />
Konnotation: der Kanzler - ein Macher. Gleichwohl stellen einige<br />
Betrachter fest, dass auch Schröder (ähnlich wie Merkel), dem Wähler bei aller<br />
entschlossenheit nicht direkt in die Augen sehen kann. Diese Wahrnehmung verkehrt<br />
dann das positive Image ins Gegenteil: „Irgendwie ist dieser Blick total leer,<br />
<strong>und</strong> drückt überhaupt keinen Mut aus“.<br />
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STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
Eine weitere dissonante Stimmung wird durch die Abbildung der „unschön verkürzten<br />
Hand“ erzeugt, was als störend empf<strong>und</strong>en wird, die Gr<strong>und</strong>aussage der<br />
Geste aber nicht vollständig untergräbt sondern nur limitiert. Diese lautet aus<br />
Sicht der Betrachter: „Keine Selbstzweifel, Korrekturen sind nicht zu erwarten. […]<br />
Weiter so!“ Die Hand an sich ist für einige der Betrachter ein wirksames Symbol,<br />
wird doch damit der alte Wahlspruch von der ‚Politik der ruhigen (starken) Hand‘<br />
mitreflektiert <strong>und</strong> somit in homöopathischen Dosen ein Aha-Effekt erzeugt.<br />
Zwar wird die inhaltliche Aussage des Plakats stellenweise als „trivial“ tituliert,<br />
da die getroffenen Aussagen von niemandem bestritten werden, dennoch überwiegen<br />
hier (im Vergleich zu allen anderen Plakaten) eindeutig die Sympathiebek<strong>und</strong>ungen.<br />
Bei diesem Plakat gehen jedoch die Aussagen zur visuellen Gestaltung<br />
des Claims <strong>und</strong> diejenigen zur inhaltlichen Wirkung radikal auseinander.<br />
Obwohl der Satz „zusammengebastelt“ wirkt, ist es „immerhin ein vollständiger<br />
Satz, der vielleicht sogar stimmt“. Im Idealfall wird dem Text gar „Scharfsinn in<br />
Reinform“ zugestanden. Aus Sicht der Diskussionsteilnehmer ist die Aussage:<br />
„klar“, „deutlich“ <strong>und</strong> vor allem „ehrlich“. Dies resultiert daraus, dass nicht nur<br />
eine Behauptung aufgestellt wird, sondern eine klare Bedingung gestellt wird, die<br />
auch die Verteidigung des bisherigen Kurses <strong>und</strong> die Bitte um Geduld beinhaltet.<br />
Das ist auf jeden Fall ein Vorteil des SPD-Plakats: Jeder Betrachter kann seine eigenen<br />
erfahrungen mit der Realpolitik der letzten jahre mit der Behauptung, die<br />
durch das Plakat medial transportiert wird, vergleichen – allen anderen Parteien<br />
fehlt diese Vergleichsgr<strong>und</strong>lage. Mit diesem Hintergr<strong>und</strong>wissen über die bisherige<br />
Politik der SPD erscheint die Aussage nicht als reines Versprechen, wie dies<br />
notgedrungen bei den anderen Parteien der Fall sein muss.<br />
Dieser Vorteil wird durch <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Aussage des Plakats erfolgreich umgesetzt. es<br />
kommt zu einer insgesamt nüchtern positiven Aussage, die „im Prinzip okay <strong>und</strong><br />
zielführend“ ist, „wenn inhaltlich auch sehr einfach gehalten“. Die argumentative<br />
Kausalkette unterscheidet sich von den Basisgleichungen oder Mini-Imperativen<br />
der anderen Parteien. Der „Aufruf“ der SPD kommt an, weil der Ernst der Lage<br />
nicht rhetorisch nivelliert wird, sondern anerkannt wird. „Klare Ansage, nix beschönigt,<br />
offen <strong>und</strong> ehrlich“, wie dies von einem Teilnehmer zusammengefasst<br />
wird. Der Mut zum Reduktionismus der Aussage erlaubt, ohne damit gleich zu<br />
einer Null-Aussage zu gelangen, die emotionalisierung über die Attribute Glaubwürdigkeit<br />
<strong>und</strong> Vertrauen, die für den erfolg politischer Kommunikation zentral<br />
sind. Mit anderen Worten: Die „Botschaft […] kommt rüber“.<br />
Gleichwohl lassen die Aussagen der Diskussionsteilnehmer die Grenze der Vermarktung<br />
der Ware Politik wieder einmal deutlich erkennen. Sie bestätigen hiermit<br />
die Bef<strong>und</strong>e zur Agenda 2010-Kampagne. In der Diskussion um das Reformprogramm<br />
brachte ein Teilnehmer die Komplexität der Vermarktung von Politik<br />
folgendermaßen auf den Punkt: „Die Agenda ist doch keine lucky Strike oder<br />
H&M“. Was in der Markenartikelwerbung für ein Produkt funktioniert, muss<br />
noch lange nicht auch im B<strong>und</strong>estagswahlkampf für politische Inhalte funktio-<br />
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Das Auge entscheidet mit<br />
nieren. Auch wenn im Unklaren bleibt, welche Reformen auf dem SPD-Plakat<br />
damit gemeint sind, kommt für ein Politikplakat aus Sicht der Betrachter, „überraschend<br />
gut <strong>und</strong> ehrlich“ rüber, das Reformen erforderlich sind.<br />
Die emotionale Kapazität des Plakats ist also vorhanden, sie wirkt zielführend.<br />
Aber auch Schröder wirkt nicht nur über eine direkte Sympathiezuschreibung.<br />
Auch er muss sich dem Vorwurf der Selbstgefälligkeit aussetzen, die anders formuliert<br />
lautet: „Der Kanzler als Boss, der mit fast drohender Hand seine Politik<br />
verteidigt <strong>und</strong> mit harter Mimik klar macht, was wir alle noch nicht verstanden<br />
haben, er jedoch schon längst“.<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit dem Kandidaten Schröder zwar<br />
latent Persönlichkeitsmerkmale in den Vordergr<strong>und</strong> treten, dennoch nicht nur<br />
„auf Menschlichkeit gesetzt [wird] sondern […] auf Sachlichkeit“. Dies erzeugt insgesamt<br />
eine „nüchterne Aufbrauchstimmung“, die deutlich besser ankommt, als<br />
visionäre Versprechungen oder Abwertungen des politischen Gegners.<br />
3 Thesen zu Wahlplakaten – <strong>und</strong> deren Wirkungssteigerung<br />
Abschließend können in thesenartiger Form übergreifende erkenntnisse aus den<br />
beiden Pilotstudien formuliert werden, die den eingangs erhobenen Anspruch,<br />
gr<strong>und</strong>legende Wirkmechanismen von Plakaten zu rekonstruieren, gerecht werden.<br />
Sie sind als Heuristiken <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage für eine vertiefende Diskussion einzuordnen.<br />
• Plakativer Reduktionismus verträgt sich nicht mit Informationsbedarfen: Im<br />
Gegensatz zu Markenwaren erwarten die Konsumenten einer politischen<br />
Ware mehr Fakten <strong>und</strong> Informationen, vor allem solche, die sie unmittelbar<br />
selbst betreffen. Plakate können aufgr<strong>und</strong> ihrer medialen Inszenierung diesen<br />
Anforderungen nur sehr unzureichend gerecht werden. Die Mittel zur<br />
Zielerreichung können nicht kommuniziert werden. Vor allem für prozessorientierte<br />
Politik gilt, dass möglicherweise noch die Ziele, nicht aber die<br />
Mittel zur Zielerreichung so kommuniziert werden, dass sie nachvollziehbar<br />
<strong>und</strong> akzeptabel sind.<br />
• Körperlichkeit spielt in Wahlkämpfen wieder eine Rolle: Körperlichkeit ist<br />
in diesem Wahlkampf zu einem politischen Argument <strong>und</strong> zu einer Metapher<br />
geworden ist. In allen Diskussionen wurden Analogschlüsse von der<br />
visuellen Performanz der Kandidaten auf das leistungsvermögen oder die<br />
fachliche Kompetenz vorgenommen. Das Interesse an Politikerkörpern ist<br />
vielleicht der vorläufige Endpunkt der jahrelangen Personalisierung der Politik.<br />
Wenn es dem Wähler nun endgültig so erscheint, dass das land von einer<br />
einzigen Person regiert wird, dann ist es nur zu verständlich, dass er sich<br />
dann auch um den Ges<strong>und</strong>heitszustand <strong>und</strong> das Well-Being seines Regenten<br />
sorgt. Zwar spielt diese Beobachtungshaltung bei beiden Geschlechtern eine<br />
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STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
62<br />
Rolle, dennoch gibt es hier geschlechtsspezifische Unterschiede. Während<br />
sich die Diskussion um die Kandidatin Merkel eher um das Ästhetisierungsargument<br />
einpendelt, fokussiert sich die Aufmerksamkeit der Betrachter bei<br />
Schröder oder den anderen männlichen Kandidaten auf dessen vermeintlich<br />
erkennbaren körperlichen erschöpfungszustand. Die Rolle der Körperlichkeit<br />
kann in direktem Zusammenhang mit der Notwendigkeit gesehen werden,<br />
in politischen Kontexten nicht nur Kompetenz, sondern auch Dominanz auszudrücken.<br />
Für eine weibliche Kandidatin ergibt sich hier eine ambivalente<br />
Situation, denn sie muss gleichzeitig einem (männlich) normierten Schönheitsideal<br />
entsprechen, das aber im Resultat per definitionem nicht zu einer<br />
Dominanzattribuierung führen kann.<br />
• Inhaltliche Irritationen steuern die Plakatwahrnehmung dar: Kennzeichen<br />
der diskutierten Plakate sind übergreifend über alle Parteien die inhaltlichen<br />
Vakui, die sich aus der Verknappung von Aussagen ergeben. Während die<br />
linke noch mit dieser Inhaltsleere selbstironisch spielt, tappen die anderen<br />
Parteien in die Falle der Selbstgefälligkeit der herrschenden politischen Kaste,<br />
die an die eigenen Beschwörungsformeln glaubt. Bei den Betrachtern<br />
zeigt sich insgesamt eine intensive Nachfrage nach Themen, oder genauer:<br />
nach unterscheidbaren Themen. Die mangelnde Unterscheidbarkeit der<br />
politischen Programme spiegelt sich in den Aussagen zu den Wahlplakaten<br />
deutlich wider.<br />
• Die Aufmerksamkeit wird durch (scheinbar) irrelevante Motivdetails gesteigert:<br />
Die Diskussionen zu den Plakaten zeigen, dass trotz inhaltlicher Mängel<br />
Wahlplakate wirken können wenn sie Motivdetails enthalten, die im Sinne<br />
von Roland Barthes ein punctum enthalten, etwas, was eine unterschwellige<br />
Irritation auslöst, an dem der Blick hängen bleibt. Teilweise wurden solche<br />
Details bewusst integriert, teilweise sind sie wohl eher zufällig im Plakat enthalten.<br />
• Selbstreferentialität ist die größte Gefahr für die Akzeptanz eines Wahlplakats:<br />
Wie schon in der Studie zur Agenda 2010 zeigt sich auch bei den<br />
Plakaten zur B<strong>und</strong>estagswahl, dass Plakate fast immer eher dem Selbstbild<br />
eines Kandidaten oder einer Partei, moderiert von den professionellen Inszenierungsagenturen,<br />
entsprichen, als dem Wunschbild potenzieller Wähler.<br />
Diese lebensweltliche Ferne erzeugt Akzeptanzeinbußen, die leicht zu verhindern<br />
wären.<br />
Zusammenfassend lässt sich eine Diskrepanz zwischen dem quasi-selbstverständlichen<br />
einsatz von Wahlplakaten <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Zielerreichung<br />
feststellen. Es wird daher dringend notwendig, objektive, d.h. empirische,<br />
Wirkungsmessungen als Bestandteil von Kampagnenplanungen zu integrieren.
STeFAN SelKe<br />
Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten als<br />
Anwendungsfeld empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />
1 Identitätsherstellung als Kernfunktionen von <strong>Bild</strong>ern<br />
Forschung zum <strong>Bild</strong> ist quasi automatisch interdisziplinär. Dennoch kann man<br />
<strong>Bild</strong>er auch unter primär mediensoziologischen Fragestellungen untersuchen,<br />
wobei dann schnell der opake Begriff „Identität“ in den Mittelpunkt rückt: Die<br />
identitätsstiftende Wirkung ist eine der Hauptformen des gesellschaftlichen Gebrauchs<br />
von <strong>Bild</strong>ern. Dies gilt gleichermaßen für eine gesamtgesellschaftliche<br />
Perspektive (z.B. Fre<strong>und</strong> 1993), wie für die Individualperspektive des privaten<br />
Knipsers (Chalfen 1991; Guschker 2002; Starl 1995; Musello 1980). <strong>Bild</strong>er werden<br />
in den beteiligten <strong>Bild</strong>wissenschaften als extrem bedeutungsoffene mediale<br />
Phänomene diskutiert. einige eigenschaften von <strong>Bild</strong>ern treten dennoch immer<br />
wieder in den Vordergr<strong>und</strong>. Bevor nun näher nach dem Potenzial von <strong>Bild</strong>ern zur<br />
Herstellung kollektiver Identität gefragt wird, sollen einleitend kurz wesentliche<br />
Funktionen von <strong>Bild</strong>ern skizziert werden.<br />
1. <strong>Bild</strong>er haben ein scheinobjektives Verhältnis zur Wirklichkeit: Sie sind nicht<br />
objektiv, aber sie gelten als objektiv. <strong>Bild</strong>er zwingen sich uns auf, sie erzeugen<br />
Welten, in die wir als Betrachter „immersiv“ eintauchen. Der „Sprung in die<br />
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STeFAN SelKe<br />
66<br />
Imagination“, wie es der Kommunikationsphilosoph Vilèm Flusser nannte,<br />
ist für uns inzwischen zu einer mühelosen Kulturtechnik geworden. <strong>Bild</strong>er<br />
betrachten <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>er verstehen sind eine Selbstverständlichkeit.<br />
2. <strong>Bild</strong>er erzeugen Emotionen <strong>und</strong> lassen sich je nach Intention zu einem pragmatischen<br />
Gefühlsmanagement oder zur „Pflege der Gefühle“ einsetzen.<br />
Diese Qualität von <strong>Bild</strong>ern reicht von der Nostalgie (bei privaten Fotos) bis<br />
hin zur emotionalisierung durch Plakate, die in der Vorweihnachtszeit zu<br />
Spenden aufrufen oder im Kontext von pro bono-Kampagnen öffentlich zirkulieren.<br />
3. eng verb<strong>und</strong>en mit der Fähigkeit zur emotionalisierung ist die handlungsleitende<br />
Wirkung von <strong>Bild</strong>ern. Dies macht sich vor allem die Konsumwerbung<br />
zu Nutze, die versucht, eine affektuelle Handlungswahl am „Point of Sale“ zu<br />
erzeugen. Ähnliches gilt für Wahlplakate. Diese handlungsleitende Wirkung<br />
wird aber auch im Rahmen von Aufklärungskampagnen erwartet (vgl. Abb.<br />
1). eine noch offene Forschungsfrage ist dabei, ob sich diese unterstellte Wirkung<br />
auch empirisch messen lässt.<br />
4. <strong>Bild</strong>er tragen letztlich auch zur symbolischen Herstellung von Identität bei.<br />
Unsere privaten Fotos helfen uns, ein Selbstbild zu konstruieren <strong>und</strong> uns im<br />
Ablauf der Zeit als ein <strong>und</strong> dieselbe Person zu erleben (Guschker 2002). Aus<br />
soziologischer Perspektive ist die Frage, ob sich <strong>Bild</strong>er dazu eignen, kollektive<br />
Identitäten herzustellen, besonders interessant.<br />
Abb. 1: Aufklärungskampagne amnestiy international
Jede soziale Gruppe <strong>und</strong> jedes Kollektiv steht vor der Aufgabe, sich von ihrer Umwelt<br />
abzugrenzen <strong>und</strong> sich damit als Kollektiv nach innen zu stabilisieren. Dies<br />
geschieht u. a. durch Symbolisierung von Zugehörigkeit. Bei kleinen Gruppen ist<br />
dies noch relativ einfach, wie die Kulturgeschichte der Gruppenfotos zeigt (Fabian<br />
1982). eine äußerst spannende, bisher noch nicht einmal in Ansätzen untersuchte,<br />
bildhistorische Variante sind dabei Gruppenfotos, die die Mitglieder einer<br />
Gruppe so zeigen, dass diese ein Wappen, Emblem oder Abzeichen „bilden“.<br />
Der amerikanische Fotograf Goldbeck spezialisierte sich auf Aufnahmen großer<br />
Gruppen aus der Vogelperspektive. Zumeist zeigen seine Fotos Angehörige militärischer<br />
einheiten, die in schwarz-weiß-Kontrasten gekleidet sind <strong>und</strong> in der<br />
Form ihrer Aufstellung das Wappen „ihrer“ Einheit nachstellen (vgl. Abb. 2).<br />
Abb. 2: Gruppenfoto von Goldbeck aus der Vogelperspektive<br />
Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />
Derart wird kollektive Identität gleich doppelt symbolisiert: einmal in der Form<br />
der Aufstellung, in der jedes Element des <strong>Bild</strong>es sich als Teil des Ganzen repräsentiert,<br />
dann aber auch durch die Verteilung der Aufnahmen selbst <strong>und</strong> ihre<br />
Diffusion in den privaten Gebrauchskontext. Es ist klar, dass derartige Aufnahmen<br />
extrem aufwendig <strong>und</strong> planungsintensiv sind. Dies ist wohl auch ein Gr<strong>und</strong><br />
dafür, dass diese Form der Visualisierung kollektiver Identitäten nur in Ausnahmefällen<br />
(z.B. bei Olympiaden, beim Militär) zur Anwendung kommt. Zudem<br />
ist sie auf eine Gruppengröße begrenzt, die gerade noch abbildbar ist, ohne die<br />
Individualität des einzelnen komplett zu eliminieren.<br />
Wie aber kann man die Zugehörigkeit zu einer Gruppe symbolisieren, die so groß<br />
ist, dass sich die Mitglieder untereinander nicht mehr kennen, sich nicht mehr in<br />
unmittelbaren face-to-face-Kontakten begegnen – der Zugehörigkeit zu einer Nation<br />
etwa? Übergreifend ist also zu fragen, ob es möglich ist, durch die öffentliche<br />
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STeFAN SelKe<br />
Distribution von <strong>Bild</strong>ern, z.B. von Plakaten, zu einer Synchronisation von einstellungen<br />
<strong>und</strong> möglicherweise sogar zu positiven Handlungen im öffentlichen<br />
<strong>Raum</strong> beizutragen.<br />
2 <strong>Bild</strong>er als sinnstiftende Wahrnehmungsmedien: Visuelle Identität<br />
An dieser Stelle interessiert vor allen die Herstellung politischer kollektiver Identität,<br />
da davon ausgegangen werden kann, dass es sich hierbei um die allgemeinste<br />
<strong>und</strong> abstrakteste Form des Zugehörigkeitsgefühls handelt. Inzwischen gibt es<br />
eine wissenschaftlich ausformulierte Theorie des politischen <strong>Bild</strong>es, die weiter<br />
reicht als die bisher vorgelegten Ansätze, die sich um den Begriff „Mediokratie“<br />
(Meyer 2001) drehen <strong>und</strong> die Verschiebung von der Herstellung zur Darstellung<br />
von Politik (Sarcinelli 1987, 1994, 2002) betonen, oder den Wandel von einer<br />
parlamentarischen zu einer „präsentativen“ Demokratie.<br />
Der am anschaulichsten ausgearbeitete Ansatz einer visuellen Politik, die weit<br />
über kulturkritisches jammern hinausgeht, stammt von Hofmann (1998, 2005a,<br />
2005b). er betont gr<strong>und</strong>sätzlich die vergesellschaftende <strong>und</strong> vergemeinschaftende<br />
Wirkung politischer <strong>Bild</strong>er in fragilen postmodernen Gesellschaften. <strong>Bild</strong>er<br />
wirken, so die Kernthese, sinnstiftend <strong>und</strong> integrativ. Damit wird im Folgenden<br />
begründet, was in der Praxis der Politik längst offensichtlich ist: Politik bedient<br />
sich neuer Formen der Kommunikation, indem politische Kommunikation sich<br />
von einer reinen logozentristischen Sprachpolitik zu einer (auch) ikonozentristischen<br />
<strong>Bild</strong>politik hin verschiebt. Visuelle Kommunikation bringt auch Vorteile<br />
oder handfeste Leistungen mit sich. „Denkbar wäre“, so Hofmann (2005b: 74)<br />
weiter, „dass postmoderne Gesellschaften mit <strong>Bild</strong>ern kommunizieren müssen,<br />
weil Sprache allein die nötigen Leistungen – etwa demokratische Inklusion<br />
– nicht erbringen kann“. Der handfeste Vorteil von <strong>Bild</strong>ern liegt darin begründet,<br />
dass sie intersubjektiv verständliche Bedeutungshorizonte eröffnen. Gegenüber<br />
der bilderfeindlichen Haltung von Habermas (der sprachliche Kommunikationen<br />
Form rationaler Argumentation privilegiert) findet Hofmann für seine Kernthese<br />
einen theoretischen Anschlusspunkt in der Theorie sozialer Systeme von luhmann.<br />
Dessen Definition von Sinn enthält zumindest potenziell die Möglichkeit,<br />
auch über <strong>Bild</strong>er Sinnhaftes zu transportieren, wie folgende Aussage illustriert:<br />
„Sinn präsentiert Komplexität unmittelbar durch Verweisungsreichtum <strong>und</strong> weitergegebenen<br />
Selektionszwang; Sprache steigert <strong>und</strong> reduziert Komplexität mit<br />
Hilfe einer Differenzierung von Struktur <strong>und</strong> Prozess. Sinn ist zwar intersubjektiv,<br />
aber nicht allein sprachlich konstituiert; vielmehr bezieht er Wahrnehmungsprozesse<br />
(unter einschluss der Wahrnehmungen der Wahrnehmungen anderer)<br />
ein, die sich nicht in sprachliche Prozesse auflösen lassen“ (Luhmann 1971: 303).<br />
Sinn kann also auch visuell hergestellt werden. Dabei verweisen Sprache <strong>und</strong> <strong>Bild</strong><br />
immer aufeinander: „Kommunikation mit Sprache bzw. mit <strong>Bild</strong>ern ist relational:<br />
Das Sichtbare ist begrenzt sagbar (berichtbar <strong>und</strong> den Bedingungen der Wahr-<br />
68
nehmung) <strong>und</strong> das Sagbare kann sichtbar (wahrnehmbar unter den Bedingungen<br />
von Kommunikation) sein“ (Hofmann 2005b: 77). Und noch einmal Hofmann<br />
(2005a: 12f.): „Man wird davon ausgehen können, dass visuelle Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> die darauf aufbauende visuelle Kommunikation, nicht losgelöst von sprachlichen<br />
Diskursen existieren <strong>und</strong> umgekehrt. <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Sätze sind ineinander<br />
verwoben, das Sichtbare wird sagbar <strong>und</strong> das Sagbare sichtbar. In diesem Sinne<br />
werden im Folgenden gr<strong>und</strong>legende Wirkmechanismen von <strong>Bild</strong>ern vorgestellt,<br />
die sie als symbolische Medien zur Herstellung kollektiver Identitäten auszeichnen.<br />
3 <strong>Bild</strong>er als bereits getestete Ordnungen<br />
Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />
<strong>Bild</strong>er sind durchaus eine Alternative zur sprachlichen Kommunikation wenn es<br />
um die Herstellung kollektiver Identität geht, da sie gerade nicht die typischen<br />
eigenschaften sprachlicher Kommunikation aufweisen. Wahrnehmungsmedien<br />
(also <strong>Bild</strong>er), so luhmann, eröffnen alternative Optionen sinnhafter Kommunikation.<br />
„So kann neben die sprachliche Vermittlung von Informationen, die visuelle<br />
Kommunikation treten, die alle Überzeugungsmittel der Alltagserfahrung<br />
im <strong>Bild</strong> an sich binden kann“ (Hofmann 2005b: 78). Weil sie den Konsenszwang<br />
reduzieren, werden zunehmend <strong>Bild</strong>er in post-modernen Gesellschaften genutzt:<br />
„Wer mit <strong>Bild</strong>ern kommuniziert, informiert auf diffuse Art synchron <strong>und</strong> ohne<br />
Konsenszwang“. Synchronistation von Einstellung wurde jedoch eingangs gerade<br />
als wesentliches element der Herstellung kollektiver Identität herausgehoben.<br />
<strong>Bild</strong>er reduzieren das Widerspruchsrisiko, worauf schon luhmann (1996: 79f.)<br />
hinwies:<br />
„Während aber die Sprache mehr <strong>und</strong> mehr darauf verzichten muss, Realität zu garantieren,<br />
weil allem, was gesagt wird, auch widersprochen werden kann, verlagert sich<br />
die Reproduktion von Realität auf die beweglichen, optisch/akustisch synchronisierten<br />
<strong>Bild</strong>er. […] Tempo <strong>und</strong> optisch/akustische Harmonie des <strong>Bild</strong>verlaufs entziehen sich<br />
dem punktuell zugreifenden Widerspruch <strong>und</strong> erwecken den eindruck einer bereits<br />
getesteten Ordnung. Es gibt jedenfalls nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch<br />
des Wortes gegen das Wort einen Widerspruch des <strong>Bild</strong>es gegen das <strong>Bild</strong>.“<br />
Damit nimmt visuelle Kommunikation in der Tat eine ungewöhnliche Stellung<br />
ein. Sie erlaubt Integration aufgr<strong>und</strong> ihres „subjektiv nicht mehr kontrollierbaren<br />
Anschauungswissens“ (Luhmann 1996: 149). Dies macht visuelle Kommunikation<br />
im Kontext post-moderner, d.h. hochgradig differenzierter, Gesellschaften<br />
unverzichtbar. Welche Funktionen übernehmen politische <strong>Bild</strong>er als sinnhafte<br />
Wahrnehmungsmeiden <strong>und</strong> visuelle Kommunikationsform in einer ikonozentrischen<br />
politischen Sphäre genau? Welches sind die Leistungen von <strong>Bild</strong>ern bzw.<br />
visueller Kommunikation im Prozess der politischen Identitätskonstruktion?<br />
69
STeFAN SelKe<br />
4 <strong>Bild</strong>er als ersatzsymbolisierungen<br />
Identität im sozialwissenschaftlichen Sinne bedeutet – ganz gleich ob sie sich<br />
auf Individuen oder Kollektive bezieht – vor allem Kontinutiät <strong>und</strong> Kohärenz.<br />
Identität ist immer das ergebnis sozialer Konstruktion, wobei auf der individuellen<br />
ebene die so konstruierte Identität etwas ist, das in interpretativen Akten<br />
sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft verlängert wird. Der private<br />
Knipser erlebt durch seine fotografische Lebenschronik „Permanenz trotz Wandel“<br />
(Guschker 2002: 360). Personelle Identität ist eine Konstruktionsleistung,<br />
die auf den damit verb<strong>und</strong>enen ständigen symbolischen Reproduktionen des<br />
eigenen Identitätskonzepts angewiesen ist, dass zudem immer auch anschlussfähig<br />
sein muss. Ohne Anschlussfähigkeit kommt es zu Identitätsbrüchen oder<br />
Identitätsverlust.<br />
Unter dem Stichwort „Visuelle Politik“ werden vor allem kollektive Identiätskonstruktionen<br />
verhandelt. Hierbei verkompliziert sich die Konstruktionslogik. Kollektive<br />
Identität – oder ein Wir-Gefühl – basiert auf einer intersubjektiv geteilten<br />
Vorstellung, einem Image, der Gruppe, zu dem sich alle (mehr oder weniger)<br />
bekennen (können). Kollektive Identitäten sind also abhängig von der Zu- bzw.<br />
Abstimmung ihrer Mitglieder, sie sind konstruierter als personelle Identitäten.<br />
Je komplexer nun die Kontexte für eine derartige Gruppenbildung bzw. kollektive<br />
Identitätskonstruktion sind, desto umfangreicher müssen die Symbolisierungsbestrebungen<br />
werden, die die kollektive Identität stabilisieren. Symbolisierungen<br />
sind notwendig, weil das vergemeinschaftende element, das zur kollektiven Identität<br />
führt bzw. führen soll, oft gar nicht wahrnehmbar ist. Dies gilt insbesondere,<br />
so Hofmann (2005a: 6), für politische Identitäten: „Weil man den Staat <strong>und</strong> die<br />
politische Gemeinschaft, der man angehört, nicht wirklich sehen <strong>und</strong> anfassen<br />
kann, weil man aber von ihm bzw. ihr zu vielerlei veranlasst wird <strong>und</strong> man sein<br />
land auch emotional akzeptieren können soll, wird die Nation <strong>und</strong> die Gemeinschaft<br />
vielfach sichtbar bzw. erfahrbar gemacht.“ An dieser Stelle der Argumentation<br />
treten die <strong>Bild</strong>er auf die Bühne. Politik ist abstrakt, kann aber mit Symbolisierungen<br />
sichtbar gemacht werden. „Die Art der Visibilisierung von Politik<br />
[…] entscheidet in der Wahrnehmung der Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger mit über die<br />
Qualität der Gemeinschaft <strong>und</strong> es ist von zentraler politischer Relevanz, was für<br />
Selbstbilder […] zu den dominierenden Projektionen werden“ (a.a.O.: 7). <strong>Bild</strong>er<br />
sind somit sowohl ersatzsymbolisierungen, die den Abstraktionsgrad von Politik<br />
reduzieren bzw. das Abstrakte an Politik scheinbar sichtbar machen. Sie ermöglichen<br />
aber auch die Schaffung intersubjektiv verständlicher <strong>und</strong> wirksamer Ideen,<br />
Images oder leitbilder, die im besten Fall handlungsleitend werden <strong>und</strong> sich gegen<br />
andere (Alltags-)Vorstellungen durchsetzen (dominierende Projektionen).<br />
70
5 Differenzunempfindliche Inklusion durch <strong>Bild</strong>er<br />
Personelle <strong>und</strong> kollektive Identitäten sind hochgradig empfindlich für Störungen<br />
<strong>und</strong> damit ständig wandelbar. Dies liegt u .a. daran, dass Identitätsherstellung<br />
immer in Diskurse eingeb<strong>und</strong>en ist. So stellt sich letztlich auch bei jedem noch so<br />
einfachen Wahlplakat die Frage nach der Beziehung (Interdependenz) zwischen<br />
<strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Diskurs. es geht also um das Verhältnis sprachlicher <strong>und</strong> visueller Identitätskonzepte.<br />
Mittlerweile haben sich die Bedingungen zur Herstellung sowohl personeller<br />
als auch kollektiver Identitäten drastisch verändert. Plurale lebensformen <strong>und</strong><br />
Indivudualisierung machen es auf den ersten Blick fast unwahrscheinlich, identitätsstiftende<br />
Gemeinsamkeiten zwischen Subjekten zu entdecken. Gesucht werden<br />
also verstärkt Möglichkeiten zu einer „differenzunempfindlichen Inklusion“<br />
(Hofmann 2005a: 11f.). Damit wird der Normalfall der „differenzemfindlichen<br />
Exklusion“ ausgehebelt bzw. umgekehrt. Es bleibt zu zeigen, dass <strong>Bild</strong>er in besonderem<br />
Maße dazu fähig sind, diese integrative Wirkung zu entfalten. Sie bieten<br />
den Mitgliedern einer Gruppe die Möglichkeit eine Selbstversicherung, die sich<br />
hinreichend vom sprachlichen Diskurs bzw. sprachbasierten Identitätskonstruktionsmechanismen<br />
unterscheidet.<br />
6 Visuelle Unschärfe<br />
Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />
Visuelle Kommunikation macht ein sinnüberschüssiges Informationsangebot.<br />
Gerade in der präkognitiven Aufnahme von <strong>Bild</strong>ern <strong>und</strong> deren Unschärfe/Polyvalenz<br />
liegt eine Chance für kollektive Identitätskonstruktionen oder „Integration<br />
ohne Aktion“ (Hofmann 2005b). Durch diese „visuelle Unschärfe“ kann das<br />
Dissensrisiko, dass ansonsten bei der rein sprachlichen Kommunikation besteht,<br />
minimiert werden. Die unscharfe hohe Informationsdichte tritt beim Vergleich<br />
mit sprachlicher Kommunikation besonders deutlich zu Tage. er sieht hierin den<br />
zentralen Vorteil von <strong>Bild</strong>ern politischen Inhalts. Sprache ist genauer als <strong>Bild</strong>inhalte.<br />
Da Verständigung vielfach auf den Austausch sprachlicher Argumente angewiesen<br />
ist, mithin in der Postmoderne also der Kommunikationsbedarf steigt,<br />
wächst auch das Dissensrisiko. Sprachliches Behaupten <strong>und</strong> Argumentieren – zumal<br />
im Kontext politischer Inhalte – wird also zunehmend zu einer riskanten<br />
Form der Kommunikation. <strong>Bild</strong>er minimieren hingegen das Dissensrisiko durch<br />
ihre visuelle Unschärfe: „Wer also mit <strong>Bild</strong>ern kommuniziert, riskiert weniger<br />
Widerspruch, weil diese <strong>Bild</strong>er weniger eindeutige Sinnfestlegungen vornehmen.<br />
[…] Wir akzeptieren kommunizierte Widersprüche ganz gegen alle Logik offensichtlich<br />
eher, wenn wir sie sehen, was wenn sie uns in Form von Argumenten<br />
dargeboten werden“ (Hofmann 2005a: 16). <strong>Bild</strong>er sind dann im Kontext von Identitätskonstruktionen<br />
deshalb so wirkungsvoll, weil sie einerseits diffuse identitätsstiftende<br />
Vorgaben machen, diese aber gerade dadurch überhaupt noch von<br />
71
STeFAN SelKe<br />
einer Viel- oder Mehrzahl von Betrachtern als solche akzeptiert werden können.<br />
je diffuser die Vorgabe, desto weit reichender die integrative Wirkung. Inwieweit<br />
diese Aussage (die Hofmann auf Pressebilder von Politikern bezieht) auch für<br />
Wahlplakate gilt, muss eingehend geprüft werden <strong>und</strong> könnte somit Gegenstand<br />
von Projekten im Bereich der politischen <strong>Bild</strong>ung werden.<br />
7 Zusammenfassung<br />
Die Unschärfe von <strong>Bild</strong>ern ermöglicht die Kreuzung von Diskurslinien, die<br />
sprachlich-argumentativ nicht so einfach überschritten werden können (Hofmann<br />
2005a: 18). Damit ist die Hauptfunktion politischer <strong>Bild</strong>er Integration.<br />
<strong>Bild</strong>er haben subsidiäre (=helfende, unterstützende) <strong>und</strong> alternative leistungen<br />
im Vergleich zu anderen Formen kommunikativer gesellschaftlicher Integration.<br />
Sie tragen somit schließlich zur Konstruktion kollektiver Identitäten bei. In der<br />
Mediengesellschaft im Allgemeinen <strong>und</strong> bei Wahlen im Speziellen werden dabei<br />
gerade solche <strong>Bild</strong>er angeboten, die aufgr<strong>und</strong> ihrer unscharfen Sinncodierungen<br />
Intergrationsfunktion(en) entfalten. Hofmann (2005a: 21) geht sogar soweit, zu<br />
behaupten, dass visuelle Identitätskonstruktion auch dann stattfindet, „wenn auf<br />
den ersten Blick keine identitätsstiftenden Inhalte angeboten werden“. Diese Aussage<br />
ist von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung von Wahlplakaten,<br />
bei denen auf den ersten Blick sicher nicht festgestellt werden kann, womit eine<br />
Identifikation mit dem Kandidaten oder der Partei bewerkstelligt werden soll.<br />
Dennoch werden Plakate bei Wahlkämpfen immer wieder gerne eingesetzt.<br />
literatur<br />
ANDeRSON, B. (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and<br />
Spread of Nationalism. london.<br />
FABIAN, R. (1982): Wir, damals. Gruppenaufnahmen in der frühen Fotografie.<br />
Dortm<strong>und</strong>.<br />
FReUND, G. (1993): Photographie <strong>und</strong> Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg.<br />
GUSCHKeR, S. (2002): <strong>Bild</strong>erwelt <strong>und</strong> lebenswirklichkeit. eine soziologische<br />
Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen lebens.<br />
Frankfurt a. M.<br />
HOFMANN, W. (1998) (Hg.): Visuelle Politik. Filmpolitik <strong>und</strong> die visuelle Konstruktion<br />
des Politischen. Baden-Baden.<br />
HOFMANN, W. (2005a): Politische Identität - visuell. Theoretische Anmerkungen<br />
zur visuellen Konstruktion politischer Identität. In: Hofmann, W./lesske, F.<br />
(Hg.), Politische Identität - visuell. Münster, 3-26.<br />
72
Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />
HOFMANN, W. (2005b): <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Macht. Von der Theorie visueller Kommunikation<br />
zur Theorie postmoderner Politik. In: K. Sachs-Hombach (Hg.), <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />
zwischen Reflexion <strong>und</strong> Anwendung. Köln, 71-85.<br />
lUHMANN, N. (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen.<br />
MeYeR, T. (2001): Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien.<br />
Frankfurt a. M.<br />
MUSellO, C. (1980): Studying the Home Mode: An Exploration of Family Photography<br />
and Visual Communication. In: Studies in Visual Communication,<br />
6, 23-42.<br />
SARCINellI, U. (1987): Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns<br />
in der Wahlkampfkommunikation der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />
Opladen.<br />
SARCINellI, U. (1994): Mediale Politikdarstellung <strong>und</strong> politisches Handeln:<br />
Analytische Anmerkungen zu einer notwendigerweise spannungsreichen<br />
Beziehung. In: jaren, O. (Hg.), Politische Kommunikation in Hörfunk <strong>und</strong><br />
Fernsehen. elektronische Medien in der B<strong>und</strong>esrepunblik Deutschland. Opladen,<br />
35-50.<br />
SARCINellI, U./SCHATZ, H. (2002) (Hg.): Mediendemokratie im Medienland?<br />
Inszenierungen <strong>und</strong> Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld von Medien<br />
<strong>und</strong> Parteieliten am Beispiel der nordrhein-westfälischen landtagswahl<br />
2000. Opladen.<br />
Seel, M. (1995): Fotografien sind wie Namen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie,<br />
3, 465-478.<br />
STARl, T. (1995): Knipser. Die <strong>Bild</strong>geschichte der privaten Fotografie in Deutschland<br />
<strong>und</strong> österreich von 1850 bis 1980. München.<br />
WORTH, S. (1981): Studying Visual Communication. Philadelphia.<br />
73
MelTeM ACARTÜRK<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
im Kontext der Kampagne „Du bist Deutschland“<br />
Visuelle Kommunikation ist eine eigene, spezielle Kommunikationsform der<br />
Werbung, die unmittelbar <strong>und</strong> direkt mit dem Individuum in einen ‚Dialog’ tritt.<br />
Die visuelle Kommunikation unterliegt „ihrer spezifischen assoziativen Logik, die<br />
sich von der argumentativen Logik, wie sie meist in Textkommunikation anzutreffen<br />
ist, wesentlich unterscheidet“ (Müller 2003: 20). In seinem bereits 1873<br />
publizierten Werk „Psychologie der Massen“ schrieb der Franzose Gustave Le<br />
Bon <strong>Bild</strong>ern eine suggestive Kraft zu, die Menschenmassen beeinflussen, manipulieren<br />
<strong>und</strong> lenken können. „Die Massen können nur in <strong>Bild</strong>ern denken <strong>und</strong><br />
lassen sich nur durch <strong>Bild</strong>er beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie<br />
<strong>und</strong> werden zu Ursachen ihrer Taten“ (zit. nach Haubl 1992: 19). Kann durch visuelle<br />
Kommunikation in den Printmedien in Form von Plakaten, Anzeigen oder<br />
Postkarten individuelle sowie kollektive Identität konstruiert, geprägt, beeinflusst<br />
werden?<br />
75
MelTeM ACARTÜRK<br />
Der vorliegende Beitrag stellt an ausgewählten Motiven exemplarisch zentrale Ergebnisse<br />
der hermeneutisch f<strong>und</strong>ierten Analyse der 22 Anzeigenmotive der Kampagne<br />
„Du bist Deutschland“ 1 vor. Dabei liegt der Fokus auf der Rekonstruktion<br />
der dominierenden Kommunikationsprinzipien <strong>und</strong> Identitätsstiftenden Angebote<br />
auf visueller wie semantischer ebene. Was passiert, wenn man eine Anzeige,<br />
sei es flüchtig, sei es intensiver, betrachtet? Welche Informationen, Assoziationen<br />
werden wie vermittelt, welches (Vor-)Wissen wird durch welche Kommunikationsprinzipien<br />
aktiviert? Können Identitäten beeinflusst, aktuelle <strong>und</strong>/oder zukünftige<br />
Einstellungen <strong>und</strong> Handlungen verändert werden?<br />
1 ein <strong>Bild</strong> sagt mehr als tausend Worte...<br />
Der Alltag des Betrachters wird einen Moment unterbrochen, seine Aufmerksamkeit<br />
soll durch das für eine Werbeanzeige untypische, aus dem Alltagsbereich<br />
stammende <strong>Bild</strong>motiv geweckt werden. Das <strong>Bild</strong> des Tätowierers (stellvertretend<br />
für eine Subkultur) <strong>und</strong> das assoziative <strong>Bild</strong>, das man aufgr<strong>und</strong> des Slogans von<br />
Dürer vor Augen hat (Zugehörigkeit zur Hochkultur), erzeugen eine Irritation.<br />
Gesetzt den Fall, der Betrachter verfügt über kein Wissen um Albrecht Dürer,<br />
bliebe diese Irritation aus, da für den ‚Unwissenden’ auch der Tätowierer Albrecht<br />
Dürer heißen könnte. Für den ‚Wissenden’ sind allerdings Ähnlichkeiten<br />
zwischen dem Porträt des Tätowierers <strong>und</strong> Dürers Selbstbildnis klar auszumachen.<br />
In Dürers Selbstbildnis 2 von 1500 wird sein Gesicht von links in einem<br />
warmen licht beleuchtet, seine Haare sind ebenso braun, lang <strong>und</strong> gelockt. Selbst<br />
die in die Stirn fallende Haarlocke ist bei beiden <strong>Bild</strong>nissen kongruent <strong>und</strong> auch<br />
die Form der Oberlippenbärte gleichen einander ansatzweise. Durch die Ähnlichkeit<br />
auf der bildlichen Darstellung des Anzeigenmotivs werden der Tätowierer<br />
<strong>und</strong> der berühmte Maler einander gleich gestellt. Die Beleuchtung des Hauptes<br />
wirkt fast wie ein Heiligenschein um den Tätowierer. Stünde an seiner Stelle eine<br />
weibliche oder eine barhäuptige Person, wäre eine Assoziation mit Dürer selbst<br />
nicht möglich. Die äußerliche Ähnlichkeit mit Dürer wird als Gemeinsamkeit<br />
dargestellt.<br />
1 Die Kampagne „Du bist Deutschland“ lief in Deutschland im Zeitraum September 2005 bis April<br />
2006. Sie wird als „Aktion deutscher Medien im Rahmen der Initiative ‚Partner für Innovation’“ ausgeschrieben<br />
(vgl. www.du-bist-deutschland.de, (Zugriff am 7.4.2007). Neben den 22 verschiedenen<br />
Anzeigenmotiven, welche als großflächige 3m x 5m Plakate, großformatige Anzeigen in Zeitungen<br />
<strong>und</strong> Zeitschriften <strong>und</strong> im Postkartenformat geschalten wurden, gab es zusätzlich zwei TV-Spots <strong>und</strong><br />
eine eigene Internetpräsenz. Das <strong>Bild</strong>material für die Anzeigenmotive stammt aus dem Internetbilderpool<br />
www.bilderberg.de, welche die Motive ebenfalls unentgeltlich zur Verfügung stellte, wie<br />
alle anderen Leistungen der teilnehmenden Firmen, Unternehmen <strong>und</strong> Einzelpersonen sich „pro<br />
bono“ beteiligten (ebd.).<br />
2 Dürer ist der erste Künstler, der das frontale Selbstbildnis für sich in Anspruch nimmt, dieses Schema<br />
war bislang nur der Darstellung jesu Christi vorbehalten gewesen.<br />
76
Albrecht Dürer<br />
Abb. 1 Anzeigenmotiv „Du bist Albrecht<br />
Dürer“<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
Abb. 2 Albrecht Dürer. Selbstbildnis im<br />
Pelzrock. Gemälde auf Holz, 67 x 49 cm.<br />
1500. München. Alte Pinakothek.<br />
Das Anzeigenmotiv bietet ein elementares Symbol zur Identifikation: Die großflächige<br />
Tätowierung rechts im <strong>Bild</strong>. Sie impliziert nicht nur im beruflichen Metier<br />
eine weitere Gemeinsamkeit (‚Kunst’ beziehungsweise ‚Malerei’), sondern<br />
verweist durch ihre Dauerhaftigkeit auf ein eindeutiges Identifikationsmerkmal,<br />
dessen sich der Träger rechts im <strong>Bild</strong> bedient. Die Tätowierung als Identifikationsmerkmal<br />
des Individuums <strong>und</strong> als erkennungszeichen einer Zugehörigkeit<br />
zu einem Kollektiv, hat eine lange Tradition, wenn gleich sich ihre Bedeutung im<br />
laufe der Zeit gewandelt hat. Mit den zunehmenden sozialen Veränderungen,<br />
bedingt durch die industrielle Revolution, im europa des 19. jahrh<strong>und</strong>erts verbreiteten<br />
sich auch die Tätowierungen, vor allem im Proletariat. Gegen ende des<br />
19. jahrh<strong>und</strong>erts waren etwa 20 Prozent der deutschen Unterschicht tätowiert.<br />
Der Historiker Stephan Oettermann schreibt diese entwicklung den Problemen<br />
der „Pauperisierung <strong>und</strong> Verstädterung der Landbevölkerung, der Auflösung der<br />
Zünfte <strong>und</strong> der Proletarisierung des Handwerkers zum Fabrikarbeiter“ (Oettermann<br />
1979, zit. n. lobstädt 2005: 174) zu. Nach Oettermann ist dem Verlust<br />
von identitätsstiftenden Gesellschaftsordnungen der Versuch der Kompensation<br />
durch Selbsteinschreibung von Identitätszeichen zuzuschreiben (vgl. lobstädt<br />
2005: 174). Unter diesem Aspekt ist die in den letzten jahren stark zunehmende<br />
Bereitschaft junger Leute, sich zu tätowieren, ein eindeutiges Indiz für den Verlust<br />
identitätsstiftender Faktoren in der Gesellschaftsordnung. Unabhängig davon<br />
sind es in allen Fällen spezielle Zeichen, die Auskunft über eine Zugehörigkeit<br />
zu einem bestimmten Kollektiv geben können, sofern der Betrachter eingeweiht<br />
ist. Tätowierungen sind demnach Zeichen der eingrenzung, Ausgrenzung sowie<br />
Abgrenzung. Diese drei Aspekte der Grenzen sind wichtige Voraussetzungen für<br />
die <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Stärkung individueller <strong>und</strong> kollektiver Identitäten.<br />
Die für das Anzeigenmotiv gewählte Fotografie bekommt durch die Darstellung<br />
des Tätowierers, arbeitend an seinem ‚Werk’ in Verbindung mit dem Maler<br />
Albrecht Dürer einen weiteren Sinn. Die Kunst ist ein Assoziationsanker, der<br />
77
MelTeM ACARTÜRK<br />
zwischen den drei elementen, assoziativem <strong>und</strong> manifestem <strong>Bild</strong> sowie dem<br />
Fließtext eine Verbindung schafft. Der Fließtext, der in gängigen Werbeanzeigen<br />
nähere Informationen zum Produkt der Anzeige bietet, gibt hier dem Betrachter<br />
nur marginal Auskunft über die dargestellte Szene im Tätowierstudio. Das erste,<br />
womit der Leser im Fließtext konfrontiert wird, ist eine Frage: „Großfamilien sind<br />
asozial?“. Das Wort „asozial“ bildet den zweiten Assoziationsanker, das auch für<br />
einen ‚Unwissenden’ sinngebend ist. Denn dieses Wort benennt assoziativ das<br />
Gesehene, es bestätigt eine allgemeine Einstellung ‚Tätowierte sind doch asozial’.<br />
Gleichzeitig versetzt dieser Satz den leser in eine völlig andere Sinnebene: in die<br />
einer neuen sozialen Umgebung. Dürer, der Tätowierer <strong>und</strong> Großfamilie – eine<br />
weitere Irritation entsteht.<br />
Kleingedruckter Fließtextanteil „Du bist Albrecht Dürer“:<br />
Großfamilien sind asozial? Die Kinder bekommen zuwenig Aufmerksamkeit von ihren Eltern<br />
<strong>und</strong> werden nie was? Albrecht Dürer beweist das Gegenteil: Der Maler hatte achtzehn<br />
Geschwister. Trotzdem erkannten <strong>und</strong> förderten Mutter <strong>und</strong> Vater sein Talent. Widerstand<br />
<strong>und</strong> Chancen halten sich im leben fast immer die Waage. Doch welche Seite gewinnt,<br />
kannst du entscheiden. leidenschaften wiegen mehr als Widerstände. Und Träume sind<br />
schwerer als dumme Vorurteile. Wenn du alles in die Waagschale wirfst, dann kann dich<br />
niemand stoppen.<br />
Am Beispiel der im Text dargestellten ‚Biografie’ Albrecht Dürers wird dieser dem<br />
Rezipienten in zweierlei Hinsicht als Projektionsfläche angeboten: Zum einen,<br />
als eine Person, die sich in der Vergangenheit in derselben Situation befand, welche<br />
der gegenwärtigen Situation des Betrachters gleichgesetzt wird, zum anderen<br />
als Projektionsfläche für das zukünftige Handeln der Zielperson.<br />
Zusammenfassend lassen sich in Bezug auf das Kommunikationsprinzip zwei<br />
Punkte eindeutig hervorheben: es werden verschiedene Dissonanzen ausgelöst.<br />
Zum einen durch die direkte Ansprache im Slogan („Du“) <strong>und</strong> der direkten Zuweisung<br />
einer (dem Rezipienten bekannten oder fremden) Identität („bist Albrecht<br />
Dürer“), zum anderen durch die Wechselwirkung dreier Elemente, die Dissonanzen<br />
auslösen: durch das manifeste <strong>Bild</strong>, das ‚innere’ <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> das Wissen,<br />
das der Betrachter um Dürer besitzt. In der Textebene fallen dissonante Sprachbilder<br />
auf, wie zum Beispiel der direkte Wechsel von der ‚gerechten Waage des<br />
Lebens’ zum ‚Leben als Wettkampf’ mit Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern.<br />
es sind bestimmte Assoziationsanker in Text <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>, die in der Anzeige angeboten<br />
werden. In diesem Fall ist es das Wort „asozial“, das als ‚Brücke’ von der<br />
‚<strong>Bild</strong>welt’ in die ‚Textwelt’ dient. Als übergreifendes Thema wird ‚Malerei’ bzw.<br />
‚Kunst’ angeboten. Diese Assoziationsanker bilden eine gemeinsame Basis für<br />
die ‚Irritationspole’ <strong>und</strong> haben dadurch auf die zuvor ausgelöste Irritationsstärke<br />
eine mindernde Funktion.<br />
78
Die an diesem Anzeigenmotiv aufgezeigten elemente sind im gesamten Datenmaterial<br />
wieder zu finden <strong>und</strong> typisch für die Anzeigenserie. Im Folgenden sollen<br />
die Vermittlungsprinzipien der Anzeigenmotive, Dissonanz, Assonanz <strong>und</strong> Assoziationsanker,<br />
sowie im Anschluss konkrete Identitätsmodifizierende Prinzipien<br />
näher beleuchtet werden<br />
2 Vermittlungsprinzipien der Anzeigenmotive<br />
Dissonanzen<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
Dass von Werbenden Irritationen aktiv konstruiert werden, überrascht zunächst<br />
nicht, denn nach luhmann besteht die primäre Funktion der Massenmedien<br />
„in der ständigen Erzeugung <strong>und</strong> Bearbeitung von Irritation […] Als faktischer<br />
effekt dieser zirkulären Dauertätigkeit des erzeugens <strong>und</strong> Interpretierens von<br />
Irritation durch zeitpunktgeb<strong>und</strong>ene Information […] entstehen die Welt- <strong>und</strong><br />
Gesellschaftsbeschreibungen, an denen sich die moderne Gesellschaft orientiert“<br />
(luhmann 1996: 174). Wird dieser Ansatz auf die Mikroebene angewendet, so<br />
bieten die Anzeigen zu den angesprochenen Problemen (den ‚Barrieren’ <strong>und</strong> ‚Widerständen’<br />
des Betrachters am Beispiel der Erfolgsgeschichte der Vorbilder), entsprechende<br />
lösungs- <strong>und</strong> Handlungswege <strong>und</strong> somit eine Orientierungshilfe an.<br />
Die Irritationen führen dazu, dass sich der Betrachter, bewusst oder unbewusst,<br />
damit auseinandersetzen <strong>und</strong> diese verarbeiten muss.<br />
Irritationen dieser Art ist in der Sozialpsychologie die „Theorie der kognitiven<br />
Dissonanz“ (Festinger 1978) gewidmet. Diese Theorie geht davon aus, „daß der<br />
menschliche Organismus bestrebt ist, eine Harmonie, Konsistenz oder Kongruenz<br />
zwischen seinen Meinungen, Attitüden, Kenntnissen <strong>und</strong> Wertvorstellungen<br />
herzustellen“ (Festinger 1978: 253). Der Alltag eines Individuums ist von etlichen<br />
Dissonanzen geprägt, etwa das bei Festinger gegebene Beispiel eines Rauchers,<br />
der weiß, dass rauchen schädlich, sogar tödlich sein kann, aber trotzdem weiterhin<br />
raucht. eine Dissonanz entsteht, wenn zwei elemente nicht miteinander<br />
kongruent sind.<br />
Das bedeutet in diesem Fall: im Unterschied zu alltäglichen, zufälligen dissonanten<br />
erlebnissen sind diese hier vom Betrachter erlebten Dissonanzen von<br />
den Werbenden bewusst konstruiert <strong>und</strong> gewollt <strong>und</strong> übernehmen verschiedene<br />
Funktionen: Aufmerksamkeit für das Motiv wecken, langfristige einprägung beim<br />
Betrachter durch kognitive Beschäftigung mit der erfahrenen Dissonanz <strong>und</strong> die<br />
Einteilung der Betrachter in ‚Wissende’ <strong>und</strong> ‚Unwissende’ um die betitelte Identifikationsperson.<br />
Die Dissonanz wird dadurch erreicht, dass, das was man sieht<br />
<strong>und</strong> das, was man weiß, nicht zusammenpasst. Die Dissonanzstärke folgt aus der<br />
Wichtigkeit der miteinander verb<strong>und</strong>enen elemente (vgl. a.a.O. 1978: 28). Die<br />
Personen dienen als Vermittler gesellschaftlich verankerter, assoziativer <strong>Bild</strong>er<br />
<strong>und</strong> Werte. Eine Form der Dissonanzreduktion ist das „Hinzufügen neuer kogni-<br />
79
MelTeM ACARTÜRK<br />
tiver Elemente“, indem der Betroffene „aktiv neue Informationen sucht, die die<br />
Gesamtdissonanz reduzieren könnten“ (a.a.O: 33). So hängt es vom Betrachter ab,<br />
für welchen Weg er sich zur Dissonanzreduktion entscheidet: nach weiteren Informationen<br />
suchen oder diese meiden. Das Hinzufügen von neuem ‚Wissen’ aus<br />
dem angebotenen kleingedruckten Fließtext, das in diesem Fall ebenfalls ‚gefiltert’<br />
<strong>und</strong> bewusst konstruiert wurde, führt den Betrachter allerdings zu weiteren<br />
Dissonanzerlebnissen. So erhält er meist nur marginale Informationen über<br />
die Identifikationspersönlichkeit <strong>und</strong> das Foto selbst. Stattdessen werden neue<br />
(Sprach-) <strong>Bild</strong>er erzeugt, die den Betrachter in andere ‚Sinnwelten’ versetzen <strong>und</strong><br />
diesmal auf semantischen Dissonanzen aufbauen, wie zum Bespiel der Wechsel<br />
vom <strong>Bild</strong> der ‚gerechten Waage’ zum <strong>Bild</strong> des ‚harten Wettkampfes’ (Dürer). Im<br />
weiteren Textverlauf wird immer mehr <strong>und</strong> mehr von der Identifikationsfigur Abstand<br />
genommen <strong>und</strong> während der Leser im Text Informationen über die Anzeige<br />
zu finden erwartet wird er unmittelbar <strong>und</strong> unerwartet selbst zum Mittelpunkt<br />
der Anzeige. Die ursprüngliche Informationssuche wird zur ‚persönlichen Unterhaltung’.<br />
Der Leser wird in einen emotional behafteten, ‚persönlichen’ Dialog<br />
hineingezogen, in dem (seine) soziale Welt, äußere ‚Widerstände’ <strong>und</strong> ‚Vorurteile’<br />
Anderer angesprochen werden. Im Fließtext wird eine Polarisierung zwischen<br />
dem Betrachter (‚Du’) <strong>und</strong> den ‚Anderen’, denen mit den ‚dummen Vorurteilen’,<br />
hergestellt.<br />
Die Bandbreite der Dissonanzstärke ist im Datenmaterial unterschiedlich. Die<br />
spontane Reaktion des sich W<strong>und</strong>erns, sich Amüsierens, des irritiert seins, also<br />
das eigentliche Aufmerksamkeitsmoment, kann zwar bis zu einem gewissen<br />
Grad auch über ein einzelnes element (Slogan oder <strong>Bild</strong>) erreicht werden, doch<br />
ist das Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> Irritationsmoment wesentlich höher, wenn Wissen<br />
um die Identifikationsperson vorhanden ist. Es lassen sich also insgesamt drei<br />
Dissonanzebenen zusammenfassen: Der Slogan an sich, die Kombination Sloganist–<strong>Bild</strong><br />
<strong>und</strong> dissonante Sprachbilder im Fließtext des Motivs. Doch manifestiert<br />
sich der Dissonanzgrad nicht immer in der wie am Beispiel aufgezeigten Stärke.<br />
Es existieren verschiedene Abstufungen. Die Bandbreite ist von ‚das, was ich sehe<br />
<strong>und</strong> das, was ich weiß passen absolut nicht zusammen’ bis hin zu ‚sie passen irgendwie<br />
oder richtig zusammen’. Die Grenzen von Dissonanz zur Assonanz sind<br />
fließend <strong>und</strong> nicht klar abzustecken.<br />
Assonanzen <strong>und</strong> Assoziationsanker<br />
ebenso wie für die Herstellung einer Dissonanz-, wird auch für die der Assonanzwirkung<br />
auf innerlich verankerte <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Symbole zurückgegriffen. Assonante<br />
Motive wären auch ohne direkten Personenbezug anhand der gegebenen<br />
Assoziationsanker intersubjektiv verständlich. Diese Motive symbolisieren die<br />
Werte <strong>und</strong> Eigenschaften, die für die Identifikationspersonen stehen. Als besonderes<br />
Beispiel der Assonanzwirkung ist das Motiv ‚Du bist Albert Einstein’ zu<br />
nennen. Zu sehen ist ein Porträt von einem älteren Mann, der einsteins typischen<br />
80
Attribute vorweist: die grauen, leicht wirren Haare, einen Oberlippenbart, einen<br />
leicht verschmitzten M<strong>und</strong>, den Kopf leicht nach rechts geneigt, schaut er den<br />
Betrachter direkt an. er hat die Stirn in Falten gelegt, die Augenbrauen hochgezogen,<br />
sich mit seiner linken Hand an die Schläfe fassend: eine typische Denkerposition.<br />
Die Aufnahme ist aus einer leicht erhöhten Position aus erstellt, da der Alte<br />
Mann leicht nach oben in die Kamera blickt.<br />
Albert einstein<br />
Abb. 3 Anzeigenmotiv „Du bist Albert<br />
Einstein“<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
Abb. 4 Porträt Albert einstein<br />
Stellt man das Porträt einsteins zum Vergleich, so fällt die große Ähnlichkeit auf.<br />
Reduziert auf die wenigen genannten äußeren Attribute, ist er bekanntlich selbst<br />
als Karikatur eindeutig wieder zu erkennen. einstein hat sich zum Sinnbild <strong>und</strong><br />
Inbegriff der Intelligenz <strong>und</strong> des Genies entwickelt, ist zum Mythos geworden.<br />
Der Mythos spielt in den Anzeigenmotiven im Zuge der Identitätsstiftenden <strong>und</strong><br />
-vermittelnden Prinzipien eine tragende Rolle. es ist für die weiteren Ausführungen<br />
angebracht, die dem Mythos zugeschriebene Schaffung „euphorischer<br />
Sicherheit“ <strong>und</strong> die Tatsache, dass dem Mythos „Widersprüche gleichgültig sind“,<br />
im Auge zu behalten.<br />
Wie am Motiv Dürer aufgezeigt, werden in den Anzeigenmotiven verschiedene visuelle<br />
<strong>und</strong> assoziative Assoziationsanker angeboten (Dürer: ‚asozial’ <strong>und</strong> ‚Kunst’).<br />
Am Anzeigenmotiv Erhard lassen sich die assoziative Logik der <strong>Bild</strong>- <strong>und</strong> Textebene<br />
sehr klar verdeutlichen.<br />
81
MelTeM ACARTÜRK<br />
ludwig erhard<br />
82<br />
Abb. 5 Anzeigenmotiv „Du bist Ludwig<br />
Erhard“<br />
Abb. 6 Porträt ludwig erhard<br />
In Zentralperspektive aufgenommen (Abb. 5), wird ein ungewöhnlich großer<br />
Kohlkopf von einer älteren Frau (Bäuerin oder Gärtnerin) stolz in die Kamera<br />
gehalten. Der r<strong>und</strong>e Kohlkopf wird vom „Du“ überdeckt. Das rosige Gesicht der<br />
Frau ist ebenfalls r<strong>und</strong>, wettergegerbt <strong>und</strong> gezeichnet von tiefen Falten, die von<br />
einem harten leben zeugen. Das Geschlecht der Bäuerin spielt in diesem <strong>Bild</strong><br />
zunächst keine Rolle, sie könnte auch von einem älteren Bauer ersetzt werden.<br />
Es sind das Alter, die Gesichtsform, die ‚wirken’. Auch spielt der riesige Kohlkopf<br />
eine entscheidende Rolle. Es scheint ein ‚W<strong>und</strong>er der Natur’ zu sein, das diesem<br />
Kohlkopf zu derartiger Größe verhalf. Wenn auch die Bäuerin ihr Zutun geleistet<br />
haben sollte, so ist das Wachstum in diesem Fall ein naturgegebener Prozess.<br />
Dem gegenüber ist ludwig erhard der Inbegriff des Wirtschaftswachstums in den<br />
1960er Jahren, der ‚Erfinder’ der sozialen Marktwirtschaft. Er veröffentlichte 1957<br />
seine „programmatische Schrift“, mit dem Titel „Wohlstand für alle“, das auch zu<br />
seinem späteren politischen Slogan als B<strong>und</strong>eskanzler 3 wurde. Auf einem Werbeplakat<br />
für diesen Titel (Abb. 6) ist erhard ebenso wie die Bäuerin frontal abgebildet.<br />
Die gesamte Körperhaltung <strong>und</strong> Physiognomie der beiden Personen weisen<br />
erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Die beiden elemente, das Buch erhards <strong>und</strong> der<br />
Kohlkopf, beides als Symbol des ‚Wachstums’, dienen als Assoziationsanker <strong>und</strong><br />
verleihen dem Motiv in Kombination mit dem Slogan seine vielschichtigen Bedeutungen.<br />
An diesem Motiv wird deutlich, dass das visuell symbolisierte Wachstum<br />
der Natur (Kohlkopf) assoziativ mit dem Wirtschaftswachstum (ludwig erhard)<br />
in Verbindung gebracht <strong>und</strong> miteinander verknüpft wird. Der Slogan „Du<br />
bist Ludwig Erhard“ überträgt den mit dem Wirtschaftswachstum gekoppelten<br />
Wohlstand auf den Rezipienten, es vermittelt quasi ‚Du bist Wachstum <strong>und</strong> Wohlstand’.<br />
Diese visuell dargestellte assoziative Vermittlung findet sich auch auf der<br />
Ebene des Fließtextes wieder.<br />
3 Deutsches historisches Museum (2007): Biografie Ludwig Erhard http://www.dhm.de/lemo/html/<br />
biografien/ErhardLudwig/index.html (Zugriff am 20.1.2007)
3 Identitätsmodifizierende Prinzipien<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
Kollektive Identität kann „nicht unabhängig oder getrennt von individuellen<br />
Identitäten existieren“, das heißt, sie „existiert nur, soweit sie in individuellen<br />
Identitäten verankert ist“ (Bader 1991: 106). Die <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Festigung kollektiver<br />
Identitäten benötigt ein gewisses Mindestmaß an Bewusstsein <strong>und</strong> Selbstbewusstsein<br />
des Individuums <strong>und</strong> der Gruppe (vgl. Bader 1991: 108). Auch können<br />
kollektive Zugehörigkeiten „nicht wie das Hemd“ gewechselt werden (Keupp et<br />
al. 1999: 65), denn bestimmte Zugehörigkeiten sind von Geburt an gegeben (z.B.<br />
zum Kollektiv der Deutschen), wogegen sich die individuelle Identität erst durch<br />
verschiedene Sozialisationsprozesse entwickelt bzw. verändert. Individuelle Identität<br />
wird im Sinne des Sozialpsychologen Herbert Mead unter anderem durch<br />
folgende, wechselseitige Prozesse geprägt <strong>und</strong> gefördert: der entwicklung eines<br />
Selbstbildes sowie des Fremdbildes, der Abgrenzung zu Anderen, Identifizierung<br />
mit Vorbildern, Ich-Idealen <strong>und</strong> der Entwicklung eines reflexiven Selbstbewusstseins<br />
(vgl. Abels 2006: 32ff.). Zur entwicklung stabiler individueller Identität<br />
gehört auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in Bezug auf<br />
Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft. Die Identifikation mit der eigenen Geschichte<br />
ist Teil der „narrativen Identitätsarbeit“ (Keupp et al. 1999: 208). Durch<br />
die Erzählung wird Identität konstruiert, „die einzelnen erzählen sich immer wieder<br />
um <strong>und</strong> neu <strong>und</strong> schreiben ‚sich’ damit fort“ (Keupp et al. 1999: 68f.). Das<br />
Bewusstsein <strong>und</strong> Handlungskonzepte kollektiver Identitäten gehen fließend über<br />
in die individuellen Identitäten, so können „sich in einem Subjekt viele verschiedene,<br />
einander widersprechende kollektive Identitäten durchkreuzen <strong>und</strong> überlagern“<br />
(Bader 1991: 109).<br />
Die aus dem Alltag stammenden Momentaufnahmen der Anzeigenmotive bieten<br />
dem Betrachter ‚Geschichten’ an, die an sein Alltagswissen anknüpfen. Dieser ‚gemeinsam<br />
geteilte’ Erfahrungsraum verdeutlicht dem Rezipienten auf diese Weise,<br />
dass die heute berühmten <strong>und</strong> erfolgreichen Personen doch ganz menschlich<br />
<strong>und</strong> erreichbar sind, was beim Rezipienten zu einer positionellen Distanzreduktion<br />
in Bezug auf die Identifikationsperson führen soll. Die Biografie der Identifikationspersonen<br />
erfährt eine parallele Narration zur Biografie des Rezipienten.<br />
Die Gegenwart des Betrachters wird zur Vergangenheit des Vorbildes. Der gegenwärtige<br />
Status des Vorbildes wird zum zukünftigen des Rezipienten. Damit wird<br />
dem Rezipienten eigene narrative Identitätsarbeit in Bezug auf seine erfolgsgeschichte<br />
quasi abgenommen. Der Betrachter versetzt sich in die Vorbildsperson<br />
<strong>und</strong> denkt sich in seiner Rolle weiter. Dabei verlaufen die Narrationen progressiv,<br />
das heißt, sie gehen stetig aufwärts, mit dem immer gleichen von der Vorbildperson<br />
erreichten <strong>und</strong> dem Betrachter als erreichbar suggerierten Ziel: erfolg. Die<br />
Erfolgsgeschichten aller Vorbilder sind mythischer Herkunft (‚Vom Tellerwäscher<br />
zum Millionär’ – Prinzip). Auch die für deren Aufstieg in der Gesellschaft voraussetzenden<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> benötigten ‚Werkzeuge’ sind mystifiziert <strong>und</strong> ideologisiert<br />
dargestellt (Mut <strong>und</strong> Wille, Fleiß <strong>und</strong> Leidenschaft). Durch Identifikation<br />
83
MelTeM ACARTÜRK<br />
mit dem Vorbild, das in dieselbe Ausgangsposition in seinem lebenslauf versetzt<br />
wird wie der Betrachter, soll letzterer seine Zukunft, seine einstellung zu seinen<br />
eigenen Chancen im Leben, zu gesellschaftlichen ‚Vorurteilen’, mit denen er konfrontiert<br />
wird, bedenken <strong>und</strong> möglichst, wie auch die Identifikationspersonen,<br />
zum positiven verändern.<br />
Die gemeinsamen Erfahrungsräume bereiten den ‚Boden’ zur Übernahme weiterer<br />
Werte <strong>und</strong> Handlungsmuster der Vorbildperson in das eigene Ich des Rezipienten.<br />
Durch emotionale Erfahrungsräume im Fließtext werden einerseits<br />
Menschen angesprochenen, die Träume, Wünsche, Talente <strong>und</strong> leidenschaften<br />
in sich ‚spüren’ <strong>und</strong> bereits eine positive Zukunftsvorstellung in sich tragen, andererseits<br />
aber auch Menschen mit negativen emotionalen erfahrungen <strong>und</strong> eigenschaften,<br />
welche unzufrieden mit sich selbst sind oder sich als talentlos bezeichnen<br />
würden. In allen Motiven spiegelt sich das latente lebensgefühl unserer Zeit:<br />
die Angst zu Versagen, seinen lebensentwurf ungenügend optimiert zu haben,<br />
die Angst, etwas zu verpassen, die Chancen nicht genutzt zu haben, nicht genug<br />
aus seinem leben gemacht zu haben. Aber auch der Wunsch nach Selbstverwirklichung<br />
<strong>und</strong> Anerkennung durch Andere wird angesprochen, geweckt, die erfüllung<br />
in Aussicht gestellt.<br />
Es lassen sich im Datenmaterial also mehrere Identifikationsdimensionen, zur<br />
<strong>Bild</strong>ung von Identität bestätigend zusammenfassen: Identifikation durch Narration,<br />
visuelle <strong>und</strong> emotionale erfahrungsräume, Positionierungen (Abgrenzung),<br />
biografische Projektion, Übernahme des angebotenen Wertehorizontes, (mystifizierte)<br />
erfolgsbilder <strong>und</strong> in Aussicht gestellte Anerkennung <strong>und</strong>/oder Selbstverwirklichung.<br />
4 Fazit der Analyseergebnisse<br />
Die Analyse macht die Gr<strong>und</strong>botschaft der Kampagne, die dem Betrachter zur<br />
Identifikation angeboten wird (‚Du bist deines Glückes Schmied’ ‚Ohne Fleiß<br />
kein Preis’ ‚Du bist ein Einzelkämpfer, erwarte nichts von den Anderen, wenn du<br />
erfolgreich sein willst’) deutlich. Losgelöst von seinem sozialen Umfeld gelangt<br />
der Rezipient als einzelkämpfer zum erfolg. ein bei ihm eventuell vorhandenes<br />
‚Wir-Gefühl’ wird durch Polarisierung zu den Anderen ausgeschlossen. Die Feststellung<br />
des Sozialpsychologen Heiner Keupp, jeder einzelne werde mehr <strong>und</strong><br />
mehr verpflichtet, zum Architekten seines Subjektgehäuses zu werden (vgl.<br />
Keupp et al. 1999: 55), bestätigt sich in den Aussagen der Anzeigenmotive. es<br />
werden verschiedene <strong>Bild</strong>er von einem gelungenen leben <strong>und</strong> einer gelungenen<br />
Identität gezeichnet, die für den Betrachter als Projektionsfläche für eine eigene<br />
erstrebenswerte <strong>und</strong> auch umsetzbare Identität dienen sollen. es wird suggeriert,<br />
jedem Einzelnen in der Gesellschaft stünden alle Chancen offen <strong>und</strong> er müsse sie<br />
nur nutzen beziehungsweise nur genügend hart <strong>und</strong> lange dafür arbeiten. Der<br />
84
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
Mythos des Amerikanischen Traumes (‚vom Tellerwäscher zum Millionär’), allein<br />
durch eigene Kraft <strong>und</strong> eigenes Zutun zum erfolg gelangen zu können, bündelt<br />
diese ideologische Einstellung. Die angebotenen Identifikationsmuster <strong>und</strong> gezeichneten<br />
erfolgsbilder können in Anbetracht der gesellschaftlich-politischen<br />
entwicklung in Deutschland nur als Versuch gewertet werden, den Menschen in<br />
ein zukünftig anders gestaltetes Wertesystem zu geleiten.<br />
Die Zielgruppen der Kampagne, die sie zu motivieren (v)ersucht, sind hauptsächlich<br />
Menschen, die nicht über die nötigen Ressourcen zur aktiven Identitätsarbeit,<br />
zur erfolgreichen Konstruktion ihrer personellen (erwerbs-) Identität<br />
verfügen <strong>und</strong> unter dem Druck der konstruierten leitbilder stehend, unzufrieden<br />
mit ihrem lebensentwurf sind. es werden Angebote gemacht, wie man die<br />
angesprochenen ‚Barrieren’ überwinden könne, doch werden die persönlichen,<br />
politischen, strukturalen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine<br />
Überwindung der ‚Barrieren’ erschweren, in dieser Haltung ausgeblendet.<br />
„Die Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, hat ohne Zugang zu den<br />
erforderlichen [psychischen <strong>und</strong> sozialen] Ressourcen etwas Zynisches.“ (Keupp<br />
et al. 1999: 53). Das Problem der Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> steigender sozialer Ungleichheit<br />
in Deutschland wird in der Kampagne zu einem moralischen, individuellen<br />
Problem gewandelt. Moralische Probleme fallen jedoch nicht in den Verantwortungsbereich<br />
der Politik (vgl. Baringhorst 2004: 79) <strong>und</strong> somit wird jedes<br />
Individuum gefordert, da die ‚Widerstände’ <strong>und</strong> ‚Barrieren’ als sein individuelles,<br />
von politischen Strukturen abgekoppeltes Problem ausgewiesen werden, selbst<br />
für eine lösung einzustehen. Dem Rezipienten wird damit nicht nur die alleinige<br />
Verantwortung für das Gelingen, sondern vor allem auch das Misslingen seines<br />
lebens zugeschrieben. einerseits wird ihm suggeriert, er könne <strong>und</strong> dürfe, mehr<br />
noch, er solle <strong>und</strong> müsse seine ‚Erfolgsstory’ (Gropius) selbst schreiben, wenn er<br />
jedoch an den individuellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Rahmenbedingungen scheitert,<br />
sei es ‚sein Problem’. „Denn nach der konservativen Theorie des ‚selfpossesing<br />
individualism’ (Macpherson 1962) ist das Individuum der Eigentümer aller<br />
seiner Fähigkeiten, <strong>und</strong> sein erfolg im leben ist einzig <strong>und</strong> allein sein Verdienst,<br />
wie auch sein Missgeschick allein seine Schuld ist. Der Staat ist dem einzelnen<br />
nichts schuldig, <strong>und</strong> dieser ist dem Staat nichts schuldig“ (Israel 1996/1997: 80).<br />
Zudem wird erwerbsarbeit als Basis von Identität in industriell-kapitalistischen<br />
Gesellschaften immer brüchiger, da die vorhandene erwerbsarbeit weiter abnehmen<br />
wird. „Damit wird es auch immer mehr zu einer Illusion, alle Menschen in<br />
die erwerbsarbeit zu integrieren. Die psychologischen Folgen dieses Prozesses<br />
sind enorm, gerade in einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an der erwerbsarbeit<br />
über Ansehen, Zukunftssicherung <strong>und</strong> persönliche Identität entscheidet.“<br />
(Keupp et al. 1999: 47).<br />
ein Blick in die Mediengeschichte der B<strong>und</strong>esrepublik zeigt, dass die Kampagne<br />
‚Du bist Deutschland’ die Nachfolge bzw. Fortführung großer <strong>und</strong> langfristiger<br />
85
MelTeM ACARTÜRK<br />
Werbe- bzw. PR Kampagnen wie „Die Waage“ 4 (1952-1965) <strong>und</strong> „Initiative Neue<br />
Soziale Marktwirtschaft“ 5 (seit 2000) angetreten hat. Dies gilt, auch wenn es sich<br />
bei ‚Du bist Deutschland’ um eine einmalige Aktion, die ‚nur’ eine aktiv medienpräsente<br />
Dauer von 7 Monaten vorzuweisen hat, handelt, schon allein deshalb,<br />
weil die Initiatoren dieser Kampagne teilweise die gleichen geblieben sind, wie in<br />
vergangenen Kampagnen. In Fortschreibung der Ziele der Initiativen ‚Die Waage’<br />
<strong>und</strong> ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’, kann angezweifelt werden, ob die<br />
Kampagne ‚Du bist Deutschland’ tatsächlich nur einen ‚Bewusstseinswandel’ hin<br />
zu einem positiveren Selbstbewusstsein der Individuen in Deutschland transportieren<br />
will oder ob sie nicht vielmehr ein bereitwilliges Klima in der Gesellschaft<br />
herstellen will, unter dem konkrete politische Ziele umgesetzt werden können.<br />
literatur<br />
Abels, H. (2006): Identität. Fernuniversität Hagen.<br />
Bader, V. M. (1991): Kollektives handeln: Protheorie sozialer Ungleichheit <strong>und</strong><br />
kollektiven Handelns II. Opladen.<br />
Baringhorst, S. (2004): Strategic Framing. Deutungsstrategien zur Mobilisierung<br />
öffentlicher Unterstützung. In: Kreyher, V. j. (Hg): Handbuch Politisches<br />
Marketing. Baden-Baden, 75-88.<br />
Bongard, W./von Geyso, A./Mende, M. (1978): Dürer heute. Zweite - zum 450.<br />
Todestag 1978 - erweiterte Auflage. München.<br />
Brion, M. (1960): Albrecht Dürer. Der Mensch <strong>und</strong> sein Werk. Paris/Bremen.<br />
Deutsches historisches Museum (2007): Biografie Ludwig Erhard http://www.<br />
dhm.de/lemo/html/biografien/ErhardLudwig/index.html (Zugriff am<br />
20.1.2007).<br />
Festinger, l. (1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern/ Stuttgart/ Wien.<br />
Haubl, R. (1992): Früher oder später kriegen wir euch. In: Hartmann, H. A./<br />
Haubl, R. (Hg.): <strong>Bild</strong>erflut <strong>und</strong> Sprachmagie. Fallstudien zur Kultur der Werbung.<br />
Opladen, 9-32.<br />
4 Ziel der Kampagne war es „die gesamte Bevölkerung über Ziele <strong>und</strong> Vorteile der Sozialen Marktwirtschaft<br />
[aufzuklären] <strong>und</strong> damit für jene von Ludwig Erhard vertretene wirtschaftspolitische Konzeption<br />
[zu gewinnen]“ (Schweitzer 2004: 461f.).<br />
5 Das Ziel der ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’ ist laut der Initiatoren, die mit „Ludwig Erhards<br />
Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft verb<strong>und</strong>enen Gr<strong>und</strong>werte wie eigeninitiative, leistungsbereitschaft<br />
<strong>und</strong> Wettbewerb“ wieder zu beleben <strong>und</strong> das „deutlich schwindende Vertrauen<br />
der Bevölkerung in die Soziale Marktwirtschaft erneut zu festigen“ (Schweitzer 2004: 464).<br />
86
Israel, j. (1996/1997): Neoliberaler Kapitalismus gegen soziale Marktwirtschaft<br />
<strong>und</strong> Wohlfahrtsstaat. In: Hradil, S. (Hg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft<br />
für Soziologie): Differenz <strong>und</strong> Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften.<br />
Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft<br />
für Soziologie in Dresden. Frankfurt am Main/New York, 73-93.<br />
Keupp, H. et al. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten<br />
in der Spätmoderne. Hamburg.<br />
Kroeber- Riel, W./ esch, F.-R. (2004): Strategie <strong>und</strong> Technik der Werbung. Verhaltenswissenschaftliche<br />
Ansätze. Stuttgart.<br />
lobstädt, T. (2005): Tätowierung in der Nachmoderne. In: Breyvogel, W. (Hg.):<br />
eine einführung in jugendkulturen. Veganismus <strong>und</strong> Tattoos. Wiesbaden,<br />
165-236.<br />
luhmann, N. (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen.<br />
Müller, M. G. (2003): Gr<strong>und</strong>lagen der visuellen Kommunikation. Weinheim.<br />
Schweitzer, e. (2004): Kampagnen für die Soziale Marktwirtschaft. Politische<br />
Public Relations gestern <strong>und</strong> heute. In: Kreyher, V. j. (Hg.): Handbuch Politisches<br />
Marketing. Baden-Baden, 451-470.<br />
Speth, R. (2004): Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft,<br />
http://www.boeckler.de/pdf/fof_insm_studie_09_2004.pdf (Zugriff<br />
am 28.1.2007)<br />
Abbildungsverzeichnis<br />
Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />
Die hier abgebildeten Anzeigenmotive standen während des Kampagnenzeitraumes<br />
unter:<br />
http://www.du-bist-deutschland.de/opencms/opencms/Kampagne/TVSpotsAnzeigen.html?connection<br />
=dsl&system=win (Zugriff am 12.08.2006) zum freien<br />
Download bereit.<br />
Mittlerweile werden aktuell nur 18 der ursprünglich 22 Motive (ohne die Motive<br />
Walter Gropius, Faris Al-Sultan, Katarina Witt <strong>und</strong> Paul Kuhn) auf der Kampagnenseite<br />
unter http://www.dubistdeutschland.de/opencms/opencms/Presse-<br />
Meinungen/Pressematerial/Kampagnenmotive.html (Zugriff am 7.4.2007) zum<br />
Download bereitgestellt.<br />
Abb. 1 Anzeigenmotiv „Du bist Albrecht Dürer“<br />
Abb. 2 Albrecht Dürer. Selbstbildnis im Pelzrock. Gemälde auf Holz, 67 x 49 cm.<br />
1500. München. Alte Pinakothek. Quelle: Brion 1960: 69<br />
87
MelTeM ACARTÜRK<br />
Abb. 3 Anzeigenmotiv „Du bist Albert Einstein“<br />
Abb. 4 Porträt Albert einstein<br />
Quelle: http://www.j-net.com.au/monash/darsheini-20050830.html (Zugriff<br />
am 07.02.2007)<br />
Abb. 5 Anzeigenmotiv „Du bist Ludwig Erhard“<br />
Abb. 6 Porträt ludwig erhard<br />
Quelle:http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/JahreDesAufbausInOstUnd-<br />
West_photoErhardBuch/index.html (Zugriff am 26.1.2007)<br />
88
GUNNAR HANSeN<br />
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong>:<br />
Bedeutung der Plakatkampagnen „Deutschland bewegt sich“<br />
<strong>und</strong> „Warum? Darum!“ im Rahmen der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />
1 einführung: Die Vermittlung der Agenda 2010<br />
„Deutschland bewegt sich“: Unter diesem Titel bewarb die rot-grüne B<strong>und</strong>esregierung<br />
im Sommer 2003 ihr Reformprogramm zur Sicherung der Sozialsysteme<br />
<strong>und</strong> zum Umbau des Arbeitsmarktes (Schröder 2003). Diesem Programm<br />
unter dem Titel „Agenda 2010“ maß die B<strong>und</strong>esregierung besondere Bedeutung<br />
bei. Der damalige B<strong>und</strong>eskanzler Gerhard Schröder bezeichnete sie gar als „Testfall<br />
für die Regierungsfähigkeit“ der rot-grünen Koalition (zit. n. Korte/Fröhlich<br />
2004: 304).<br />
Angesichts deutlich gespaltener Bevölkerungsmeinungen gegenüber der „Agenda<br />
2010“ (Infratest-Dimap Deutschlandtrend 05/2003: 11) stand das Presse- <strong>und</strong><br />
Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung (BPA) „vor neuen <strong>und</strong> ganz besonderen<br />
Herausforderungen bei der Politikvermittlung“ (B<strong>und</strong>estag Drucksache 15/2912:<br />
3). es hatte über die Maßnahmen <strong>und</strong> Gesetze zur informieren <strong>und</strong> versuchte, die<br />
„Agenda 2010“ als „Synonym für Reformpolitik“ (Zypries 2005) zu etablieren.<br />
91
GUNNAR HANSeN<br />
Fragestellung: <strong>Bild</strong>kampagnen im Rahmen der „Agenda 2010“<br />
Besondere Bedeutung kam dabei den b<strong>und</strong>esweiten <strong>Bild</strong>kampagnen „Deutschland<br />
bewegt sich“ <strong>und</strong> „Warum? Darum!“ zu. Daher wird der Fokus dieses Beitrages<br />
auf folgenden Fragen liegen: Welchen Beitrag leisteten die <strong>Bild</strong>kampagnen<br />
im Rahmen der „Agenda 2010“-Vermittlung? Welches <strong>Bild</strong> der Reformpolitik<br />
wurde durch sie vermittelt?<br />
Die akteursbezogene Analyse der <strong>Bild</strong>kampagnen soll klären, wie die Vermittlung<br />
der „Agenda 2010“ im Spannungsverhältnis von Darstellungs- <strong>und</strong> Entscheidungspolitik<br />
zu beurteilen ist. Deren Verhältnis spielt eine wichtige Rolle beim<br />
Verständnis von Politikvermittlung <strong>und</strong> daher auch für die Analyse der „Agenda<br />
2010“-Vermittlung. Angesichts der vielfachen Kritik an der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />
(vgl. u.a. Haubner 2005: 313) soll die Frage geklärt werden, inwieweit es<br />
sinnvoll ist, politische Reformen, die womöglich mit leistungskürzungen oder<br />
auch nur mit entsprechenden Befürchtungen der Bürger verb<strong>und</strong>en sind, mittels<br />
Politischer Werbung zu vermitteln. Die These des Beitrages ist, dass die <strong>Bild</strong>kampagnen<br />
die Zusammenhänge der unterschiedlichen reformpolitischen Maßnahmen<br />
nur unzureichend vermitteln konnten.<br />
2 <strong>Bild</strong>kampagnen <strong>und</strong> öffentliche Kommunikation<br />
Politische Kommunikation <strong>und</strong> öffentliche Aufmerksamkeit<br />
<strong>Bild</strong>kampagnen sind ein Teil der politischen Kommunikation. Da sich politische<br />
Akteure in demokratischen Systemen gegenüber Wählerinnen <strong>und</strong> Wählern ständig<br />
neu legitimieren müssen (Gerhards 2002: 269 <strong>und</strong> Sarcinelli 1998a: 11 <strong>und</strong><br />
547), ist „Kommunikation nicht nur Mittel, sondern untrennbarer Bestandteil<br />
jeder Politik“ (Bergsdorf 2002: 531 <strong>und</strong> vgl. Korte/Fröhlich 2004: 259). „Politikvermittlung“<br />
bezeichnet demnach „alle Prozesse, der i.d.R. medienvermittelten<br />
Darstellung <strong>und</strong> Wahrnehmung von Politik“ (Sarcinelli 1998b: 702).<br />
Bei der legitimierung ihrer Politik gehe es für die B<strong>und</strong>esregierung dabei um<br />
die Beeinflussung der „öffentlichen Meinung“, die als Resultat der medienvermittelten<br />
öffentlichen Kommunikation zu sehen ist (Schulz 1997: 91). Da in der<br />
Medienöffentlichkeit „nahezu alle öffentlichen Angelegenheiten über die Medien<br />
verhandelt werden“ (Pfetsch 1998: 233), brauchen politische Akteure professionelle<br />
Kommunikationsmittel, um „die Aufmerksamkeit des Publikums für ihre<br />
Themen zu gewinnen“ (Gerhards 2002: 271) <strong>und</strong> Unterstützung zu generieren.<br />
92
entscheidungspolitik <strong>und</strong> Darstellungspolitik<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit erfolge die Verwendung<br />
von Formen symbolischer Politik <strong>und</strong> von Inszenierungen zunehmend strategisch<br />
(Jarren/Donges 2002: 115). „Sozialer Wandel <strong>und</strong> Medienwandel setzen<br />
gewissermaßen den Takt für die Professionalisierung moderner Politikvermittlung“<br />
(Kamps 2002: 107). Damit treten Prozesse der Politikdarstellung in den<br />
Vordergr<strong>und</strong>. Politik spielt sich auf den ebenen der entscheidungspolitik <strong>und</strong><br />
Darstellungspolitik ab. Entscheidungspolitik findet in einem Netz von kommunikativen<br />
Prozessen, Aushandlungssystemen <strong>und</strong> informellen Strukturen statt<br />
(Korte/Fröhlich 2004: 173ff.). entscheidungen laufen in längeren Zeitrahmen ab,<br />
die durch institutionelle Vorgaben bestimmt sind (Sarcinelli 2005: 115ff.). Darstellungspolitik<br />
hingegen erfolgt medienvermittelt, bzw. durch symbolisches <strong>und</strong><br />
inszeniertes Handeln (Korte 2004: 201). Hierbei stehen kurzfristige Konfliktthemen,<br />
Personen, sowie Darstellungs- <strong>und</strong> Vermittlungskompetenz der politischen<br />
Akteure im Fokus (Sarcinelli 2005: 119 <strong>und</strong> Sarcinelli 1998a: 19).<br />
Weder bleibt Entscheidungspolitik gänzlich unbeeinflusst von den Aufmerksamkeitsregeln<br />
der Medien (vgl. Korte 2004: 201), noch gibt es Darstellungspolitik<br />
ohne politische Entscheidungen. Sie stehen vielmehr in einem „kritischen Wechselverhältnis<br />
zueinander“ (Haubner 2005: 311) bzw. einem „Spannungsverhältnis,<br />
das es immer wieder auszubalancieren“ gilt (Sarcinelli 2005: 123). Dabei ersetze<br />
Darstellungspolitik zunehmend entscheidungspolitik (vgl. Korte/Fröhlich 2004:<br />
20).<br />
Politische Werbung <strong>und</strong> Politik als Marke<br />
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />
Politische Werbung soll Zustimmung in der Bevölkerung über die emotionalisierung<br />
<strong>und</strong> Vereinfachung politischer Inhalte herstellen (Bentele 1998: 131f.). Da<br />
in den letzten jahren die Professionalisierung der Politischen Kommunikation<br />
zugenommen hat (Schulz 2003: 463), werde politische Werbung für die öffentlichkeitsarbeit<br />
der Regierung immer wichtiger (Bentele 1998: 131).<br />
Die Professionalisierung von öffentlichkeitsarbeit umfasst die markenförmige<br />
Positionierung von Politik oder politische Akteure. Politische Marken sollten einerseits<br />
Präsenz erzeugen, indem sie Sachfragen fokussieren <strong>und</strong> positiv darstellen<br />
(Karp/Zolleis 2005: 102f.). Anderseits biete eine Marke in einer von vielfältigen<br />
Informationen bestimmten Umgebung Orientierung <strong>und</strong> entlastung<br />
(Meckel 2003: 72). Politische Marken beschreiben komplexe Sachinhalte <strong>und</strong><br />
haben im Idealfall einen hohen Wiedererkennungswert. Das Fokussieren eines<br />
Themas, die Herausstellung von Stärken einer konkreten Politik helfe, „den roten<br />
Faden des jeweiligen Politikansatzes [...] besser erkennen zu können“ (Zolleis/<br />
Weilmann 2004: 37).<br />
93
GUNNAR HANSeN<br />
Kampagnenkommunikation <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>kampagnen<br />
Angesichts der gestiegenen Zahl von Kommunikationsangeboten ist „Politische<br />
Öffentlichkeit für die Medien nur eine Öffentlichkeit neben vielen.“ (Jarren 1998:<br />
93) Es reiche daher nicht mehr aus, „punktuell Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben“<br />
(Dorer 2002: 55). Aus diesem Gr<strong>und</strong> werden Kampagnen auch für die B<strong>und</strong>esregierung<br />
immer wichtiger (Hill 2004: 9).<br />
Kampagnen sind „dramaturgisch angelegte, thematisch begrenzte, zeitlich befristete<br />
kommunikative Strategien zur erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit,<br />
die auf ein Set unterschiedlicher kommunikativer Instrumente <strong>und</strong> Techniken<br />
– werbliche <strong>und</strong> marketingspezifische Mittel <strong>und</strong> klassische PR-Maßnahmen zurückgreifen“<br />
(Röttger 1998: 667). Als Kampagne kann somit der „geplante Einsatz<br />
vielfältiger Kommunikationsaktivitäten“ (Schulz 1997: 220) bezeichnet werden,<br />
der auf ein bestimmtes Publikum ausgerichtet ist. Ziel von Kampagnen ist es,<br />
Aufmerksamkeit zu erzeugen, Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des auftragsgebenden<br />
Akteurs zu schaffen <strong>und</strong> Zustimmung für entscheidungen <strong>und</strong>/oder Anschlusshandeln<br />
zu erzeugen (Röttger 1998: 667 <strong>und</strong> jarren/Donges 2002: 119).<br />
<strong>Bild</strong>kampagnen sind der unmittelbaren, strategischen Kommunikation zuzuordnen.<br />
Unmittelbar sind Maßnahmen wie öffentliche Reden <strong>und</strong> Anlässe, Vorträge<br />
sowie Staatsbesuche, Gedenktage <strong>und</strong> Feierlichkeiten (jarren/Donges 2002: 100f.)<br />
sowie Plakate, Flyer, Broschüren, Anzeigen, Kinospots <strong>und</strong> das Internetangebot<br />
der B<strong>und</strong>esregierung. Der strategische einsatz von PR-Instrumenten bezeichnet<br />
die langfristige Vorbereitung von PR-Instrumenten, wie Informationskampagnen<br />
der B<strong>und</strong>esregierung (Bentele 1998: 140 <strong>und</strong> jarren/Donges 2002: 102).<br />
3 Die „Agenda 2010“<br />
Anfang 2003 war die Regierung mit einer Situation konfrontiert, die ihren einschätzungen<br />
nach mit vorsichtigen Reformen nicht zu lösen war (Zohlnhöfer<br />
2005: 68). Unter anderem angesichts steigender Arbeitslosenzahlen formulierte<br />
die Regierung die sozialpolitischen Vereinbarungen im Regierungsprogramm<br />
Anfang 2003 neu (Kropp 2003a: 29). Die „Agenda 2010“ war somit eine Art „Befreiungsschlag“<br />
(a.a.O.: 73).<br />
Die Bevölkerungsmeinungen zur Reformpolitik<br />
Die Bevölkerungsmeinung zur „Agenda 2010“ war gespalten“. Im April 2003 gaben<br />
45 Prozent der befragten B<strong>und</strong>esbürger an, die Reformen würden in die richtige<br />
Richtung gehen. Weitere 45 Prozent gaben an, die Reformen gingen nicht<br />
in die richtige Richtung (Infratest Dimap Deutschlandtrend 05/2003: 11). eine<br />
andere Umfrage zeigte, dass 59 Prozent der Befragten die „derzeitigen Reformmaßnahmen“<br />
als Abbau wahrnahmen, nur 29 Prozent als Umbau (Köcher 2003:<br />
94
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />
Tabelle A2). Prinzipiell herrscht Reformbereitschaft in der Bevölkerung. Diese<br />
scheint nicht mehr gegeben, wenn Reformen mit spürbaren einbußen für die<br />
Bürger einher gehen (Krafft/Ulrich 2004: 5): Insgesamt 56 Prozent der Befragten<br />
einer Studie gaben an, sie würden sehr stark oder stark von Reformen betroffen<br />
sein. 88 Prozent sehen sich von kommenden Reformen betroffen (Köcher 2003:<br />
Tabelle A6).<br />
Angesichts dieses gespaltenen Meinungsbildes musste das kommunikative Ziel<br />
der Kampagne sein, das Vertrauen in die Politik (Mast 2005: 48), bzw. „Vertrauen<br />
in das Handeln, aber auch in die Worte der Regierenden“ (Bellstedt 2003: 21)<br />
wieder herzustellen. Schröder nannte als Ziele der Reformpolitik, Vertrauen zu<br />
schaffen, die wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern <strong>und</strong> Chancengerechtigkeit<br />
herzustellen (Schröder 2003: 23).<br />
Die Bedeutung von Regierungskommunikation für Reformpolitik<br />
Bei der Formulierung von politischen Programmen wie der „Agenda 2010“ profitiert<br />
die B<strong>und</strong>esregierung von ihrem Status, „der ihren Mitteilungen die Vermutung<br />
des Wichtigen zukommen lässt“ (Bergsdorf 2002: 534). Ziele von Regierungskommunikation<br />
sind die Vermittlung von Informationen, Selbstdarstellung<br />
sowie Persuasion, also Überzeugung vor allem durch sprachliche Mittel (Bentele<br />
1998: 141). Weitere Ziele sind die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, bzw.<br />
die erneute legitimation der Regierung bei den nächsten Wahlen (Pfetsch 1998:<br />
239).<br />
Regierungs-PR umfasst die Darstellung von Zielen, politischen Wegen <strong>und</strong> Situationen<br />
(Bergsdorf 2002: 532) sowie entscheidungsrechtfertigung (Gebauer 2002:<br />
464). Zentrale Aufgabe der Regierung ist es, zum „richtigen Zeitpunkt politisch,<br />
fachlich <strong>und</strong> rechtlich tragfähige entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> diese der öffentlichkeit<br />
zu vermitteln.“ (Gebauer 2002: 468) Sie müsse sich um Zustimmung<br />
für ihre Politik <strong>und</strong> Entscheidungen bemühen, „die allein durch Kommunikation<br />
hergestellt <strong>und</strong> fortwährend geprüft werden kann“ (Bergsdorf 2002: 531), da<br />
sie auch bei unpopulären Maßnahmen die Aufgabe habe, „die Zusammenhänge<br />
offen zu legen, Verständnis für erforderliche Maßnahmen zu wecken oder um<br />
ein konjunkturgerechtes Verhalten zu werben” (zit. n. B<strong>und</strong>estag Drucksache<br />
15/2912: 15).<br />
95
GUNNAR HANSeN<br />
Politische Sprache <strong>und</strong> „Agenda 2010“<br />
Ziel politischer Sprache ist es, die „politische Definitions- <strong>und</strong> Deutungsmacht“<br />
zu erlangen, um sich so mit seinem Thema in der öffentlichkeit durchsetzen zu<br />
können (Kreyer 2004: 27). Dabei geht es um die Reduzierung von Komplexität<br />
<strong>und</strong> die „Etikettierung“ (Kreyer 2004: 27) von Politik. Die B<strong>und</strong>esregierung stellte<br />
die „Agenda 2010“ als einen „der weitreichendsten Reformansätze“ dar, „die in<br />
der deutschen Politik je entwickelt wurden“ (Bellstedt 2003: 20). Die gewählten<br />
sprachlichen Mittel sollten auf diese Alternativlosigkeit der Reformpolitik hinweisen.<br />
Mit Schröders Rede „Mut zum Frieden <strong>und</strong> Mut zur Veränderung“ am<br />
14.03.2003 vor dem deutschen B<strong>und</strong>estag wurde der Begriff „Agenda 2010“ inhaltlich<br />
besetzt. Dem Titel komme eine besondere Rolle zu, da es im Wettbewerb<br />
um öffentliche Aufmerksamkeit um die Besetzung von Themen mit einschlägigen<br />
Begriffen gehe (Korte/Fröhlich 2004: 271).<br />
Die jahreszahl 2010 unterstrich die Zukunftskompetenz der B<strong>und</strong>esregierung<br />
<strong>und</strong> zeigte die Perspektive auf, „Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei<br />
Wohlstand <strong>und</strong> Arbeit wieder an die Spitze bringen“ (Schröder 2003: 28). Der<br />
Begriff mache deutlich: „So soll Deutschland im Jahre 2010 aussehen“ (Werner<br />
Kohlhoff zitiert nach Wübben 2004: 56). Das Fremdwort „Agenda“ stieß hingegen<br />
zunächst auf Skepsis. Letztlich blieb der Begriff „Agenda 2010“, da die Bürger<br />
es sich womöglich gerade deshalb merken könnten, weil es ein Fremdwort<br />
sei (Der Spiegel 30/2004: 37). Zugleich wurde durch „Agenda 2010“ ein „roter<br />
Faden“ (Sell 2005: 302) gelegt, der zwischen den einzelnen Themenfeldern nicht<br />
von vornherein gegeben ist.<br />
Die Öffentlichkeitsarbeit zur Vermittlung der „Agenda 2010“<br />
Die Kommunikation der „Agenda 2010“ verfolgte mehrere Ziele: Die langfristige<br />
Information der Bürger über Inhalte, also die „öffentliche (auch: parteiübergreifende)<br />
Kommunikation eines Reformwerkes [!]“ (Selke 2005: 153). Zu nennen<br />
sind hier Maßnahmen wie Online-Kommunikation <strong>und</strong> Broschüren. Diese ergänzten<br />
die Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenkampagnen, deren Ziel es war, Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> Zustimmung zu erzeugen.<br />
Die „Agenda 2010“-Vermittlung lässt sich beschreiben als, „ein auf Dauer angelegtes<br />
visuell unterstütztes Kommunikationsgeschehen mit dem Ziel, die für die<br />
Umsetzung der gewollten Reformen notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung<br />
zu erzielen.“ (a.a.O.: 131) Zwar sind die einzelnen Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenkampagnen<br />
als visuelle Kommunikationstypen kampagnentypisch zeitlich eingegrenzt,<br />
(a.a.O.: 134), allerdings fehlt der „Agenda 2010“-Kommunikation gerade diese<br />
zeitliche Abgeschlossenheit (a.a.O.: 133).<br />
96
4 Die <strong>Bild</strong>kampagnen im Rahmen der „Agenda 2010“<br />
Charakteristika von Plakaten<br />
Anzeigen <strong>und</strong> Plakate waren innerhalb der „Agenda 2010“-Vermittlung „eine<br />
notwendige Information der Bürger über die anstehenden Reformen“ (Werner<br />
Kohlhoff zit. n. Wübben 2004: 56). Plakaten kommt innerhalb einer Kampagne<br />
eine Verstärkerfunktion zu. Sie unterstreichen deren zentralen Botschaften durch<br />
Slogans, Signets <strong>und</strong> Farben (Wangen 1983: 242). Sie haben eine breite Wirkung<br />
in der öffentlichkeit <strong>und</strong> sind daher auch für die Bekanntmachung von öffentlichen,<br />
politischen <strong>und</strong> gesellschaftlich relevanten Themen interessant (Selke<br />
2005: 136). Sie sind prinzipiell für alle zugänglich <strong>und</strong> weisen darüber hinaus<br />
keine Zielgruppenbeschränkung auf (Schierl 2001: 63). Plakate sind unabhängig<br />
von Auflage oder Einschaltquoten. Sie können nicht einfach überblättert oder abgeschaltet<br />
werden, sind über einen festen Zeitraum konstant präsent <strong>und</strong> bieten<br />
somit eine hohe Zahl von Wiederholungskontakten (a.a.O.). Durch den flüchtigen<br />
Kontakt bleiben nur wenige Momente, die Botschaft zu vermitteln (a.a.O.). Die<br />
Vermittlung soll durch eine zielgerichtete <strong>und</strong> durchdachte Gestaltung <strong>und</strong> die<br />
Reduktion der Botschaft auf wenige Symbole, Schlagwörter <strong>und</strong> logos erreicht<br />
werden (Selke 2005: 138). Plakate eignen sich somit aufgr<strong>und</strong> ihrer medialen<br />
eigenschaften hervorragend für die markenförmige Positionierung von Politik<br />
(a.a.O.: 142).<br />
„Deutschland bewegt sich“ / August – Oktober 2003<br />
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />
Nach der „Konkretisierung der Reforminhalte“ (Anda: BPK vom 18.08.2003),<br />
stellte die B<strong>und</strong>esregierung im August 2003 die Anzeigen- <strong>und</strong> Plakatkampagne<br />
„Deutschland bewegt sich“ vor (B<strong>und</strong>estag Drucksache 15/2912: 3). Die Kampagne<br />
startete zu einem Zeitpunkt, als die ersten Maßnahmen des Reformpaketes<br />
„Agenda 2010“ im Kabinett verabschiedet waren, die endgültigen Abstimmungen<br />
in B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esrat aber noch ausstanden.<br />
Vorgestellt wurden sieben verschiedene Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenmotive (vgl.<br />
Anda: BPK vom 18.08.2003). Diese waren: „(Nie) wieder Arbeit(?)!“, „<strong>Bild</strong>ung<br />
fo(ö)rdern“, „Chancen (ver)geben(!)“, „Familie <strong>und</strong> (oder) Beruf“, „Mehr Jobs“,<br />
„Später (k)eine Rente (?)“ <strong>und</strong> „Steuern senken“. Die Plakate wurden vom 22.08.<br />
bis 18.09.2003 auf insgesamt 17.435 Großflächenplakaten, 642 Mega-Light-Plakaten<br />
<strong>und</strong> 82 Busplakatierungen im gesamten B<strong>und</strong>esgebiet geschaltet (B<strong>und</strong>estag<br />
Drucksache 15/2912: 39). Zusätzlich gab es Anzeigen in etwa 40 verschiedenen<br />
Tageszeitungen, Wochenzeitungen <strong>und</strong> Magazinen.<br />
97
GUNNAR HANSeN<br />
Das gr<strong>und</strong>legende Kampagnen-Design wird bestimmt durch den <strong>Bild</strong>rahmen des<br />
Plakates. Dieser bedeckt etwa 1/8 der Plakatfläche <strong>und</strong> ist Hintergr<strong>und</strong> für die<br />
Wiedererkennungsmerkmale der Kampagne. Das Logo der B<strong>und</strong>esregierung findet<br />
sich in der linken unteren Ecke, der Schriftzug „Deutschland bewegt sich“ in<br />
schwarz <strong>und</strong> „agenda 2010“ in rot sind in der rechten unteren Ecke. (Selke 2005:<br />
50) Hinzu kommt in der rechten oberen ecke der Schriftzug www.b<strong>und</strong>esregierung.de.<br />
Durch diese Gestaltungsmerkmale war die B<strong>und</strong>esregierung als Absender<br />
der Botschaft erkennbar.<br />
Ziele der Kampagne „Deutschland bewegt sich“<br />
Die Kampagne sollte die Politikfelder der „Agenda 2010“ der Öffentlichkeit nahe<br />
bringen <strong>und</strong> die positiven Veränderungen in diesen Politikfeldern für die einzelnen<br />
Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger sichtbar machen. Eine „frische <strong>Bild</strong>sprache, die sich<br />
nicht verbraucht“ (vgl. Tagesspiegel 14.09.2003: 2) sollte die Dynamik des Reformprozesses<br />
herausstellen. (Anda 2003: BPK vom 18.08.2003) Die Kampagne<br />
war auch dazu gedacht, ein „Wir-Gefühl“ in der Bevölkerung zu erzeugen <strong>und</strong><br />
die Wichtigkeit der Reformen für alle Bürger herauszustellen. Daneben wies die<br />
Kampagne auf die Informationsangebote der B<strong>und</strong>esregierung im Internet hin<br />
(vgl. B<strong>und</strong>estag Drucksache 15/2912: 3).<br />
Titel: „Deutschland bewegt sich“<br />
Der Titel „Deutschland bewegt sich“ drückt Bewegung aus. Obwohl die Regierung<br />
durch Gesetze zunächst den Anstoß für Bewegung geben muss, weist der Titel<br />
darauf hin, dass Deutschland in lage sei, sich von alleine zu bewegen. Unterstützt<br />
wird der Ausdruck von Bewegung durch die kursive Stellung der Buchstaben.<br />
Der Titel der Kampagne rückt so die beabsichtigte „Dynamik des Reformprozesses“<br />
(Anda 2003: BKP vom 18.08.2003) sowie die Überwindung von Stillstand<br />
<strong>und</strong> die Erneuerung des Landes als „durchgreifende Veränderungen“ (Schröder<br />
2003: 23) aus. Laut Schröder hätte die B<strong>und</strong>esregierung „die Pflicht, den nachfolgenden<br />
Generationen die Chancen auf ein gutes leben in einer friedlichen <strong>und</strong><br />
gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu verbauen.“ (a.a.O.: 55) Mit den<br />
„Bewegungen“ sind demnach gesellschaftspolitische Reformen (Selke 2005: 50)<br />
gemeint.<br />
Die <strong>Bild</strong>motive – Zukunftsvision für 2010?<br />
Politik wird zunehmend durch <strong>Bild</strong>er bestimmt (vgl. u.a. Meyer 2003). So spielen<br />
Symbole, <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> logos eine wichtige Rolle in der medialen Berichterstattung<br />
<strong>und</strong> der öffentlichkeitsarbeit politischer Akteure. Im Fokus der Plakate<br />
stehen Menschen, die den Betrachter in den meisten Motiven direkt anblicken.<br />
„Deutschland bewegt sich“ sollte die Gesamtheit der Gesellschaft abbilden. Die<br />
Plakate stellen Momentaufnahmen gesellschaftlichen lebens dar. ein Paar sitzt<br />
an einem Tisch <strong>und</strong> blickt auf einen See hinaus („Später (k)eine Rente (?)“), eine<br />
98
Frau trägt einkaufstüten, ein Mann hebt ein Baby hoch, eine Frau in Arbeitskleidung<br />
lehnt an einer Werkstattbank.<br />
Insgesamt wirken die dargestellten Szenen positiv, aber auch inszeniert <strong>und</strong> „sehr<br />
klinisch“ (Selke 2005: 155). Die Wirklichkeit stellt sich auf den Plakaten stark vereinfacht<br />
dar (a.a.O.: 160). Die Statik der <strong>Bild</strong>er kann auch als Widerspruch zum<br />
beabsichtigten Ziel der Plakate, nämlich den Reformprozess als dynamisch darzustellen,<br />
aufgefasst werden (vgl. Selke 2005: 160). Visuelle Kommunikation stellt<br />
„im Kontext der politischen Ikonografie einen Versuch dar, die soziale Stellung<br />
von Mitgliedern der Gesellschaft zu nivellieren, d.h. der Versuch der Herstellung<br />
eines ,Wir-Gefühls’“ (Selke 2005: 161). Dadurch, dass jedes Plakat gleichzeitig ein<br />
gesellschaftspolitisches Thema fokussiert (a.a.O.: 143), werden unterschiedliche<br />
Zielgruppen angesprochen: So sollte klar werden, dass der Prozess der „Agenda<br />
2010“ sich auf „alle Kräfte der Gesellschaft“ (Schröder 2003: 24) beziehe. Aufgr<strong>und</strong><br />
der unterschiedlichen Themen könne aber nicht davon ausgegangen werden,<br />
dass darüber auch Gemeinsamkeiten herausgestellt wurden (Selke 2005:<br />
162).<br />
Die Slogans – Rotstift als Zeichen für Veränderung?<br />
Durch scheinbar nachträglich durchgeführten Streichungen oder ergänzungen<br />
werden die Veränderungen durch die „Agenda 2010“ symbolisch dargestellt. Der<br />
Bürger wird auf der persönlichen ebene angesprochen <strong>und</strong> sieht, welche Perspektive<br />
sich für ihn im jahr 2010 eröffnen könnte. Die roten Schriftzüge kennzeichnen<br />
stehen für Dynamik <strong>und</strong> Veränderungswillen. Das Plakat wird verändert, so<br />
wie durch die Reformen Deutschland verändert werden soll. Durch Streichungen<br />
kann somit auch Neues gewonnen werden (Wübben 2004: 58). Allerdings bieten<br />
die Slogans keine inhaltlichen Informationen über die Reformpolitik. (Selke<br />
2005: 163) Stattdessen stellen sie die Ziele der „Agenda 2010“ dar. Aus der Verneinung<br />
wird eine Bejahung: „Nie wieder Arbeit? – Wieder Arbeit!“ <strong>und</strong> „Chancen<br />
vergeben – Chancen geben!“ Sie lösen aber auch mögliche Wiedersprüche auf wie<br />
bei „Familie oder Beruf – Familie <strong>und</strong> Beruf“.<br />
„Warum? Darum!“ / Juni – August 2004<br />
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />
Im Juni 2004 wurde „Agenda 2010 – Warum? Darum!“ als zweite b<strong>und</strong>esweite<br />
Kampagne zur „Agenda 2010“ vorgestellt. Sechs Plakatmotive wurden zwischen<br />
Juni <strong>und</strong> August 2004 veröffentlicht. Die Motiven waren „Erstmals über 2 Millionen<br />
Studierende – <strong>Bild</strong>ung sichert Zukunft“, „Mehr Unabhängigkeit vom Öl<br />
– 560 Millionen € für neue Energien“, „Exportweltmeister Deutschland – der<br />
Konjunkturmotor läuft an“, „1000 neue Ganztagsschulen – PISA-Test kapiert“,<br />
„Zukunft nachhaltig sichern – Generationen für Generationen“ <strong>und</strong> „Krankenkassenbeiträge<br />
sinken – die Ges<strong>und</strong>heitsreform wirkt“.<br />
99
GUNNAR HANSeN<br />
Die Plakate der „Warum? Darum!“-Kampagne unterscheiden sich optisch von denen<br />
der „Deutschland bewegt sich“-Kampagne. Sie haben ein anderes <strong>Bild</strong>format<br />
<strong>und</strong> weisen unterschiedliche Farbgebungen sowie einen höheren Text-Anteil auf.<br />
Das logo der B<strong>und</strong>esregierung ist auf einem Balken am oberen <strong>Bild</strong>rand platziert.<br />
Den Großteil der Plakate bedeckt das <strong>Bild</strong>motiv, auf dem der Schriftzug „Darum!“<br />
mit der Kernaussage des Plakates platziert ist. Das „Darum!“ weist gestalterische<br />
Ähnlichkeit zu den roten Ergänzungen der „Deutschland-bewegt-sich“-Kampagne<br />
auf. Verb<strong>und</strong>en werden beide elemente durch einen roten Balken, der die<br />
Frage „Warum?“ <strong>und</strong> „machen wir die agenda 2010“ enthält. Die Aussagen der<br />
Motive bilden sich aus dem Wechselspiel zwischen Frage <strong>und</strong> Antwort.<br />
Aussagen der Kampagne „Warum? Darum!“<br />
Die Plakate heben den übergreifenden Sinn der „Agenda 2010“ hervor (Staud<br />
2004) <strong>und</strong> stellen beschlossenen Reformmaßnahmen sowie erste erfolge <strong>und</strong><br />
besondere Investitionen vor. Neu sind die Themenbereiche energie, Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Konjunktur. Bei den Themen Erneuerbare Energien, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
bringt die Kampagne konkrete reformpolitische Maßnahmen der Regierung<br />
zur Sprache. Die Plakate zu den Themen <strong>Hochschule</strong> <strong>und</strong> Konjunktur nennen<br />
aktuelle wirtschaftliche <strong>und</strong> sozialpolitische entwicklungen. Diese werden allerdings<br />
nicht mit konkreten Maßnahmen der B<strong>und</strong>esregierung verb<strong>und</strong>en. Abstrakt<br />
bleibt das Plakatthema Rente <strong>und</strong> Chancengerechtigkeit.<br />
Übergreifend weisen die Plakate zwei Merkmale auf: erstens stellte man Themen<br />
heraus, bei denen man erfolge vorzuweisen hatte, die aber nicht von vornherein<br />
unter die „Agenda 2010“ fielen. Dafür fehlten andere Themen wie die Arbeitsmarktreform,<br />
die zwar in der entsprechenden Broschüre ausführlich thematisiert<br />
wurde, aber nicht als Plakatmotiv aufgenommen wurde. Zweitens können die<br />
Plakate keinen Zusammenhang zwischen den reformpolitischen entscheidungen<br />
<strong>und</strong> den dargestellten politischen erfolgen herstellen. Der Zusammenhang bleibt<br />
wie bei „Deutschland bewegt sich“ offen.<br />
Die Kampagne „Warum? Darum!“ stellt vergleichbar mit der ersten Kampagne<br />
die positiven entwicklungen der Regierungsarbeit heraus. Sie wirbt für positive<br />
Effekte der Reformpolitik <strong>und</strong> bezieht sich auf die „erste Bilanz“ des B<strong>und</strong>eskanzlers<br />
am 25. März 2004 in einer Rede vor dem deutschen B<strong>und</strong>estag (Schröder<br />
2004).<br />
100
5 Die Kampagnen im Kontext der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />
Positionierung zwischen Information <strong>und</strong> emotion<br />
Die Kampagnen im Kontext der „Agenda 2010“-Vermittlung weisen Unterschiede<br />
<strong>und</strong> Gemeinsamkeiten auf. Mit der zweiten Kampagne reagierte die B<strong>und</strong>esregierung<br />
auf die erste Kampagne. Diese hatte die Reformpolitik positiv besetzt <strong>und</strong><br />
emotional deren Notwendigkeit beworben. In Anbetracht des noch nicht abgeschlossenen<br />
entscheidungsprozesses zu den weitgehenden Reformen auf dem<br />
Arbeitsmarkt, der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> der Rente sollte sie Zustimmung für die Reformpolitik<br />
erzeugen <strong>und</strong> die Themen der „Agenda 2010“ in der Öffentlichkeit<br />
präsent machen. Die Darstellung der Reformpolitik <strong>und</strong> ihrer Ziele blieb dabei<br />
abstrakt. Die dargestellte Dynamik des Reformprozesses wiedersprach dem langfristigen<br />
entscheidungsprozess (Krafft/Müller 2004: 5).<br />
Durch die <strong>Bild</strong>kampagnen versuchte die B<strong>und</strong>esregierung die Deutungsmacht<br />
über die zu ergreifenden Maßnahmen <strong>und</strong> die wichtigen Themen der „Reformdebatte“<br />
(Müller 2003: 3ff.) zu übernehmen. Bewerbende Sprache sollte die<br />
Überzeugungskraft der formulierten Inhalte erhöhen (Fröhlich 2004: 62). Die<br />
Plakate allein können jedoch keine Zusammenhänge darstellen. Besonders die<br />
Kampagne „Deutschland bewegt sich“ sollte sowohl emotional für Reformpolitik<br />
mobilisieren, als auch darüber informieren, dass Veränderungen stattfinden.<br />
Dabei blieben die konkreten Zusammenhänge zwischen Maßnahmen <strong>und</strong> den<br />
Zielen offen.<br />
Die <strong>Bild</strong>kampagnen als Formen symbolischer Politik<br />
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />
Die Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenkampagnen können als Form „Symbolischer Politik“<br />
(vgl. edelman 1990) verstanden werden. Mit Symbolen in Schrift <strong>und</strong> <strong>Bild</strong> wird<br />
erstens Aufmerksamkeit auf die angenommene Notwendigkeit von Reformpolitik<br />
gelenkt. Die Plakate selbst sind öffentlich präsent <strong>und</strong> symbolisieren Handlungsfähigkeit<br />
der Regierung in reformpolitischen Fragen (Sarcinelli 2005: 132): Ihnen<br />
komme damit eine „Signalfunktion“ zu (a.a.O.: 124). Zweitens vereinfachen sie<br />
die komplexen Entscheidungen <strong>und</strong> zum Verständnis notwendigen Information<br />
durch „plakative“ Darstellung der Reformpolitik, etwa durch Schlagwörter wie<br />
„Chancen“ (Schenk/Tenscher 1998: 351). Drittens emotionalisieren sie die Sicht<br />
auf Reformen durch das Aufzeigen positiver Zukunftsperspektiven („Deutschland<br />
bewegt sich“) <strong>und</strong> politischer Erfolge, die durch die „Agenda 2010“ erzielt<br />
wurden („Warum? Darum!“).<br />
Beide Kampagnen stellen Zusammenhänge vereinfacht dar <strong>und</strong> reduzieren so<br />
Komplexität. Die Plakate zeigen somit auch, „wie problematisch es ist, weitgehend<br />
abstrakte Inhalte zu vermitteln. Der umfangreiche <strong>und</strong> komplex angelegte<br />
Reformprozess kann kaum in einigen statischen Motiven glaubhaft visualisiert<br />
werden“ (Selke 2005: 166). Allein durch die <strong>Bild</strong>kampagnen kann der komplexe<br />
101
GUNNAR HANSeN<br />
politische Prozess nicht vermittelt werden. „Während sich die Ziele der agenda<br />
2010 noch in Ansätzen visuell kommunizieren lassen, sind die Mittel zur Zielereichung<br />
nur durch einen erhöhten Kommunikationsaufwand transparent zu<br />
machen“ (a.a.O.: 168).<br />
Die Plakate der „Agenda 2010“ sind eine Bekanntmachung <strong>und</strong> permanente Namenserinnerung<br />
im öffentlichen <strong>Raum</strong> (a.a.O.: 143). Sie sollten die Präsenz der<br />
dargestellten Themen steigern (a.a.O.: 127). Das wiederum ist notwendig, um einen<br />
Namen bzw. eine Marke in der öffentlichkeit bekannt zu machen. Reformpolitik<br />
sollte durch die zukunftsweisende Darstellung langfristiger positiver Folgen<br />
<strong>und</strong> die gegenwartsbezogenen Darstellung von politischen erfolgen positiv<br />
besetzt werden.<br />
Die „Agenda 2010“ im Spannungsverhältnis von Entscheidungs- <strong>und</strong> Darstellungspolitik<br />
Für beide Kampagnen gilt das Prinzip der Positionierung von Politik im Spannungsverhältnis<br />
von Darstellungs- <strong>und</strong> Entscheidungspolitik: „Positionierung<br />
durch Emotionen“ <strong>und</strong> „Positionierung durch Information“ (Schenk/Tenscher<br />
1998: 348). Bei der kommunikativen Begründung von Politik treffen die „Funktionslogik<br />
des politischen Systems <strong>und</strong> die Funktionslogik des durch Massenmedien<br />
fixierten Öffentlichkeitssystems aufeinander“ (Pfetsch 2003: 174). Die Darstellung<br />
von politischen Inhalten folgt der „Präsentationslogik“ des Mediensystems<br />
(Meyer 2003: 15).<br />
Die <strong>Bild</strong>kampagnen waren auch dadurch bestimmt, dass die „Agenda 2010“ einerseits<br />
„ein politischer Prozess mit einer extrem langen Prozessdauer [ist]. [...]<br />
Sie ist andererseits auch in ihrer konkreten Ausführung in kurzfristige, oft tagesaktuelle<br />
Medienberichterstattungen <strong>und</strong> deren knappe Produktionszeit eingeb<strong>und</strong>en“<br />
(Selke 2005: 133). Die „Agenda 2010-Kommunikation war langfristig<br />
angelegt. Sie hatte die „langsame Prozesslogik der Reformbemühungen“ zu berücksichtigen,<br />
wurde aber ebenso „von medialen Berichterstattung [...] gerahmt,<br />
unterlaufen oder je nach intentionaler Perspektive auch gestört“ (a.a.O.).<br />
102
Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />
6 Zusammenfassung: Die Vermittlung der „Agenda 2010“<br />
Durch die Kampagne „Deutschland bewegt sich“ wurde die Reformdebatte emotional<br />
besetzt <strong>und</strong> die Ziele der „Agenda 2010“ abstrakt dargestellt. Die <strong>Bild</strong>kampagne<br />
erschien vor allem als eine fiktive Scheinwelt von Politik (a.a.O.: 170). Sie<br />
implizierte beide Sichtweisen der Reformpolitik: einerseits die Bewegung als<br />
Chance für die Zukunft, andererseits den aktiven Zwang zur Veränderung (a.a.O.:<br />
50).<br />
Die Kampagne „Warum? Darum!“ versuchte über die Darstellung von Erfolgen<br />
der Reformpolitik zu mobilisieren. Die konkreten Maßnahmen sowie die kausalen<br />
Zusammenhänge zu den Plakatmotiven konnten beide Kampagnen nicht<br />
vermitteln. „Die großen Visionen sind visuell vermittelbar, die kleinen Schritte<br />
dorthin nicht.“ (a.a.O.: 166) Die Plakatkampagnen konnten vor allem folgende<br />
Maßgaben erfüllen: Die Bevölkerung informieren, dass es Veränderungen gibt,<br />
Aufmerksamkeit für Reformpolitik schaffen, die Themen in der öffentlichkeit<br />
bekannt machen <strong>und</strong> Reformpolitik positiv besetzen. Ob die Kampagne darüber<br />
hinaus Zustimmung zugunsten der B<strong>und</strong>esregierung generieren konnte, kann<br />
nicht eindeutig geklärt werden. ebenso ist eine genaue Untersuchung von Veränderungen<br />
der Themenpräferenzen bezüglich der konkreten Reformpolitik offen.<br />
Die Kommunikation der „Agenda 2010“ zeigt: Bei der Konzentration auf Darstellungspolitik<br />
stößt Politik an Grenzen, die durch die Diskrepanz von Darstellungs-<br />
<strong>und</strong> Entscheidungspolitik gegeben sind. „Diese Grenzen zeigen, dass es eine<br />
Schere zwischen Form <strong>und</strong> Inhalt gibt, die sich besonders im Kontext der Agenda<br />
2010 als problematisch erweist“ (a.a.O.: 167). Das Ziel von Kampagnen müsse<br />
sein, dass angesichts von Skepsis <strong>und</strong> Ängsten in der Bevölkerung „zwischen<br />
Reformmaßnahmen <strong>und</strong> Zielen der Reform ein klar erkennbarer Kausalzusammenhang<br />
hergestellt wird“ (Krafft/Ulrich 2004: 4 <strong>und</strong> Haubner 2005: 316f.). Da<br />
politische Akteure damit rechnen müssen, „dass ihre Entscheidungen durch die<br />
Kritik der Medien in Frage gestellt werden“ (Pfetsch 2005: 34) müssen sie durch<br />
ihre kommunikativen Maßnahmen Zusammenhänge offen legen, mögliche Probleme<br />
ansprechen <strong>und</strong> Politikfelder mit konkreten Zielsetzungen verbinden.<br />
103
GUNNAR HANSeN<br />
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107
III. Projektentwürfe, Dokumentation, studentische Abschlussarbeiten
STeFAN SelKe<br />
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
einübung von Wahrnehmungskompetenz am medienpädagogischen<br />
lernort Schule<br />
1 Online-Chats über <strong>Bild</strong>er statt politischer Ikonografie<br />
Die netzbasierte <strong>Bild</strong>analysesoftware VeraICON wurde am Zentrum für <strong>Bild</strong>,<br />
<strong>Raum</strong> <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong> der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> mit den Ziel entwickelt, ein<br />
frei verfügbares Untersuchungsinstrument für Schulprojekte im Bereich politischer<br />
<strong>Bild</strong>ung zur Verfügung zu stellen. Netzbasierte Schulprojekte finden bei<br />
jugendlichen Schülern, bei denen eine hohe Internetaffinität vorausgesetzt werden<br />
kann, hohe Akzeptanz. Mit VeraICON können im Rahmen schulischer Projekte<br />
verschiedenste Formen politischer <strong>Bild</strong>kommunikation untersucht werden.<br />
Die medienpädagogischen <strong>und</strong> methodologischen Rahmenbedingungen dieser<br />
Projektentwürfe sind Gegenstand dieses Beitrags.<br />
VeraICON ermöglicht einen neuen Zugang zum Phänomen <strong>Bild</strong>. Obwohl mit<br />
VeraICON prinzipiell alle Arten von <strong>Bild</strong>ern untersucht werden können, stehen in<br />
diesem Beitrag <strong>Bild</strong>er mit politischem Inhalt im Mittelpunkt. entgegen üblicher<br />
Bezeichnungsweisen sollen diese nicht politische Ikonografien, sondern <strong>Bild</strong>er<br />
mit politischem Inhalt, politische <strong>Bild</strong>kommunikation oder kurz: politische <strong>Bild</strong>er<br />
genannt werden. Der Begriff Ikonografie legt nahe, dass es sich um weithin<br />
111
STeFAN SelKe<br />
bekannte <strong>und</strong> berühmte einzelbilder handelt. Der Begriff impliziert weiterhin<br />
eine Methode der <strong>Bild</strong>untersuchung, wie sie im Rahmen der Kunstgeschichte<br />
unter dem Etikett ikonografisch-ikonologische <strong>Bild</strong>interpretation vorgelegt wurde.<br />
Im Gegensatz hierzu soll erstens betont werden, dass das Untersuchungsinstrument<br />
VeraICON offen für jegliche Form politischer <strong>Bild</strong>kommunikation<br />
ist, <strong>und</strong> dass es sich zweitens bei einer <strong>Bild</strong>analyse mit VeraICON nicht um den<br />
(bildungsbürgerlich motivierten) Versuch handelt, einen Kanon wichtiger <strong>Bild</strong>er<br />
zu repräsentieren <strong>und</strong> die darin verborgenen (vermeintlich) „richtigen“ Bedeutungsinhalte<br />
zu entschlüsseln. Der vorgelegte Ansatz lässt sich in den Kontext der<br />
rekonstruktiven qualitativen Sozialforschung einordnen. 1 Mit Theunert (1996:<br />
67f.) lässt sich VeraICON als eine qualitative Rezeptionsstudie einordnen. <strong>Bild</strong>er<br />
werden zudem imSinne der Cultural Studies als Alltagsphänomene verstanden,<br />
die in der Praxis der Aneignung <strong>und</strong> Auslegung eben diesen Alltag (mit) strukturieren.<br />
Als Gegenentwurf zu kunstgeschichtlich inspirierten oder sich an der<br />
Ästhetik des <strong>Bild</strong>es oder zumindest seiner Formstruktur orientierenden Ansätzen<br />
(wie z.B. der objektiven Hermeneutik) bedeutet der hier vertretende Ansatz im<br />
Kern, nicht die vermeintliche Sprache der <strong>Bild</strong>er zu analysieren, sondern stattdessen<br />
das Sprechen über <strong>Bild</strong>er. Diese Kommunikation über <strong>Bild</strong>er kann – so<br />
die gr<strong>und</strong>legende These – im Gegensatz zur <strong>Bild</strong>kommunikation als eine Form<br />
kommunikativer Gattungen angesehen <strong>und</strong> mit bekannten (textbasierten) Methoden<br />
der qualitativen Sozialforschung untersucht werden. Dies kann auch als<br />
eine wissenssoziologische Annäherung an <strong>Bild</strong>er verstanden werden: es ist unmöglich,<br />
<strong>Bild</strong>wahrnehmungen <strong>und</strong> damit evozierte Empfindungen kongruent in<br />
Sprache umzusetzen. Aber man muss über <strong>Bild</strong>er sprechen, um herauszufinden,<br />
was sich (nicht) über die sagen lässt. Statt also die Sprache der <strong>Bild</strong>er zu analysieren,<br />
sollte die Sprache analysiert werden, mit der über die <strong>Bild</strong>er gesprochen wird<br />
(Selke 2005: 28ff.). Die <strong>Bild</strong>analysesoftware VeraICON ermöglicht begründungsintensive<br />
Aussagen über <strong>Bild</strong>er. Es geht jeweils darum, die diskursgenerierende<br />
Wirkung sowie die kommunikative Leistung der <strong>Bild</strong>er kritisch <strong>und</strong> selbstreflexiv<br />
zu beurteilen. Hierbei wird im weitesten Sinne Kontext mit einbezogen, weshalb<br />
sich VeraICON ideal für einen einsatz im Bereich politischer <strong>Bild</strong>ung eignet. Die<br />
Vorstellung dieser Software in diesem Beitrag ist eingebettet in allgemeine Überlegungen<br />
zu Zielen politischer <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Formen von Medienkompetenz. Ziel<br />
ist es letztlich, das mögliche einsatzspektrum von VeraICON anhand von Projektentwürfen<br />
zu demonstrieren, die auf die Verbesserung der Wahrnehmungsfähig<br />
von <strong>Bild</strong>ern mit politischen Inhalten abzielen.<br />
1 Vgl. den Beitrag „Rekonstruktive Sozialforschung online. Qualitative <strong>Bild</strong>analyse-Chats mit der<br />
Open Source Software VeraICON“ von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />
112
2 Medien- <strong>und</strong> Wahrnehmungskompetenz in der Medienpädagogik<br />
Im Rahmen politischer <strong>Bild</strong>ung wird stets nach neuen Möglichkeiten zur einübung<br />
von Wahrnehmungskompetenz gefahndet. Diese Kompetenz kann auch<br />
visuelle Kompetenz oder Kompetenz im Umgang mit <strong>Bild</strong>ern genannt werden.<br />
Zur Verbesserung der visuellen Kompetenz können, unter zu Hilfenahme von<br />
Onlinemedien, neue Wege gegangen werden. Neben den rein technischen Funktionalitäten,<br />
die weiter unten erläutert werden, ist es notwendig, den Diskurs über<br />
Medienkompetenz kritisch nach Anschlussstellen für das hier vorgeschlagene<br />
Verfahren zu durchforsten. Bei dieser Suche wird übergreifend deutlich, dass es<br />
sich bei Medienkompetenz um einen sehr opaken <strong>und</strong> bedeutungsoffenen Begriff<br />
handelt, der mittlerweile von einigen, mehr oder weniger angrenzenden Disziplinen<br />
vereinnahmt <strong>und</strong> unterschiedlich ausgelegt wurde.<br />
Was versteht man unter Medienkompetenz?<br />
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
Der Begriff Medienkompetenz wird gleichermaßen naiv, zu bedeutungsoffen<br />
oder zu eingeschränkt benutzt. eine vernünftige, d.h. nicht übermäßig ausdifferenzierte<br />
Begriffsdefinition, liefert Baake (1997: 27), der von Medienkompetenz<br />
in vier erscheinungsformen spricht. Diese vier ebenen sind 1. Medienkritik, 2.<br />
Mediennutzungskompetenz, 3. Medienk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> 4. Mediengestaltung. Für die<br />
weitere erörterung spielt nur der erste Punkt eine Rolle.<br />
Die Kompetenz zu Medienkritik umfasst dabei die Fähigkeit, analytisch gesellschaftliche<br />
Prozesse zu erfassen <strong>und</strong> zu problematisieren. Die hier vorgeschlagenen<br />
Projekte zur Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit von <strong>Bild</strong>ern mit<br />
politischen Inhalten können ebenfalls auf dieser ebene angesiedelt werden, geht<br />
es doch nicht so sehr um die Analyse einzelner <strong>Bild</strong>er oder Wahlplakate, sondern<br />
vielmehr um die Prozesshaftigkeit <strong>und</strong> Kontexteingeb<strong>und</strong>enheit politischer<br />
Kommunikation. Dies kann (idealerweise) eine Untersuchung von Plakaten zu<br />
Wahlkampfzeiten beispielhaft vorführen. Vom diesem Begriff der Medienkompetenz,<br />
der zumindest einen ersten Überblick <strong>und</strong> Zugang zur Thematik ermöglicht,<br />
sind weitere Begriffe abzugrenzen, die stets im Zusammenhang mit politischer<br />
<strong>Bild</strong>ung auftauchen, die hier jedoch nicht weiter vertieft werden können<br />
(vgl. Groebel 1997). Unter Mediendidaktik versteht man übergreifend den einsatz<br />
von Kommunikationstechnologien als lehr- <strong>und</strong> lernmittel. Damit sind unausgesprochen<br />
gerade auch <strong>Bild</strong>er gemeint. Projekte, die die sozialwissenschaftlich<br />
f<strong>und</strong>ierte Analyse von Wahlplakaten zum Gegenstand haben, können also diesem<br />
Bereich zugerechnet werden. Dieser ist wiederum vom Begriff der Medienerziehung<br />
abzugrenzen. Medienerziehung thematisiert das Prozesswissen, dass<br />
hinter der medialen Infrastruktur eine Rolle spielt. Im Bereich der Kommunikationsbildung<br />
wird abschließend das Strukturwissen über die Zusammenhänge von<br />
digitaler <strong>und</strong> nicht-digitaler Welt thematisiert, was auch die ständigen Verknüpfungen<br />
zwischen medialen <strong>und</strong> nicht-medialen erfahrungen beinhaltet. Dieser<br />
113
STeFAN SelKe<br />
Bereich spielt bei Plakatwirkungsanalysen insofern eine Rolle, da die Wahrnehmung<br />
von <strong>Bild</strong>ern mit politischen Inhalten immer schon in vorgängige erfahrungen<br />
von Realpolitik eingeb<strong>und</strong>en ist.<br />
Medienpädagogik <strong>und</strong> Medienkompetenz<br />
Die Forderung nach mehr Medienkompetenz setzt überhaupt einmal mehr Mediennutzung<br />
voraus. Dabei ist die Medienpädagogik die Disziplin, die sich am<br />
deutlichsten um eine definitorische Bestimmung, empirische Untersuchung<br />
<strong>und</strong> didaktische Herstellung von Medienkompetenz kümmert. Medienpädagogik<br />
kann mit Schorb (1997: 72) als eine empirische <strong>und</strong> eine praktische Disziplin<br />
verstanden werden, die auf diesen beiden Ebenen das Verhältnis von Subjekten<br />
zu den sie umgebenden Medien untersucht. Medienpädagogik ist auf einer<br />
Vermittlungsebene zwischen Medienalltag <strong>und</strong> Medienhandeln als intermediäre<br />
Vermittlungsinstanz anzusiedeln. Medienpädagogik hat sich inzwischen als<br />
eine ernstzunehmende Teildisziplin innerhalb der erziehungswissenschaften<br />
etabliert. Gr<strong>und</strong>lage dieser entwicklung waren/sind eine Vielzahl von Anfragen<br />
aus der Praxis zur Verwendung von Medien in pädagogischen Kontexten. Mit<br />
dieser Ausrichtung wendet sich (so im Folgenden Aufenanger 1997: 16ff.) die<br />
Medienpädagogik vermehrt auch den Chancen neuer Medientechnologien zu.<br />
Dies wird disziplinär durch einem Wandel von der „bewahrpädagogischen Position“<br />
zur „sozialwissenschaftlichen Position“ gekennzeichnet. Jugendliche werden<br />
als „Objekte der Erziehung“ ernst genommen - ihre Form der Mediennutzung<br />
ebenfalls. Mediennutzung von jugendlichen bedeutet in dieser Perspektive: Alltagsbewältigung,<br />
Identitätsbildung, symbolische Repräsentation generationsspezifischer<br />
Probleme, Steuerung sozialer Prozesse. Hiermit sind die Erschließung<br />
neuer Themenfelder <strong>und</strong> die Integration neuer Methoden verb<strong>und</strong>en. Besonders<br />
hervorgehoben wird die Konvergenz traditionell „medienerzieherischer Schwerpunkte“<br />
mit Ansätzen der informationstechnischen <strong>Bild</strong>ung, die den Einsatz<br />
neuer Medien unter (medien-)pädagogischen Gesichtspunkten fokussiert. Wenn<br />
sich aber die Medienpädagogik vermehrt den Chancen neuer Medientechnologien<br />
zuwendet, dann passt die hier vorgestellte internetbasierte Befragungs- <strong>und</strong><br />
Untersuchungsplattform VeraICON hervorragend in dieses „mission statement“.<br />
Die Ziele <strong>und</strong> Dimensionen medienpädagogischen Handelns sollen nun kurz näher<br />
erläutert werden, um zu sehen, welche davon mit VeraICON erreicht werden<br />
können.<br />
Meta-Ziele medienpädagogischen Handelns zur erreichung von Medienkompetenz<br />
In der hier vertretenen Position bedeutet Medienkompetenz nicht Kompetenz im<br />
Umgang mit Medien (Mediennutzungskompetenz) sondern die Kompetenz zur<br />
hermeneutischen, sinnverstehenden Fähigkeit der Codierung <strong>und</strong> Decodierung<br />
von Symbolen im Zeitalter der Visualisierung. es geht in anderen Worten da-<br />
114
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
rum, sich methodisch im Spannungsfeld zwischen der Medienkompetenz der<br />
Rezipienten <strong>und</strong> der Verantwortung der Medienproduzenten zu bewegen. Quer<br />
zu den verschiedenen, in der Literatur vorliegenden Klassifikationsschemata können<br />
vier gr<strong>und</strong>legende Kompetenzformen als konstitutiv für Medienkompetenz<br />
angenommen werden.<br />
• Übergreifend soll erstens Orientierungs- <strong>und</strong> Strukturwissen in einer von<br />
Mediatisierungsprozessen durchdrungenen lebenswelt erworben werden.<br />
Das Durchschauen der Strukturen dieser Verweisungszusammenhänge ist<br />
die vornehmliche Aufgabe medien-pädagogischen Handelns. Dieses Strukturwissen<br />
zielt auf die Fähigkeit ab, den Bezug von Informationen untereinander<br />
herzustellen. Dies bedeutet, dass Informationen crossmedial zugeordnet<br />
werden können. es bedeutet im engeren Sinne aber auch, dass<br />
sich Informationen immer schon auf andere Informationen, Wissen immer<br />
schon auf anderes Wissen <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>er sich immer schon auf andere <strong>Bild</strong>er<br />
beziehen.<br />
• Die Fähigkeit, Wissensbestände nach Wertungskriterien zu gliedern <strong>und</strong> in<br />
neue Zusammenhänge zu bringen, kann zweitens als kritische Reflexivität<br />
bezeichnet werden. Sie ist die Gr<strong>und</strong>lage dafür, aus der Rolle des passiven<br />
Konsumenten heraus zu fallen <strong>und</strong> in die Rolle des Produzenten bzw. des gestaltenden<br />
Subjekts zu schlüpfen, mit anderen Worten, um politische Mündigkeit<br />
zu erreichen. Kritische Reflexivität bedeutet verstehendes Begleiten<br />
der Medienentwicklung <strong>und</strong> ihrer Produkte. „Medienverstehen“ beinhaltet<br />
analytische, ethische <strong>und</strong> ästhetische Dimensionen. So ist z.B. die Unüberschaubarkeit<br />
<strong>und</strong> Beliebigkeit der medial transportierten Inhalte zu hinterfragen,<br />
das Fehlens normativer Regularien (Wahrheit, Glaubwürdigkeit) zu<br />
diskutieren oder das Problem des Fehlens einer handlungsleitenden ethik<br />
der Medienproduzenten zu berücksichtigen. Zu dieser Kompetenz gehört<br />
unter anderem die Fähigkeit, „Medienbotschaften wahrnehmen, lesen, verstehen<br />
<strong>und</strong> bewerten“ zu können (Schulz-Zander 1997: 104). In der Wissensgesellschaft<br />
müssen neue lesearten erworben werden, die nicht allein<br />
auf der Sprachfähigkeit bzw. Sprachkompetenz beruhen. Hier ist an erster<br />
Stelle die Fähigkeit zur Wahrnehmung, Deutung <strong>und</strong> kontextbezogenen Interpretation<br />
von <strong>Bild</strong>ern zu nennen. „Schüler benötigen die Kompetenz der<br />
entschlüsselung von Botschaften <strong>und</strong> ihrer Bewertung: Informationen <strong>und</strong><br />
Medienbotschaften sind in Situationen <strong>und</strong> in bestimmten soziokulturellen<br />
Zusammenhängen entstanden. Mediale Repräsentationen sind immer interessensgeleitete,<br />
subjektive Konstruktionen“ (a.a.O.).<br />
• Instrumentelle Kompetenzen lassen sich drittens unter den Begriffen „Medienhandeln“<br />
oder (technischer) „Mediennutzungskompetenz“ zusammenfassen.<br />
Sie sind Gegenstand vieler Qualifizierungsmaßnahmen. Über die<br />
befriedigende Benutzung von Interfaces hinaus geht es darum, spezifische<br />
Gegenstandsbereiche sozialer Realität mit Hilfe von Medien <strong>und</strong> dem selbst-<br />
115
STeFAN SelKe<br />
116<br />
ständigen Umgang mit Medien zu reflexiv-praktisch zu rekonstruieren. Im<br />
kommunikativen Austausch mit anderen, wird hier die Fähigkeit der handelnden<br />
Subjekte in den Mittelpunkt gestellt, menschliche Kommunikation<br />
<strong>und</strong> den Nutzungsprozess von Medien einem Ziel unterzuordnen <strong>und</strong> damit<br />
soziale Realität gestaltend zu untersuchen.<br />
• Eng damit verb<strong>und</strong>en ist viertens die Herausbildung von Handlungskompetenz:<br />
„Mit Medien gestalten, sich ausdrücken, informieren oder auch nur experimentieren“<br />
(Aufenanger 1997: 20). Medien sollen nicht nur passiv konsumiert,<br />
sondern auch aktiv gestaltet werden. Medien werden als Ausdruck<br />
der eigenen Persönlichkeit verstanden, mit denen sich eigene Interessen etc.<br />
aktiv ausdrücken lassen.<br />
Medienkompetenz bezieht sich also insgesamt nicht nur darauf, Kommunikate<br />
zu übertragen (instrumentelle Nutzungskompetenz), sondern umschreibt die<br />
Fähigkeit, „an gesellschaftlicher Kommunikation als politisch konstitutivem Element<br />
aktiv teilzuhaben“ (Schorb 1997: 63). Medienkompetenz ist so etwas wie ein<br />
Gegengewicht oder eine Gegenstrategie. Sie richtet sich gegen die Blockade des<br />
Bewusstseins, gegen die (mehr oder weniger unterschwellige) mediale Vorgabe<br />
von Relevanz- <strong>und</strong> Bewertungskriterien, gegen die Monopolisierung asymmetrischer<br />
Kommunikationsstrukturen. Im Rahmen von Projekten zur politischen<br />
<strong>Bild</strong>ung geht es gerade darum, die Relevanz- <strong>und</strong> Bewertungsstrukturen selbst<br />
zu rekonstruieren, zu typisieren <strong>und</strong> kritisch zu reflektieren. Gerade das Thema<br />
Wahl, Wahlwerbung <strong>und</strong> politische Partizipation zeigt, wie Massenmedien nicht<br />
nur das Bewusstsein regulieren, sondern wie letztlich alle lebensbereiche durch<br />
Mediatisierungsprozesse betroffen sind. Um die Fähigkeit, zur „gleichberechtigten<br />
<strong>und</strong> aktiven sozialen wie gesellschaftlichen Partizipation“ (Schorb 1997:<br />
64) zurück zu gewinnen, braucht es daher kommunikative Kompetenz, im engeren<br />
Sinne Medienkompetenz.<br />
Medienpädagogische Praxis - Anforderungen für schulisches Lernen<br />
Medienpädagogisches Handeln könnte prinzipiell an vielen gesellschaftlichen<br />
Orten stattfinden. Wesentlich erscheint aber, dass Medienkompetenz sich nicht<br />
nur auf die Medienlandschaft selbst bezieht, sondern auf alle sozialen Umgebungen,<br />
die mit ihr vernetzt sind – also z.B. auch der Schule. Die Bedeutung des<br />
Begriffes Medienkompetenz wird erst aus dem kontextuellen Inhalt verständlich.<br />
Die Enquete-Kommision „Zukunft der Medien in Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />
Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ des Deutschen B<strong>und</strong>estags<br />
plädiert explizit dafür, den Ort des medienpädagogischen Handelns in die Schule<br />
rückzuverlegen, um vor dem Hintergr<strong>und</strong> umfassender Mediatisierungsprozesse<br />
im Zeitalter der symbolischen Visualisierung dem Trend entgegenzuwirken, dass<br />
Mitsprachemöglichkeiten immer weiter eingeschränkt werden. Am „medienpädagogischen<br />
Handlungsort Schule“, so Schorb (1997: 74), kommt es weniger darauf<br />
an, instrumentelle Fähigkeiten zu entwickeln, sondern handelndes, exempla-
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
risches lernen durch den unmittelbaren <strong>und</strong> themenbezogenen Gebrauch von<br />
Medien zu ermöglichen. Genau hierauf zielt eine netzbasierte <strong>Bild</strong>analyse mit<br />
VeraICON. Mit ihrem einsatz wird ein Ort der Kommunikation, also ein Ort der<br />
Mitsprache, geschaffen, der die Stimmlosigkeit der politischen Akteure aufhebt.<br />
Ziele politische <strong>Bild</strong>ung als Metaebene für den einsatz von VeraICON<br />
Spitzt man die oben getroffenen Aussagen über Medienkompetenz noch weiter<br />
zu, sind sie mit den Zielen politischer <strong>Bild</strong>ung verknüpfbar. Diese sind nach<br />
Rogg-Pietz (2004): 1. Mündigkeit, 2. politisches Bewusstsein sowie 3. engagement.<br />
Was bedeuten diese Stichworte für die einordnung der hier vorgeschlagenen<br />
Methode? Anhand welcher Elemente lässt sich aufzeigen, dass mittels Plakatwirkungsanalysen<br />
mit der netzbasierten <strong>Bild</strong>analysesoftware VeraICON Ziele<br />
politischer <strong>Bild</strong>ung verfolgt werden?<br />
Mündigkeit, d.h. die selbstbestimmte Wahrnehmung des politischen Geschehens,<br />
erfordert einen offenen Zugang zu Informationen. Informationen bedeutet<br />
aber immer auch Gegen-Informationen, die nicht dem Mainstream entsprechen.<br />
Notwendig hierzu sind Recherchetechniken, die sich in den Bereich der instrumentellen<br />
Mediennutzungkompetenz einordnen lassen. Im Bereich politischer<br />
<strong>Bild</strong>er kann dies bedeuten, die offiziellen Wahlkampfplakate mit ihren inoffiziellen<br />
Gegenentwürfen zu konstrastieren, die im Netz kursieren. Über die Analyse<br />
der Bedeutungsdifferenz entsteht politisches Bewusstsein. Dieses politische<br />
Bewusstsein entsteht aus der reflexiven <strong>und</strong> konstratierenden Aneignung von<br />
Informationen, der Kenntnis von Vergleichshorizonten <strong>und</strong> der Fähigkeit die jeweiligen<br />
Informationen zu gewichten. eine Gr<strong>und</strong>einsicht in die Funktionslogik<br />
des Mediensystems ist die, dass die Breite von Informationen ständig zunimmt,<br />
wohingegen deren Tiefe abnimmt. Politische <strong>Bild</strong>ung muss sich diesem Trend<br />
entgegen stellen <strong>und</strong> Informationen über Informationen, also Meta-Informationen<br />
zur Verfügung stellen. Politisches engagement schließlich entsteht in der<br />
Aufbereitung dieser Meta-Informationen in kommunikativen Akten, d.h. im Abgleich<br />
der eigenen Weltanschauung in Diskursen <strong>und</strong> letztlich in der <strong>Bild</strong>ung<br />
einer eigenen Meinung. Die Verarbeitung von handlungsleitenden einstellungen<br />
<strong>und</strong> Meinungen führt dann z.B. zu einer Wahlentscheidung für oder gegen eine<br />
Partei. Ausreichende Medienkompetenz wird nicht nur als individuelle Bereichung<br />
des vermeintlich politischen Subjekts verstanden, sondern in ihrer gesamtgesellschaftlichen<br />
Bedeutung als Voraussetzung für neue Demokratieformen.<br />
Medienkompetenz gilt inzwischen als integraler Bestandteil politischer Mündigkeit<br />
in der Informations- <strong>und</strong> Wissensgesellschaft. Dies bedeutet im Kern, dass<br />
es bei Projekten zur Erhöhung der Medienkompetenz um die Fähigkeit zur Abschätzung<br />
des Wirklichkeitswertes von Informationen, d.h. auch des Wirklichkeitswertes<br />
von <strong>Bild</strong>ern bzw. Plakaten gehen muss.<br />
117
STeFAN SelKe<br />
VeraICON kann vor diesem Hintergr<strong>und</strong> als ein lernmittel <strong>und</strong> Untersuchungstool<br />
zum einsatz im mediendidaktischen Umfeld mit dem Ziel politischer <strong>Bild</strong>ung<br />
klassifiziert werden. Es entspricht dem Trend zur Konvergenz medienerzieherischer<br />
Schwerpunkte (methodische <strong>Bild</strong>analyse) mit Mitteln der informationstechnischen<br />
<strong>Bild</strong>ung (Online-Untersuchungsplattform) <strong>und</strong> übt in Form einer<br />
Analyse gesellschaftlich relevante Prozesse Medienkompetenz auf der ebene von<br />
Medienkritik ein. VeraICON ist aber noch mehr. Man kann darunter einen Ort<br />
der Mitsprache verstehen, ein konkretes Beispiel für die Zurückverlegung des<br />
Ort medienpädagogischen Handeln in die Schule, ein Mittel zur eröffnung neuer<br />
Mitsprachemöglichkeiten <strong>und</strong> Einübungskontexten demokratischer Aushandlungsprozesse.<br />
Auf jeden Fall stellt VeraICON eine Übungsplattform für medienpädagogisches<br />
Handeln dar. eine erhöhung der Medienkompetenz von Schülern<br />
basiert dabei auf der exemplarischen Erhöhung der Selbstreflexionsfähigkeit. Ein<br />
Online-<strong>Bild</strong>chat zu Wahlplakaten generiert medienkritisches Strukturwissens<br />
über die Kontextgeb<strong>und</strong>enheit der <strong>Bild</strong>produktion <strong>und</strong> die prinzipielle Diskursivität<br />
von <strong>Bild</strong>bedeutungen. Der einsatz von VeraICON ist damit Ausdruck des<br />
Wandels von der bewahrpädagogischen zur sozialwissenschaftlichen Position.<br />
3 Der (Wirklichkeits-)Wert politischer <strong>Bild</strong>kommunikation<br />
Der im Begriff „Visuelle Politik“ dem Wort „Politik“ vorangestellte Ausdruck<br />
„visuell“ meint nicht anderes, als die Macht der <strong>Bild</strong>er anzuerkennen <strong>und</strong> diese<br />
innerhalb gegebener Fachdisziplinen, z.B. der Politikwissenschaft, näher zu untersuchen.<br />
So kommt es auch innerhalb der Politikwissenschaft zu einer Trendwende<br />
zum <strong>Bild</strong>, die jedoch nur auf den Wandel der Politik von einem logo- zu<br />
einem ikonozentrischen Phänomen reagiert: „Auch der Politikwissenschaft bzw.<br />
den Sozialwissenschaften ist nicht entgangen, dass sich die Kommunikation in<br />
den Gesellschaften der Gegenwart von einer vor allem sprachlich codierten zu<br />
einer immer mehr visuell bestimmten wandelt“ (Hofmann 2005b: 71). Auf diesen<br />
paradigmatischen Wandel reagiert die Visuelle Politik, auf diesen Wandel sollte<br />
auch politische <strong>Bild</strong>ung reagieren, denn dahinter verbirgt sich eine bedeutsame<br />
Verschiebung des Verhältnisses von Sprach- <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>politik. So fragt auch Hofmann<br />
(1998) nach den Folgen für das politische System, das politische Bewusstsein<br />
<strong>und</strong> letztlich für die Zukunft der Demokratie. Politisches Bewusstsein ist<br />
aber eine der Kernvariablen bzw. Einflussgrößen, die es im Prozess politischer<br />
<strong>Bild</strong>ung zu stärken gilt.<br />
Analyse von <strong>Bild</strong>ern im Rahmen der institutionalisierten Politikwissenschaft<br />
Auch im Rahmen der institutionalisierten <strong>Bild</strong>wissenschaft findet vermehrt eine<br />
Auseinandersetzung mit der „Wirkungsmacht von <strong>Bild</strong>kommunikation“ (Lesske<br />
2005: 236) statt. In einem Sammelband zu Anwendungen der <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />
(Sachs-Hombach 2005) beschäftigt sich lesske mit der methodischen Aufar-<br />
118
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
beitung von <strong>Bild</strong>ern im Rahmen der Politikwissenschaft. Gerade hierbei stehen<br />
letztlich Kriterien der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung im Mittelpunkt, weshalb seine<br />
Überlegungen im Kontext von VeraICON von anschlussfähigem Interesse sind.<br />
Trotz der sehr unterschiedlichen <strong>Bild</strong>formen, die im Rahmen der visuelle Politikwissenschaft<br />
zum Untersuchungsgegenstand avanciert sind, konstatiert lesske<br />
(2005: 236) ein übergreifendes erkenntnisinteresse in Form der Frage nach den<br />
Wirkungen der politischen <strong>Bild</strong>er, auch wenn eine „Differenzierung zwischen<br />
verschiedenen Wirkungen unterschiedlicher <strong>Bild</strong>formen […] bisher noch wenig<br />
ausgeprägt [ist]“. Welche Themen kennzeichnen die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung<br />
mit <strong>Bild</strong>ern?<br />
Im Kern geht es um die Frage, wie <strong>Bild</strong>er die politische Meinungsbildung <strong>und</strong><br />
damit das politische Bewusstsein beeinflussen können. <strong>Bild</strong>wirkung wird also im<br />
Rahmen der Politikwissenschaften als Wirkung auf das Bewusstsein oder in den<br />
Worten der Markt- <strong>und</strong> Medienforschung, als einstellungsänderung, verstanden.<br />
Wenn nach einstellungsänderungen gefragt wird, so rückt in methodischer Hinsicht<br />
die Frage nach der Affektorientierung in den Mittelpunkt. Hierbei geht es<br />
darum zu ergründen, welchen Beitrag <strong>Bild</strong>er zum nicht-rationalen Verständnis<br />
von Politik leisten. Werden politische <strong>Bild</strong>er gar nur durch ihr evokatives Potenzial,<br />
ihre Fähigkeit zur Affektstimulierung handlungswirksam? Lesske (2005:<br />
238ff.) zumindest betont diesen Wirkstoff: „Denn so untauglich <strong>Bild</strong>er möglicherweise<br />
zur Darstellung rationaler Politik auch immer sind: Sie haben eine suggestive<br />
Kraft <strong>und</strong> damit eine prägende Wirkung auf den ‚nicht-rationalen Anteil<br />
des politischen Bewusstseins’. […] Denn dass <strong>Bild</strong>er das politische Bewusstsein<br />
beeinflussen, ist offensichtlich“. Er tritt damit der oft unscharf geäußerten landläufigen<br />
Meinung entgegen, Politik ließe sich durch ihren Abstraktionsgrad überhaupt<br />
nicht verbildlichen, hebt den affektiven Anteil des Politischen hervor, der<br />
erstens von Intellektuellen tendenziell unterschätzt wird <strong>und</strong> der sich zweitens<br />
gleichwohl, z.B. bei Wahlen, als präsent erweisen kann. So kommt lesske (2005:<br />
243) auch zu einer Kritik an bekannten Schlagworten: „Wer allerdings die <strong>Bild</strong>betonung<br />
bei der Vermittlung politischer Inhalte leicht despektierlich als einen Teil<br />
des allgemeinen Trends zum Infotainment ansieht […] blendet unter Umständen<br />
aus, dass die <strong>Bild</strong>darstellung nur andere Aspekte von Politik anspricht <strong>und</strong><br />
hervorhebt, die eben affektiv, emotional <strong>und</strong> weniger rational sind, aber dadurch<br />
nicht weniger wichtig für politische Meinungsbildung <strong>und</strong> Entscheidung“.<br />
Die Politikwissenschaft fragt weiter nach der Darstellbarkeit des Politischen in<br />
<strong>Bild</strong>ern. Unter der Darstellbarkeit verbergen sich methodisch gesprochen die Dimensionen<br />
Authentizität <strong>und</strong> Adäquanz. Authentizität bezieht sich auf die Frage,<br />
was überhaupt abgebildet wird <strong>und</strong> versucht zu ergründen, ob der <strong>Bild</strong>inhalt<br />
überhaupt zu dem politischen Kontext gehört, der behauptet wird? Adäquanz<br />
meint im eigentlichen Sinne die Fragen, ob sich Politik mit <strong>Bild</strong>ern überhaupt<br />
sinnvoll darstellen lässt, welche Aspekte von Politik in <strong>Bild</strong>ern vermittelt werden<br />
können <strong>und</strong> welche nicht. Fragt man also nach der Bedeutung von <strong>Bild</strong>ern im<br />
119
STeFAN SelKe<br />
Rahmen der Politikwissenschaft, so steht die Abbildqualität ganz im Zentrum der<br />
Diskussion. Diese Frage nach der Beziehung zwischen <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> abgebildetem<br />
Gegenstand gewinnt auch im Rahmen politischer <strong>Bild</strong>ungsprozesse eine ganz besondere<br />
Relevanz. <strong>Bild</strong>er helfen beim Transport politischer Mitteilungen – dazu<br />
werden sie gegebenenfalls zielgerichtet eingesetzt. lesske (2005: 238) geht dann<br />
davon aus, dass <strong>Bild</strong>er immer auch zu einer Beeinflussung führen, denn sie „behaupten<br />
politische Zusammenhänge, implizieren politisches Handeln <strong>und</strong> verändern<br />
an sich schon die politische Realität“. Eine andere Form der Verzerrung ist<br />
die Vereinfachung von Politik durch <strong>Bild</strong>er. <strong>Bild</strong>er vereinfachen Politik aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer medialen eigenschaften. Gleichwohl herrscht in der Mediengesellschaft<br />
eine steigende Nachfrage nach <strong>Bild</strong>ern.<br />
(Neue) Methoden der <strong>Bild</strong>analyse in den Politikwissenschaften<br />
lesske (2005: 243ff.) betont, dass die Verfahren zur <strong>Bild</strong>analyse in den Politikwissenschaften<br />
im Wesentlichen hermeneutische sind. Konkrete <strong>Bild</strong>er werden mit<br />
a) realen Gegenständen, b) historischen Vorbildern oder c) anderen Darstellungsformen<br />
desselben Inhalts (Gegenüberstellung von <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Sprache) verglichen.<br />
Er gibt weiterhin freimütig zu, dass die Politikwissenschaften „in Ermangelung<br />
eines ureigenen Instrumentariums“ hauptsächlich auf Methoden der Kunstwissenschaft<br />
zurückgreifen müssen. Diese methodische lücke kann mit neuen<br />
Verfahren, die nicht nur hermeneutisch, sondern empirisch sind, geschlossen<br />
werden, auch wenn diese damit nicht zum alleinigen Instrumentarium der Politikwissenschaften<br />
gemacht werden sollen. VeraICON ist eine solche Option.<br />
Die Analyse politischer Ikonografien hat sich als Sackgasse erwiesen, bei dem<br />
der Anspruch, mehr Demokratiefähigkeit zu erzeugen bzw. ein demokratisches<br />
politisches Bewusstsein gr<strong>und</strong>zulegen in geradezu zynischer Weise konterkariert<br />
wird. VeraICON zielt vielmehr auf die Rekonstruktion des Deutungshandelns<br />
über <strong>Bild</strong>er ab, die in den Alltag eingeb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> nicht nur Gegenstand<br />
hochkultureller Deutungsakte sind. Die wissenssoziologische leitformel, dass<br />
Expertenwissen <strong>und</strong> Laienwissen sich nicht prinzipiell unterscheiden, sondern<br />
nur strukturell verschieden sind, lässt sich im Rahmen von <strong>Bild</strong>analysen auch<br />
so reformulieren: Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Deutungskompetenz sind Alltagskompetenzen,<br />
über die wir alle verfügen. Sie können zum Ausgangspunkt wissenssoziologischer<br />
<strong>Bild</strong>interpretationen gemacht werden, deren Ziel die Überführung<br />
von Beobachtungen 1. Ordnung in eine Beobachtung 2. Ordnung ist. Mit anderen<br />
Worten: es geht um die Deutung von Selbstdeutungen (Selke 2004: 53ff.).<br />
120
4 Visuelle Kompetenz durch <strong>Bild</strong>chats im Rahmen des Schulunterrichts<br />
Visuelle Kompetenz avancierte vor einigen jahren fast schon zu einem Modebegriff<br />
im Kontext der Diskussion um die Mediengesellschaft (vgl. dazu den Sammelband<br />
von Huber 2002). Was bedeutet aber „Visuelle Kompetenz“ im Umgang<br />
mit politischen <strong>Bild</strong>ern? Visuelle Kompetenz soll die Kompetenz im Umgang mit<br />
<strong>Bild</strong>ern sein. Visuelle Kompetenz kann auch als Form von Medienkompetenz verstanden<br />
werden. Die Gr<strong>und</strong>frage hierbei ist, wie man mit <strong>Bild</strong>ern lernen kann.<br />
In einem aktuellen Beitrag zur Bedeutung von <strong>Bild</strong>ern in lernprozessen im Rahmen<br />
politischer <strong>Bild</strong>ung (Schelle 2006), wird die strukturgebende Funktion von<br />
<strong>Bild</strong>ern betont: <strong>Bild</strong>er sind omnipräsent, haben verschiedene Formen, strukturieren<br />
Wahrnehmungsprozesse, stehen in intentionalen Kontexten, <strong>Bild</strong>er werden<br />
meist unbewusst kognitiv verarbeitet. <strong>Bild</strong>er wirken auf das Selbstbild, sie sind<br />
für die Subjektbildung konstitutiv.<br />
Visuelle Kompetenz als De-Kontextualisierung<br />
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
Da wir <strong>Bild</strong>er im Alltag unter die Normalitätsvorstellung subsumieren, bedeutet<br />
visuelle Kompetenz zuerst einmal, die scheinbare Selbstverständlichkeit der<br />
<strong>Bild</strong>er wieder zu hinterfragen. Damit ist jedoch nicht gemeint, sie aus ihrem Verwendungskontext<br />
zu entfernen, sondern vielmehr, sich Gedanken zum Einfluss<br />
dieses Verwendungskontextes auf die <strong>Bild</strong>bedeutung zu machen. Diese primäre<br />
Aufgabe sieht auch Schelle (2006: 523), wenn sie schreibt: „In zunehmendem<br />
Maße müssen einzelne in der Lage sein, visuelle Botschaften kontextangemessen<br />
zu entschlüsseln“. Dies bedeutet auch, dass im Rahmen der politischen <strong>Bild</strong>er<br />
Deutungshoheiten, gleich welcher Art, nicht akzeptiert werden können. Visuelle<br />
Kompetenz, als Teil einer umfassenden Medienkompetenz, verfolgt sehr spezifische<br />
Ziele. Diese können mit dem Begriff „Sensibilisierung“ überschrieben<br />
werden. Krüger/Röll (1993) sprechen gar von einer „Alphabetisierung visueller<br />
Kommunikationsformen“, worin sich die Unterstellung ausdrückt, das wohl die<br />
meisten naiven Betrachter nicht fähig sind, ein <strong>Bild</strong> zu lesen wie einen Text. Fest<br />
steht, dass es im Vergleich zu textuellen Alphabetisierung im Schulunterricht<br />
nicht im geringsten vergleichbare Bemühungen zu einer visuellen Alphabetisierung<br />
gibt. Für Schelle (2006: 523) bedeutet diese Sensibilisierung eine „systematische<br />
Erschließung von <strong>Bild</strong>botschaften“ <strong>und</strong> die Befähigung zum „<strong>Bild</strong>denken“.<br />
Ist aber Sensibilisierung das einzige Ziel der Vermittlung visueller Kompetenz?<br />
Neben einer allgemeinen Sensibilisierung <strong>und</strong> der Fähigkeit, die vielfältigen <strong>und</strong><br />
oft genug manipulativen Produktionskontexte von <strong>Bild</strong>ern zu hinterfragen, sollte<br />
jedoch die methodische Kompetenz treten. Damit ist gemeint, dass es nicht ausreicht,<br />
für <strong>Bild</strong>er zu sensibilisieren <strong>und</strong> dann dennoch in einen Subjektivismus<br />
der Deutung zu verfallen. Der methodisch versierte Umgang mit <strong>Bild</strong>ern befähigt<br />
Schüler <strong>und</strong> Jugendliche, sich dem <strong>Bild</strong> auf einer objektiven Ebene zu nähern,<br />
seine Bedeutungsgehalte (gemeinsam) zu rekonstruieren <strong>und</strong> so verallgemeine-<br />
121
STeFAN SelKe<br />
rungsfähiges Wissen über <strong>Bild</strong>typen <strong>und</strong> -sorten zu sammeln anstatt nur einzelbildanalyen<br />
zu betreiben. Man kann <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> deren Ästhetik derart hinterfragen,<br />
dass die in ihnen enthaltenen Machtstrukturen sichtbar werden. Politische<br />
<strong>Bild</strong>er haben immer eine Funktion im öffentlichen <strong>Raum</strong>, die es gilt zu hinterfragen.<br />
Die von Schelle (2006: 524ff.) vorgeschlagene „didaktisch-methodische Möglichkeit<br />
ästhetisch-politischer lernprozesse soll hier kurz skizziert <strong>und</strong> mit dem eigenen<br />
Ansatz in Verbindung gebracht werden: Ausgehend von der (unterstellten)<br />
Alltagskompetenz im Umgang mit <strong>Bild</strong>ern, behauptet die Autorin, dass <strong>Bild</strong>analysen<br />
den erwartungen der Schüler (immer mehr) entgegenkommen. Diese Behauptung<br />
muss im Zusammenhang mit der Zunahme von bildsozialisatorischen<br />
Effekten gesehen werden. <strong>Bild</strong>er seien „reizvolle Anknüpfungspunkte […] für die<br />
<strong>Bild</strong>ung eines reflexiven Selbst- <strong>und</strong> Weltverhältnisses“ <strong>und</strong> für die <strong>Bild</strong>ung einer<br />
Vorstellung von Gesellschaft <strong>und</strong> Politik (vgl. George 1998; Schelle 2003). Mit<br />
politischen <strong>Bild</strong>ern lassen sich Lernsituationen initiieren, „in denen [<strong>Bild</strong>er] nicht<br />
bloß als bunte Aufhänger fungieren, sondern systematisch <strong>und</strong> methodisch angeleitet<br />
politisch gedeutet, interpretiert <strong>und</strong> beurteilt werden. […] <strong>Bild</strong>er erzeugen<br />
Gegenbilder, Gegenaufmerksamkeit, können irritieren <strong>und</strong> rätselhaft sein […].<br />
Um sie enträtseln zu können, bedarf es hermeneutischer Kompetenzen […]. Diese<br />
sind gleichsam Kompetenzen, die jede/jeder benötigt, um sich schließlich auch<br />
selber zu positionieren“ (Schelle 2006: 534). Das „Lernen an <strong>Bild</strong>ern“ (Schelle<br />
2006: 526) erfolgt phasenweise <strong>und</strong> (tiefen-)hermeneutisch. Dies bedeutet im<br />
Einzelnen die Möglichkeit zur Entwicklung unterschiedlicher („oppositioneller“)<br />
lesarten aus verschiedenen Blickwinkeln, das ergründen der manifesten <strong>und</strong><br />
latenten Sinngehalte des <strong>Bild</strong>es, die thesengeneriernde Weiterbearbeitung des<br />
<strong>Bild</strong>es <strong>und</strong> letztlich die Ableitung eines eigenen Urteils. Übergreifend geht es darum,<br />
„innere <strong>Bild</strong>er als Sinnstrukturen lesen zu lernen (vgl. auch Schelle 2003).<br />
Die eigene Vorstellungskraft soll die lernsituation strukturieren. Diesen Zugang<br />
zum <strong>Bild</strong> nennt Schelle „szenisch-verstehend“ <strong>und</strong> grenzt ihn von einer „analytisch-formalen“<br />
Betrachtungsweise ab. Ein Hinweis, der im Zusammenhang mit<br />
der hier vertretenden Methode wichtig ist, ist der, dass die Fragen, die an ein<br />
<strong>Bild</strong> gestellt werden, die Notwendigkeit zu Recherchen nach sich ziehen können.<br />
Damit ist der Schnittpunkt der speziellen visuellen Kompetenz zur allgemeinen<br />
Methodenkompetenz benannt.<br />
Für das konkrete Vorgehen schlägt Schelle Gruppenarbeitsphasen vor, „in denen<br />
möglichst variantenreich <strong>und</strong> extensiv Deutungen <strong>und</strong> Interpretationen ausgetauscht<br />
<strong>und</strong> verschriftlicht werden, um dass kontrastierend im Plenum erörtert<br />
zu werden“ (Schelle 2006: 527). Explizit benennt sie auch die Möglichkeit, eigene<br />
ästhetische Praxis, also „Arbeit am <strong>Bild</strong>“ durch Verfremdungen etc. mit in die<br />
<strong>Bild</strong>analyse einzubeziehen. Dies kann als Kristallisationspunkt für eine fächerübergreifende<br />
<strong>Bild</strong>analyse verstanden werden. Diese Ziele politischen lernens mit<br />
<strong>Bild</strong>ern erfüllt die <strong>Bild</strong>analyse mit VeraICON in idealtypischer Weise, denn die<br />
Schüler lernen…<br />
122
• <strong>Bild</strong>er als Konstruktionen <strong>und</strong> Interpretationen anzuerkennen – <strong>Bild</strong>er verweisen<br />
immer schon auf andere, vorgängige <strong>Bild</strong>er;<br />
• <strong>Bild</strong>interpretation als narrative Produktion aus der Position des betrachtenden<br />
Subjekts einzuordnen;<br />
• die konkurrierenden Lesarten <strong>und</strong> Interpretationsweisen anderer Personen<br />
zu akzeptieren;<br />
• Einsicht in die Unabgeschlossenheit von Interpretationen zu gewinnen;<br />
• sich über die Wirkungsmechanismen von <strong>Bild</strong>ern (hier: Plakaten) bewusst<br />
zu werden.<br />
5 Lernen mit Neuen Medien durch themenbezogene Projekten im<br />
Schulunterricht – Diskussion alternativer Projektentwürfe<br />
Medienkompetenz durch eigene Wahlplakatanalysen – damit ist das Potenzial<br />
von VeraICON auf den Punkt gebracht. Die Voraussetzung für die oben beschriebenen<br />
gruppendynamischen Prozesse, bei denen „oppositionelle Lesarten“ von<br />
<strong>Bild</strong>ern entstehen, Thesen generiert <strong>und</strong> eigene Meinungen ausgebildet werden,<br />
ist das Internet als Kommunikationsplattform. Zum einsatz im Rahmen von<br />
Schulprojekten wird die Open Source Software VeraICON kostenlos vom Zentrum<br />
für <strong>Bild</strong>-, <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung ISIC zur Verfügung gestellt.<br />
Serviceleistungen zur Erstellung eines Projektdesigns <strong>und</strong> zur Handhabung der<br />
Chat- sowie der Auswertungssoftware gehören zum Angebotsumfang. Im Folgenden<br />
werden drei Projektideen skizziert, für die sich der Einsatz des <strong>Bild</strong>analysetools<br />
eignet.<br />
Projektvorschlag 1: <strong>Bild</strong> in Kunst <strong>und</strong> Politikunterricht<br />
Die Gr<strong>und</strong>idee besteht darin, dass Plakate im Kunstunterricht entworfen <strong>und</strong> im<br />
Politikunterricht getestet werden. Die Konzeption <strong>und</strong> das Design von Wahlplakaten<br />
erfolgt dabei für einen fiktiven Wahlkontext im Kunstunterricht oder möglicherweise<br />
für reale innerschulische Wahlen (z.B. für einen Schülersprecher). Der<br />
einsatz von VeraICON im Politikunterricht dient dann der Wirkungsmessung<br />
der schulintern entworfenen Plakate. Im Rahmen des Projekts entsteht dann eine<br />
Art Wettbewerbsituation zwischen den „Gestaltern“ auf der Basis der Evaluation<br />
durch die „Wirkungsforscher“.<br />
Projektvorschlag 2: Rekonstruktion der eigenen Lebenswelt<br />
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
Hierbei geht es um die Rekonstruktion der Images von real existierenden Wahlplakaten<br />
in der Zielgruppe, der Schüler selbst angehören (also junge Erstwähler).<br />
Der Einsatz von VeraICON dient konkret der Wirkungsmessung von extern<br />
123
STeFAN SelKe<br />
entworfenen Plakaten, wie sie z.B. anlässlich einer Bürgermeister-, Kreis- oder<br />
Landtagswahl im öffentlichen <strong>Raum</strong> vorzufinden sind. Ziel dieses Projekts ist die<br />
Aufarbeitung der zielgruppenspezifischen Wahrnehmung von <strong>Bild</strong>ern mit politischem<br />
Inhalt bei Anerkennung ihrer aktuellen Kontexteingeb<strong>und</strong>enheit.<br />
Projektvorschlag 3: Mini-Wahlforschung mit lokalen Content-Partnern<br />
Bei diesem Projekt wird das Sampling ausgeweitet: Um die Images von real existierenden<br />
Wahlplakaten in der (lokalen/regionalen) Wahlbevölkerung zu rekonstruieren,<br />
wird mit Hilfe lokaler Contentpartner (z.B. einer Tageszeitung) Vera-<br />
ICON zur Wirkungsmessung eingesetzt. Ziel des Projekts ist die Erstellung einer<br />
begründbaren Prognose des Erfolgs der Wahlkampagnen – <strong>und</strong> die selbstkritische<br />
Abschätzung der Aussagequalität der erhobenen Daten.<br />
6 Vom Info-Bit zum Sinnzusammenhang – Visuelle Kompetenz <strong>und</strong><br />
politische <strong>Bild</strong>ung im Informationszeitalter<br />
Beim Thema Medienkompetenz geht es um mehr als „technisches Können zur<br />
Nutzung der Neuen Medien“ <strong>und</strong> damit insgesamt um „umfassendere Fähigkeiten“<br />
<strong>und</strong> gerade keine „isolierte Kompetenz“ (Mandl/Reinmann-Rothmeiner<br />
1997: 77). Diese umfassenden Fähigkeiten können – wie oben gezeigt – in Rahmen<br />
themenbezogener Projekte im Schulunterricht mit dem Einsatz von VeraI-<br />
CON trainiert werden.<br />
Wolfgang Frühwald, der Präsident der DFG, machte frühzeitig auf die Risiken <strong>und</strong><br />
Gefahren des Informationszeitalters aufmerksam <strong>und</strong> mahnte, dass es neben der<br />
technischen Verbesserung der Kommunikationsinstrumente auch auf die Inhalte<br />
der „uns umspülenden Informationswellen“ ankomme (zit. n. Mandl/Reinmann-<br />
Rothmeiner 1997: 78). In diesem Sinne trägt die pädagogische Arbeit mit VeraI-<br />
CON eben gerade dazu bei, sich nicht mit der Sinnfigur des Surfers abzugeben,<br />
der (im besten Fall) auf den Informationswellen reitet oder (im schlimmsten Fall)<br />
darin ertrinkt. es geht vielmehr darum, Information <strong>und</strong> Bedeutung zu unterscheiden<br />
<strong>und</strong> die Info-Bits in einen (neuen) Sinnzusammenhang zu stellen. eine<br />
Wissensgesellschaft zeichnet sich, wieder nach Frühwald, dadurch aus, dass sie<br />
ihre Lebensgr<strong>und</strong>lagen aus reflektiertem <strong>und</strong> bewertetem Wissen gewinnt. Das<br />
Kompetenzbündel, dass uns alle, besonders aber die nächste Generation auf die<br />
Wissensgesellschaft, oder das was nach ihr kommt, vorbereitet enthält neben den<br />
Attributen „technische Kompetenz“, „soziale Kompetenz“ <strong>und</strong> „Kompetenz zur<br />
persönlichen Entscheidungsfindung“ auch die Idee einer „demokratischen Kompetenz“.<br />
Für die Schulen <strong>und</strong> <strong>Hochschule</strong>n werden sich neue Aufgabenfelder öffnen.<br />
Sie müssen dazu beitragen, dass neben Fachwissen auch die für die Zukunft<br />
so wichtigen Kompetenzen gefördert werden. Statt enzyklopädisches Wissen zu<br />
vermitteln, muss das Verstehen gr<strong>und</strong>legender Prinzipien des Faches gefördert<br />
124
werden. Notwendig ist zudem die Herstellung von Querverbindungen zwischen<br />
verschiedenen Wissensdomänen. Hier zeichnen sich die Gr<strong>und</strong>risse einer neuen<br />
lernkultur ab, in die ein Instrument wie VeraICON ideal hineinpasst.<br />
Die Autoren Mandl/Reinmann-Rothmeiner (1997: 83ff.) plädieren für eine „konstruktivistisch“<br />
geprägte Lernkultur, die aktiv, selbstgesteuert, situativ <strong>und</strong> sozial<br />
ist. lernen ist nur über die aktive Beteiligung der lernenden möglich. Ohne eigenen<br />
erfahrungs- <strong>und</strong> Wissenshintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> wichtiger noch, ohne eine Interpretationsfähigkeit,<br />
finden im Prinzip keine kognitiven Prozesse statt. Dieser<br />
Erfahrungshintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> der eigenen lebensweltliche Kontext werden aber im<br />
Wesentlichen durch VeraICON abgefragt <strong>und</strong> in die Analyse politischer <strong>Bild</strong>er<br />
einbezogen. Lernen erfolgt stets in spezifischen Kontexten, in denen Schüler situiert<br />
<strong>und</strong> anhand authentischer Probleme lernen. Der Ausgangspunkt für lernprozesse<br />
ist idealerweise eine authentische Problemsituation, die aufgr<strong>und</strong> ihres Realitätsgehalts<br />
<strong>und</strong> ihrer Relevanz zum lernen motiviert. Wahlplakate sind ein reales<br />
<strong>und</strong> relevantes Problem, das sich in regelmäßigen Abständen immer neu stellt.<br />
Lernen ist kein individueller Prozess, sondern immer in einen sozialen Kontext<br />
eingeb<strong>und</strong>en. Dieses gemeinsame Aushandeln der <strong>Bild</strong>interpretation steht im<br />
Mittelpunkt von VeraICON. Demokratische Kompentenz entsteht so nicht „top<br />
down“ sondern „bottom up“. Mandl/Reinmann-Rothmeiner (1997: 85) behaupten<br />
außerdem: „Die Nutzung Neuer Medien ohne theoretisch f<strong>und</strong>ierte Ideen ist<br />
dysfunktional. Notwendig sind daher durchdachte Konzepte zum Medieneinsatz,<br />
die die spezifischen Potenziale der Neuen Medien zielgerecht nutzen“. VeraICON<br />
kann als Beispiel für eine computerunterstützte lernumgebungen angesehen<br />
werden, die diesen Anforderungen gerecht wird.<br />
literatur<br />
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
AGOF (2005): Internet facts. AGOF legt die erste Regelstudie zur Internetnutzung<br />
vor. http://www.golem.de/0509/40696.html (Zugriff am 07.05.2005)<br />
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112-124.<br />
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(Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter. Bonn, 23-27.<br />
DeUTSCHeR BUNDeSTAG Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“<br />
(1997) (Hg.): Medienkompetenz im Informationszeitalter. Bonn.<br />
125
STeFAN SelKe<br />
GeORGe, S. (1998): Ästhetisches Arbeiten im Politikunterricht. In: kursiv – Journal<br />
für politische <strong>Bild</strong>ung, 2, 36-41.<br />
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für wen? In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter.<br />
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öffentlichkeitsarbeit der B<strong>und</strong>esregierung zur Vermittlung der Agenda 2010.<br />
Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Hannover.<br />
HOFMANN, W. (1998) (Hg.): Visuelle Politik. Filmpolitik <strong>und</strong> die visuelle Konstruktion<br />
des Politischen. Baden-Baden.<br />
HUBeR, H. D./lOCKeMANN, B./SCHeIBel, M. (2002) (Hg.): <strong>Bild</strong>, Medien,<br />
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Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M., 236-246.<br />
MANDl, H./ReINMANN-ROTHMeIeR, G. (1997): Medienpädagogik <strong>und</strong> -<br />
komptenz: Was bedeutet das in einer Wissensgesellschaft <strong>und</strong> welche lernkultur<br />
brauchen wir dafür? In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz<br />
im Informationszeitalter. Bonn, 77-89.<br />
MeDIeNPÄDAGOGISCHeR FORSCHUNGSVeRBUND SÜDWeST (2006):<br />
jIM-Studie: jugend, Informationen, (Multi-)Media. Vorabauswertung zu den<br />
Themengebieten “Mobiltelefon” <strong>und</strong> “Chat”.<br />
PöTTINGeR, I. (1997): lernziel Medienkompetenz. Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen<br />
<strong>und</strong> praktische Evaluation anhand eines Hörspielprojekts. München.<br />
ROGG-PIeTZ, A. (2004): Politische <strong>Bild</strong>ung in der Informationsgesellschaft.<br />
Chancen <strong>und</strong> Grenzen unter veränderten Bedingungen. In: Kübler, H.-D./<br />
E. Elling (Hg.), Wissensgesellschaft. Neue Medien <strong>und</strong> ihre Konsequenzen.<br />
Bonn, Pdf-Dokument auf CD-Rom (Beigabe zum Sammelband).<br />
SACHS-HOMBACH, K. (2005) (Hg.): <strong>Bild</strong>wissenschaft. Disziplinen, Themen,<br />
Methoden. Frankfurt a. M.<br />
SCHelle, C. (2003): Politisch-historischer Unterricht hermeneutisch rekonstruiert.<br />
Von den Ansprüchen jugendlicher, sich selbst <strong>und</strong> die Welt zu verstehen.<br />
Bad Heilbronn.<br />
SCHelle, C. (2005): Mit <strong>Bild</strong>ern lernen: Foto, Karikatur, Grafik, Gemälde. In:<br />
Sander, W. (Hg.), Handbuch politische <strong>Bild</strong>ung. Schwalbach/Ts., 523-536.<br />
126
Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />
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Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M., 257-267.<br />
SCHORB, B. (1997): Vermittlung von Medienkompetenz als Aufgabe der Medienpädagogik.<br />
In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter.<br />
Bonn, 63-75.<br />
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Bonn, 99-109.<br />
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(Hg.), Das Unsichtbare sichtbar machen. <strong>Bild</strong>ungsprozesse <strong>und</strong> Subjektgenese<br />
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THeUNeRT, H. (1996): Perspektiven der Medienpädagogik in der Multimedia-<br />
Welt. In: Rein, A. von (Hg.), Medienkompetenz als Schlüsselbegriff. Bad Heilbrunn,<br />
60-69.<br />
VON eIMeReN, B./FReeS, B. (2005): ARD/ZDF-Online Studie 2005. Nach dem<br />
Boom – Größter Zuwachs in internetfernen Gruppen. In: Media Perspektiven,<br />
8, 362-379.<br />
127
PATRICK BURST<br />
ConVis<br />
ein visuelles Chatsystem für die Unterstützung von Online-<br />
Gruppendiskussionen<br />
1 Überblick<br />
VeraICON ist eine Webapplikation für die Durchführung von Online-Gruppendiskussionen.<br />
Konzipiert <strong>und</strong> entwickelt wurde die Anwendung in Hochschulveranstaltungen<br />
des Image, Space and Interaction Center (ISIC) an der Fakultät<br />
Digitale Medien der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>. Der Forschungsschwerpunkt von<br />
VeraICON liegt auf der Analyse von Stand- als auch auf zeitbasierten <strong>Bild</strong>ern (z.B.<br />
Videodateien). Die ergebnisse solcher Wirkungsmessungen können somit z.B.<br />
„für die Optimierung der visuellen Kommunikation z.B. von Plakatkampagnen<br />
genutzt werden.“ (Selke 2005: 171).<br />
Gruppendiskussionen werden schon seit ende der 1990er jahre im Internet<br />
durchgeführt. Vorhandene Anwendungen für Online-Gruppendiskussionen1 bieten einige spezielle Funktionalitäten wie z.B. die einblendung eines leitfra-<br />
1 Quasimeto: www.quasimeto.de<br />
Zoomerang Online Focus: http://info.zoomerang.com/prodserv/onlinefocus.htm<br />
acquire©: http://b2b.mediatransfer.de/Methoden,Gruppendiskussionen.html<br />
GfK Online Gruppendiskussion: http://labor.sing-lung.at/<br />
129
PATRICK BURST<br />
genkatalogs oder eine einspielmöglichkeit multimedialer Stimuli-Medien. 2 Trotz<br />
technischer Fortschritte leidet das Verfahren der Online-Gruppendiskussion bis<br />
heute an methodenspezifischen Problemen. Häufig wird der Online-Befragungsmethode<br />
mangelnde Ergebnisqualität gegenüber der klassischen face-to-face Variante<br />
attestiert. Hintergründe dieser Kritik sind die chaotischen Gesprächsverläufe<br />
wie sie bei Chats auftreten (Vgl. Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003; erdogan 2001;<br />
epple/Hahn 2001) sowie die Künstlichkeit der Kommunikationssituation (Vgl.<br />
Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003; Görts 2001; Prickarz/Urbahn 2002).<br />
Chat-Gespräche finden zwar synchron zwischen mehreren Teilnehmern statt,<br />
jedoch geht im Diskursverlauf die typische sequenzielle Abfolge realer Unterhaltungen<br />
verloren. Die Chat-Teilnehmer können parallel <strong>und</strong> unabhängig voneinander<br />
Nachrichten verfassen, editieren <strong>und</strong> verschicken. Dadurch entstehen nicht<br />
nur zeitliche Verzögerungen von der erstellung über das Absenden der Nachricht<br />
bis hin zur Darstellung der Beiträge in den Chat-Programmen der Teilnehmer,<br />
sondern auch die inhaltlich korrekte Reihenfolge wird durcheinander gebracht<br />
(Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003: 209).<br />
ein weiteres Phänomen der Chat-Kommunikation stellt die künstliche Art <strong>und</strong><br />
Weise der Unterhaltung dar. Der fehlende persönliche Kontakt zu der Gruppe erlaubt<br />
dem Moderator nur eine sehr eingeschränkte einschätzung des Gesprächsverlaufs:<br />
zurückhaltende Teilnehmer als auch inhaltliche Wendungen der Diskussion<br />
sind schwerer zu erkennen als bei realen Gesprächen.<br />
Die in diesem Arbeitsbericht dokumentierte Diplomarbeit verfolgt hinsichtlich<br />
der zuvor geschilderten Defizite bisheriger Online-Gruppendiskussionsapplikationen<br />
folgende Hauptziele:<br />
1. Die Arbeit untersucht lösungsansätze wie das Konversationschaos von Chat-<br />
Unterhaltungen vermindert werden kann.<br />
2. es werden außerdem lösungsansätze analysiert, wie die Moderation bei Online-Gruppendiskussionen<br />
unterstützt werden kann<br />
es wird davon ausgegangen, dass die Wiederherstellung eines kohärenten Gesprächsverlaufs<br />
<strong>und</strong> die Unterstützung der Diskussionsleitung durch geeignete<br />
Werkzeuge die Datenqualität einer Online-Gruppendiskussion erhöhen kann.<br />
Mit dem ConVis-Modul – dem prototypisch umgesetzten Ergebnis der hier zusammengefassten<br />
Abschlussarbeit – wurde die VeraICON Software konzeptionell<br />
<strong>und</strong> technisch weiterentwickelt. Die Arbeit verdeutlicht die Potentiale dynamischer<br />
Visualisierungen von Gesprächsverläufen für die Optimierung von<br />
Online-Gruppendiskussionen. Die lösungsansätze stützen sich auf der Analyse<br />
visueller Chat-Systeme <strong>und</strong> die Untersuchung der speziellen Anforderungen von<br />
Online-Gruppendiskussionen.<br />
2 Materialien die der Anregung bzw. Provokation dienen um eine Diskussion anzustoßen<br />
130
2 Fragestellungen<br />
Im Kontext der im vorigen Kapitel dargelegten Ziele, untersucht die Arbeit nachfolgende<br />
Fragestellungen:<br />
1. Was sind die konkreten Ursachen für das Konversationschaos bei der chatbasierten<br />
Kommunikation?<br />
2. Welche Vor- <strong>und</strong> Nachteile besitzt die Online-Gruppendiskussion im Vergleich<br />
zur klassischen face-to-face Variante? Wie ist der Funktionsumfang<br />
von VeraICON im Vergleich mit bisherigen Applikationen einzuschätzen?<br />
3. Forschungsprojekte aus dem Bereich der Informationsvisualisierung wie<br />
z.B. Chat Circles (Viegas/Donath 1999), factchat (Harnoncourt/Holzhauser/<br />
Seethaler/Meinl 2005) oder ConcertChat (Mühlpfordt/Wessner 2005) etc.<br />
haben in den letzten jahren Ansätze aufgezeigt wie einige der chattypischen<br />
Konversationsprobleme gelöst werden können. Andere visuelle Ansätze wie<br />
Babble (erickson 1999) oder Coterie (Spiegel 2001) haben Möglichkeiten demonstriert,<br />
wie aus Gesprächsverläufen soziale Muster <strong>und</strong> Strukturen in<br />
Chat-Unterhaltungen extrahiert werden können. Wie ist das Potential dieser<br />
Visualisierungsansätze für das Szenario der Online-Gruppendiskussion zu<br />
bewerten?<br />
3 Vorgehen<br />
ConVis<br />
Die Arbeit erläutert zunächst Gr<strong>und</strong>lagen zur qualitativen Datenerhebungsmethode<br />
der Gruppendiskussion. Anschließend werden die Charakteristika der<br />
Chat-Technologie beleuchtet. Serielle, textbasierte Chats stellen die Kommunikationsgr<strong>und</strong>lage<br />
von Online-Gruppendiskussionen dar. Daher werden detailliert<br />
die Ursachen des Konversationschaos’ serieller Chats untersucht.<br />
Anschließend geht die Arbeit auf die spezifischen Merkmale der Online-Gruppendiskussion<br />
ein. Die ergebnisse einer literaturanalyse <strong>und</strong> einer Marktübersicht,<br />
in der existierende Anwendungen für Online-Gruppendiskussionen mit<br />
VeraICON verglichen werden, bilden die Basis für die Formulierung von Anforderungen,<br />
auf welchen ebenen Online-Gruppendiskussionen optimiert werden<br />
können.<br />
Anhand der aufgestellten Anforderungen <strong>und</strong> Gestaltungsziele werden anschließend<br />
ausgewählte, visuelle Chat-Systeme analysiert. Die grafischen Chat-Systeme<br />
werden hinsichtlich der Fragestellung untersucht <strong>und</strong> diskutiert, inwiefern deren<br />
Einsatz im Kontext einer Online-Gruppendiskussion einen Nutzen bieten kann.<br />
Auf der Basis der gewonnenen erkenntnisse über visuelle Chat-Systeme wird<br />
abschließend ein eigenes visuelles Konzept entworfen. Das prototypische Visualisierungsmodul<br />
ConVis demonstriert die praktische Umsetzbarkeit der vorgeschlagenen<br />
lösungsansätze.<br />
131
PATRICK BURST<br />
4 Wiederherstellung der Kohärenz<br />
Dieser Abschnitt beschreibt stichwortartig lösungsansätze, wie das Problem der<br />
inkohärenten Gesprächsverläufe 3 bei Online-Gruppendiskussionen vermindert<br />
werden kann:<br />
1. Visualisierung des zeitlichen Verlaufs: Die abstrakte Darstellung des zeitlichen<br />
Verlaufs macht <strong>Interaktion</strong>sprozesse direkt sichtbar <strong>und</strong> lässt ruhige<br />
sowie stürmische Phasen während des Gesprächs sofort erkennen (rechts in<br />
Abb. 1).<br />
2. Visualisierung von Adressierungen: Autor <strong>und</strong> Adressat eines Beitrags sind<br />
durch eine animierte Pfeildarstellung leicht erkennbar. Dadurch wird eindeutig,<br />
wer welche Aussage zu welchem Zeitpunkt an welchen Mitdiskutanten<br />
gerichtet hat (1 in Abb. 1).<br />
3. Visualisierung von Referenzierungen: Inhaltliche Bezüge auf die Vorkommunikation<br />
ermöglichen es, Meinungsbildungsprozesse nachzuvollziehen.<br />
Dies vermeidet unnötige Nachfragen, wie eine Aussage gemeint sei bzw. auf<br />
welche vorherige Aussage sich ein Beitrag bezieht (2 in Abb. 1).<br />
4. Referenzierung von <strong>Bild</strong>bereichen: ConVis ermöglicht es, Bereiche auf den<br />
besprochenen <strong>Bild</strong>ern zu markieren. Auf diese Weise können umständliche<br />
Umschreibungen von <strong>Bild</strong>inhalten erleichtert bzw. reduziert werden.<br />
132<br />
Abb. 1: VeraICON Moderatoransicht mit ConVis<br />
3 ein inkohärenter Gesprächsverlauf, wie er bei seriellen Chats auftritt, ist gekennzeichnet durch den<br />
Verlust der linearen Abfolge der Beiträge in Kombination mit sich überlappenden Konversationssträngen<br />
<strong>und</strong> Paralleldiskussionen; der inhaltlich-logische Zusammenhang geht für den Chat-Teilnehmer<br />
verloren. Allgemein wird von einem „Konversationschaos“ gesprochen.
5 Ausblick<br />
Der in der Arbeit vorgestellte Prototyp zeigt durch die Kombination verschiedener<br />
visueller Konzepte, wie bei Online-Gruppendiskussionen die Kohärenz des Gesprächsverlaufs<br />
<strong>und</strong> die Kontrolle der Diskussion verbessert werden kann. Die<br />
Arbeit zeigt außerdem Anknüpfungspunkte für nachfolgende Projekte auf. Das<br />
Visualisierungskonzept könnte zukünftig bspw. leicht für eine Ex-Post Darstellung<br />
modifiziert werden. Eine Gegenüberstellung von Gesprächsverläufen könnte<br />
in diesem Kontext für den Zweck der Moderatorenschulung evaluiert werden.<br />
ebenfalls interessant wäre die Untersuchung der Akzeptanz <strong>und</strong> Bedienbarkeit<br />
des grafischen Chat-Systems. Diesbezüglich könnten auch akzeptanzsteigernde<br />
Maßnahmen wie der einsatz von Trainingsmaterial praktisch getestet werden<br />
(Vgl. hierzu Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003: 211). Die Arbeit liefert außerdem<br />
Ansatzpunkte, wie leistungsfähigere Werkzeuge zur Analyse des Partizipationsverhaltens<br />
der Teilnehmer zukünftig integriert werden können. Interessant wäre<br />
auch die Frage, wie sich Beiträge in Zukunft sinnvoll auf Videomaterial referenzieren<br />
lassen.<br />
literatur<br />
ConVis<br />
ePPle, M./HAHN, G. (2001): Dialog im virtuellen <strong>Raum</strong> - Die Online-Focusgroup<br />
in der Praxis der Marktforschung. In: Theobald, A./Dreyer, M./Starsetzki,<br />
T.: Online-Marktforschung. Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> praktische<br />
erfahrungen. Wiesbaden, Gabler, 297-307.<br />
eRDOGAN, G. (2001): Die Gruppendiskussion als qualitative Datenerhebung im<br />
Internet. Ein Online-Offline-Vergleich. Verfügbar unter: http://www.soz.unifrankfurt.de/K.G/B5_2001_erdogan.pdf.<br />
Zugriff am 15.11.2006<br />
SelKe, S. (2005): Symbolische Politik oder Politik als Ware? Netzbasierte <strong>Bild</strong>wirkungsanalyse<br />
der Agenda 2010-Plakatkampagne durch virtuelle Gruppendiskussionen.<br />
In: Fetzner/Selke (Hg.): selling politics. <strong>Bild</strong>inhalt <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wirkung.<br />
Ergebnisse des Forschungsprojektes selling politics zu Plakatmotiven<br />
der Agenda 2010. Schriftenreihe Fakultät Digitale Medien, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>,<br />
125-174.<br />
GöRTS, T. (2001): Gruppendiskussion – Ein Vergleich von Online- <strong>und</strong> Offline-<br />
Focus-Groups. In: Axel Theobald/Marcus Dreyer/Thomas Starsetzki: Online-Marktforschung.<br />
Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> praktische erfahrungen.<br />
Wiesbaden, Gabler, 149-164.<br />
PRICKARZ, H./URBAHN, j. (2002): Qualitative Datenerhebung mit Online-Fokusgruppen.<br />
In: Planung & Analyse. Deutscher Fachverlag GmbH.<br />
133
PATRICK BURST<br />
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innovative Methode zur nutzerbasierten Beurteilung der Web Usability. In:<br />
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BeISSWeNGeR, M./STORReR, A. (2005): Chat-Szenarien für Beruf, <strong>Bild</strong>ung<br />
<strong>und</strong> Medien. In: Beißwenger, M.(Hg.), Chat-Kommunikation in Beruf, <strong>Bild</strong>ung<br />
<strong>und</strong> Medien: Konzepte, Werkzeuge, Anwendungsfelder. Stuttgart, 9-<br />
25.<br />
BeISSWeNGeR, M. (2005): <strong>Interaktion</strong>smanagement in Chat <strong>und</strong> Diskurs.<br />
Technologiebedingte Besonderheiten bei der Aushandlung <strong>und</strong> Realisierung<br />
kommunikativer Züge in Chat-Umgebungen“. In: Michael Beißwenger(Hg.),<br />
Chat-Kommunikation in Beruf, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Medien : Konzepte, Werkzeuge,<br />
Anwendungsfelder. ibidem-Verlag, Stuttgart, 63-87.<br />
HARNONCOURT, M./HOlZHAUSeR, A./SeeTHAleR, U./MeINl, P.<br />
(2005): Referenzierbarkeit als Schlüssel zum effizienten Chat. In: Michael<br />
Beißwenger(Hg.), Chat-Kommunikation in Beruf, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Medien : Konzepte,<br />
Werkzeuge, Anwendungsfelder. Stuttgart, 159-179.<br />
HOlMeR, T./WeSSNeR, M. (2005): Gestaltung von Chat-Werkzeugen zur Verringerung<br />
der Inkohärenz. In: Michael Beißwenger(Hg.), Chat-Kommunikation<br />
in Beruf, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Medien : Konzepte, Werkzeuge, Anwendungsfelder.<br />
Stuttgart, 181-199.<br />
MÜHlPFORDT, M./WeSSNeR, M. (2005): Explicit referencing in chat supports<br />
collaborative learning. In: Proceedings of the 2005 conference on Computer<br />
support for collaborative learning. Taipei, Taiwan, 460 – 469.<br />
VIeGAS, F. B./DONATH, j. S. (1999): Chat Circles. In: CHI’99: Proceedings of<br />
the Conference on Human Factors in Computing Systems. ACM, New York,<br />
9-16.<br />
134
ARBeITSBeReICH RAUM
I. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Methode – Virtuelle Testräume
STeFAN SelKe<br />
Techniken der Sichtbarmachung<br />
Nutzungsbedingungen virtueller Testräume<br />
1 Begriffsfestlegungen <strong>und</strong> Kategorien virtueller Realität<br />
In jedem Wissensgebiet gibt es konkurrierende Begriffe <strong>und</strong> semantische Netzwerke,<br />
deren Kenntnis für die Anschlussfähigkeit eigener Arbeiten elementar ist.<br />
einige wichtige einordnungen sollen deshalb an dieser Stelle stellvertretend vorgenommen<br />
werden.<br />
• Neben dem Begriff Virtuelle Realität (VR) existieren auch die Begriffe, Virtual<br />
Environments (VE), Telepresence, Cyperspace, Tele-Existence, Tele-Symbiosis<br />
sowie Augmented Reality (AR). Anfänglich wurde der Begriff VR synonym<br />
mit den Begriffen „Artificial Reality“, „Synthetic Environments“ oder<br />
„Cyberspace“ verwandt.<br />
• Unter den Begriff virtuelle Medien lässt sich eine Vielzahl von Technologien<br />
subsumieren, die völlig verschiedene Nutzungskontexte darstellen. Gemeinsames<br />
Kennzeichen z.B. von Internet, Computerspielen oder Ve ist die Tatsache,<br />
dass einem Nutzer eine computergenerierte Welt interaktiv in echtzeit<br />
erschließbar wird.<br />
141
STeFAN SelKe<br />
• Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen Virtueller Realität <strong>und</strong><br />
Virtuellen Umgebungen (VE). Beide Begriffe werden zwar häufig synonym<br />
verwandt, sind jedoch strikt zu unterscheiden. Letztlich muss immer der<br />
Nutzer zwischen Vision <strong>und</strong> Wirklichkeit unterscheiden, so wie der Betrachter<br />
eines Films zwischen Fiktion <strong>und</strong> Realität unterscheiden können muss.<br />
Der Begriff VR ist hierbei konnotativ an das Visionäre gekoppelt. Gerade diese<br />
Assoziation geht aber für viele praktische Anwendungen zu weit. Deshalb<br />
scheint es sinnvoller, statt von VR von Ve zu sprechen.<br />
Worin liegt nun der kleinste gemeinsame Nenner virtueller Medien? Dies ist<br />
gleichbedeutend mit der Suche nach einer Definition von Virtualität, die erwartungsgemäß<br />
sehr verschiedenartige ergebnisse erbringt. Allen gemeinsam ist<br />
eine stark ausgeprägte technizistische Sichtweise auf VR.<br />
Die entwicklung der VR ist nur der aktuellste Paradigmenwechsel in der <strong>Raum</strong>darstellung<br />
. Mit dem Computer fand der letzte Paradigmenwechsel statt, der im<br />
Kern auf der echtzeitdarstellung des <strong>Raum</strong>s abhängig vom Standpunkt des Betrachters<br />
beruht. Hieraus speist sich auch die technologische Definition von VR:<br />
blickpunktabhängige <strong>Raum</strong>darstellung („viewpoint depending imaging“: Scott<br />
Fisher). „Virtuelle Realität im traditionellen Sinne bedeutet die Immersion einer<br />
Person in einer synthetischen Welt. Der Benutzer hat den eindruck, anwesend<br />
zu sein. er ist von der Welt umgeben <strong>und</strong> kann sie nach eigenen Wünschen in<br />
natürlicher Form erfahren <strong>und</strong> erleben“ (Sauter/Stratmann 1999: 58). Virtuelle<br />
Realität bezeichnet also die Ausgestaltung scheinbarer Welten <strong>und</strong> die computergenerierte<br />
erzeugung dieser Welten unter unmittelbarer einbeziehung des<br />
Benutzers <strong>und</strong> zugr<strong>und</strong>e liegenden Gesetzmäßigkeiten. Eine typische Definition<br />
ist folgende:<br />
142<br />
„Virtuelle Welt ist die Darstellung unserer Umwelt oder ‚erdachter Welten’ durch Simulation<br />
auf dem Computerbildschirm […] Mit dem Begriff virtuelle Realität wird meist<br />
die rechnergestützte Generierung eines möglichst perfekten sensorischen Abbilds einer<br />
natürlichen oder auch fiktiven Umgebung bezeichnet. Virtuelle Realität verschafft […]<br />
neben dem <strong>Raum</strong>erlebnis <strong>und</strong> der visuellen erschließung neuer erfahrungswelten u. a.<br />
auch intuitive Eingriffsmöglichkeiten durch Augen-, Hand- <strong>und</strong> Körperbewegungen.“<br />
(Schipanski 1999: 72)<br />
In den meisten Definitionen von VR sind daher ähnliche Elemente zu finden.<br />
Diese können wie folgt aufgelistet werden:<br />
• Rechnergestütztes Szenario<br />
• Dreidimensionalität<br />
• Multimediale Präsentationsformen<br />
• <strong>Interaktion</strong> mit Nutzern durch Kopf- <strong>und</strong> Hand-Bewegung sowie Körpergesten<br />
oder eingabegeräte
• Echtzeit-Datenerfassung<br />
• „Eintauchende“ <strong>Interaktion</strong> in Datenräume<br />
Techniken der Sichtbarmachung<br />
• Erwartung von Transferleistungen zwischen Virtueller Realität (VR) <strong>und</strong> Realsituation<br />
(R)<br />
Insgesamt ist ein Überhang an technischen Kriterien, angeführt vom Primat der<br />
technischen Widerspiegelbarkeit von Wirklichkeit, zu erkennen. Technologie<br />
spielt sich gerade im Bereich der VR eindeutig in den Vordergr<strong>und</strong>. Die meisten<br />
Definitionen von VR basieren im Kern auf der Betonung der mehr oder weniger<br />
realitätsnahen Widerspiegelung von Räumen, Dingen <strong>und</strong> Personen. Die Potenz<br />
der rechnerischen Simulation <strong>und</strong> die illusionäre Wirkung des ergebnisses sind<br />
Gr<strong>und</strong>lage des definitorischen Verständnisses von VR. Weder bestimmt das „Sein<br />
das Bewusstsein“ (Marx), noch bestimmt das „Bewusstsein das Sein“ (Hradil),<br />
sondern das das Bewusstsein wird durch den virtuellen (Daten-)Schein bestimmt.<br />
Bewusstsein wird einerseits in Daten transformiert <strong>und</strong> andererseits aus Daten<br />
rekonstruiert. Dem kann man eine nicht-technische Sichtweise gegenüberstellen:<br />
Der bloßen Forderung nach mehr Interaktivität ist die Forderung nach einer für<br />
Probanden angemessenen Qualität der <strong>Interaktion</strong> gegenüberzustellen.<br />
2 Ökologische Validität virtueller Realität – der Wohlfühlfaktor<br />
Kern der VR ist die Übertragung real existierender Welten in ein virtuelles Modell.<br />
Vorschnell könnte man schließen, dass dabei unbedingt darauf ankommt, diese<br />
Übertragung möglichst perfekt vorzunehmen. Im Mittelpunkt sollten aber nicht<br />
allein technische, sondern auch verhaltensbezogene Dimensionen stehen. Nicht<br />
immer kommt es dabei nur auf die Auflösung oder den Grad der Interaktivität an.<br />
So hilft z.B. ein geeignetes Akustikmodell wesentlich zur erweiterung der realitätsnahen<br />
Simulation. Schallquellen werden durch ihre Position, räumliche Ausdehnung<br />
<strong>und</strong> akustische Stärke definiert. Die Anordnung erfolgt in Korrelation<br />
zur Geometrie des Modells in der virtuellen Welt. Somit entsteht eine akustische<br />
Ansicht des <strong>Raum</strong>es. Ein vergleichsweise einfaches physikalisches Modell „reicht<br />
aus, um dem Benutzer einen eindrucksvollen Gesamteindruck einer virtuellen<br />
Welt zu vermitteln, besonders bei schwachen visuellen Darstellungen“ (Sauter/<br />
Stratmann 1999: 65)<br />
Dabei kommt es aber nicht unbedingt nur auf Realismus an, damit sich Nutzer<br />
virtueller Welten wohl fühlen. Den „Wohlfühlfaktor“ kann man auch als die ökologische<br />
Validität virtueller Realität bezeichnen. „Der Wunsch nach einer angenehmen<br />
virtuellen Welt bedeutet nicht gleichzeitig, eine äußert realistische Welt<br />
schaffen zu müssen“ (Sauter/Stratmann 1999: 62). Um zu verstehen, was für<br />
Nutzer angenehm ist, wird nun im Folgenden die erste Schnittstelle, wie sie sich<br />
auch aus dem VERTEX-Projekt ergeben hat, näher untersucht. Diese Schnittstelle<br />
143
STeFAN SelKe<br />
behandelt die Äquivalenzbedingungen virtueller Realität. Gerade in der anwendungsorientierten<br />
Forschung muss nach der Äquivalenz von Realem <strong>und</strong> Virtuellen<br />
gefragt werden (sog. „biotische Wahrnehmungskontexte“). Um verwertbare<br />
Transfereffekte zu erzielen, muss eine möglichst hohe ökologische Validität der<br />
VR erzielt werden. Diese Form der Validität ist an ein Bewusstsein von Realität<br />
geb<strong>und</strong>en. Daher folgt hier zuerst ein Exkurs über den Realitätsbegriff selbst.<br />
3 Der Realitätsbegriff<br />
In Bezug auf den Themenkomplex VR ist der Begriff „Realität“ nicht unproblematisch,<br />
denn er suggeriert, dass Realität beliebig neu zu schaffen sei - entweder<br />
in Form perfekter Nachahmung oder eben vollkommen autark. Der ontologische<br />
Status einer derart definierten Realität muss jedoch kritisch hinterfragt werden.<br />
Im Unterschied zu Illusionen, die rein technisch erzeugt werden können, ist Realität<br />
stets ein soziales Konstrukt. Realität wird durch soziale Gemeinschaften erzeugt,<br />
nicht durch Technik. Umgekehrt sind Illusionen oder Imaginationen nicht<br />
nur körperlose, abstrakte Gebilde. Über Ideen, die nur in der Vorstellung existieren,<br />
kann man keine neuen Vorstellungen gewinnen (Gibson 1982: 276ff.), d.h.<br />
um über eine Idee kommunizieren zu können, muss diese in sinnlich erfahrbare<br />
Zeichen umgewandelt werden – durch Techniken. Hierbei gilt: Je differenzierter<br />
wir komplexe Verständniszusammenhänge ausdrücken können, je mehr wir sie<br />
„vergegenständlichen“ können, desto intensiver sind die Beziehungen zwischen<br />
Gedachtem <strong>und</strong> Tatsächlichem. Die kulturelle evolution unserer geistigen Fähigkeiten<br />
ist im Wesentlichen eine evolution unserer Ausdrucksmittel (leroi-Gourhan<br />
1988: 261f.).<br />
Mit diesem Gedanken lässt näherungsweise eine kulturanthropologische Definition<br />
Virtueller Realität erstellen: Virtuelle Realität bedeutet, dass etwas „der Kraft<br />
oder Möglichkeit nach vorhanden“ (Keil-Slawik 1999: 46) ist. Eine virtuelle Stadt<br />
kann somit sowohl durch die Simulation städtischer Strukturen mit Hilfe von VR,<br />
aber auch durch einen Roman, eine Fotografie oder einen Film „verkörpert“ werden.<br />
Der Unterschied liegt allein dort, wie die Potenzialität der Existenz oder der<br />
Modus des erkennens hergestellt wird. einmal technisch (bei der VR) <strong>und</strong> einmal<br />
durch menschliche Vorstellungskraft (traditionelle Medien). Sicher ist dabei die<br />
technisch erzeugte Immersion müheloser zu bewerkstelligen, was auch latente<br />
Möglichkeitsphantasien nach sich zieht.<br />
Durch die (teilweise trivialen) Anwendungen der VR-Technologie herrscht der<br />
Glaube, dass alles machbar sei, was wünschenswert ist. VR basiert jedoch auf<br />
<strong>Interaktion</strong>en, d.h. alles was möglich sein soll, muss auch vorbedacht werden.<br />
Das Problem hierbei ist, das Komplexität sich nicht auf die additive Verknüpfung<br />
von elementarfunktionen reduzieren lässt, sondern kontingent <strong>und</strong> emergent ist.<br />
Am Beispiel der anthropomorphen Interface Agenten (AIA) wird dies deutlich:<br />
144
Techniken der Sichtbarmachung<br />
„Wo immer Figuren ins Spiel kommen, die ein Eigenleben besitzen, wo erst Verständnis<br />
<strong>und</strong> Interpretation die Sinnhaftigkeit von Handlungen erschließen, sind<br />
die Grenzen […] der Virtuellen Realität“ (Keil-Slawik 1999: 47). Eine weitere Unschärfe<br />
des Begriffs „Virtuelle Realität“ zeigt sich dort, wo es zu einer Koordination<br />
von wahrgenommener Bewegung <strong>und</strong> tatsächlicher Ortsveränderung kommt.<br />
Zudem sind virtuelle Realitäten nur dann beherrschbar, wenn es klar ist, dass<br />
es sich letztlich um einen konstruierten Ausschnitt der erfahrungswelt handelt.<br />
Abenteuerspiele in der Virtuellen Realität wären sonst kaum zu genießen. Auf der<br />
anderen Seite gibt es Anwendungen (z.B. Flugsimulator), die ihre Wirksamkeit<br />
aus einer möglichst realitätsgetreuen Simulation von Bewegungsabläufen <strong>und</strong><br />
Koordinationen erzielen.<br />
Fassen wir zusammen: Auf der epistemologischen ebene zeichnen sich virtuelle<br />
Realitäten durch eine nicht zu reduzierende Ambivalenz aus. einerseits versuchen<br />
sie auf der technischen Seite einen Totaleindruck der Imaginären zu vermitteln,<br />
andererseits liegt ihr Reiz gerade im Wissen um genau jene folgenlose<br />
Konstruiertheit des Totaleindrucks, in der Rückvergewisserung, dass einem zwar<br />
in der virtuellen Welt alles begegnen, letztlich aber in der physischen Welt nichts<br />
passieren kann.<br />
4 Determinanten <strong>und</strong> Komponenten virtuellen erlebens<br />
Die Äquivalenzbedingung ist also ein eine Form der Rückversicherung geb<strong>und</strong>en,<br />
die für den Nutzer möglichst intuitiv sein muss. Dies geht einher mit der Frage,<br />
wie VR überhaupt erlebt werden kann <strong>und</strong> tatsächlich subjektiv erlebt wird.<br />
Die Gr<strong>und</strong>these von Petersen/Gente (2001), vorgetragen aus der Perspektive<br />
der experimentellen Medienpsychologie, geht davon aus, dass die Wirkung<br />
kurzfristiger Mensch-Maschine-<strong>Interaktion</strong> (<strong>und</strong> dabei handelt es sich bei Versuchsanordnungen<br />
mit VR) weniger durch technische Randbedingungen oder<br />
Mediengestaltung als vielmehr durch die verhaltenswirksamen Merkmale der<br />
Nutzungssituation bestimmt werden. Diese erkenntnis hat weitreichende Folgen<br />
für die Konzeptionalisierung von VR-Systemen im Bereich empirischer erhebungen,<br />
wie sie z.B. mit VeRTeX vorliegen. Daher ist gr<strong>und</strong>legend zu fragen,<br />
wie VR erlebt wird, was daran verhaltenswirksam ist <strong>und</strong> was das Besondere am<br />
Eintauchen in eine virtuelle Welt ist?<br />
Das Gefühl des „Eintauchens“ in eine künstlich erzeugte Welt ist keinesfalls auf<br />
VR beschränkt. Der menschliche Geist erzeugt dieses Gefühl beim lesen eines<br />
spannenden Buches, beim Musikhören, beim Träumen. Die Sprache ist das erste<br />
Werkzeug des Menschen zur Erzeugung virtueller Welten. Diese sind jedoch<br />
nicht sinnlich, sondern nur symbolisch erfahrbar. Im Gegensatz dazu wird in<br />
der VR Eintauchgefühl durch Technik erzeugt. „Das vorwiegend visuell […] vermittelte<br />
eintauchen in eine rechnergestützte Simulation ist der eigentliche Kern<br />
145
STeFAN SelKe<br />
der Virtuellen Realität, weshalb man auch von einer Technologie des eintauchens<br />
[„Technology of Immersion] spricht“ (Keil-Slawik 1999: 44). Rechnergestützte<br />
virtuelle Realitäten sind sinnlich erfahrbare, visuelle, auditive, haptische, kinästhetische<br />
Erfahrungswelten. In der Literatur finden sich verschiedene Konzepte,<br />
die die zusätzliche Erlebnisqualität bei der Wahrnehmung <strong>und</strong> beim Erlebnis virtueller<br />
Umwelten erklären: 1. Telepräsenz, 2. Immersion, 3. Flow. Sie werden im<br />
Folgenden knapp vorgestellt.<br />
• Telepräsenz ist ein Konzept, das versucht, die Besonderheit virtuellen Erlebens<br />
durch eine nicht-technische Sichtweise zu erklären. Der Telepräsenzbegriff<br />
nimmt stattdessen Bezug auf die Wahrnehmungsleistung. Telepräsenz<br />
bedeutet, dass medial vermittelte Wahrnehmungsinhalte die durch eine Realsituation<br />
vermittelten Wahrnehmungsinhalte überlagern oder gar ausblenden.<br />
• Das Konzept der Immersion bezieht sich ebenfalls auf die Erfahrung des<br />
„Eintauchens“. Im Idealfall werden alle Sinneseindrücke in der virtuellen<br />
Umgebung generiert, was mit einer vollständigen Zentrierung von Aufmerksamkeit<br />
einhergeht. Der Begriff der Immersion wird weitgehend synonym<br />
mit dem der Telepräsenz verwandt. letztlich geht es in beiden Konzepten<br />
um eine möglichst vollständige Substitution einer realen Umgebung durch<br />
virtuelle eindrücke.<br />
• Das Flow-Konzept, bekannt auch aus zahlreichen Bef<strong>und</strong>en der Erlebnis- <strong>und</strong><br />
Glücksforschung des prominenten ungarisch-amerikanischen Psychologen<br />
Mihaly Czikszentmihaliy (erstmals 1975), beschreibt das Gefühl des eintauchens<br />
im motivationspsychologischen Sinn als Folge anhaltender Konzentration<br />
auf eine Handlung unabhängig von der Form medialer Vermittlung.<br />
Allen drei Konzepten gemein ist, dass sie sich einer prozessuralen Messung entziehen<br />
(Petersen/Gente 2001: 139) jedoch eine Kovarianz mit Emotionen aufweisen:<br />
Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen dem Präsenzempfinden<br />
in virtuellen Umgebungen <strong>und</strong> dem Vergnügen an einer VR-Erfahrung („enjoyment“).<br />
Am deutlichsten sind die Determinanten virtuellen erlebens im Konzept der<br />
Telepräsenz (Steuer 1992; vgl. dazu auch Petersen/Gente 2001 <strong>und</strong> Bente/Otto<br />
1999) ausdefiniert. Dabei wird angenommen, dass das Ausmaß an Telepräsenz<br />
zentral vom Ausmaß der Lebendigkeit („vividness“) <strong>und</strong> der Interaktivität („interactivity“)<br />
eines VR-Systems bestimmt wird. Die Lebendigkeit setzt sich wiederum<br />
zusammen aus der Anzahl der involvierten sensorischen Kanäle („breadth“) <strong>und</strong><br />
deren spezifischer Ausdifferenzierung („depth“). Das Ausmaß der Interaktivität<br />
hängt ab von der Geschwindigkeit der Informationsaufnahme <strong>und</strong> -verarbeitung<br />
des VR-Systems („speed“), der Breite der Verhaltensalternativen („range“) <strong>und</strong> der<br />
Anpassungsfähigkeit des VR-Systems an das Nutzerverhalten („mapping“). Fasst<br />
man diese Determinanten zusammen, so wird deutlich, dass vor allem Gestal-<br />
146
tungsmerkmale des VR-Mediums die Intensität von Telepräsenz (bzw. Immersion)<br />
beeinflussen.<br />
In der Sichtweise des Flowkonzepts hingegen stehen situative Bedingungen für<br />
das erleben virtueller Umgebungen im Vordergr<strong>und</strong>, d.h. der Aufgaben- <strong>und</strong> Situationscharakter<br />
<strong>und</strong> damit die für den individuellen Selbstwert äußerst relevante<br />
Information über die eigene leistung steht hier im Mittelpunkt. Flowerleben<br />
bedeutet, dass sich eine Person von einer Aufgabe herausgefordert, nicht aber<br />
überfordert fühlt. Das erleben dieser Herausforderung <strong>und</strong> ihre Bewältigung<br />
werden ebenfalls als eintauchen erlebt. Hierbei ist die technologische Gestaltung<br />
des Aufgabenkontextes nicht relevant sondern nur die situative Relevanz des Nutzungskontextes.<br />
In ihrer Untersuchung über die Determinanten virtuellen erlebens untersuchen<br />
Petersen/Gente (2001) anhand eines Versuchsaufbaus mit Fahrsimulatoren zentrale<br />
Hypothesen über die Entstehung des spezifischen Erlebens virtueller Realität.<br />
Dabei testen die Autoren, ob das VR-erleben eher von den Gestaltungsmerkmalen<br />
eines VR-Systems beeinflusst wird, wie dies vom Konzept der Telepräsenz<br />
bzw. Immersion nahe gelegt wird, oder durch Situationsmerkmale, wie es sich<br />
aus dem Flow-Konzept ableiten lässt. Als dritte Hypothese wird eine <strong>Interaktion</strong><br />
aus beiden prototypischen Konzepten getestet. erfasst wurden die Reaktionen der<br />
Probanden auf drei ebenen:<br />
1. Subjektive Evaluation durch eine skalierte Befragung zur Erlebnisintensität;<br />
2. Objektive Messung körperlicher Reaktionen;<br />
Techniken der Sichtbarmachung<br />
3. Aufzeichnung der mimischen Aktivität durch Videokameras. Als moderierende<br />
Variable wurde aufgr<strong>und</strong> der Annahmen von Sheridan/Furness (1992)<br />
bezüglich der Relevanz des Trainings im Umgang mit VR-Applikationen die<br />
Computerexpertise miterfasst sowie als weitere moderierende Variable das<br />
Geschlecht.<br />
Im ergebnis konnte gezeigt werden, dass es zwischen unterschiedlichen Gestaltungstypen<br />
(Fahrsimulator mit hoher Auflösung, guter Funktionalität <strong>und</strong><br />
Interaktivität sowie als Kontrast Fahrsimulator mit geringer lebendigkeit <strong>und</strong><br />
Interaktivität) keine signifikanten Unterschiede gab. Unterschiede gab es jedoch<br />
zwischen den Situationstypen. Diejenigen Probanden, denen eine Nutzungsaufgabe<br />
mit niedriger Aufgabenrelevanz gestellt wurde (Spaß haben) zeigten kaum<br />
intensive erlebnisreaktionen. Die Probanden hingegen, die sich in einer Situation<br />
mit hoher Aufgabenrelevanz befanden (Lernkontext) zeigten sowohl intensivere<br />
Körperreaktionen, mimische Aktivität <strong>und</strong> Selbsteinschätzung des erlebnisses.<br />
Es gibt also eine klare Evidenz für den Einfluss von Situationsmerkmalen, während<br />
der Einfluss von Gestaltungsmerkmalen nicht gemessen werden kann. Der<br />
Leistungsbezug eines Nutzungskontext eines VR-Systems wirkt sich – konform<br />
zum Flow-Konzept – relevant auf die Intensität des Erlebens aus. Somit wird das<br />
147
STeFAN SelKe<br />
VR-erleben nicht von technologischen, sondern von motivationspsychologischen<br />
Randbedingungen bestimmt. „Offensichtlich scheinen die Bedingungen der Nutzung<br />
eines VR-Systems das Erleben erheblich stärker zu beeinflussen als dies<br />
der Sophistiziertheitsgrad der Mediengestaltung vermag“ (Petersen/Gente 2001:<br />
144). Mit einer Aufrüstung technologischer Merkmale kann also das VR-erleben<br />
nur bedingt gesteigert werden.<br />
Wie kann man nun diese Randbedingung beeinflussen? Mittels einer einfachen<br />
Instruktionsvariation (Testlegende) konnte eine erhebliche Situationsvarianz erzielt<br />
werden. Bei der Verwendung von VR-Versuchsapplikationen ist also mehr<br />
auf die Merkmale der situativen Umgebung zu achten um die Erlebnisqualität<br />
entscheidend zu steigern.<br />
5 Biologische Voraussetzungen des erlebens Virtueller Realität<br />
Neben den technischen <strong>und</strong> situativen Determinanten <strong>und</strong> Komponenten müssen<br />
auch die biologischen Voraussetzungen des Menschen berücksichtigt werden,<br />
die darüber mitbestimmen, welche Inhalte in virtuellen Umgebungen überhaupt<br />
wahrgenommen <strong>und</strong> damit später prinzipiell erinnert werden. Gerade im Hinblick<br />
auf VERTEX, einem Recall-/Recognition-Test, bei dem es ja um die spontane<br />
Wiedererinnerbarkeit visueller Reize geht, macht die Analyse biologischer<br />
Begrenzungen Sinn. Gerade in Testumgebungen machen technische lösung<br />
nur dann Sinn, wenn sie eine bestmögliche Anpassung an die physiologischen<br />
<strong>und</strong> psychologischen Bedingungen der Nutzer beinhalten, d.h. die Plastizität des<br />
menschlichen Nervensystems sollte nicht überschätzt bzw. überfordert werden<br />
(Pöppel/Burda 1999: 83). Hierbei gibt es einige kardinale Probleme der VR im<br />
Hinblick auf diese Forderung:<br />
• Mangelhafte Integration der Sinneswahrnehmung: Soll eine plausible <strong>und</strong><br />
akzeptable virtuelle Welt im Kopf des Nutzers entstehen, müssen die Verarbeitungsprozesse<br />
in den (verschiedenen) Sinnessystemen so angesprochen<br />
werden, dass eine erfolgreiche Integration der einzeleindrücke möglich ist.<br />
Wird auf die Ansprache eines Sinneskanals verzichtet, entsteht in der VR<br />
nur ein Teil-, möglicherweise ein Zerrbild der Wirklichkeit. Immersion ist<br />
an eine möglichst vollständige Ansprache <strong>und</strong> eine möglichst unproblematische<br />
Integration aller Sinneskanäle zu erreichen.<br />
• Nicht-Berücksichtigung von Transduktionsprozessen zwischen den verschiedenen<br />
Sinneskanälen: Die qualitativen Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />
Sinnessysteme drückten sich hauptsächlich in unterschiedlichen<br />
Zeitkonstanten bei der Reizaufnahme aus. So dauert der neurochemische<br />
Prozess, der visuelle Informationen verfügbar macht, wesentlich länger als<br />
der entsprechende Prozess beim Hören (Pöppel/Burda 1999: 84). Informationen<br />
aus der Umwelt erreichen also nach unterschiedlichen Zeiten das<br />
148
Techniken der Sichtbarmachung<br />
Gehirn. Zusätzlich sind die sog. Transduktionsprozesse im visuellen System<br />
abhängig von der Stärke des Reizes: je geringer der Reiz, desto länger dauert<br />
es, bis er im Gehirn „ankommt“. Zudem gibt es bei unterschiedlich entfernten<br />
Reizquellen unterschiedliche „Laufzeiten“ für visuelle, auditive <strong>und</strong><br />
olfaktorische Informationen. Zur Aufbau von Realität muss ein spezielles<br />
zentralnervöses Programm verfügbar sein, das aus zeitlich <strong>und</strong> räumlich verteilten<br />
Informationen ein zentrales <strong>Bild</strong> gestaltet. Die Integration von derart<br />
unterschiedlichen Systemzuständen gelingt durch Motorik, d.h. Bewegungsentwürfen<br />
<strong>und</strong> Bewegungen selbst, die ein wesentlicher Bestandteil der Verarbeitung<br />
unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen sind.<br />
• Rudimentäre Repräsentation von Motorik: Da in virtuellen Umgebungen<br />
die motorischen Möglichkeiten unterrepräsentiert sind, fällt eine Integration<br />
der Sinneswahrnehmungen wesentlich schwerer. Gr<strong>und</strong>lage für die Domäne<br />
der Wahrnehmung ist die Fähigkeit, Bewegungen zu erkennen. <strong>Bild</strong>geschehen<br />
kann dann nicht mehr erkannt werden, wenn Objekte, die sich im<br />
<strong>Raum</strong> bewegen nicht verfolgt werden können. Gr<strong>und</strong>lage hierfür sind sog.<br />
„Konstanzmechanismen“ im Gehirn, die die Identität eines einmal erfassten<br />
Gegenstandes über die Zeit bewahren (Farbkonstanz, Größenkonstanz, Objektpermanenz).<br />
Für die Simulation von Realität ist das Primat der Bewegungserkennung<br />
von f<strong>und</strong>amentaler Bedeutung: Bewegungen müssen in<br />
echtzeit <strong>und</strong> stufenlos simuliert werden, damit sie dem Gr<strong>und</strong>bedürfnis der<br />
visuellen Wahrnehmung entsprechen.<br />
• Möglichkeit der parallelen <strong>und</strong> sequenziellen Informationsverarbeitung<br />
beim bewussten Erleben: Jede einzelne Nervenzelle ist maximal nur vier Zwischenschritte<br />
(die durch die Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen<br />
repräsentiert sind) von jeder anderen Nervenzelle entfernt. Diese „strukturelle<br />
Nähe“ bedeutet, dass jede lokale Informationsverarbeitung durch andere<br />
Bereiche im Gehirn, die jeweils andere Aspekte von Informationen repräsentieren,<br />
beeinflusst werden kann. Diese Gehirnarchitektur impliziert eine<br />
„massivst parallele“ (Pöppel/Burda 1999: 86) Informationsverarbeitung <strong>und</strong><br />
ist prinzipiell verschieden von der Funktionsweise von Computern. Zudem<br />
verarbeitet das Gehirn Informationen sequentiell, z.B. bei der Steuerung von<br />
Bewegungsabläufen.<br />
Die Frage, welche Inhalte der Realität bewusst erlebt werden, ist insofern von größter<br />
Bedeutung als hiermit die Randbedingungen für eine erfolgreiche Simulation<br />
von Realität festgelegt werden. Nur solches kann akzeptabel simuliert werden,<br />
was auch bewusst erlebt wird. Auch für die lern- <strong>und</strong> Gedächtnisdomänen ist das<br />
modulare Prinzip der Informationsverarbeitung bezüglicher einer akzeptablen<br />
Simulation in der VR von elementarer Bedeutung. Die bildgebenden Verfahren<br />
(PeT, MeG, fMRI) der neurowissenschaftlichen Forschung haben als zentrales<br />
Ergebnis erbracht, dass jeder mentale Akt, durch eine gleichzeitige Aktivität mehrerer<br />
neuronaler Module gekennzeichnet ist. Gr<strong>und</strong>legend ist bei der Simulation<br />
149
STeFAN SelKe<br />
von VR ist deshalb, dass es nicht nur hinreichend ist, eine eindimensionale sensorische<br />
Welt zu simulieren, sondern die parallelen <strong>und</strong> modularen Verarbeitungsprinzipien<br />
des Gehirns zu berücksichtigen. jede technische entwicklung muss<br />
eingebettet bleiben in die Gr<strong>und</strong>struktur menschlicher erfahrungsmöglichkeiten,<br />
so wie sie durch biologische Determinanten vorgegeben sind. ein wichtiges Kriterium<br />
der einpassung neuer Technologien ist die Befriedigung des ästhetischen<br />
Sinnes. Dies wird unter dem Stichwort „neuronale Ästhetik“ diskutiert.<br />
Insgesamt spannt sich ein Forschungsfeld auf, bei dem es darum gehen muss,<br />
zu verstehen, wie virtuelle Umgebungen „angenehm“ für Nutzer sind, wie ein<br />
irritationsfreier, möglichst stufenloser „Übergang“ zwischen Realsituationen<br />
<strong>und</strong> virtuellen Umgebungen zu erzielen ist <strong>und</strong> wie die sensorischen <strong>und</strong> motorischen<br />
Bedingungen des Nervensystems möglichst optimal simuliert werden.<br />
Dazu gehört auch das Setzen von „Markierungen“, die es dem Nutzer jederzeit<br />
ermöglichen, zu entscheiden, ob er sich in der VR oder der R befindet.<br />
6 Schlussfolgerungen für das VERTEX-Projekt<br />
Für das positive erleben virtueller Umgebungen <strong>und</strong> einen angenehmen Übergang<br />
in die Ve sind wesentlich:<br />
• möglichst konsistente, multimodale sensorischen Bedingungen, also eine<br />
vollständige Ansprache <strong>und</strong> eine möglichst unproblematische Integration<br />
aller Sinneskanäle;<br />
• eine möglichst hohe Aufgabenrelevanz zur Steigerung des Flowerlebens;<br />
• eine Erhöhung der situativen Relevanz des Nutzungskontextes zur Steigerung<br />
der motivationspsychologischen Randbedingungen;<br />
• eine Instruktionsvariante, die Probanden in eine intensive situative Umgebung<br />
mit hoher Erlebnisqualität versetzt;<br />
• Möglichkeit zur Verfolgung von Bewegungsabläufen zur Steigerung des Realitätsbewusstseins;<br />
• Nutzung anthropomorphisierte Kommunikationsformen zur Steigerung des<br />
<strong>Interaktion</strong>sgrades<br />
• Anfrage von Wahrnehmungsinhalten ohne Bruch der Rationalitätsform während<br />
der Anwesenheit in virtuellen Testumgebungen<br />
Die Untersuchung der relevanten Schnittstellen erbrachte folgende erkenntnisse,<br />
die in weiteren Arbeiten systematisiert <strong>und</strong> umgesetzt werden müssen. Wesentlich<br />
für die Akzeptanz, den Wohlfühlfaktor <strong>und</strong> damit die Effizienz der Transferleistungen<br />
einer virtuellen Testumgebung ist die ökologische Validität. Diese<br />
150
kann erhöht werden, wenn die bilogischen Bedingungen des erlebens virtueller<br />
Realität sowie situative Bedingungen beachtet <strong>und</strong> gegenüber den technischen<br />
Determinanten neu gewichtet werden.<br />
literatur<br />
Techniken der Sichtbarmachung<br />
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STeFAN SelKe<br />
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154
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
VeRTeX beta<br />
<strong>Bild</strong>wirkungsmessung durch Wahrnehmungssimulation<br />
VeRTeX beta ist ein empirischer Plakatwirkungstest im virtuellen <strong>Raum</strong>. es stellt<br />
eine interdisziplinäre Verknüpfung von Medienwirkungsforschung <strong>und</strong> VR/Ve-<br />
Technologie dar. Dabei wurde das Experiment unternommen, eine bereits praxiserprobte<br />
Methode der Plakatwirkungsmessung in eine virtuelle Umgebung zu<br />
überführen. Das Verfahren des „Live-Plakat-Tests“ von MWResearch (Hamburg)<br />
wurde dazu in den dreidimensionalen <strong>Raum</strong> übertragen. Gr<strong>und</strong>lage ist ein virtuelles<br />
Stadtmodell, in dem sich Probanden bewegen <strong>und</strong> dabei die Blickrichtung<br />
interaktiv steuern. Ziel ist die Steigerung der Simulationsqualität im Vergleich<br />
zum vorliegenen „Life-Plakat-Test“, bei dem die Probanden lediglich zweidimensionale<br />
Stadtszenerien in Form einer Power Point Präsentation als visuelle Stimuli<br />
erhalten. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob sich durch die gesteigerte<br />
Wahrnehmungsintensität des Stadtr<strong>und</strong>gangs in einer virtuellen Umgebung auch<br />
eine präzisere Bestimmung der Plakatwirkung erzielen lässt, die den technischen<br />
<strong>und</strong> organisatorischen Aufwand rechtfertigt. 1<br />
1 Vgl. dazu den Beitrag „Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum Pretesting von Messeständen<br />
im Rahmen von Erlebnismarketing“ von Karina Mies <strong>und</strong> Fernando Saal in diesem Arbeitsbericht.<br />
157
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
Getestet wird die Wirkung von Werbemitteln <strong>und</strong> Werbeträgern. Im Mittelpunkt<br />
stehen dabei Wirkungen im langzeitspeicher des Gedächtnisses, also die kognitive<br />
Verarbeitung visueller Reize. Wirkungen im Kurzzeitspeicher (Wahrnehmungsselektion,<br />
spontane Reaktionen, Anmutung <strong>und</strong> Aktivierung) sollen nicht<br />
erhoben werden. Der Wirkungstest basiert auf einem Recall-/Recognitiontest.<br />
Dabei soll eine Messung der Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> lernprozesse sowie der Herausbildung<br />
eines Images geleistet werden. 2 Die Folgenden Ausführungen beziehen<br />
sich auf Plakattests in virtuellen Testräumen, sind aber prinzipiell auch auf<br />
andere Testinhalte übertragbar. 3<br />
1 Testhypothesen<br />
ein Testplakat wird immer im Vergleich zu einem Kontrastplakat getestet. Daneben<br />
kommen im Modell Umfeldplakate vor, die eine natürliche Plakatierungsdichte<br />
i simulieren. Die Hypothesen für den Test lauten wie folgt:<br />
(H1) Wenn sich bei der Mehrheit der Versuchspersonen (Vp) höhere erinnerungswerte<br />
(Recall) bei einem Plakat in Abgrenzung zu einem anderen<br />
feststellen lassen, so ist davon auszugehen, dass dieses Plakat „wirkungsmächtiger“<br />
ist.<br />
(H2) Wenn sich bei der Mehrheit der Versuchspersonen (Vp) höhere Wiedererkennungswerte<br />
(Recognition) feststellen lassen, ist davon auszugehen, dass<br />
dieses Plakat „wirkungsmächtiger“ ist.<br />
(H3) Wenn sich bei der Mehrheit der Versuchspersonen (Vp) ein positiveres<br />
Image (gemessen an der Beurteiler visueller <strong>und</strong> verbaler Inhalte) feststellen<br />
lässt, ist davon auszugehen, dass dieses Plakat besser akzeptiert wird.<br />
(H4) Höhere Recall-, Recognition- <strong>und</strong> Imagewerte, die in der virtuellen Testumgebung<br />
festgestellt werden, lassen darauf schließen, dass sich das zugehörige<br />
Plakat auch in realen Umgebungen gegenüber Konkurrenzplakaten<br />
durchsetzen kann.<br />
VeRTeX beta stellt eine Weiterentwicklung eines einfachen Testmodells dar. Die<br />
Verbesserungen gegenüber VeRTeX lassen sich wie folgt beschreiben: 1. einsatz<br />
eines optimierten Testmodells, 2. Hinzunahme dynamischer Bewegungsformen<br />
(Straßenbahn), 3. Intuitivere Navigation, 4. Bessere Plakatierung. 4<br />
2 Vgl. dazu den Beitrag „Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann. Voraussetzungen empirischer<br />
<strong>Bild</strong>wirkungsforschung“ von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />
3 Vgl. dazu den Beitrag „Wirkungsmessung von Erlebniswelten – Konzeptionelle <strong>und</strong> methodologische<br />
Überlegungen zu zukünftigen Projekten“ von Daniel Fetzner <strong>und</strong> Stefan Selke in diesem<br />
Arbeitsbericht.<br />
4 Vgl. den Beitrag „Umsetzung von VERTEXbeta“ von Andreas Filler <strong>und</strong> Stefanie Strubl in diesem<br />
Arbeitsbericht.<br />
158
2 Testmodell <strong>und</strong> Testdurchführung<br />
VeRTeX beta<br />
Die Testumgebung besteht aus einem virtuellen Stadtmodell, in dem sich eine<br />
Vp in einem/einer Stadtr<strong>und</strong>gang/-r<strong>und</strong>fahrt mit eingeschränkter Interaktivität<br />
bewegen kann. Die virtuelle Testumgebung hat zum Ziel, natürliche Wahrnehmungssituationen<br />
zu simulieren <strong>und</strong> dabei möglichst viel Varianz zu erzeugen,<br />
d.h. möglichst viele natürliche Wahrnehmungskontexte zuzulassen. Natürliche<br />
(biotische) Wahrnehmungskontexte bedeutet: 1. Möglichst unverzerrte, d. h. alltägliche<br />
Wahrnehmungsformen (Alltagsprämisse), 2. Möglichst verschiedene<br />
Wahrnehmungsmodi (Heterogenitätsprämisse). 5 Dabei kommt es vor allem auf<br />
eine möglichst gute Idealisierung der in der Realität vorkommenden Wahrnehmungssituationen<br />
an. Wichtigstes Kriterium für die Modellierung <strong>und</strong> Programmierung<br />
des Testmodells ist daher die Plausibilität <strong>und</strong> Widerspruchsfreiheit,<br />
d.h. es dürfen keine Irritationen für die Vp aufkommen. Der Realitätsgrad sollte<br />
diesem Kriterium entsprechen, stellt jedoch kein Selbstzweck dar.<br />
Für die Testrahmung gilt ebenfalls die Alltagsprämisse. Die Vp muss eine Testlegende<br />
erhalten, die einer Alltagssituation entspricht. Eine „touristische“ Stadtführung<br />
entspricht dieser Prämisse nicht, da sich hierbei typischerweise eine andere,<br />
selektive Wahrnehmung einstellt, die einem Sonderfall von Wahrnehmung entspricht.<br />
Die Testrahmung muss zwei Bedingungen erfüllen:<br />
(B1) Standardisierung: jede Vp muss sich auf möglichst ähnlichen Wegen durch<br />
das Testmodell bewegen. Hintergr<strong>und</strong>: Nur dann kann man testtheoretisch<br />
davon ausgehen, dass vergleichbare „Kontaktchancen“ mit dem Testplakat<br />
<strong>und</strong> den Kontrast- <strong>und</strong> Umgebungsplakaten bestehen.<br />
(B2) Variabilität: jede Vp darf eingeschränkte Freiheitsgrade in Bezug auf Bewegungsrichtung,<br />
Bewegungsrythmus <strong>und</strong> Blickrichtung umsetzen, muss<br />
dies aber nicht. Hintergr<strong>und</strong>: Der Test soll eine möglichst vollbiotische<br />
Wahrnehmungssituation simulieren.<br />
B1 <strong>und</strong> B2 widersprechen sich prinzipiell! Daher muss ein möglichst guter Kompromiss<br />
zwischen notwendiger Standardisierung <strong>und</strong> zugelassener Variabilität<br />
gef<strong>und</strong>en werden. Für die Testdurchführung eignet sich am besten folgendes<br />
Szenario:<br />
• Die Einführung der Vp erfolgt als Ansprache aus dem Off durch eine objektive<br />
Erzählerstimme („Märchenonkel“) direkt im MediaLab. Mittels einiger<br />
erklärender Kommentare wird die Vp sowohl in die Testumgebung wie auch<br />
in die Testlegende einleitet: „Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf Ihrem<br />
täglichen Weg zur Arbeit […]“.<br />
5 Vgl. den Beitrag „Techniken der Sichtbarmachung. Nutzungsbedingungen virtueller Testräume“<br />
von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />
159
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
• Die Überleitung in den eigentlichen Test erfolgt durch visuelle/akutische<br />
Überblendungen, d.h. langsam baut sich die virtuelle Stadtumgebung um<br />
die Vp auf.<br />
• Die Vp startet den täglichen Weg zur Arbeit am Bahnhof. Zu Beginn des<br />
Tests bekommt sie ein klar definiertes Ziel im Stadtmodell genannt. Dort<br />
soll sich, so die Testlegende, ihr Arbeitsplatz befinden. Sie wartet auf eine<br />
Straßenbahn, steigt ein, fährt eine Station, steigt dann aus.<br />
• Die Vp, die ja den Weg nicht kennt, navigiert, indem sie durch autosuggestive<br />
Stimmen aus dem Off geleitet wird, d.h. es gibt keine Markierungen auf dem<br />
Boden <strong>und</strong> nur dort Schilder (z.B. Wegweiser zum Bahnhof), wo sich in der<br />
Realität welche befinden.<br />
• Zu Beginn des Tests, kündigt der objektive Erzähler diese „innere Stimme“<br />
an, die der Navigation dient: „Sie kennen das ja, das ist wie ein Selbstgespräch…“.<br />
Zu Beginn erwähnt die innere Stimme eher triviale Inhalte ohne<br />
Bezug zur Navigation (z.B. zum Wetter, zur Tageszeit etc.)<br />
Die anschließende Befragung dient dazu, die Hypothesen H1-H3 zu überprüfen.<br />
Sie unterteilt sich in einen ungestützten <strong>und</strong> einen gestützten Frageteil.<br />
3 Qualitative <strong>und</strong> quantitative Ergebnisses des Pretests<br />
Die Methode <strong>und</strong> Versuchsanlage VeRTeX beta wurde experimentell anhand des<br />
<strong>Bild</strong>samples der Agenda 2010 (Warum?Darum!)-Kampagne im Rahmen eines<br />
Pretests erprobt. Insgesamt testeten n=15 Personen (8 männliche, 7 weibliche) die<br />
Versuchsanordnung. Diese rekrutierten sich aus Studierenden des Fachbereichs<br />
Digitale Medien der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> (FHF) selbst (n=9), sowie aus Studierenden<br />
der Fachhochschule Villingen Schwenningen (FHPol) (n=6).<br />
Neben soziodemografischen Angaben wurde in der anschließenden Online-Befragung<br />
auch nach der Computeraffinität bzw. nach Vorerfahrungen mit VR-<br />
Technologien gefragt. Die Technikkompetenz muss im Kontext eines virtuellen<br />
Wirktests als moderierende Variable aufgefasst werden. Zwischen der Testgruppe<br />
FHF <strong>und</strong> der Testgruppe FHPol zeigten sich erwartungsgemäß gravierende Unterschiede.<br />
Die Studierenden des Fachbereichs Digitale Medien waren wesentlich<br />
technikaffiner.<br />
160
Abb. 1: Pretestergebnisse<br />
A B C<br />
Note 3,7 1,4 3,3<br />
„Wie gefällt Ihnen dieses Plakat insgesamt?“<br />
Der Pretest erbrachte deutliche ergebnisse bezüglich der Messbarkeit unbewusster<br />
visueller Wahrnehmung, zeigte aber auch, dass noch weitere entwicklungsarbeit<br />
auf der technischen ebene notwendig sein wird. Die wichtigsten ergebnisse<br />
werden im Folgenden knapp skizziert.<br />
Die Versuchsanordnung VeRTeXbeta eignet sich sehr gut dazu, die Kontexterinnerung<br />
an Inhalte des virtuellen Stadtmodells zu quantifizieren. Dominante architektonische<br />
Inhalte des 3D-Modells wurden von allen Probanden verlässlich<br />
erinnert. Durch die relativ hohe, unnatürliche, Plakatdichte, stellte die Kontexterinnerung<br />
von Plakaten insgesamt kein Problem dar. Zu beobachten war auch<br />
das selbstständige Auffüllen von erinnerungslücken mit Hilfe der So<strong>und</strong>einspielungen<br />
oder assoziative erinnerungen, d.h. einige Probanden gaben an, Dinge<br />
gesehen zu haben, die im Modell nicht visuell, aber akustisch existierten. Oder<br />
sie erinnerten sich an ähnliche Dinge, z.B. an Taxis oder Busse, obwohl sich im<br />
Stadtmodell nur Autos bewegten.<br />
n=25<br />
VeRTeX beta<br />
Gut ein Drittel der Probanden (n=6) erinnerte sich bei der Abfrage von Werbekategorien<br />
auch an Politikplakate. Damit konnte nachgewiesen werden, dass mit<br />
der Versuchsanordnung trennscharf zwischen Plakatkategorien unterschieden<br />
werden kann. Das eigentliche Testplakat erinnerten in der ungestützten, verbale<br />
stimulierten Abfrage allerdings nur n=3 Testpersonen. Dies bedeutet, dass für einen<br />
praxisorientierten Einsatz von VERTEX beta entweder mit großen Probandenzahlen<br />
gearbeitet werden muss, um genügend verwertbare Aussagen zu einem<br />
Testplakat zu erhalten. Dies ist in pragmatischer einstellung kaum möglich. Das<br />
ergebnis kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass die Abfrage des Testplakats<br />
auf diese Weise nicht operabel ist. Auf die ergebnisse der gestützten Abfragen<br />
zum Testplakat wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen, da damit keine<br />
Fragen virtueller Testumgebungen berührt werden.<br />
Das subjektive Empfinden der Probanden in der virtuellen Testumgebung war<br />
zwar von einigen individuellen Varianzen überlagert, zeigt aber dennoch ein ein-<br />
161
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
heitliches, aussagestarkes <strong>Bild</strong>. Alle Kritikpunkte beziehen sich auf die Ausgestaltung<br />
<strong>und</strong> Funktion des Teststadtmodells. Auffallend war erstens die unnatürliche<br />
Plakatdichte. Daneben gab es ein Bündel von weiteren Faktoren, die den eindruck<br />
von Unnatürlichkeit verstärkten: fehlende Dynamik, Abwesenheit von Menschen,<br />
Probleme mit der So<strong>und</strong>anpassung, d.h. Inkongruenzen mit der optischen Wahrnehmung<br />
sowie, als eigener Themenkomplex, die stark eingeschränkten interaktiven<br />
Steuerungsmöglichkeiten. Insgesamt können aus dem ungestützten Teil<br />
des Pretests folgenden Schlussfolgerungen – als Zielvorgaben formuliert – gezogen<br />
werden:<br />
• Virtuelle Stadtszenarien eigenen sich für Plakatwirkungstest. Allerdings<br />
müssen dazu bestimmte eigenschaften der Ve optimiert werden.<br />
• Die virtuelle <strong>Raum</strong>kulisse, gerade auch in der audio-visuellen Kombination,<br />
darf bei Probanden keine Irritationen erzeugen, da sonst der Simulationseindruck<br />
schon durch kleinste dissonante Details verloren geht.<br />
• Das Bewegungsverhalten der Probanden muss sich natürlichen Bewegungsabläufen<br />
besser anpassen.<br />
• Die Qualität <strong>und</strong> Intensität der Abfrage unbewusster Wahrnehmungseindrücke<br />
ist abhängig von der Art <strong>und</strong> Weise der Abfrage <strong>und</strong> sollte möglichst ohne<br />
Wechsel des Mediums <strong>und</strong> der Rationalitätsform erfolgen. Hierzu sind auch<br />
neueste Kenntnisse der emotionalen Neuroökonomie zu beachten. Durch<br />
die Art der Abfrage darf keine unwillentliche Aufmerksamkeitsverstärkung<br />
erfolgen.<br />
• Die Abfrage der Impactwerte der eigentlichen Testplakate ist durch eine<br />
Mehrebenenabfrage realitätsnah zu operationalisieren. Neben subjektiven<br />
Selbsteinschätzungen sollte eine Kontrolle der Körperfunktionen <strong>und</strong> eine<br />
Aufzeichnung der Bewegungsabläufe <strong>und</strong> Mimik erfolgen. Damit wird neben<br />
der Messung der Aufmerksamkeitsstärke auch die Dokumentation der<br />
Aufmerksamkeitsverteilung sichergestellt.<br />
4 Definition problematischer Schnittstellen beim Einsatz von VR am<br />
Beispiel von VeRTeX beta<br />
Der Pretest zeigte neben einigen Detailergebnissen zwei gr<strong>und</strong>sätzliche Schnittstellen<br />
auf, die bei weiteren Forschungsarbeiten berücksichtigt werden müssen.<br />
Die erste Schnittstelle bezieht sich das problematische Verhältnis von realer Testumgebung<br />
(labor) <strong>und</strong> virtuellem Testszenario. Im Mittelpunkt steht dabei die<br />
Frage, wie die Probanden stress- <strong>und</strong> konfliktfrei von einer Umgebung in die<br />
162
andere überwechseln können. 6 Davon ist aber auch die Frage berührt, was überhaupt<br />
in einer VR-Umgebung wahrgenommen werden kann <strong>und</strong> welche Inhalte<br />
letztendlich wieder in einer realen Umgebung abgerufen werden können. Im engeren<br />
Sinne müssen also im Kontext des VERTEX beta -Projekts folgende Fragen<br />
bearbeitet werden.<br />
• Welche Testmerkmale sind „probandenfre<strong>und</strong>lich“? Dabei müssen die Komponenten<br />
a) Testinstruktion, b) technische Testmerkmale <strong>und</strong> c) mediale<br />
Testgestaltung berücksichtigt werden.<br />
• Wie können die Probanden am besten auf die VR-Erfahrung vorbereitet <strong>und</strong><br />
dabei begleitet werden?<br />
Insgesamt kann in VeRTeX beta eine wegweisende Plattform gesehen werden, die<br />
sich sowohl für experimentelle Untersuchungen der Effekte virtuellen Erlebens<br />
als auch für anwendungsbezogene, medienpsychologische Studien eignet.<br />
6 Vgl. dazu den Beitrag „Translocation“ von Daniel Feuereissen <strong>und</strong> Daniel Fetzner in diesem<br />
Arbeitsbericht.<br />
VeRTeX beta<br />
163
ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />
Umsetzung von VeRTeX beta<br />
1 einleitung<br />
Im Rahmen der Wahlpflichtveranstaltung e-space wurde im Wintersemester<br />
2005/06 an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University eine Methode entwickelt, um<br />
die Wirkung von Plakaten mit Hilfe einer virtuellen Stadtumgebung erforschen<br />
zu können (vgl. Strubl 2005: 2). Diese Arbeit diente dem Ziel, den Forschungsansatz<br />
VERTEX (Virtual Environment Recall Test Experiment) durch die Weiterentwicklung<br />
eines bereits bestehenden Modells aus dem Sommersemester 2005<br />
(Slawinski 2005: 10ff.). Dazu gehörte das Konzept eines Testablaufs. Der vorliegende<br />
Beitrag stellt die neu entwickelte Test-Dramaturgie sowie deren technische<br />
Umsetzung im Rahmen der Veranstaltung vor.<br />
165
ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />
2 Konzeption<br />
entwicklung des Testfalls<br />
Neben der Optimierung des Testmodells selbst sollte auch die Navigation im Testmodell<br />
verbessert werden. Das Hauptaugenmerk lag bei VeRTeX beta vor allem auf<br />
der Annäherung des Testszenarios an die Realität. Die in den Tests gewonnenen<br />
Ergebnisse sollten möglichst „wirklichkeitsnah“ sein. 1<br />
Hierfür war es wichtig, dem Probanden einerseits eine Aufgabe in der virtuellen<br />
Szenerie zu geben, welche ihn wie in der Realität in den Zustand der unbewussten<br />
Wahrnehmung von Werbeträgern versetzt, ihn aber anderseits auch derart auf<br />
der geplanten Strecke durch die Testumgebung zu lotsen, ohne dass dieser das<br />
Gefühl bekommt, die Strecke sei ihm vorgeschrieben.<br />
entwicklung einer Dramaturgie<br />
Der erste Punkt wurde durch eine fiktive Hintergr<strong>und</strong>-Geschichte erreicht, welche<br />
den Probanden mit einer vom eigentlichen Forschungsziel unabhängigen<br />
Aufgabe in die 3D-Szenerie der Münchner Innenstadt versetzt. Mit der Hintergr<strong>und</strong>-Information,<br />
dass die Münchner Verkehrsbetriebe eine neue Methode erproben<br />
wollen, bei der eine Statistik über die innerörtlichen Wegzeiten von <strong>und</strong><br />
zu Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel erstellt werden soll, startete der<br />
Proband unvoreingenommen in Hinsicht auf Werbewirkungsanalysen in den<br />
Testlauf. Dieser „Ablenkungseffekt“ wurde durch eine fiktive Laufgeschwindigkeits-Messung<br />
vor dem Testlauf verstärkt. Der Proband wurde gebeten auf einem<br />
laufband zu gehen, um seine laufgeschwindigkeit für die VR-Umgebung zu ermitteln.<br />
Dies nahm der Testperson zu Beginn des Tests durch eine leichte, ablenkende<br />
Aufgabe einen Teil der Aufregung <strong>und</strong> erhöhte somit die Annäherung der<br />
ergebnisse an eine Alltagssituation.<br />
Steuerung der einheitlichkeit des laufweges<br />
Der zweite Punkt, das unbemerkte leiten des Probanden auf dem geplanten Testpfad,<br />
wurde durch eine objektive Erzählerstimme gelöst. Diese für den Probanden<br />
als eine Art „innere Stimme“ wahrgenommenen Einspielungen aus dem Off erläuterten<br />
ihm zuerst die zuvor geschilderte Situation beim einstieg in die Testumgebung.<br />
Bei der Navigation durch die virtuelle Welt meldete sie sich an relevanten<br />
Stellen wieder zu Wort <strong>und</strong> korrigierte somit die laufrichtung der Testperson.<br />
Hierfür wurden einfache Gedankensätze wie „Ah ja, hier muss ich nun links, ich<br />
will ja zum Bahnhof!“ eingesetzt. Des Weiteren wurde die 3D-Umgebung durch<br />
natürliche Hindernisse wie Absperrungen oder Sicherheitsgitter so entworfen,<br />
dass der Proband nicht mehr alle realen Wege zur Verfügung hatte.<br />
1 Vgl. dazu den vorherigen Beitrag in diesem Arbeitsbericht, in dem die Hypothesen näher erläutert<br />
werden.<br />
166
Um den gelaufenen Pfad bei möglichst allen Personen gleich zu halten, ohne<br />
die Testperson allzu sehr zu delegieren, wurde außerdem eine Straßenbahnfahrt<br />
in die Szenerie integriert. Während dieser Fahrt war die Bewegungsfähigkeit der<br />
Person auf das Drehen des Kopfes reduziert <strong>und</strong> die Straßenbahn fuhr die vordefinierte<br />
Strecke. Auf diese Weise wurde ein guter Kompromiss zwischen Standardisierung<br />
<strong>und</strong> Variabilität der wahrgenommenen Umgebung erreicht.<br />
Auswahl der Teststrecke<br />
Als 3D-Modell stand für VeRTeX beta ein Teil der Münchner Innenstadt als VR-<br />
Modell zur Verfügung. Um der Testperson eine breite Palette von Werbeformen<br />
<strong>und</strong> Wahrnehmungszeiten präsentieren zu können, wurde die Teststrecke in drei<br />
Teile aufgeteilt: 1. einige Meter Fußweg über den Karlsplatz (Stacchus) <strong>und</strong> durch<br />
eine Unterführung zur Straßenbahn, 2. eine Fahrt mit der Straßenbahn durch<br />
eine Geschäftsstraße <strong>und</strong> 3. ein paar Meter Fußweg am Münchner Hauptbahnhof.<br />
(vgl. Abbildung 1: Geplanter Parcour durch die Szenerie).<br />
Im ersten Streckenteil konnten Kleinplakate an Absperrungen <strong>und</strong> große Werbewände<br />
in der Straßenbahn-Unterführung angebracht werden. Außerdem konnte<br />
die Straßenbahn-Haltestelle, an welcher der Proband kurz angehalten wurde, um<br />
auf die Straßenbahn zu warten, mit Werbung versehen werden.<br />
Während der Straßenbahn-Fahrt hatte der Proband den Blick auf verschiedene<br />
Fronten von Geschäftshäusern sowie eines Kinos, welche im Vorbeifahren kurz<br />
wahrgenommen werden konnten. Am Bahnhof angekommen, musste der Proband<br />
zuletzt noch einen Fußgänger-Überweg überqueren <strong>und</strong> erreichte zuletzt<br />
den Bahnhofsplatz mit verschiedenen litfass-Säulen.<br />
Abb. 1: Plakatauswahl <strong>und</strong> Plakatierungs-Orte<br />
Umsetzung von VeRTeX beta<br />
167
ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />
Für den im Rahmen der Veranstaltung durchgeführten Pretest wurden Werbeplakate<br />
der Firma Nike gewählt. Den Kontrast stellte ein Plakat der Firma Addidas<br />
dar. Um die entworfene Szenerie der Münchner Innenstadt für verschiedene<br />
Tests einsetzen zu können, wurde für die Plakate ein Benennungs-Standard eingeführt.<br />
jedes Plakat wurde nach seiner Anbringungsart <strong>und</strong> Aufstellungsposition<br />
mit einem bestimmten Dateinamen benannt <strong>und</strong> alle Plakate wurden in einem<br />
speziellen Texturordner abgelegt. Beispielsweise wurde Litfass-Säule 1 immer mit<br />
der Textur L001.jpg bespielt. Somit war es durch Austauschen des Textur-Ordners<br />
sehr einfach, auch andere Testläufe in derselben Szenerie zu starten ohne diese<br />
selbst modifizieren zu müssen.<br />
Auswahl <strong>und</strong> einführung der Probanden<br />
Bei der Auswahl der Probanden sollte ein geeigneter Querschnitt erreicht werden.<br />
Als Problem stellte sich hierbei die unterschiedliche erfahrung im Umgang<br />
mit virtuellen Computer-Welten dar. Probanden mit hoher Computer-erfahrung<br />
hatten viel weniger Probleme mit Navigation <strong>und</strong> Immersion, so dass sie sich<br />
erheblich schneller durch die Szenerie bewegten. Als mögliche lösung könnte bei<br />
weiteren Testläufen die maximale Bewegungsgeschwindigkeit innerhalb der 3D-<br />
Welt an die Computerkenntnisse des Probanden angepasst werden. Die für den<br />
Pretest angeworbenen Probanden wurden am Testtag in 30-minütigen Abständen<br />
bestellt. Nach der fiktiven Geschwindigkeits-Messung am Laufband wurden die<br />
Probanden ins VR-labor geführt <strong>und</strong> dort mit der Steuerung des Systems <strong>und</strong><br />
der passiven 3D-Brille vertraut gemacht. Das einspielen der Stimme aus dem Off,<br />
welche die Situation kurz erläutert, startet den Testlauf.<br />
Überbrückung des Medienbruchs zwischen VR <strong>und</strong> Befragung<br />
Um den beim Vorprojekt VERTEX aufgetretenen Medienbruch nach dem virtuellen<br />
R<strong>und</strong>gang zu vermeiden, wurde der Proband bei VeRTeX beta direkt nach<br />
seinem R<strong>und</strong>gang noch im VR-labor befragt. Dies erfolgte über einen Dialog<br />
der Testperson mit der Stimme aus dem Off, welche den Probanden auch in die<br />
Szenerie eingeführt hat. Dies ermöglichte gute Befragungsergebnisse, da sich der<br />
Proband zwischen Test <strong>und</strong> Befragung nicht an eine neue Situation oder Ort anpassen<br />
musste.<br />
3 Technische Umsetzung<br />
eingesetzte Hardware<br />
Die in VeRTeX beta eingesetzt Hardware bestand zu allererst aus einem performanten<br />
PC mit Hochgeschwindigkeits-Grafikkarte. Diese generierte zwei perspektivisch<br />
leicht versetzte <strong>Bild</strong>er der 3D-Umgebung welche über zwei Projektoren<br />
auf eine Rückprojektionswand geworfen wurden. Über Polarisations-Filter<br />
168
vor den Linsen der Projektoren <strong>und</strong> eine passive Polarisations-Brille entstand für<br />
den Probanden somit ein drei-dimensionaler Blick in die Innenstadt Münchens,<br />
da jedes Auge das <strong>Bild</strong> von einem der beiden Projektoren wahrnahm.<br />
Des Weiteren stand dem Probanden ein Sockel mit einem joystick zur Verfügung,<br />
welcher einerseits für unerfahrene Testpersonen Halt bot <strong>und</strong> außerdem<br />
die Navigation durch die virtuelle Welt ermöglichte. Hierbei wurde bewusst auf<br />
einfachheit geachtet, um den Probanden nicht durch die Steuerung von seiner<br />
Aufgabe abzulenken. Der Ton sowie verschiedene Umgebungsgeräusche wurden<br />
über eine Mehrkanal-Musikanlage eingespielt welche, durch ihren <strong>Raum</strong>klang<br />
den immersiven effekt unterstütze. 2<br />
Modellierung in Maya<br />
Das Modell der Stadt München wurde mit der Software Maya (Maya 2007) für die<br />
3D-Umgebung vorbereitet. Das reine Gitternetz-Modell wurde mit abfotografierten<br />
Häuserfronten texturiert. Straßen, Gehsteige <strong>und</strong> Unterführungen wurden<br />
hinzugefügt. Um den Detailgrad zu erhöhen, wurden Dekorations-elemente wie<br />
Bäume <strong>und</strong> Zeitungsboxen eingefügt. Außerdem wurde der Weg durch natürliche<br />
Hindernisse wie Absperrungen abgesteckt. eine große Herausforderung bei der<br />
Modellierung für 3D-Darstellung in echtzeit war hierbei eine gute Kombination<br />
aus Performanz <strong>und</strong> Detailgrad zu finden. Außerdem mussten zum erfolgreichen<br />
Export in die 3D-Entwicklungs-Umgebung weitere für gerendertes 3D-Modelling<br />
nicht relevante Aspekte wie Normalenrichtung der Oberfläche beachtet werden.<br />
Realisierung in Virtools Dev<br />
Dieses 3D-Modell wurde hierauf in die 3D-entwicklungsumgebung Virtools Dev<br />
(Virtools 2005) importiert, welche neben der geringfügigen Manipulation der 3D-<br />
Daten vor allem die echtzeit-Darstellung <strong>und</strong> ereignis-Programmierung als Aufgabe<br />
hatte. Mit Virtools Dev wurden, wie im Folgenden detailliert beschrieben,<br />
die Navigationsskripte <strong>und</strong> Audio-ereignisse programmiert.<br />
Navigationsskripte als Building Blocks<br />
Umsetzung von VeRTeX beta<br />
Die Programmierung erfolgt in Virtools Dev auf visueller Basis durch so genannte<br />
Building Blocks. Diese Objekte mit bestimmten programmtechnischen Funktionen<br />
können ähnlich eines Schaltplans zu komplexen Abläufen <strong>und</strong> Regeln<br />
kombiniert werden. Durch verschiedene Controller Building Blocks wurde somit<br />
realisiert, dass der Proband die Welt mit Hilfe des bereits erwähnten joysticks<br />
durchlaufen kann.<br />
Beim ein- bzw. Aussteigen in/aus der Straßenbahn wurden die Möglichkeiten der<br />
2 Vgl. dazu den Beitrag „Environmental Scene Design – Räumliche Audiokulissen für immersive VR-<br />
Umgebungen“ von Rolf Gassner in diesem Arbeitsbericht.<br />
169
ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />
Navigation manipuliert <strong>und</strong> die Straßenbahn-Bewegung gestartet. Um all diese<br />
ereignisse (unabhängig von der Geschwindigkeit des Probanden) zum richtigen<br />
Zeitpunkt stattfinden zu lassen, wurden so genannte Trigger verwendet. Bei diesen<br />
handelte es sich um für die Testperson nicht sichtbare 3D-Quader welche bei<br />
Kollision mit dem Spieler bestimmte ereignisse auslösten.<br />
Audio-ereignisse auf Gegenständen <strong>und</strong> durch Kollisionen<br />
Um die virtuelle Welt möglichst real erscheinen zu lassen, wurde versucht, möglichst<br />
viele Sinne mit einzubeziehen. 3 Daher wurden verschiedene 3D-Objekte in<br />
der Welt mit Geräuschen versehen die der Proband wahrnehmen konnte, wenn<br />
er sich näherte. Wie bereits zuvor beschrieben, wurden über diesselbe Methode<br />
wurden durch Trigger der Testperson auch die Sprach-Informationen zur Wegfindung<br />
eingespielt. Zur Sicherheit wurden auch in den Randbereichen der Szenerie<br />
Trigger erstellt die den Probanden zum Umdrehen bewegen sollten.<br />
Starten des Testlaufes mit Virtools VR<br />
Die Vollbild-Präsentation der Szenerie in der bereits beschriebenen 3D-Darstellung<br />
über zwei Projektoren übernimmt bei Virtools das VR-Pack. Dieses kann<br />
über verschiedene Konfigurations-Dateien an die Hardware-Umgebung angepasst<br />
werden <strong>und</strong> erlaubt einen wiederholten Ablauf der 3D-Szenerie durch einfaches<br />
Doppelklicken. Dies ermöglicht die einfache Widerverwendbarkeit der Szenerie<br />
ohne größere Anpassungen.<br />
literatur<br />
STRUBl, S. (2005): VeRTeX beta – Dokumentation Gruppe „Konzeption“. <strong>Furtwangen</strong>.<br />
SlAWINSKI, A. (2005): VeRTeX beta Forschungsprojekt Medien – Leveldesign<br />
– Arbeitsbericht <strong>und</strong> Dokumentation. <strong>Furtwangen</strong>.<br />
links<br />
MAYA (2007): Autodesk Maya - Produktinformation<br />
http://www.autodesk.de/adsk/servlet/index?siteID=403786&id=8800342<br />
(Zugriff am 14.03.2007)<br />
VIRTOOlS (2005): What‘s New with Virtools Dev 3.5.<br />
http://www.virtools.com/solutions/products/virtools_dev_new3_5.asp<br />
(Zugriff am 16.08.2005)<br />
3 Vgl. hierzu den Beitrag „Techniken der Sichtbarmachung. Nutzungsbedingungen virtueller Testräume“<br />
von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />
170
DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />
Translocation<br />
Irgendwie dazwischen fühlt man sich, wenn man weggegangen, aber am Ziel<br />
noch nicht angekommen ist. Wo <strong>und</strong> in welchem Vorstellungsraum befindet sich<br />
der Kinobesucher, wenn das licht ausgeht <strong>und</strong> der Film beginnt oder wenn das<br />
Telefon klingelt <strong>und</strong> man zum Hörer greift? Die Verwendung solcher mentaler<br />
Zwischenräume für die empirische Wahrnehmungsforschung war Gegenstand<br />
von TransLocation, einem Studienprojekt 1 der Fakultät Digitale Medien in Kooperation<br />
mit dem Max Planck Institut in Tübingen (MPI). Ziel war die Erstellung einer<br />
Toolbox, um die Übergänge aus dem realen Versuchsraum des neu eröffneten<br />
Cyberneums in virtuelle Umgebungen für Probanden möglichst unmerklich zu<br />
gestalten. Hierfür wurde getestet, ob der Einsatz von filmischen Montagetechniken<br />
<strong>und</strong> die Verwendung von transitorischen Räumen innerhalb einer virtuellen<br />
Umgebung Einfluss auf das Präsenzgefühl einer Versuchsperson haben.<br />
Die Ausgangsthese von Translocation war, dass <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> Zeiterfahrungen aus<br />
alltäglichen Warte- <strong>und</strong> Übergangssituationen genutzt werden können, um das<br />
Präsenzgefühl in virtuellen Umgebungen zu erhöhen.<br />
1 Projektteilnehmer waren Jan Brune, Daniel Feuereissen, Christian Jakob, Christian Rengers, Patrick<br />
Sauer, Christoph Scheidtmann <strong>und</strong> Jonas Schweizer. Projektbetreuung: Daniel Fetzner <strong>und</strong> Stefan<br />
Selke (HFU) sowie Bernhard Riecke (MPI)<br />
173
DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />
„Virtual Reality ist die Angleichung des <strong>Bild</strong>es an die Imagination“<br />
lambert Wiesing<br />
Zunächst erfolgte die Analyse von Passagenräume wie Wartehallen, Flure <strong>und</strong><br />
Aufzüge, die aus dem Alltag bekannt sind. Dann wurden alternative Übergänge<br />
von dem realen Versuchsraum in virtuelle Umgebungen konzipiert <strong>und</strong> praktisch<br />
umgesetzt. In Versuchsreihen wurde an Probanden getestet, wie diese im<br />
Vergleich zueinander <strong>und</strong> im Vergleich zu einem Szenario ohne Übergang abschneiden.<br />
Die Testpersonen wurden vor <strong>und</strong> nach dem Versuch zu ihren erlebnissen<br />
<strong>und</strong> erfahrungen per Gespräch <strong>und</strong> Fragebögen interviewt. Für das<br />
Testing wurde mit der 3D-Software Virtools eine Toolbox erstellt, mit der frei zu<br />
gestaltende Übergänge in Echtzeit simuliert werden können. Mit dieser Toolbox<br />
kann dann das MPI für seine eigenen Versuchsreihen in dem neu eröffneten VRlabor<br />
Cyberneum in Tübingen unter erleichterten Bedingungen Versuche mit<br />
verschiedenen Szenarien durchführen. Getestet wurde die Toolbox exemplarisch<br />
mit Probanden im Medialab der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, wo auch der gesamte<br />
Versuchsablauf einschliesslich Befragung <strong>und</strong> Auswertung der erhobenen Daten<br />
stattfand. Dabei standen folgende Fragestellungen im Vorderg<strong>und</strong>:<br />
• Was ist „Präsenzgefühl“, wie kann es gemessen werden <strong>und</strong> wie können erhobene<br />
Daten ausgewertet/interpretiert werden?<br />
• Hat ein Übergang, der von einem realen <strong>Raum</strong> in einen virtuellen führt (<strong>und</strong><br />
vice versa), einen Einfluss auf das Präsenzgefühl der Probanden?<br />
• Wie sieht ein valider Versuchsaufbau/Versuchsablauf aus, der die zu messenden<br />
Daten nicht verzerrt?<br />
• Welche technischen Mittel kommen zum Einsatz?<br />
• Wie sollen die Szenarien aussehen?<br />
Vorgehen<br />
Zunächst recherchierten wir bisherige Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Versuche mit<br />
VR, Cybersickness, visuelle <strong>und</strong> auditive Wahrnehmung, Psychologie <strong>und</strong> Bewusstseinszuständen,<br />
Architektur <strong>und</strong> Installationskunst sowie Datenerhebung.<br />
Mit dem erworbenen Wissen wurden verschiedene Testszenarien konzipiert, ausgearbeitet<br />
<strong>und</strong> in das bestehende VR-System des Medialabs integriert.<br />
174
Testaufbau <strong>und</strong> Durchführung<br />
Ziel unseres VR-Versuches war es zu untersuchen, ob filmische Montagetechniken<br />
bzw. transitorische Räume innerhalb einer virtuellen Umgebung Einfluss<br />
auf das Präsenzgefühl einer Versuchsperson haben. Gemessen wurde dieses anhand<br />
einer offenen Befragung <strong>und</strong> dem IPQ Fragebogen 2 , um die ergebnisse an<br />
Standardinstrumenten abgleichen zu können.<br />
Situative Vorgabe<br />
Die von uns verwendete Simulationsumgebung war der des Max-Planck-Instituts<br />
in Tübingen sehr ähnlich. Sie bestand aus einem HMD (Head Mounted Display),<br />
einem Kopftracking-System, einem Kopfhörer, einem Keypad <strong>und</strong> einem gut dimensioniertem<br />
Testrechner. Diese technische Ausstattung ermöglicht es, eine<br />
immersive virtuelle Umgebung darzustellen. Die Versuchsperson saß auf einem<br />
Stuhl <strong>und</strong> konnte nur die Perspektive der Kamera durch Kopfbewegung über das<br />
Tracking-System ändern, der Pfad der Fortbewegung war festgelegt. es kamen<br />
zwei unterschiedliche Test-Szenarien zum einsatz.<br />
SZeNARIO 1 bestand aus einem untexturierten Modell des MediaLabs in <strong>Furtwangen</strong>,<br />
das die Versuchsperson als erstes zu sehen bekam. Wir gingen davon<br />
aus, dass zwischen dem realen <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> dem nachgebildeten <strong>Raum</strong> nach kurzer<br />
Zeit eine Wiedererkennung stattfindet. Nach einer festgelegten Zeit wurde die<br />
Versuchsperson aufgefordert, den Übergang selbst durch Knopfdruck auf dem<br />
Keypad auszulösen, damit jede Versuchsperson etwa die gleiche Zeit in der virtuell<br />
simulierten laborumgebung verbringt. Nach dem Durchwandern des transitorischen<br />
<strong>Raum</strong>es stand die Versuchsperson an einer zuvor festgelegten Stelle<br />
in einem neuen <strong>Raum</strong>, dem detailgetreuen Modell des laufraums des Cyberneums<br />
am MPI in Tübingen, wo die Versuchsperson einige abstrakte Objekte wie<br />
in einem Ausstellungsraum betrachten konnte. Die Funktion des ersten <strong>Raum</strong>es<br />
lag darin, der Versuchsperson (VP) nach kurzer Zeit das Gefühl zu geben, in einer<br />
bekannten Umgebung zu sein <strong>und</strong> sich an die Ausrüstung zu gewöhnen.<br />
SZeNARIO 2 bestand nur aus dem Modell des laufraums des MPI, das zu einem<br />
Ausstellungsraum umfunktioniert wurde. Die Versuchsperson sah diesen <strong>Raum</strong><br />
als erstes <strong>und</strong> wurde nicht vorher vom virtuellen Medialab als Zwischenraum<br />
dorthin gebracht. Szenario 2 war unser Kontrollversuch, ob ein transitorischer<br />
<strong>Raum</strong> oder eine filmische Montage überhaupt eine Wirkung auf die Ergebnisse<br />
der Befragung hat.<br />
Versuchsaufbau <strong>und</strong> -durchführung<br />
Für das Pretesting des Versuchsaufbaus wurden acht Personen eingeladen, die<br />
noch keine erfahrung mit Virtual Reality haben. Die Versuchspersonen wurden<br />
2 www.presence-research.org, Zugriff 07/2006<br />
Translocation<br />
175
DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />
in zwei Gruppen eingeteilt, in eine Kontrollgruppe <strong>und</strong> eine Testgruppe. Die Kontrollgruppe<br />
(4 Personen) bekam Szenario 1 (mit Übergang) gezeigt, während die<br />
Testgruppe (4 Personen) das Szenario 2 (ohne Übergang) zu sehen bekam. Nachdem<br />
eine Versuchsperson fertig war, wurde sie von einer Person des Teams mündlich<br />
befragt. Die ergebnisse wurden schriftlich festgehalten <strong>und</strong> mitgeschnitten,<br />
um die Antworten zu einem späteren Zeitpunkt zur Analyse wiedergeben zu können.<br />
Im Anschluss wurde die Versuchsperson gebeten, den IPQ-Fragebogen zu<br />
beantworten, während die nächste Person befragt wurde.<br />
Zur Fortbewegung konnte die VP ein Pad verwenden, Richtungsänderungen wurden<br />
durch das Tracking der Kopfbewgungen (360°) ermittelt. Auf dem VR-Rechner<br />
wurde ein stereoskopisches HMD (Millionen Farben, 4:3, 800x600, FOV 32°<br />
x 24° (HxV), 120Hz) angeschlossen, optional kann auch eine Stereoleinwand benutzt<br />
werden. Der Ton wurde über einen Stereo-Funk-Kopfhörer (20Hz-20kHz)<br />
wiedergegeben, um Hintergr<strong>und</strong>geräusche weitgehend auszublenden. Anwesend<br />
waren nur der Versuchsleiter <strong>und</strong> ein Systemoperator. Die Versuchsgruppen<br />
wurden von der jeweiligen Aufsichtsperson betreut, die auch darauf achtete, dass<br />
jeder Befragte die Bögen getrennt von den anderen beantwortet <strong>und</strong> dass keiner<br />
der Gruppe vor oder nach dem Test mit Versuchspersonen einer anderen Gruppe<br />
in Verbindung trat.<br />
ergebnisse<br />
Die Bedeutung der erkenntnisse 3 dieser Versuchsanordnung hängen massgeblich<br />
von der erfahrung im Umgang mit dem Wahrnehmungsgefühl der Präsenz ab,<br />
das mehrdimensional <strong>und</strong> so nur schwer zu erfassen ist. Da dieses im Gegensatz<br />
zu einem konkret messbaren Wert sehr subjektiv ist <strong>und</strong> stark vom psychischen<br />
<strong>und</strong> physischen Zustand des Probanden abhängt, verbergen sich erhebliche Hürden<br />
bei der Interpretation der Daten. Da dieses Pretesting für Translocation nur<br />
exemplarisch als Methodentest ausfiel, war das Testsample von 4 Personen pro<br />
Szenario zu klein, um eine repräsentative Aussage fällen zu können. Aussagen<br />
aus dem Interview wurden in Relation zu den im IPQ gesammelten Daten gesetzt.<br />
Die hier gesammelten Daten zeigen aufgr<strong>und</strong> der geringen Samplegrösse<br />
keine wesentlichen Unterschiede auf. Die Presence-Items der beiden Szenarien<br />
unterscheiden sich um 0,25 Punkte zugunsten des Szenarios ohne Übergang.<br />
es bedarf weiterer Versuchsreihen, um die zu gewinnenen Daten vom Gr<strong>und</strong>rauschen<br />
abzuheben, idealerweise mit einer Samplegrösse > 60 VPs für jedes<br />
Szenario.<br />
3 siehe auch<br />
http://webuser.fh-furtwangen.de/~fetzner/spacestudies/index.php?n=Main.TransLocation<br />
176
Angrenzende Arbeiten<br />
Verwandte Projekte sind Arbeiten, bei denen das Verhalten von Probanden beobachtet<br />
wird, um anhand der Reaktionen Aufschlüsse über die Funktionsweise<br />
der menschlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Orientierung zu erhalten. Weitere Arbeiten<br />
beschäftigen sich mit VR-Simulationen, in denen der Proband Fähigkeiten erlernt,<br />
die er dann später in der realen Welt anwendet. Dabei wird versucht festzustellen,<br />
welche Faktoren für den Fähigkeitstransfer verantwortlich sind. es steht<br />
bereits fest, dass ein zentraler Bestandteil hierfür der Grad der Präsenz ist.<br />
literatur<br />
GeNNeP, A. (1986): Übergangsriten. Frankfurt a.M.<br />
GRAU, O. (2001): Virtuelle Kunst in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Berlin.<br />
GSCHWeNDTNeR, G. (2002): Kompositionslehre mit Formen. Wiesbaden.<br />
HOFFMAN, D. D. (1998): Visuelle Intelligenz: Wie die Welt im Kopf entsteht.<br />
New York. Mosshammer, D. (2006): einige Fallen bei der erhebung von Daten.<br />
Tübingen.<br />
ITTeN, j. (2003): Kunst der Farbe. leipzig.<br />
INSKO, B. e. (2003): Measuring Presence Subjective, Behavioral and Physiological<br />
Methods. Amsterdam.<br />
jUNG, C.G. (1999): Der Mensch <strong>und</strong> seine Symbole. Zürich.<br />
Translocation<br />
RIeCKe, B. (2005): Towards lean and elegant self-motion simulation in VR. Tübingen.<br />
RIeCKe, B. (2005): Visual cues can be sufficient for triggering automatic, reflexlike<br />
spatial updating. Tübingen.<br />
SHePARD, R. N. (1991): einsichten <strong>und</strong> einblicke: Illusion <strong>und</strong> Wahrnehmungskonflikte<br />
in Zeichnungen. Heidelberg.<br />
SlATeR, M. (1995): The influence of Dynamic Shadows on Presence in Immersive<br />
Virtual environments. london.<br />
SlATeR, M. (1995): An Exploration of Immersive Virtual Environments. London.<br />
SlATeR, M. (1996): Immersion, Presence, and Performance in Virtual environments:<br />
An Experiment with Tri-Dimensional Chess. London.<br />
SlATeR, M. (1994): Body Centred Interaction in Immersive Virtual environments.<br />
london.<br />
177
DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />
SPIllMANN, l. (1987): Visual Perception - The Neurophysiological Fo<strong>und</strong>ations.<br />
New York.<br />
TURRell, j. (2001): James Turrell, The Other Horizon. Ostfildern.<br />
USOH, M. (1994): Interaction and Visualisation for Architectural Processes in<br />
Virtual environments. london.<br />
UllMANN, F. (2005): Basics - Architektonische Gr<strong>und</strong>elemente <strong>und</strong> ihre Dynamik.<br />
Wien.<br />
USOH, M. (1999): Flying in virtual environments. New York.<br />
USOH, M. (1996): Presence: Experiment in the Psychology of Virtual Environments.<br />
london.<br />
WANG, R. F. (2000): Updating egocentric representation in human navigation.<br />
london.<br />
178
II. Projektentwürfe
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />
Konzeptionelle <strong>und</strong> methodologische Überlegungen zu zukünftigen<br />
Projekten<br />
1 Ziele des Forschungsprojekts<br />
Der virtuelle Testraum VERTEX eignet sich für Verb<strong>und</strong>projekte zwischen <strong>Hochschule</strong>n<br />
<strong>und</strong> Unternehmen. Gegenstand des hier angedachten Forschungsprojekts<br />
ist die Erforschung <strong>und</strong> Nutzbarmachung innovativer 3D-Technologien für<br />
Fragestellungen der empirischen Marktforschung, die bisher nicht befriedigend<br />
gelöst wurden. Hierbei wird die Frage verfolgt, ob sich aufwendige Messeauftritte<br />
in ihrer Wirkung auf Besucher durch Pretests abschätzen lassen. Hierbei geht<br />
es gr<strong>und</strong>sätzlich darum, zu klären, ob <strong>und</strong> inwieweit sich in virtuellen Testumgebungen<br />
quasi-natürliche Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Erlebniskontexte befriedigend<br />
simulieren lassen. Darauf aufbauend wird dann untersucht, wie sich einzelne<br />
Wirkdimensionen <strong>und</strong> -indikatoren in virtuellen Testumgebungen messen lassen.<br />
Für den hier verfolgten, interdisziplinären Forschungsansatz, bietet sich der gewählte<br />
Gegenstandsbereich Messen gerade auch deshalb an, da routinemäßig<br />
Architekturmodelle von Messen als CAD-Daten vorliegen <strong>und</strong> somit in virtuelle<br />
Testräume integriert werden können. Zur Untersuchung dieser Fragestellung eig-<br />
183
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
net sich aufgr<strong>und</strong> ihrer Relevanz im Bereich der Markenwerbung die stark emotionalisierte<br />
Besucherkommunikation. Messen sind konzeptionell so ausgelegt,<br />
dass sie einen intensiven <strong>und</strong> nachhaltigen erlebniseindruck bei den Besuchern<br />
entfalten. 1 Allerdings gibt es hier aufgr<strong>und</strong> der Komplexität der Planung, der<br />
Übersättigung der Zuschauer <strong>und</strong> durch Kostenzwänge Unsicherheitsfaktoren,<br />
die im Extremfall über die Wettbewerbsfähigkeit eines Messeauftritts entscheiden<br />
können. es stellt sich also die Frage, wie intensiv <strong>und</strong> wie nachhaltig der eindruck<br />
einer Markeninszenierung ist <strong>und</strong> ob sich diese Wirkung anhand einzelner Wirkfaktoren<br />
schon im Vorfeld prognostizieren lässt.<br />
Derartige Informationen sind zunehmend notwendig, da ohne empirisch f<strong>und</strong>ierte<br />
Planungsdaten zum Wirkungsnachweis komplexer Messeauftritte der<br />
Planungsprozess auf Dauer nicht zufrieden stellend gesteuert werden kann. In<br />
Zeiten knapper Budgets ist der gezielte Zugriff auf verlässliche empirische Daten<br />
über wirkungsrelevante Dimensionen immer bedeutender. Die hohe Komplexität<br />
von Messeauftritten verbietet daher eine Wirkungseinschätzung „aus dem Gefühl“<br />
heraus.<br />
Obwohl diesem Ansatz auch Akzeptanzprobleme (viele Fachabteilungen wollen<br />
sich nicht „kontrollieren“ lassen, hohe zeitliche Belastung der Verantwortlichen<br />
<strong>und</strong> geringe Personalkapazitäten) gegenüberstehen, die sich außerhalb der technologischen<br />
<strong>und</strong> methodischen ebene bewegen, ist bei einer entsprechenden<br />
Verzahnung mit dem internen Workflow damit zu rechnen, dass sich mittelfristig<br />
Gewinne in Form von Zeit- <strong>und</strong> Ressourceneinsparungen erzielen lassen.<br />
Ziel ist die entwicklung <strong>und</strong> Anwendung einer virtuellen Testumgebung, die es<br />
Probanden ermöglicht, einen Messeauftritt schon vor dessen Besuch bzw. stellvertretend<br />
zum Besuch zu erleben. Der Nutzen dieser Pretests liegt darin, zu<br />
f<strong>und</strong>ierten Argumenten über die Wirkung einzelner Ausstattungsmerkmale der<br />
Standarchitektur zu gelangen. Diese können als konkrete strategische Planungsdaten<br />
zu einer Kosten- <strong>und</strong> Risikoreduktion in entscheidergremien führen.<br />
Im Forschungsprojekt werden technische <strong>und</strong> methodische Fragestellungen<br />
wechselseitig bearbeitet. Die Arbeitsplanung sieht vor, zuerst Sek<strong>und</strong>äranalysen<br />
zur Wirkungsforschung von Markenwelten durchzuführen <strong>und</strong> technische<br />
Schnittstellen für die Nutzung polygonreduzierter CAD-Modelle in einer mobilen<br />
3D-Testeinheit (Alpha-Prototyp) zu identifizieren. Danach erfolgt eine testtheoretische<br />
Überprüfung des entwickelten Befragungsinstruments mit Experimental<strong>und</strong><br />
Kontrollgruppen. Bei positivem ergebnis der Überprüfung der Validität der<br />
Methode (Sollbruchstelle) erfolgt sukzessive die entwicklung einer netzbasierten<br />
Befragungsplattform zur Integration visueller Stimuli sowie die Konzeption, Programmierung<br />
<strong>und</strong> Funktionstest eines Gesamterhebungstools (Beta-Prototyp).<br />
1 Vgl. dazu den Beitrag „Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum Pretesting von Messeständen<br />
im Rahmen von Erlebnismarketing“ von Karina Mies <strong>und</strong> Fernando Saal in diesem Arbeitsbericht<br />
184
Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />
Dieser wird anhand des Pretestings von Messen überprüft. Im letzten Projektteil<br />
wird die Anpassung des Beta-Prototypen an Marktanforderungen vorgenommen.<br />
Die Motivation besteht übergreifend darin, ein Instrument zu entwickeln <strong>und</strong><br />
zu testen, dessen Prognosequalität gängigen Gütekriterien der empirischen<br />
Marktforschung (Validität, Reliabilität, Objektivität) entspricht <strong>und</strong> dazu bestehende<br />
VR-Technologien einzusetzen <strong>und</strong> weiterzuentwickeln. Das Gesamtziel<br />
besteht in der Verbindung aus methodisch validen Testverfahren <strong>und</strong> geeigneten<br />
technischen erhebungs- <strong>und</strong> Prüfmethoden, um damit schon im Vorfeld von<br />
Messeauftritten zu abgesicherten ergebnissen <strong>und</strong> Benchmarks zu gelangen.<br />
In wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive wird dabei die Fragestellung untersucht,<br />
wie sich komplexe emotionale Markenkommunikation am Ende einer<br />
langen Wertschöpfungskette im Kontext von aufwendigen Messeinszenierungen<br />
empirisch f<strong>und</strong>iert abbilden lässt. In technologischer Hinsicht wird erforscht,<br />
ob <strong>und</strong> inwieweit sich mit der heute verfügbaren 3D-Technologie ein empirisch<br />
aussagekräftiger Pretest eines Messeauftritts realisieren lässt <strong>und</strong> welche neuen<br />
soft- <strong>und</strong> hardwaretechnischen Weiterentwicklungen darüber hinaus notwendig<br />
sind. In empirischer <strong>und</strong> methodischer Hinsicht wird die Frage bearbeitet, wie<br />
sich reale <strong>und</strong> virtuelle Erlebniswelten hinsichtlich der Aussagequalität von Befragungsdaten<br />
unterscheiden <strong>und</strong> vergleichen lassen. Überlagerungseffekte ergeben<br />
sich aus der Verbindung empirischer Fragestellungen, der praxisnahen <strong>und</strong><br />
-gerechten entwicklung, Anwendung <strong>und</strong> evaluation von Wirkungstests sowie<br />
der Implementierung von VR-Testumgebungen, dies führt zu …<br />
• einem besserem Verständnis der Grenzen <strong>und</strong> Möglichkeiten von VR-Technologien,<br />
die sich allein aus einer „technikzentrierten“ Perspektive nicht zeigen;<br />
• der Bestimmung der Schnittstelle zwischen Technik <strong>und</strong> Empirie. Hierbei<br />
steht nicht die Frage im Mittepunkt, was wünschenswert wäre, sondern was<br />
beim gegenwärtigen Stand der Technik machbar ist.<br />
Die dabei verfolgte Fragestellung erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />
<strong>und</strong> berührt dabei die Disziplinen bzw. Arbeitsfelder Architektur, Gestaltung,<br />
<strong>Bild</strong>wissenschaft, VR/Ve-Technologie (Software), Informatik, empirische Marktforschung,<br />
Marktpsychologie <strong>und</strong> Kommunikationsforschung.<br />
Dabei geht die Bedeutung der exemplarischen Bearbeitung der Basisfragestellung<br />
über den konkreten Anwendungsfall hinaus. Die empirisch valide Prognostizierbarkeit<br />
von Werbewirkungen stellt sich als komplexe, bisher nicht ausreichend<br />
bearbeitete Frage auch in anderen Messekontexten <strong>und</strong> allgemein überall dort,<br />
wo potenzielle K<strong>und</strong>en in eine Markenwelt eintauchen. Diese Form des eintauchens<br />
lässt sich mit Hilfe immersiver VR-Testumgebungen wirtschaftlich <strong>und</strong><br />
empirisch f<strong>und</strong>iert simulieren. eine Übertragbarkeit der ergebnisse auf Anwendungsfelder<br />
auch außerhalb von Messekontexten ist daher zu erwarten. Virtuelle<br />
185
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
Testmodelle/umgebungen können im Bereich der Tourismusforschung (Vorabinformationen<br />
über Reiseziele), der Architektur z.B. von Krankenhäusern (wie fühlen<br />
sich Patienten dort?), der Wirkung von Kultureinrichtungen oder kulturellen<br />
Inszenierungen (welche Stimmung entsteht?), oder bei der Planung von K<strong>und</strong>en-<br />
/Servicezentren (wie zufrieden sind die Besucher?) über Erfolg oder Misserfolg<br />
entscheiden.<br />
2 Anforderungen an das Testinstrument<br />
Unter der Validität eines Tests wird die Gültigkeit einer Messung verstanden:<br />
Wird also gemessen, was gemessen werden soll? Im Kontext von VERTEX sind<br />
hiermit konkret die Fragen verb<strong>und</strong>en, auf welchen ebenen sich die Wirkung<br />
<strong>und</strong> Wirksamkeit eines dreidimensionalen Messemodells <strong>und</strong> eines komplexen,<br />
auf emotionalisierung zielenden Messeauftritts empirisch bestimmen lässt. Zur<br />
validen Abfrage der zu bestimmenden Variablen müssen die richtigen „Ankerpunkte“<br />
gesetzt werden, d.h. die wissenschaftliche Herausforderung im Projekt<br />
besteht in der exakten Operationalisierung der Variablen. Dabei ist auch zu beachten,<br />
wie sich Medienbrüche auf die Validität der Datenerhebung auswirken.<br />
Probanden zeigen unterschiedliche Erinnerungsleistungen, je nachdem, ob die<br />
Abfrageform visuell oder verbal ist. ein 3D-Testmodell als Wahrnehmungsgenerator<br />
macht daher nur dann Sinn, wenn die Abfrage der Wirkdimensionen derart<br />
erfolgt, dass tatsächlich die definierten Variablen in den Dimensionen Akzeptanz,<br />
Image, likes/Dislikes, Gesamt- <strong>und</strong> Detailbewertung, emotionale Aktivierung,<br />
kognitive Prozesse etc. gemessen werden.<br />
Unter Reliabilität versteht man die Zuverlässigkeit einer Messung: Wird also<br />
beim zweiten Probanden so gemessen, wie beim ersten? Im Projekt VERTEX-M<br />
besteht hierbei das wissenschaftliche Ziel darin, den Schnittpunkt zwischen einer<br />
maximal möglichen Standardisierung <strong>und</strong> einer maximal zulässigen Variabilität<br />
der Wahrnehmungseindrücke zu bestimmen. Hier können halb-standardisierte<br />
<strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten, kriteriengesteuerte einschränkungen von Bewegungsfreiräumen<br />
oder zweistufige Testverfahren einen Weg weisen.<br />
Das dritte klassische Gütekriterium ist die Objektivtät eines Tests. es stellt sich<br />
also immer auch die Frage, ob es zu unintendierten Verzerrungseffekten durch<br />
die Testsituation oder ggf. durch Interviewer kommt. Bezogen auf VeRTeX besteht<br />
die Herausforderung, eine standardisierte Einführung vor dem jeweiligen<br />
Test zu entwickeln, den Test selbst (nicht die virtuelle Testumgebung, in der sich<br />
die Probanden bewegen) in einer möglichst reizarmen Umgebung vorzunehmen,<br />
damit die Probanden tatsächlich das Gefühl von Immersivität erfahren <strong>und</strong> letztlich<br />
die Abfrage der Wirkdimensionen nicht nur möglichst standardisiert sondern<br />
auch möglichst ohne Medienbruch vorzunehmen.<br />
186
Hinzu kommen weitere Herausforderungen: eine wichtige Aufgabe auf gestalterischer<br />
ebene wird es sein, in enger Zusammenarbeit mit den Fragestellungen aus<br />
dem empirischen Testdesign den richtigen Realismusgrad des visuellen erscheinungsbildes<br />
zu realisieren. Diese Forderung ergibt sich zum einen aus Gründen<br />
der Performanz der Testumgebung, die eine <strong>Bild</strong>wiederholrate von mindestens<br />
25 pro Sek<strong>und</strong>e erfordert. entscheidend ist aber vor allem, dass für die meisten<br />
Probanden das erlebnis einer VR-Umgebung völlig ungewohnt sein wird. eine<br />
zu große Nähe zu gewohnten <strong>und</strong> realistischen Oberflächentexturen führt hier<br />
erfahrungsgemäß zu grösseren Irritationen, da diese aufgr<strong>und</strong> technischer Randbedingungen<br />
immer noch sehr artifiziell erscheinen. Für Versuchspersonen, die<br />
nicht an den Umgang mit 3D-Computergrafik gewohnt sind, ist es daher in der<br />
Regel einfacher, eine zeichenhafte Darstellung in Form leichter Abstraktionen<br />
als natürlich zu akzeptieren. eine weitere gestalterische Herausforderung wird<br />
es sein, VeRTeX als Werkzeug in den Planungsprozess einzubinden. Viele Messearchitekten<br />
<strong>und</strong> Kreativabteilungen stehen einem solchen Kontrollinstrument<br />
der psychologischen Wirkungsoptimierung eher kritisch gegenüber, weil sie darin<br />
eine einschränkung ihrer kreativen Freiheit sehen. es kann aller Voraussicht<br />
nach nur dann gelingen, den Ansatz als Teil eines iterativen Planungsprozesses<br />
zu etablieren, wenn das zu entwickelnde System dem Gestalter Schnittstellen für<br />
den entwurfsprozess zur Verfügung stellt. ein konkretes Beispiel hierfür ist das<br />
lichtdesign als essentieller Aspekt für die atmosphärische Planung eines Messestandes.<br />
Würde das System das Ausrendern sogenannter lightmaps, also der in<br />
VERTEX verwendeten Texturen <strong>und</strong> Oberflächen des Entwurfs, von Seiten der<br />
Architekten erlauben, hätten diese eine Art Qualitätskontrolle über die zu messenden<br />
Alternativen. Durch eine solche Verzahnung des Werkzeugs mit dem bestehenden<br />
Workflow in der Messeplanung kann eine Akzeptanz auch auf Seiten<br />
der Kreativagenturen erzielt werden.<br />
3 Stand der Markt- <strong>und</strong> Wirkungsforschung<br />
Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />
Nur ein Bruchteil der eingesetzten Kommunikationsinstrumente wird einem Pretest<br />
unterzogen. Neben mangelnder einsicht in die ökonomische Sinnhaftigkeit<br />
solcher Tests sind es v.a. auch Zweifel an der Prognosequalität, die ihrem Einsatz<br />
entgegenstehen. Voraussetzungen für eine hohe Trefferquote bzw. zuverlässige<br />
Vorhersagen der zu erwartenden Werbewirkung sind möglichst biotische, d.h.<br />
realitätsnahe Testbedingungen sowie die valide <strong>und</strong> reliable Operationalisierung<br />
der Werbewirkung. Zwar gibt es vor allem für den Pretest klassischer Werbeinstrumente<br />
eine Reihe im Markt gut akzeptierter <strong>und</strong> methodisch ausgereifter<br />
Verfahren. Bei Anzeigen-Sujets, Radio- oder TV-Spots gelingt es im Vergleich zu<br />
komplexeren Erlebniswelten wie Messen wesentlich leichter, in einem frühen<br />
entwicklungsstadium realistische Testmaterialien <strong>und</strong> Testbedingungen herzustellen.<br />
Das Projekt setzt genau hier an: Auch für sehr komplexe Erlebniswelten<br />
187
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
sollen am Beispiel von Messen möglichst realitätsnahe Testversionen <strong>und</strong> Testumgebungen<br />
geschaffen werden, die es erlauben, deren Werbewirkung effizient,<br />
ökonomisch vertretbar <strong>und</strong> methodisch zuverlässig zu testen.<br />
Insgesamt gibt es kein kommerzielles Angebot, das dem Analysekonzept von<br />
VERTEX entspricht. Werbemittel bzw. komplexe Produkte in virtuellen, für Probanden<br />
immersiv erlebbaren, Testwelten zu erproben, ist ein neues Verfahren.<br />
Methodisch liegt das Innovationspotential nicht nur in der Anwendung der 3Dtechnologie,<br />
die ein eintauen in die Testwelten ermöglicht, sondern auch auf dem<br />
Aspekt der Interaktivität <strong>und</strong> der Vermeidung von Medien- <strong>und</strong> Rationalitätsbrüchen<br />
bei der Abfrage der erlebnis- bzw. Wirkdimensionen. Die kommerziellen<br />
Anbieter, die sich mit Medien- <strong>und</strong> Produktwirkungstests befassen, setzen für<br />
ihre Befragungen meist noch face-to-face Methoden in laborsituationen oder Onlinebefragungen<br />
ein. Im Folgenden werden einige der untersuchten Unternehmen,<br />
die in die vergleichende Marktstudie einflossen, vorgestellt, um das Spektrum<br />
der Methoden <strong>und</strong> damit die Besonderheit von VeRTeX herauszustellen.<br />
Hierbei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Vielmehr sollen prinzipielle<br />
Herangehensweise an projektrelevante Fragestellungen erläutert werden.<br />
• Das Marktforschungsinstitut „Compagnon“ (www.compagnon.de) beschäftigt<br />
sich mit allen Bereichen der psychologischen Markt- <strong>und</strong> Werbeforschung.<br />
Dies umfasst insbesondere auch die hier relevanten Produktwirkungstests<br />
sowie Wirkungsanalysen von K<strong>und</strong>enkommunikation. Hierbei werden Pretests<br />
mit Ex-Post-Wirkungsanalysen kombiniert.<br />
Inhaltlich steht hierbei die Messung von multiplen Reaktionen von Zielgruppen<br />
im Mittelpunkt. Die Zielgruppe wird vom jeweiligen Auftraggeber nach biologischen,<br />
sozio-demografischen <strong>und</strong> psychologischen Aspekten definiert, die Probanden<br />
entsprechend ausgewählt. Die Tests selbst erfolgen durch vergleichende<br />
Teilstichproben mit je ca. 50 Probanden. Das dabei angewandte Verfahren kommt<br />
der Gr<strong>und</strong>idee von VERTEX recht nahe, hat jedoch längst nicht dasselbe Potenzial.<br />
Die Probanden sehen Videos, in die Plakate oder Produkte in einer „lebensechten“<br />
Umgebung eingearbeitet sind. Dabei stehen verschiedene Perspektiven <strong>und</strong><br />
Sehentfernungen zur Auswahl. ein Nachteil dieser Methode ist, dass sie nur in<br />
speziellen Teststudios durchgeführt werden kann <strong>und</strong> dass nach der Betrachtung<br />
der Videoszenen ein Medien- <strong>und</strong> Rationalitätsbruch stattfindet. Nach dem rein visuellen<br />
Input erfolgt die Befragung durch klassische Interviewformen (schriftlich<br />
oder computergestützt). Das Projekt VERTEX geht genau an dieser Stelle weiter.<br />
Zwar entspricht das von „Compagnon“ eingesetzte, videogestützte, Verfahren von<br />
allen kommerziellen Anbietern noch am ehesten, doch sind schon hier Restriktionen<br />
im Vergleich zu VeRTeX erkenntbar. So können die Probanden mit dem<br />
Testszenario weder interaktiv interagieren noch darin „eintauchen“. Genau diese<br />
beiden Merkmale machen jedoch im Kern eine „biotische“ Testsituation aus.<br />
188
Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />
Da die anderen kommerziellen Anbieter von Wirkungstests diesem Anspruch<br />
noch weniger gerecht werden, werden sie nur in Kurzform vorgestellt um zu einer<br />
einschätzung der aktuell verfügbaren Methoden zu gelangen.<br />
• Phaydon research+consulting (www.phaydon.de) führt als Full-Service-Forschungsisntitut<br />
Pre- <strong>und</strong> Posttests durch, deren Ziel die optimale Gestaltung<br />
von Produkten <strong>und</strong> Kommunikationsmaßnahmen <strong>und</strong> die Ableitung konkreter<br />
Handlungsempfehlungen ist. Dieses Ziel wird gr<strong>und</strong>sätzlich auch im<br />
vorliegenden Forschungsprojekt verfolgt.<br />
Zum einsatz kommen dabei standardisierte Studiotests mit Simulationsprogrammen,<br />
die ansatzweise versuchen, natürliche Rezeptionssituationen nachzubilden.<br />
Mit tachistoskopischen Wahrnehmungstests 2 <strong>und</strong> Blickregistrierungsverfahren<br />
wird versucht, das Aufmerksamkeitspotential zu ermitteln, dass von<br />
Werbemitteln oder Produkten ausgeht. Die These der Wirkungsforschung, die<br />
mit dieser Verfahrensgruppe verb<strong>und</strong>en ist, besagt, dass sich entwürfe, die trotz<br />
der verschlechterten Wahrnehmungsbedingungen gut erkannt werden, auch bei<br />
flüchtigen Kontakten (low involvement) in der Praxis durchsetzen. Das Problem<br />
dieses Verfahrens sind sog. Reihenstellungseffekte, die deshalb auftreten, weil die<br />
Wahrnehmung eines Motivs von dem vorher gezeigtem abhängt. Somit sind hier<br />
Zweifel bezüglich der Reliabilität <strong>und</strong> Validiät von Messungen angebracht.<br />
• Pro Media Concept (www.pro-media.org) liefert Informationen zur Marken-<br />
<strong>und</strong> Werbeerinnerung (likes/Dislikes, Gesamt- <strong>und</strong> Detailbewertung, Brand<br />
Fit, Kaufinteresse).<br />
Eingesetzt werden hierzu quantitative Erhebungen mit qualitativen Elemeten.<br />
Die Probanden werden aus dem promio.net Online Access Pool rekrutiert, der<br />
10.000 soziodemografisch repräsentative Zielpersonen umfasst.<br />
• Media Analyzer (www.mediaanalyzer.com) hat sich auf die Messung der Aufmerksamkeitsleistung<br />
spezialisiert, eine Fragestellung, die auch im Kontext<br />
der Projekts VERTEX von zentralem Interesse ist.<br />
Hierzu wurde das sog. Attention Tracking entwickelt, das auf der These beruht,<br />
dass Menschen immer dahin zeigen, wohin sie auch blicken. Die technische Umsetzung<br />
dieser These geschieht durch das „Zeigen“ mit einer Computermaus,<br />
die Aufmerksamkeitsschwerpunkte in Testbildern markiert. Das Verfahren wird<br />
sowohl für einzelmessungen als auch für Kollektivmessungen durch Onlineerhebungen<br />
eingesetzt.<br />
2 Tachistoskopische Tests gehören zur Verfahrensgruppe der Aktivierungstests, die mit gelockerter<br />
Reizbindung arbeiten. Dabei werden Testobjekte zeitlich verkürzt (1/2000 bis 1/10 Sek.) gezeigt.<br />
Verfahren der gelockerten Reizbindung sind Methoden, bei denen der Prozess der entstehung der<br />
Wahrnehmung (Aktualgenese) untersucht wird. Die Wahrnehmung baut sich von einer diffusen<br />
„Vorgestalt“ bis zu einem ausdifferenzierten Wahrnehmungseindruck auf. Es lässt sich also nicht<br />
nur untersuchen, ob etwas wahrgenommen wird, sondern auch wie es wahrgenommen wird.<br />
189
STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />
• Dem Ansatz von VERTEX kommt das Online Sujet Test von heimatwerbung<br />
(www.heimatwerbung.at) ebenfalls nahe. Mit diesem netzbasierten Testverfahren<br />
können sich K<strong>und</strong>en einen eindruck von der Plakatwirkung ihres<br />
entwurfes in einer realen Umgebung machen.<br />
Hierzu werden Werbemittel als jpg-File auf die Website von heimatwerbung hochgeladen<br />
<strong>und</strong> in Vorlagen eingeb<strong>und</strong>en, die z.B. Straßenzüge zu verschiedenen<br />
Tageszeiten oder zu unterschiedlichen Witterungsbedingungen zeigen.<br />
• Im Postercheck der Schweizer Allgemeinen Plakatgesellschaft APG (www.<br />
apgsga.ch) können Auftraggeber ihre Gestaltungsvorschläge ebenfalls in<br />
einem „realen“ Umfeld testen. Hierzu stehen verschiedene Hintergründe<br />
bereit, in die <strong>Bild</strong>dateien eingeb<strong>und</strong>en werden können. In einem ebenfalls<br />
von der APG durchgeführten Posttest geht es im Kern um erinnerungswerte,<br />
Markenzuordnung <strong>und</strong> die evaluation von durch die Werbung evozierten<br />
Gefühlen. Dieser Aspekt wird bei der Wirkungsmessung der Markenkommunikation<br />
von Messeauftritten im Forschungsprojekt VERTEX-M weitaus<br />
tiefgründiger angegangen.<br />
• Die Firma Ipsos (www.ipsos.de) testet ebenfalls K<strong>und</strong>enreaktionen <strong>und</strong> langfristige<br />
K<strong>und</strong>enbindung über die evaluation der Kommunikationsleistung<br />
von Werbemitteln. Hierbei werden den Probanden jedoch lediglich DIN A4<br />
Vorlagen im Kontext eines Labortests präsentiert um dann in einer nachgelagerten<br />
Befragung Recall- <strong>und</strong> Recognitionwerte zu erheben.<br />
• Die Firma It Works (www.aussenwerbung.de) beschäftigt sich mit der erforschung<br />
von Leistungswerten <strong>und</strong> dem Effizienznachweis sowie der Entwicklung<br />
von Prognosemodellen zur Werbewirkung. Hierbei werden Monokampagnen<br />
von der Wirkung von Kampagnenserien unterschieden. eine<br />
Automobilmesse befindet sich an der Grenzlinie zwischen beidem. Ziel ist es<br />
auch hier, durch Kombination von ex ante-Wirkungsmessungen mit ex post<br />
erhebungen zur Darstellung einer Werbewirkungskurve zu gelangen.<br />
• Die Milchstraße AdAttraction (www.milchstrasse.de) bietet neben den klassischen<br />
Wirkungsindikatoren neue erklärungsmöglichkeiten. Durch eine<br />
spezielle Software kann zusätzlich zu den Inhalten von Copytests der Verlauf<br />
der Aufmerksamkeit beim Betrachten von Werbemitteln gemessen werden.<br />
Die Methode ist dabei sehr an der Blickverlaufsmessung angelehnt <strong>und</strong> erfolgt<br />
online.<br />
4 erfolgsaussichten<br />
Ziel von VeRTeX ist die entwicklung einer neuen, bisher auch nicht in Ansätzen<br />
verfügbaren Methode der empirischen Wirkungsforschung. Auf Gr<strong>und</strong>lage der<br />
testtheoretischen Überlegungen <strong>und</strong> Überprüfungen im ersten <strong>und</strong> zweiten Pro-<br />
190
Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />
jektteil ist ein Erhebungskonzept zu erwarten, das sich deutlich von bestehenden<br />
eindimensionalen Ansätzen der Markt- <strong>und</strong> Wirkungsforschung distanziert.<br />
Unabhängig von der innerbetrieblichen Akzeptanz einer derartigen Wirkungsprüfung<br />
von Messeauftritten <strong>und</strong> der Wirtschaftlichkeit der Testreihen, besteht die<br />
Erfolgsaussicht darin, während der Projektlaufzeit eine Methode zur Marktreife<br />
zu bringen, die eine zuverlässige Vorhersage der Wirkung des multisensorischen<br />
erlebens von Messeauftritten ermöglicht.<br />
191
DANIel FeTZNeR<br />
Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />
Max Bense in San Francisco –<br />
Rekonstruktion einer Körperspannung<br />
Kunst <strong>und</strong> Technik unterliegen unterschiedlichen Denkweisen <strong>und</strong> produzieren<br />
verschiedene Körperbilder. Jeder Gestalter von technischen Dingen <strong>und</strong> jeder gestaltende<br />
Techniker kennt den Konflikt dieser alternativen Erkenntnismodelle aus<br />
eigener Erfahrung. So auch der Physiker Max Bense (1910-1990), der in beiden<br />
Kulturen zuhause war <strong>und</strong> maßgebliche Gr<strong>und</strong>lagenforschung betrieb. Das Projekt<br />
fogpatch 1 rekonstruiert eine traumatische Körpererfahrung des Wissenschaftlers<br />
in San Francisco.<br />
1 www.fogpatch.de<br />
193
DANIel FeTZNeR<br />
194<br />
„Die Fäden zwischen Kopf <strong>und</strong> Körper sind abgenutzt, doch noch nicht zerrissen.<br />
Nur das Bewußtsein ist ein diskreter Zustand.“<br />
Max Bense, 1970<br />
Der Kybernetiker Max Bense erlebt im Alter von knapp 60 Jahren den Einbruch<br />
des Irrationalen am eigenen leib. Während eines viertägigen Aufenthalts in San<br />
Francisco im August 1969 verpasst er den Bus in Sausalito. Bense geht zu Fuß<br />
über die Golden Gate Bridge zurück in die Stadt <strong>und</strong> dabei kommt dem Physiker<br />
ein hochkomplexes Partikelsystem in die Quere. Das Hereinbrechen einer Nebelwand<br />
vom Pazifik lässt die Temperatur augenblicklich um 15° C sinken, der Fog<br />
verschluckt die Parabel der Stahlkonstruktion <strong>und</strong> verschlägt dem Wort- <strong>und</strong> Gestengenerator<br />
(Walter 1994) die Sprache. Der Schock löst bei Bense in der darauf<br />
folgenden Nacht eine Nierenkolik mit Todesangst aus. erste Artikulationsversuche<br />
<strong>und</strong> eine Verarbeitung des Erlebnisses finden sich in dem Text Existenzmitteilung<br />
aus San Franzisko. Der dabei ersehnte Körperzustand ist vollkommen entnervt.<br />
Während Jimmy Hendrix zeitgleich in Woodstock mit den vibrant So<strong>und</strong>s seiner<br />
E-Gitarre verschmilzt, möchte Bense „nur noch wie Haar sein, fest <strong>und</strong> fein, sensibel,<br />
wortlos <strong>und</strong> schmerzlos“ (Bense 1970) – ohne jede Schwingung. Der prätentiöse<br />
Text erscheint 1970 in einer Auflage von 100 Exemplaren als bibliophile<br />
Publikation mit Originalradierungen der Künstlerin Helgart Rothe.<br />
Als offensiver Vertreter der Moderne beschäftigte sich Max Bense seit den 1940er<br />
jahren intensiv mit der Berechenbarkeit der Welt. Seine Vision war die etablierung<br />
einer neuen Ästhetik als exakte <strong>und</strong> experimentelle Wissenschaft. „Die<br />
metadisziplinäre Analyse von Prozessen der Steuerung, Regelung <strong>und</strong> Rückkoppelung<br />
galt als Weg zur Überwindung des Bruchs zwischen den zwei Kulturen<br />
von Technik <strong>und</strong> Naturwissenschaft einerseits, Kunst <strong>und</strong> Geisteswissenschaft<br />
andererseits“ (Pias 2006). In Weiterführung der Leibnitzschen „Mathesis Universalis“<br />
geht Bense von einer kategorialen Einheit ästhetischer <strong>und</strong> mathematischer<br />
Formen aus, wie viele seiner Zeitgenossen in Kunst <strong>und</strong> Architektur (Roterm<strong>und</strong><br />
2001). Fasziniert von den Möglichkeiten diskreter, digitaler Modelle <strong>und</strong> den<br />
frühen Elektronikgehirnen experimentiert er auf dem Feld des Kreativen, ohne<br />
jedoch selbst zu programmieren. In Fortführung der Birkhoffschen Formel, die<br />
den ästhetischen Wert als Quotienten aus Ordnung <strong>und</strong> Komplexität berechnet,<br />
entwickelt er in den 1950er jahren das Format der Konkreten Poesie <strong>und</strong> beschäftigt<br />
sich mit der Theorie der Malerei. Aus der Position des existentiellen Rationalismus<br />
heraus versucht Bense den Shannonschen Informationsbegriff auf<br />
gestalterische Vorgänge anzuwenden <strong>und</strong> etabliert hierfür den Begriff der Informationsästhetik.<br />
Die Qualität von Kunstwerken, so Bense, liegt aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
inneren Ordnungsbeziehungen „irgendwo auf der Skala zwischen Banalität <strong>und</strong><br />
Chaos <strong>und</strong> ist damit kalkulierbar.“ (Franke 1998) „Diese moderne Ästhetik ist<br />
keine Interpretationsästhetik, sondern eine Ästhetik, die den Versuch macht, das,<br />
was wir in der bezeichneten Weise als „schön“, „nicht schön“, „hässlich“, „nicht<br />
hässlich“ oder dergleichen bestimmen können, als objektiv feststellbar voraussetzen.<br />
Sie ist also eine Art Feststellungsästhetik; das soll heissen, dass das, was
Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />
wir als Aussagen über Kunstwerke oder Designobjekte festhalten, feststellbar ist<br />
in der gleichen Weise, wie der Mineraloge die Zusammensetzung eines Minerals<br />
feststellt <strong>und</strong> nicht etwa interpretiert.“ (Bense 1965)<br />
Aber nicht alles lässt sich in dieser Weise feststellen. Wie verhält es sich beispielsweise<br />
mit dem erleben von Schmerz, das an eine individuelle <strong>und</strong> konkrete Körperlichkeit<br />
geb<strong>und</strong>en ist? In dem cartesischen Modell Benses sind Leib <strong>und</strong> Seele<br />
getrennte entitäten, die man auf verschiedenen Geräten simulieren kann. Konsequent<br />
nutzt Bense das Textwerkzeug der Existenzmitteilung Kierkegaards 2 , um<br />
seine Wahrnehmung in zwei Beobachterrollen zu zerlegen. Alternierend in methodisch<br />
variierender Schreibweise, auf der einen Seite das subjektive Empfinden,<br />
auf der anderen die nüchterne Rationalisierung der Situation. „Ein Wechsel aus<br />
konkretem <strong>und</strong> abstraktem Stil, aus semantischen <strong>und</strong> syntaktischen Techniken“,<br />
wie Bense an anderer Stelle notiert (Bense 1967). Die eigentliche Schmerzerfahrung<br />
einer Nierenkolik entzieht sich aber jeder objektiven Beschreibbarkeit. Sie<br />
wiederfährt nur dem einzelnen Bewusstsein <strong>und</strong> streift das Metaphysische. Die<br />
Qual <strong>und</strong> Empfindung kann annäherungsweise über Empathie <strong>und</strong> Erinnerung<br />
von anderen nachempf<strong>und</strong>en werden. Der Schmerz selbst bleibt dem jeweiligen<br />
Körper eingeschrieben <strong>und</strong> ist über kein Medium vermittelbar. Oder in anderen<br />
Worten: die Aussage „The Mount Everest has snow“ liegt nicht auf derselben Ebene<br />
wie „I am in pain“. (Searle 1997)<br />
Als der Philosoph im Summer of love zu Fuß über die Brücke ging, bringen die<br />
Ultraso<strong>und</strong>s der schwingenden Konstruktion die Steine ins Rollen. Im Februar<br />
1970 kommt es in einem TV-Streitgespräch mit joseph Beuys zur Konfrontation<br />
mit einem ganz anderen Konzept von Körperlichkeit. Der leidenschaftliche<br />
Sammler von kristallinen Objekten trifft auf den Rost-, Fett- <strong>und</strong> Filzkünstler. In<br />
der hitzigen Diskussion versucht Bense, das ganzheitliche Menschenbild seines<br />
Gegners gestisch auf einen numerischen Schieberegler herunterzubrechen, was<br />
ihm nicht gelingt. In diesem schweißtreibenden Showdown von Moderne <strong>und</strong><br />
Postmoderne gerät Max Bense offensichtlich ins Wanken.<br />
Die Rückkopplungs- <strong>und</strong> Regelkreiskonzepte der Kybernetik, die Mitte der 1970er<br />
Jahre ihr vorläufiges Ende fanden, werden durch die massenhafte Verbreitung digitaler<br />
Technologien zu Beginn des 21. jahrh<strong>und</strong>erts wieder aktuell. Nicht ganz<br />
so wie vorhergesehen, denn im Zeitalter von Ubiquitous Computing <strong>und</strong> Perva-<br />
2 Eine Existenzmitteilung ist eine „Mitteilung der subjektiv-existentiellen Äußerungen eines menschlichen<br />
Daseins in Fleisch <strong>und</strong> Blut <strong>und</strong> <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> Zeit“ (Bense 1951).<br />
195
DANIel FeTZNeR<br />
sive Internet sind Computer nicht länger nur informationelle Technikapparate.<br />
Vielmehr durchdringen Funksignale <strong>und</strong> vernetzte Miniaturdevices den realen<br />
<strong>Raum</strong> <strong>und</strong> treten dabei als erkennbare Geräte immer mehr in den Hintergr<strong>und</strong> 3 .<br />
Der Alltag der Menschen <strong>und</strong> ihre lebenswelten werden mit dynamischen Rechnerdaten<br />
überzogen, die Omnipräsenz des Digitalen führt zu einer Vereinheitlichung<br />
von Orten <strong>und</strong> Räumen (Manovich 2005). Auch im Bereich von Kunst<br />
<strong>und</strong> Gestaltung gewinnen rückgekoppelte Prozesse wieder an Faszination. Softwareanwendungen<br />
wie processing.org <strong>und</strong> M/M/j, linkportale wie dataisnature.<br />
com <strong>und</strong> lifestylemagazine wie de:bug suggerieren aufs Neue eine Analogie von<br />
mathematischen <strong>und</strong> ästhetischen Strukturen, propagieren die gegenseitige Bedingung<br />
von Code <strong>und</strong> Design, von Algorithmen <strong>und</strong> Gestalt.<br />
196<br />
„UBIQUE MEDIA DAEMON - Wallowing in my organs, my kidneys,<br />
rushing the signal through the system nothing can block the electrical impulse.”<br />
einstürzende Neubauten<br />
Ansätze der Kybernetik aus den 1950er jahren sind wieder in der Diskussion,<br />
wie zahlreiche Publikationen, Tagungen <strong>und</strong> Hochschulseminare 4 zeigen. Aktuell<br />
wieder in Mode gekommen ist auch die Schwarmintelligenz in Form von<br />
croudsourcing bei Google, Amazon <strong>und</strong> Wikipedia im Web 2.0. Der emergente<br />
Partikelschwarm wird zum Versprechen eines intelligenten Kollektivkörpers.<br />
Und auch die aktuelle Hirnforschung knüpft in ihren Modellen an die bekannten<br />
Konzepte an. Im Gegensatz zu den frühen Ansätzen steht aber jetzt der Mensch<br />
mit seinem unbewussten Sein, seinem irrationalen Empfinden <strong>und</strong> seiner Körperlichkeit<br />
stärker im Mittelpunkt. „Nach den Erkentnissen der Neurobiologie<br />
betreibt der Mensch nicht nur nach aussen, sondern auch innerkörperlich ein<br />
hochkomplexes Kommunikationssystem. Jede Bewegung ist eine Äußerung, die<br />
rückgekoppelt wird, um neue Bewegungen dadurch zu koordinieren“ (Holl 2002).<br />
entscheidend also ist der physische Mediengebrauch <strong>und</strong> die performative Seite<br />
der Mensch-Maschine-Beziehung. Dazu Klaus Theweleit mit seinem Konzept des<br />
dritten Körpers: „Wir sind Figuren aus Licht <strong>und</strong> Wasser, einer Reihe von Säuren<br />
<strong>und</strong> ein paar Mineralien, <strong>und</strong> äußern uns in Wellen. Alle unsere Körperzellen<br />
nehmen ständig nicht nur Nahrung, sondern licht <strong>und</strong> Wellen auf, mediale Reize<br />
<strong>und</strong> Reize aus der luft, darunter eine ungeheure Menge an Reizen, die von anderen<br />
Körpern, von anderen Personen ausgehen. Nur für die gröbsten dieser Reize<br />
haben wir ein bewusst ausgearbeitetes Sensorium.“ (Theweleit 2006)<br />
Auch Alva Noë, Philosoph an der UC Berkeley, betont aktuell den untrennbaren<br />
Zusammenhang von Körper <strong>und</strong> Wahrnehmung mit seinem enactive approach:<br />
„Perceiving is a way of acting. (...) What perception is, however, is not a process in<br />
3 Beim Versuch, mit einem Kontaktmikrofon Tonaufnahmen von einem Hängeseil der Golden Gate<br />
Bridge zu machen, wurde ich nach wenigen Minuten vorübergehend festgenommen. An der Stelle<br />
war keine Überwachsungskamera sichtbar.<br />
4 When Cybernetics meets Aesthetics, Tagung auf der ars electronica 2006 u.a.
Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />
the brain, but a kind of skillful activity on the part of the animal as a whole.“ (Noë<br />
2006) Benses Gegenspieler in der TV-Diskussion war das gut geläufig. Denn Propriozeption<br />
war die Gr<strong>und</strong>lage in den Arbeiten von joseph Beuys, beispielsweise<br />
in seiner Coyotenperformance I like America and America likes me von 1974.<br />
Deutlich zum Ausdruck kommt diese Haltung in seiner Äusserung Ich denke<br />
sowieso mit dem Knie. ergänzend hierzu der Kybernetiker Heinz v. Förster: die<br />
Ursache liegt in der Zukunft. Der Neurologe Paul Christian hatte bereits 1949 mit<br />
seinem Pendelexperiment darauf hingewisen, dass eine systemische Trennung<br />
von Mensch <strong>und</strong> Maschine nicht wirklich funktionieren kann: „Die Kohärenz<br />
zwischen Organismus <strong>und</strong> Umwelt ist somit eine fließende. Es ist nicht möglich,<br />
diese Grenze im Versuch zu determinieren. (…) Im Versuch selbst ist es unmöglich,<br />
eine räumliche, zeitliche oder energetische Grenze anzugeben, an welcher<br />
die motorische Tätigkeit des Organs aufhört <strong>und</strong> die physikalische anfängt. ”<br />
(Christian 1949) Was in all den Regelkreisskizzen vorgetäuscht wurde, hat also<br />
keine klar auszumachend Grenze (Rieger 2003). Alles schwingt.<br />
„Coastal fog reaching into the Bay will burn off by late morning, then clear skies late<br />
afternoon, fog rolls in again.”<br />
Typische Wetterlage in San Francisco<br />
Der Ort, an dem die Computertechnologie <strong>und</strong> dazu passende Körpertrends seit<br />
jahrzehnten auf Hochtouren entwickelt werden, ist San Francisco <strong>und</strong> die umliegende<br />
Bay Area. Und auch Max Bense macht an diesem Ort zweimal Halt -<br />
zunächst fiktiv <strong>und</strong> dann real. Denn da, wo ihm Nebel <strong>und</strong> Brückenso<strong>und</strong>s an<br />
die Nieren gingen 5 , liegen zugleich die Wurzeln der technologischen Utopien des<br />
Kybernetikers. Der junge Physiker Bense arbeitet ab Januar 1942 im Labor für<br />
Hochfrequenztechnik <strong>und</strong> Ultraschall von Dr. Hollmann in Berlin-Lichterfelde.<br />
Dort spekuliert er im Kontext nachrichtentechnischer Forschung zur Übertragung<br />
von <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Ton über die Möglichkeit, demnächst den menschlichen Körper<br />
von Deutschland in die Ferne zu rastern. Mit diesem Rasterkörper könne man<br />
„in San Franzisko spazierengehen” (Walther 1999). Hans Erich Hollmann kam<br />
dann auf ganz natürlichem Wege nach Kalifornien, er wurde 1947 von der NASA<br />
als Radarforscher abgeworben. Von dort schickte er Bense zwei jahre später die<br />
6. Auflage von Norbert Wieners „Cybernetics or control and communication in<br />
the animal and the machine“. Und so sind es tatsächlich die Ultraso<strong>und</strong>s, die<br />
Benses Körper bei dem realen Besuch in der Bay begleiten, durchdringen <strong>und</strong><br />
innervieren: „So wie der Körper des Instruments durch sein Mitschwingen den<br />
Ton der Saite erst richtig hörbar macht, so ähnlich nutzen wir unseren Körper als<br />
Resonator für auditorische erfahrungen. Der Zuhörer selbst wird zum Instrument.”<br />
(Jourdain 2001)<br />
5 Den Nieren kam früher eine ganz andere Bedeutung zu als heute. Siehe etwa AT Psalm 26,2: „Prüfe<br />
mich, Herr, <strong>und</strong> erprobe mich, erforsche meine Nieren <strong>und</strong> mein Herz!“ Noch im Mittelalter wurden<br />
die Nieren als Sitz der Gefühle <strong>und</strong> auch des Geschlechtstriebes angesehen.<br />
197
DANIel FeTZNeR<br />
198<br />
„Die uniteressanten Schlotterformen sind die völlig regelmäßigen, die immer eine<br />
konstante Frequenz einhalten. Aber dann gibt es noch die komplexen<br />
Schwingungsformen, bei denen sich Frequenz <strong>und</strong> Amplitude gleichzeitig <strong>und</strong><br />
unabhängig voneinander ändern Häufig kommen noch Verschlüßelungen ins Spiel,<br />
Frequenzüberlagerungen, unterschiedliche Energieniveaus – man muß schon ziemlich<br />
auf Zack sein, um damit klar zu kommen.”<br />
Thomas Pynchon, Gravity`s Rainbow (1973)<br />
Die beiden Modelle des Raster- <strong>und</strong> des Nebelkörpers können als eine biografische<br />
Klammer im Leben von Max Bense verstanden werden. Das Projekt fogpatch<br />
interpretiert diese alternativen Konzepte zwischen technischem Rauschen<br />
<strong>und</strong> sinnlichem Rausch (Holl 2002) als Tanzperformance in einer interaktiven<br />
Umgebung. Recherche <strong>und</strong> Konzeption erfolgen im Rahmen eines Forschungssemesters<br />
in San Francisco <strong>und</strong> am ZKM in Karlsruhe, die Umsetzung geschieht<br />
in Zusammenarbeit mit weiteren Partnern <strong>und</strong> einer Projektgruppe 6 der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong>.<br />
Folgender Ablauf ist denkbar; ein Sprecher sitzt an einem Tisch <strong>und</strong> beginnt den<br />
Text der Existenzmitteilung zu lesen. Es gibt ein kybernetisches Objekt, dass die<br />
rationale Seite von Bense darstellt, ein Tänzer verkörpert das Irrationale seiner<br />
Persönlichkeit. Die Bewegungen des Tänzers werden getrackt <strong>und</strong> beeinflussen<br />
das Objekt, dessen Verhalten <strong>und</strong> So<strong>und</strong>s. Zu Beginn sind Objekt <strong>und</strong> Tänzer<br />
den einzelnen Strophen des Textes zugeordnet, gegen Ende gehen beide ineinander<br />
über in eine improvisierte Form der Choreographie. Das Objekt besteht aus<br />
einem Stahlrahmen, in den Drahtseile eingespannt sind, die kolikartig mit Motoren<br />
kontrahiert werden. eingehängt in das Gestell sind schwingende Bleche,<br />
auf die flackernde Super8-Aufnahmen projiziert werden, die Benses Blick in San<br />
Franzisko nachstellen. Die Geschwindigkeit der Projektoren <strong>und</strong> Ihre Geräusche<br />
werden über die Software gesteuert, die die gesamte Performance koordiniert<br />
(Max/MSP/Jitter). Geplante So<strong>und</strong>s sind Vibrationsgeräusche der Brücke, Atemgeräusche<br />
Benses aus der TV-Diskussion u.a. Auf einer großen leinwand werden<br />
Videoaufnahmen von Meeresquallen aus der Bay gezeigt, die mit Aufnahmen der<br />
TV-Diskussion mit Beuys überlagert werden – <strong>Bild</strong>er in extremer Zeitlupe bis hin<br />
zum schmerzhaften Schlottern.<br />
6 Michael Raithel, Dirk Hensel, Bernd Dudzik, Patrick Burkert, jennifer Fluck, Andreas Schäfer. Projektbetreuung<br />
Prof. Dr. Bruno Friedmann <strong>und</strong> Katja Wahl
Zeitfenster<br />
Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />
1942 RASTeRKöRPeR/BeNSe<br />
Körperutopie, virtueller Spaziergang durch San Franzisko<br />
1948 CYBeRNeTICS/WIeNeR<br />
„Wenn wir andererseits von einem Meteorologen verlangen, uns eine ähnliche<br />
Durchmusterung der Wolken zu geben, würde er uns ins Gesicht lachen oder<br />
nachsichtig erklären, das es in der gesamten Sprache der Metereologie keinen<br />
Gegenstand wie eine Wolke gibt, definiert als ein Objekt mit einer quasipermanenten<br />
Identität, <strong>und</strong> wenn es sie gäbe, er weder die Fähigkeit besäße noch tatsächlich<br />
daran interessiert wäre, sie zu zählen.“ (Norbert Wiener 1963)<br />
1949 RADARDeNKeR/BeNN<br />
„Das, was die Menschheit heutigentags noch denkt, noch denken nennt, (kann)<br />
bereits von Maschinen gedacht werden, <strong>und</strong> diese Maschinen übertrumpfen sogar<br />
schon den Menschen, die Ventile sind präziser, die Sicherungen stabiler als in<br />
unseren zerklafterten körperlichen Wracks, sie arbeiten Buchstaben in Töne um<br />
<strong>und</strong> liefern Gedächtnisse für acht St<strong>und</strong>en, kranke Teile werden herausgeschnitten<br />
<strong>und</strong> durch neue ersetzt.“ (Gottfried Benn)<br />
1949 PeNDelVeRSUCHe/CHRISTIAN<br />
„Die Kohärenz zwischen Organismus <strong>und</strong> Umwelt ist somit eine fließende. Es ist<br />
nicht möglich, diese Grenze im Versuch zu determinieren. […] Im Versuch selbst<br />
ist es unmöglich, eine räumliche, zeitliche oder energetische Grenze anzugeben,<br />
an welcher die motorische Tätigkeit des Organs aufhört <strong>und</strong> die physikalische<br />
anfängt.“ (Paul Christian 1949)<br />
1957 VeRTIGO/HITCHCOCK<br />
Sprung Madeleine`s an der Golden Gate, Scotties rettender Blick. Madeleine tritt<br />
aus dem grünen Neonebel der Hotelbeleuchtung.<br />
1964 FRee SPeeCH MOVeMeNT/SAVIO<br />
„Es gibt Zeiten, wo das Bedienen der Maschine so widerlich wird <strong>und</strong> Euch in<br />
eurem Innersten so krank macht, dass Ihr nicht mehr mitmachen könnt; <strong>und</strong><br />
Ihr müsst eure Körper auf die Zahnräder <strong>und</strong> Antriebswellen legen, <strong>und</strong> auf die<br />
Hebel <strong>und</strong> Schalter, auf die gesamte Apparatur, <strong>und</strong> Ihr müsst sie zum Stehen<br />
bringen.“ (Mario Savio, Berkeley)<br />
1969 NeBelKöeRPeR/BeNSe<br />
Während Jimmy Hendrix Woodstock zum Schwingen bringt, notiert Max Bense:<br />
„Nur noch wie Haar sein, fest <strong>und</strong> fein <strong>und</strong> sensibel, aber wortlos <strong>und</strong> schmerzlos.“<br />
(Max Bense 1970)<br />
1970 ZABRISKIe POINT/ANTONIONI<br />
Ballett der Zerstörung, Kühlschränke <strong>und</strong> Konsumgegenstände explodieren <strong>und</strong><br />
fliegen als Partikelsystem in Zeitlupe durch die Luft.<br />
199
DANIel FeTZNeR<br />
Systemskizze<br />
200
literatur<br />
BeNSe, M. (1951): Was ist Existenzphilosophie. Köln.<br />
BeNSe, M. (1967): die zerstörung des durstes durch wasser. Köln.<br />
BeNSe, M. (1965): einführung in die Informationsästhetik. In: Ronge, Hans<br />
(Hg.) Kunst <strong>und</strong> Kybernetik. Köln, 29-41.<br />
BeNSe, M. (1970): Existenzmitteilung aus San Franzisko. Köln.<br />
CHRISTIAN, P. (1948): Die Willkürbewegungen im Umgang mit beweglichen<br />
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FRANKe, H. (1998): Das sogenannte Schöne. In: Telepolis http://www.heise.<br />
de/bin/tp/issue/r4/dl-artikel2.cgi?artikelnr=3226&mode=print (Zugriff am<br />
07.03.2007)<br />
HOll, U. (2002): Kino • Trance • Kybernetik. Berlin.<br />
MANOVICH, l. (2005): Black Box - White Cube. Berlin.<br />
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www.aec.at/de/festival2006/podcasts/index.asp (Zugriff am 07.03.2007)<br />
PIAS, C. (2004): Cybernetics | Kybernetik. Zürich-Berlin.<br />
PYNCHON, T. (1973): Gravity`s Rainbow. New York.<br />
RIeGeR, S. (2003): Kybernetische Anthropologie. Frankfurt a. M.<br />
ROTeRMUND, H. (2001): Keine Anrufung des großen Bären. Feature Radio Bremen.<br />
SeARle, j. (1996): The Construction of Social Reality. Berkeley.<br />
THeWeleIT, K. (2006): absolute Sigm<strong>und</strong> Freud. Songbook. Freiburg.<br />
WAlTeR, H. (1994): Max Bense in Stuttgart. Marbach.<br />
WAlTHeR, e. (1999): Max Bense <strong>und</strong> die Kybernetik. In: Computer Art Faszination,<br />
360.<br />
WIeNeR, N.(1963): Kybernetik. Wien.<br />
Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />
201
STeFAN SelKe<br />
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis im Kontext digitalisierter Regionalmanagementprozesse<br />
1 Technische Innovation <strong>und</strong> soziale Implikation – Umrisse eines<br />
Forschungsfeldes zwischen Medien <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
Wie entsteht ein neues Forschungsfeld <strong>und</strong> welchen Nutzen kann man daraus<br />
ziehen? Im folgenden Beitrag wird das Potenzial für ein Forschungsprojekt aufzeigt,<br />
das „gelebte“ Interdisziplinarität ermöglicht. Die Überschrift suggeriert ein<br />
Projekt zwischen Produktion <strong>und</strong> Nutzung digitaler Medien. Gegenstand ist der<br />
Einfluss sog. Regio-Wikis (als Bespiel für eine technische Innovation) auf regionale<br />
Identifikationsprozesse (als Beispiel für eine soziale Implikation). Bevor ich<br />
die Skizze zum Forschungsprojekt präsentiere <strong>und</strong> den Forschungsstand aufbereite,<br />
möchte ich einleitend danach fragen, welchen gr<strong>und</strong>sätzlichen Nutzen diese<br />
Art von Projekt haben kann.<br />
Disziplinübergreifendem Orientierungswissen <strong>und</strong> gelebte Interdisziplinarität<br />
Mit steigender Professionalisierung in einem Arbeitsbereich wächst die Gefahr,<br />
die effekte des eigenen Handelns nicht mehr ausreichend einschätzen zu können.<br />
Diese „Betriebsblindheit“ durch Spezialisierung gibt es in jedem Beruf. Wo<br />
203
STeFAN SelKe<br />
also liegt das Optimum zwischen Spezialisierung <strong>und</strong> Generalisierung? Dort, wo<br />
neben einem klar benennbaren Kompetenzbereich auch angrenzende Methoden<br />
beherrscht sowie darüber hinaus gehende Zusammenhänge <strong>und</strong> Potenziale erkannt<br />
werden. Neben der Meisterschaft in einem Fach geht es also auch darum,<br />
tragfähiges Orientierungswissen über technische, ökonomische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
entwicklungen aufzubauen.<br />
Das hier vorgeschlagene Projekt untersucht den Zusammenhang zwischen der<br />
technischen entwicklung von Kommunikationsmedien <strong>und</strong> deren sozialen Gebrauchsweisen<br />
<strong>und</strong> Auswirkungen. Zahlreiche, mit einander verknüpfte, Beziehungen<br />
zwischen Informationstechnologien <strong>und</strong> Gesellschaftsentwicklungen<br />
können dabei erkannt werden. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Frage, wie<br />
Medien gesellschaftliche Strukturen in einer Wissens- <strong>und</strong> Informationsgesellschaft<br />
verändern <strong>und</strong> sich dadurch auf individuelles <strong>und</strong> kollektives Handeln auswirken.<br />
Ziel des Forschungsprojekts ist es, einen Beitrag zur Orientierungshilfe<br />
beim Studium der „Landkarte Informations- <strong>und</strong> Wissensgesellschaft“ zu entwerfen.<br />
erst auf diese Weise wird das Gesamtphänomen Informationsgesellschaft<br />
– weit über rein technische Aspekte hinausgehend – an Kontur gewinnen. Nur<br />
wenn sowohl das kulturspezifische System Softwareentwicklung <strong>und</strong> Mediennutzung<br />
mit dem spezifischen System konkreter Anwendungen verb<strong>und</strong>en wird <strong>und</strong><br />
beide ebenen in Verbindung mit gesellschaftlichen Institutionen gesetzt werden,<br />
wird deutlich, dass Informationstechnologie <strong>und</strong> Information als „defining technologies“<br />
ganz wesentlich kulturelle, ökonomische, soziale sowie politische „Projekte“<br />
sind, wenn man von den technischen Gr<strong>und</strong>eigenschaften abstrahiert.<br />
2 Innovations- <strong>und</strong> Technikanalyse mit regionalwissenschaflicher<br />
Fragestellung<br />
Ein Teil des „sozialen Internets“ (oder Web 2.0) gehört den Wikis. Diese Internetanwendungen<br />
<strong>und</strong> Werkzeuge kollaborativer Zusammenarbeit markieren als<br />
emerging technologies ein relativ neues Feld des Fortschritts. Die Nutzung von<br />
Wikis im Rahmen von Stadt- <strong>und</strong> Regionalmanagementprozessen ist ein noch<br />
nicht einmal in Ansätzen untersuchtes Praxis- <strong>und</strong> Forschungsfeld. Regio-Wikis<br />
sind interaktive Informationsportale, die Inhalte zu Städten <strong>und</strong> Regionen sammeln<br />
<strong>und</strong> die Möglichkeit bieten, diese Inhalte partizipativ zu generieren. Durch<br />
die einbindung der Nutzer entsteht eine neue Form der Vernetzung sozialer<br />
Akteure, die unter dem Gesichtspunkt regionaler Identitätsstiftung untersucht<br />
werden kann. Die Analyse von Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis im Kontext dynamisierter<br />
<strong>und</strong> digitalisierter Regionalmanagementprozesse stellt daher eine notwendige<br />
einschätzung der Diffusionsbedingungen einer neuer Technologie dar.<br />
Die damit verb<strong>und</strong>enen Fragestellungen sind als Querschnittsthema zwischen<br />
Informatik (Entwicklungskontext) <strong>und</strong> <strong>Raum</strong>planung (Anwendungskontext) zu<br />
204
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
verstehen. Sie berühren rechtliche Fragen (Informationsautonomie, Medienethik),<br />
sozio-kulturelle Aspekte (neue Formen der Herstellung kollektiver Identität)<br />
sowie letztlich auch politische Aspekte (Demokratisierungspotenzial durch<br />
partizipative Kommunikationsformen <strong>und</strong> Technologien). Gr<strong>und</strong>sätzliche Potenziale<br />
<strong>und</strong> Risiken werden methodisch <strong>und</strong> fallbezogen untersucht. Somit können<br />
entwicklungs- <strong>und</strong> Anwendungspotenziale (Partizipationsformen, Bewusstseinsprozesse)<br />
sowie Risiken (z.B. Partizipationshindernisse, Definitionsmonopole)<br />
proaktiv erkannt werden.<br />
Soziale Integration ist eine Basisherausforderung in kommunalen <strong>und</strong> regionalen<br />
Handlungsfeldern. Räumliche Identifikationsprozesse sind ein zentrales<br />
element von <strong>Raum</strong>entwicklung. Im Spannungsfeld zwischen Regionalplanung<br />
<strong>und</strong> zielgruppenspezifischer Regionalentwicklung kann gegenwärtig das Zusammentreffen<br />
neuer technologischer entwicklungen (Web 2.0/Social Software)<br />
mit virulenten gesellschaftlichen Fragestellungen (Regionalisierungstendenzen)<br />
beobachtet werden. Hierbei kommen nicht nur netzbasierte Verwaltungsinstrumente<br />
(e-governance bzw. e-government) zum einsatz, sondern auch Systeme der<br />
medialen Repräsentation dieser Handlungsfelder.<br />
Der Einfluss kollaborativer Zusammenarbeit im Netz auf kollektive Sinnstiftung<br />
setzt immer häufiger auf einer regionalen Identifikationsarchitektur auf. Dies<br />
ist jedoch nicht nur Ausdruck dynamisierter Partizipationsräume, sondern wird<br />
ebenfalls durch soziale Unterschiede im Zugang <strong>und</strong> unterschiedliche Nutzerverhalten<br />
(e-readiness, digital divide) mit geprägt. Dass es hierbei zu folgenreichen<br />
Diffusionsprozessen/-zyklen kommt, kann gerade im Rahmen einer IuT unter<br />
Beweis gestellt werden. Das Web 2.0 <strong>und</strong> die dazugehörigen Regio-Wikis schaffen<br />
zwar neue Handlungspotenziale, diese müssen jedoch auch auf Risiken hin<br />
untersucht werden. Das Forschungsprojekt reagiert daher auf neue Formen der<br />
Konvergenz von Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Anwendungspraktiken. es erfüllt durch die Integration verschiedener<br />
Fachdisziplinen unter einer gegenstandsorientierten Fragestellung das<br />
Kernkriterium einer IuT, das der Interdisziplinarität <strong>und</strong> markiert zudem eine<br />
Forschungslücke. Die gr<strong>und</strong>legenden Voraussetzungen, Formen <strong>und</strong> Handlungsmöglichkeiten<br />
kollaborativer Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsmedien<br />
wurden bisher erst in Ansätzen erkannt. Die Diskussion dreht sich, nach Stephan<br />
(2006: 5) noch zu sehr um passive Funktionen der Anwendung neuer Techniken<br />
(technology push), statt deren entwicklung Richtung <strong>und</strong> Werte vorgeben zu können<br />
(culture pull).<br />
Das Projekt untersucht übergreifend den Einfluss von Regio-Wikis als Identitätsgeneratoren<br />
im Rahmen digitalisierter Regionalmanagementprozesse. Das<br />
inhaltliche Ziel besteht darin, eine durch die Methoden der Kultur- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />
angeleitete <strong>und</strong> zugleich empirisch begründete Folgenabschätzung<br />
des einsatzes innovativer IT-Anwendungen in einem Untersuchungsfeld mit regionalwissenschaftlicher<br />
Relevanz vorzunehmen. Durch die Untersuchung von<br />
205
STeFAN SelKe<br />
Prozessen regionenspezifischer Identitätsstiftung wird der Einfluss neuer Technologien<br />
auf gesellschaftliche Subsysteme exemplarisch verdeutlicht. Das Projekt<br />
ermöglicht die gesellschaftskritische Begleitung dieser Innovationen <strong>und</strong> stellt<br />
notwendiges Korrektivwissen für technologische entwicklungen bereit.<br />
In pluralistischen Gesellschaften sind Sinngemeinschaften vermehrt auch künstliche<br />
Produkte. Daher wird hier danach gefragt, ob die partizipative Herstellung<br />
einer Informationsplattform eine Informationsgemeinschaft etabliert, die weitere<br />
soziale Mechanismen (Exklusivität, Definitionsmonopole, Google-Ranking usf.)<br />
indirekt zu einer dominanten Versinnbildlichung (symbolischen Repräsentation)<br />
einer Region <strong>und</strong> schließlich zu einem regionenbezogenem Bewusstsein führt.<br />
Das Forschungsprojekt stellt daher eine Akzeptanz- <strong>und</strong> Potenzialanalyse von<br />
Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis zwischen Produktion <strong>und</strong> Nutzung neuer digitaler Medien<br />
in den Mittelpunkt. Untersucht wird der Einfluss von Regio-Wikis auf regionale<br />
Identifikationsprozesse. Der von Regio-Wikis erzeugte Informationsraum wird<br />
damit zu einem Identitätsraum (vgl. Abb. 1). Regio-Wikis sind dabei Beispiele<br />
für medieninduzierte <strong>und</strong> virtuelle Diskurse, wie sie für die Informations- <strong>und</strong><br />
Wissensgesellschaft typisch sind. eine Forschungslücke <strong>und</strong> damit ein Bedarf an<br />
empirisch f<strong>und</strong>ierte Analyse bestehen hinsichtlich des Potenzials sozialer Software<br />
als Identitätsgeneratoren im oben angesprochenen Sinne.<br />
3 Problembeschreibung <strong>und</strong> Fragestellungen für ein Forschungsprojekt<br />
Charakteristikum eines regionalen Systems ist seine fortlaufende, nicht prognostizierbare<br />
Änderung <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Anpassungsleistungen. eine<br />
Region konstituiert sich geradezu als Summe von Anpassungsleistungen auf soziale<br />
Wandlungsprozesse. Das Projekt greift eine derartige Schnittstelle heraus,<br />
die spezifische Anpassungsleistungen markiert: die Interdependenz zwischen<br />
technischem Fortschritt (Web 2.0) <strong>und</strong> gesellschaftlichen Bedürfnissen (mediale<br />
Symbolisierung von Regionen). Regionalwissenschaftliche Forschung untersucht<br />
u.a. den Konstruktionsprozess <strong>und</strong> die Funktionsweise regionaler Identität. Diese<br />
allgemeine Ausgangslage erhält im Rahmen des vorliegenden Projekts eine technikorientierte<br />
Veranschaulichung: Der einsatz von Social Software-Technologien<br />
wird in seiner Auswirkung auf Prozesse der Informationsaneignung <strong>und</strong> Herstellung<br />
regionaler Identität untersucht.<br />
Die Leitfrage des Forschungsprojekts lautet daher: Wie wirken sich die neuen<br />
Web 2.0-Technologien im Kontext digitalisierter <strong>und</strong> dynamisierter Regionalmanagementprozesse<br />
auf deren narrative Symbolisierungen <strong>und</strong> damit die Selbstdefinition<br />
von Regionen aus? Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Leitfrage ergeben sich<br />
folgende Analysefelder:<br />
206
• Prozesse der Technikdiffusion <strong>und</strong> Höhe der Technikakzeptanz;<br />
• Vernetzung von Regio-Wikis <strong>und</strong> Semantische Analyse von Wikis;<br />
• Wirkungsformen zwischen alltäglichen Regionalisierungen sozialer Akteure<br />
(„Regionalbewusstsein“) über der Selbstdefinition von Regionen („Regionale<br />
Identität“);<br />
• Mehrebenenanalyse: Vergleichende Analyse von 1. der kognitiven Ebene<br />
(Bewusstsein von Region, Unterscheidbarkeit zu anderen Regionen), 2. der<br />
affektiven ebene (Ausmaß der gefühlsmäßigen Bindung als Gr<strong>und</strong>lage für<br />
ein kollektives Bewusstsein, Abgrenzung zu anderen Formen von Identität)<br />
<strong>und</strong> 3. der instrumentellen ebene (Mobilisierungspotenzial regionaler Identität<br />
für kollektive Handlungen in Hinsicht auf politische, soziale <strong>und</strong> ökonomische<br />
Ziele);<br />
• Vergleich von Wissensformen zwischen medial <strong>und</strong> personengeb<strong>und</strong>en regionenspezifischen<br />
Inhalten;<br />
• Darstellung institutioneller Innovationshemmnisse bei der Implementation<br />
<strong>und</strong> Untersuchung normativer Machtverhältnisse <strong>und</strong> Konfliktanalyse<br />
4 Stand der Forschung – Von der Informationsplattform zur Sinngemeinschaft<br />
Das hier vorgeschlagene Projekt markiert die Schnittmenge dreier Forschungsfelder:<br />
1. Der Mediensoziologie/-wissenschaft, die nach den Bedingungen „verteilter<br />
Gesellschaftlichkeit“ in virtuellen Informationsräumen fragt; 2. dem Knowledge<br />
Media Design, einem interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem nach den<br />
Produktions- <strong>und</strong> Nutzungsbedingungen medial behandelbaren Wissens gefragt<br />
wird, <strong>und</strong> 3. der Regionalwissenschaft, die nach den Voraussetzungen regionaler<br />
Identitätsbildungsprozesse sucht. Die Interdependenz dieser drei Bereiche <strong>und</strong><br />
ihrer Überlappungen – Informationsräume, Identitätsräume <strong>und</strong> Partizipationsräume<br />
(vgl. Abb. 1) – wird im Folgenden skizziert.<br />
Stand der Forschung zu Knowledge Media Design (KMD)<br />
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
Neue Wissensmedien wirken der denaturierenden Formalisierung menschlicher<br />
Bedürfnisse entgegen. Knowledge Media Design (KMD) ist eine noch neue Disziplin,<br />
in deren Umfeld interdisziplinär zu “Generierung, Vermittlung, Präsentation<br />
<strong>und</strong> Bewahrung von medial behandelbarem Wissen <strong>und</strong> Wissensmedien“<br />
(vgl. Stephan 2006: 1; Hervorhebung, d.V.) geforscht wird. Regio-Wikis können<br />
vor diesem Hintergr<strong>und</strong> exemplarisch als eine Form medial behandelbares Wissen<br />
betrachtet werden. eine der Forschungsachsen des KMD besteht in der Analyse<br />
von Nutzerbeteiligungen (vgl. Reiterer 2006; Hagebölling 2004). Bekannt<br />
207
STeFAN SelKe<br />
ist, das narrative <strong>und</strong> interaktive Dramaturgien im Kontext von Wissensmedien<br />
die Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Beteiligung des Nutzers erhöhen. Gerade das Beispiel<br />
der Regio-Wikis zeigt, dass Narrationen zwischen externen <strong>und</strong> internen Repräsentationen<br />
(in diesem Fall: kognitive Repräsentationen einer Region) vermitteln<br />
können (Nothnagel 2006: 99ff.). Die dabei entstehenden verteilten digitalen<br />
Informationsräume (Geelhaar 2006: 225) sind ohne weiteres im Rahmen eines<br />
erweiterten <strong>Raum</strong>sbegriffs (vgl. z.B. Schroer 2006) unter sozial- <strong>und</strong> regionalwissenschaftlicher<br />
Fragestellung zu analysieren. Hierbei geht es primär darum,<br />
zu fragen, wie durch kollektive Intelligenz in Experten-Communities (Bleimann/<br />
löw 2006: 36ff.) auch kollektive Identität hergestellt wird. Wie das Beispiel Stadt-<br />
<strong>und</strong> Regio-Wikis zeigt, reagieren lokale <strong>und</strong> regionale Experten aufeinander <strong>und</strong><br />
erzeugen so eine emergente Agenda mit regionalem Inhalt. Dabei gilt es zu untersuchen,<br />
welche Randbedingungen sich auf diese Form der „Schwarmintelligenz“<br />
förderlich oder hinderlich auswirken. Hierzu kann an aktuelle Ansätze zur<br />
erforschung kollektiver Intelligenz in mediatisierten Umgebungen angeknüpft<br />
werden (Bloom 1999; levy 1997) <strong>und</strong> gefragt werden, wie interaktive Produkte<br />
gestaltet, wahrgenommen, erlebt <strong>und</strong> bewertet werden (Hassenzahl 2006: 147ff.)<br />
<strong>und</strong> wie sich über Fragen des Usability-enineering <strong>und</strong> der jagd nach Informationen<br />
(Busmester 2006: 181) hinaus regionales Bewusstsein generieren lässt.<br />
Kurz: Welchen emergenten Sprung kann man von der Nutzung eines Regio-<br />
Wikis als Informationsplattform (Inszenierung von Informationen) zur Sinngemeinschaft<br />
(Integration von Identität) feststellen?<br />
Stand der Forschung zu Mediensoziologie<br />
Die Mediensoziologie der Wissensgesellschaft analysiert die ständig aufkommenden<br />
neuen Wissenspraktiken, deren gesellschaftliche Folgen (z.B. Kübler/<br />
elling 2004) <strong>und</strong> macht Wechselwirkung zwischen Technik <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
transparent. Bereits zu Beginn des Multi-Media-Booms wurde durch die Begriffsschöpfung<br />
„Sociomedia“ (Barrett 1994) auf die soziale Konstruiertheit von Wissen<br />
hingewiesen. Dies gilt insbesondere für die Herausbildung einer Netzkultur<br />
(vgl. Arns 2002; Faßler 2001), die keine Grenzen zwischen „Undergro<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Universität“ (Stephan 2006: 5) mehr kennt. In diesem deinstitutionalisierten<br />
Spannungsfeld bewegen sich heute die partizipativen Wiki-Nutzer. In der Wissensgesellschaft<br />
ist das zentrale Medium der Akquise <strong>und</strong> Integration von Wissen<br />
der (vernetzte) Computer. Durch diese Omnipräsenz digitaler Medien <strong>und</strong> deren<br />
dynamische entwicklung entsteht zunehmend medial vermitteltes Wissen (vgl.<br />
eibl et al. 2006). Wissensprozesse, d.h. sowohl Herstellung als auch Aneignung<br />
von Wissen, haben sich von materiell <strong>und</strong> territorial geprägten Wirtschaftsprozessen<br />
hin zu symbolisch <strong>und</strong> telemedial organisierten Kommunikationsprozessen<br />
gewandelt. Zu fragen ist dabei, ob dadurch neue emanzipatorisch wirksame Potenziale<br />
(vgl. Hartmann 2002) erschlossen werden können.<br />
208
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
Internet <strong>und</strong> Identität: Identitätsbildende Prozesse von Individuen durch internetbasierte<br />
Kommunikation bzw. computervermittelte Kommunikation sind<br />
mittlerweile beinahe erschöpfend untersucht worden (z.B. aus sozialpsychologischer<br />
Perspektive Döring 2003; aus psychologischer Vitouch 2004; gr<strong>und</strong>legend<br />
Turkle 1999). Bisher ist dabei jedoch meist von Teilidentitäten, z.B. der Geschlechterordnung<br />
in virtuellen Parallelwelten (z.B. Dittmann 1998 <strong>und</strong> Neverla<br />
1998) die Rede. Herstellungsprozesse kollektiver Identität werden vor allem im<br />
Bereich der Untersuchung virtueller Gruppen als Form sozialer Systeme (vgl.<br />
Thiedecke 2003), der interkulturell vergleichenden Migrationsforschung (vgl.<br />
Breidenbach/Zukrigl 2003) oder im Diskurs um Transkulturalität (z.B. Hipfl<br />
2004) thematisiert. Die dabei untersuchten „Identitätsräume“ <strong>und</strong> medienvermittelten<br />
Gemeinschaften (z.B. Hipfl/Hug 2006) schieben aber immer wieder<br />
Vergemeinschaftungskategorien wie z.B. nationale Identität <strong>und</strong> körperbezogene<br />
Identität in den Vordergr<strong>und</strong>. Relativ neu ist der Diskurs um „Urbane Narrationen“<br />
im Bereich der stadtsoziologischen Forschung, der zeigt, dass Identitäten<br />
durch (gemeinsame) Erzählungen generiert <strong>und</strong> stabilisiert werden. Eine explizite<br />
Thematisierung regionaler Identitätsbildungsprozesse findet in den genannten<br />
Diskursen jedoch nicht statt.<br />
Demokratisierungspotenzial: Neben Identitätsprozessen greift die Kultur- <strong>und</strong><br />
Medienwissenschaft die Gründungsmythen des Internets auf <strong>und</strong> fragt nach deren<br />
Realisierungsgrad. Hierbei steht die Frage nach der vermeintlichen „Demokratisierung“<br />
des Internets im Vordergr<strong>und</strong>. Damit verb<strong>und</strong>ene Aspekte werden<br />
unter dem Begriff e-democracy (vgl. Buchstein 1996; Hoecker 2002; leggewie<br />
2004, 2003; Te Reh 2004; Rheingold 1996) behandelt. Das Demokratisierungspotenzial<br />
wird dabei allen Utopien zum Trotz immer stärker angezweifelt. So<br />
stellt die Untersuchung der „Google-Gesellschaft“ (vgl. Batelle 2006; Lehmann/<br />
Schetsche 2005; Vise/Malssed 2006) die digitale Wissensordnung im Bereich<br />
von ökonomie <strong>und</strong> Kultur gr<strong>und</strong>sätzlich unter Verdacht. Hieran schließen sich<br />
medienethische Fragestellungen nach dem Recht auf informationelle Selbstdarstellung<br />
oder zum Umgang mit Wissen in elektronischen Räumen (vgl. Kuhlen<br />
2004) an, die zwischen Illegalität <strong>und</strong> Illegitimität unterscheiden. Dass nicht alle<br />
BürgerInnen zugleich auch User sind, zeigen zahlreiche Untersuchungen zur<br />
digitalen Kluft (vgl. Bühl 2000; Castells 2002; Bonfandelli 2002; Kubicek 2004;<br />
Norris 2001), denen ständig aktualisierte empirische Bef<strong>und</strong>e (vgl. TNS-emnid<br />
2003; van eimeren/Frees 2005) zur Seite stehen.<br />
Humanisierung des Internets: Dennoch besteht ein zentraler Bef<strong>und</strong> mediensoziologischer<br />
Forschung darin, zu zeigen, dass Mediennutzer immer häufiger den<br />
„Bereich des Codes“ betreten. Bisher konnte die Nutzung von Computersystemen<br />
in weiten Bereichen nur als Zumutung begriffen werden, die darauf beruht,<br />
dass menschliche Bedürfnisse nur durch Denaturierung in das informationelle<br />
System integriert werden konnten. Software erzwingt maschinengerechte Formalisierungen,<br />
computerbasierte Handlungsräume werden aus Nutzersicht als<br />
209
STeFAN SelKe<br />
mehr oder weniger vorstrukturiert empf<strong>und</strong>en. Ganz anders wird das Web 2.0 erlebt.<br />
jeder User wird unter den Bedingungen partizipativer Wissensprozesse zum<br />
Wissensunternehmer in eigener Sache, der versucht, möglichst effizient Wissen<br />
zu generieren <strong>und</strong> innerhalb einer fachlichen community soziale Anerkennung<br />
zu erhalten. Daher kann man ohne Übertreibung von einer „Humanisierung des<br />
Internets“ sprechen.<br />
Social Software <strong>und</strong> WIKIs: Gegenwärtige IT-entwicklungen, die unter den Begriffen<br />
„Web 2.0“ oder „Social Software“ (zur Übersicht Hildebrand 2006) zusammengefasst<br />
werden, kommen einem Paradigmenwechsel gleich. Dieser<br />
betrifft im Kern die Art <strong>und</strong> Weise, wie netzbasiert Inhalte produziert <strong>und</strong> konsumiert<br />
werden. Statische Webseiten werden zunehmend durch interaktive Wikis<br />
ersetzt, bei denen die leser selbst auch zu Produzenten werden <strong>und</strong> die Inhalte<br />
einer Webseite verändern können, indem sie eigenständig Informationen hinzufügen.<br />
Die Konsumenten partizipieren also an der Herstellung <strong>und</strong> Darstellung<br />
der Inhalte. Die Rollen von Produzent <strong>und</strong> Rezipient lösen sich auf, völlig neue<br />
Wissenswelten aber auch Identifikationsflächen entstehen. Aus dem passiven<br />
end-User wird der partizipative Nutzer (leuf 2001; Streif 2006), der informiert<br />
<strong>und</strong> freiwillig Inhalte zusammenträgt <strong>und</strong> in das jeweilige thematisch umgrenzte<br />
Wiki einstellt. Die “heimliche Medienrevolution” (Möller 2006) besteht darin,<br />
dass die meisten Wikis das Editieren von Text ohne vorherige Anmeldung <strong>und</strong><br />
ohne Kenntnisse von HTMl erlauben. Somit entsteht ein gewaltiges Potenzial<br />
kollaborativer Medien. Der größte Vorteil von Wikis besteht in ihrer Aktualität<br />
<strong>und</strong> Multimedialität. Probleme auf technischer <strong>und</strong> inhaltlicher ebene beziehen<br />
sich auf die Relevanz <strong>und</strong> Neutralität von Informationen. „Edit-Kriege“ verdeutlichen,<br />
dass gerade in selbstorganisierenden Gemeinschaften Deutungshoheiten<br />
angestrebt <strong>und</strong> mit allen technischen Mitteln realisiert werden. Die sich schon<br />
jetzt abzeichnenden Weiterentwicklungen, Vertrauensnetze („Web of Trust“) <strong>und</strong><br />
Peer-to-Peer-Technologien versuchen, genau an dieser Stelle anzusetzen.<br />
Wikis existieren nicht nur in der Form der freien Enzyklopädie Wikipedia. Im<br />
hier vorgestellten Forschungsprojekt werden sog. Regio-Wikis untersucht, d.h.<br />
Wikis mit thematischer Spezialisierung auf raumbezogene Informationen. Diese<br />
können sich lokal auf eine Stadt oder einen Stadtteil beziehen (Stadt-Wikis)<br />
oder auf der mittleren Maßstabsebene eine ganze Region in den Blick nehmen<br />
(Regio-Wikis). Regio-Wikis ergänzen die allgemeinen Informationen enzyklopädischer<br />
Projekte. Das Stadtwiki Karlsruhe (http://ka.stadtwiki.net) ist das größte,<br />
freie Stadt-Wiki der Welt. es versteht sich als Informationsportal für die Stadt<br />
Karlsruhe <strong>und</strong> ihre Umgebung (landkreis Karlsruhe). Das Stadtwiki Karlsruhe<br />
enthält Informationen zu allen Themen, die einen Bezug zu Karlsruhe haben,<br />
es informiert detailliert <strong>und</strong> vernetzt zu Geographie, Natur, Geschichte, Politik,<br />
Religion, <strong>Bild</strong>ung, Kultur, Soziales, Sport, Wirtschaft <strong>und</strong> Verkehr. ein Beispiel<br />
für ein Regio-Wikis ist das Wiki zur Metropolregion Rhein-Neckar (http://wiki.<br />
rhein-neckar.de).<br />
210
In der Literatur zu Wikis finden sich entweder Übersichtsdarstellungen zum<br />
Oberbegriff Social Software (vgl. z.B. Szugat 2006) oder zum Web 2.0 oder Abrisse<br />
technischer Aspekte der kollaborativen Zusammenarbeit im Netz (vgl. Klobas<br />
2006; Alby 2007). Soziale Aspekte finden nur selten Eingang <strong>und</strong> sind meist<br />
auf die Funktion der „Rückeroberung des Netzes“ durch Weblogs (Eigner/Leitner/Nausner<br />
2003) beschränkt. Auf internationaler ebene beschäftigen sich zum<br />
Thema „Soziale Implikationen des Web 2.0 z.B. die Forschungsgruppe „Community<br />
Lab“ (http://www.communitylab.org), eine Gruppe von Forschern diverser<br />
Universitäten mit der Frage, unter welchen sozialpsychologischen Bedingungen<br />
mit Hilfe von Onlinemedien lokale Vergemeinschaftungsprozesse („Computer<br />
Supported Cooperative Work“) stimuliert werden können (Butler et al. 2002; Beenen<br />
et al. 2004). An der University of Michigan School of Information fragt man<br />
sich im Forschungbereich “Information use in communities”, wie die Schnittstelle<br />
zwischen Humankapital <strong>und</strong> Computer in Zukunft gestaltet werden muss.<br />
Dafür wurde die Wortschöpfung „SocioTechnical Capital“ (Resnick 2002) eingeführt.<br />
Stand der Forschung zu regionaler Identität<br />
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
Räume sind „Territorien des Selbst“ (Goffman). Der <strong>Raum</strong>bezug sozialen Handelns<br />
<strong>und</strong> die Stabilisierung räumlicher Sinnordnungen werden sowohl in der Sozialgeographie<br />
(vgl. Werlen 2004) als auch in der Wissenssoziologie (vgl. Berger<br />
1995) diskutiert. Räume sind für beide Disziplinen soziale Konstrukte mit einer<br />
Sinnstruktur, d.h. Projektionsflächen für territoriale, juristische, ökonomische,<br />
technische, touristische oder eben auch identitätsstiftende Prozesse. <strong>Raum</strong>, Region<br />
<strong>und</strong> Identität bilden eine unauflösbare handlungsleitende Triade. Gr<strong>und</strong>lage<br />
der interdisziplinären Forschung zu regionaler Identität ist die Neujustierung des<br />
<strong>Raum</strong>begriffs (vgl. Kaufmann 2005) als handlungsbezogene Sinnordnung: Was<br />
im <strong>Raum</strong> geschieht hat damit eine andere Qualität als das, was in einer als Region<br />
attribuierten <strong>Raum</strong> geschieht. Letzteres macht Personen, Objekte, Situationen<br />
<strong>und</strong> Orte zu sinnvollen elementen einer wieder erkennbaren Ordnung, die nicht<br />
nur in einer positionalen Relation zueinander stehen.<br />
Regionen können als heuristisches Schlüsselkonzept verstanden werden. Sie gewinnen<br />
als maßstäblich zu verstehender Gegenpol zur globalen Welt des Wissens<br />
<strong>und</strong> der ökonomie zunehmend an Bedeutung (z.B. Hanika/Wagner 2004). Auch<br />
Regionen sind Konstrukte <strong>und</strong> daher nicht selbstevident: Selbst wenn die Wechselwirkung<br />
zwischen Akteuren, Handeln <strong>und</strong> Region scheinbar selbstverständlich<br />
ist, liegt dem dennoch ein Konstruktionscharakter zu Gr<strong>und</strong>e. erst durch die<br />
Beschreibungen von Regionen <strong>und</strong> erzählungen über Regionen (Narrationen)<br />
sowie das Vorhandensein symbolischer Repräsentationen entsteht eine neue<br />
Form sozialer Wirklichkeit.<br />
„Regionale Identität“ ist eine Abstraktion, die zum Verständnis von Prozessen<br />
zwischen sozialen Akteuren <strong>und</strong> Institutionalisierungsprozessen herangezogen<br />
211
STeFAN SelKe<br />
werden kann (Paasi 2001). Trotz des umfangreichen eingangs in die Forschung<br />
ist der Begriff jedoch nicht eindeutig abgegrenzt. So werden z.B. die Bezeichnungen<br />
Regionalbewusstsein, Regionalkultur oder regionale Mentalität synonym<br />
benutzt. Insgesamt hat der Begriff „Regionale Identität“ meist eine positive Konnotation,<br />
denn er suggeriert ein integratives Moment der Vergemeinschaftung.<br />
Die „Wiederkehr des Regionalen“ (Lindner 1994) wird seit gut einer Dekade gefeiert.<br />
Verb<strong>und</strong>en ist damit ist auch die Frage nach den Möglichkeiten „neuer“<br />
Formen regionaler Identität. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie durch<br />
Identitätsnarrationen konkrete Manifestationen von Regionen entstehen.<br />
Regionale Identität wurde bisher anhand verschiedener Beispielregionen untersucht.<br />
Neben den gr<strong>und</strong>legenden Analysen von Paasi (1986, 2002) zur Identität<br />
finnischer Regionen finden sich z.B. Studien zur westfälischen Identität (Küster<br />
2002; Pfau 2002) oder zur raumbezogene Identität als „Entwicklungsfaktor“<br />
für den ländlichen <strong>Raum</strong>. Regionale Identität wird auch als Gr<strong>und</strong>lage für Naturschutz<br />
<strong>und</strong> ökologische <strong>Raum</strong>planung <strong>und</strong> -entwicklung erachtet. Für den<br />
zweiten Prozessschritt, die symbolische Repräsentation, finden sich Studien zur<br />
Visualisierung der Regionen Westfalen (Tippach 2002) oder Sachsen (Marquardt<br />
2005).<br />
Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 417 „Regionale Identität“ wurde<br />
die Region Sachsen <strong>und</strong> die mit ihr verb<strong>und</strong>enen Prozesse des region making<br />
interdisziplinär erforscht. Regionenspezifische Identifikationsprozesse, die zum<br />
Aufbau regionenspezifischer Sinnordnungen beitragen, standen dabei im Mittelpunkt.<br />
Explizit werden darunter auch Aspekte des „Mit-tun-Wollens“ verstanden.<br />
Gerade dieses partizpative element wird im hier vorgeschlagenen Forschungsvorhaben<br />
betont. Damit wird der Fokus von der hauptsächlich auf kollektive<br />
Imaginationen ausgerichteten Sichtweise auf regionale Identifikationsprozesse<br />
zugunsten einer aktionalen Sichtweise verschoben. Zudem wird als das Medium<br />
der Aktion das Netz analysiert: Das partizipative element besteht in der gemeinsamen<br />
Nutzung von Regio-Wikis. Anknüpfend an den SFB kann dann weiter gefragt<br />
werden, ob sich Regio-Wikis als Identitätsgeneratoren dazu eignen, „Loyalitätsbeziehungen“<br />
aufzubauen bzw. „Sinngemeinschaften“ herzustellen, die zu<br />
einer „Persistenz des Regionalen“ beitragen. Auch wenn die im Rahmen des SFB<br />
vorgelegten ergebnisse sich in vielfacher Hinsicht als hilfreich erweisen, wird<br />
hier eine andere als die regionalgeschichtliche Perspektive eingenommen, indem<br />
auf eine vergleichende Untersuchung medieninduzierter Herstellungsprozesse<br />
regionaler Identität abgezielt wird. Die im SFB angesprochene „Architektur“ regionenbezogener<br />
Identifikationsprozesse, die von „vermittelnden Institutionen“<br />
hergestellt wird, kann also wörtlich genommen werden: Auch Webseiten bzw.<br />
Regio-Wikis haben einen Informationsarchitektur, aus der sich Sinnordnungen<br />
ergeben (können).<br />
Dass die Informationsarchitekturen, die durch Medien etabliert werden, zu<br />
neuen Sinnstiftungen führen, ist im Rahmen medienwissenschaftlicher Un-<br />
212
tersuchungen vielfach belegt worden. Medien sind sowohl Konstrukteure von<br />
Informations- als auch von Identitätsräumen. Gerade Studien zur Herstellung<br />
„transnationaler Identität“ (Hipfl 2004) zeigen, dass durch die Nutzung netzbasierter<br />
Medien neue Formen individueller <strong>und</strong> kollektiver Identität entstehen<br />
können. Im vorliegenden Projekt wird genau diese Perspektive betont. <strong>Raum</strong>bezogene<br />
Identität entsteht als Folge informationsred<strong>und</strong>anter Bedingungen, indem<br />
Identitätsnarrationen mittels verschiedenster Medien distribuiert werden.<br />
Sie entsteht aber auch als Folge homogener Konsensbeziehungen durch die „demokratische“<br />
Einigung auf wissenswerte bzw. darstellungswerte Inhalte, die in<br />
Form medial behandelbarem Wissen im Rahmen von Regio-Wikis zu neuartigen<br />
Prägnanzbildungsprozessen führen.<br />
Forschungskonturierende Schnittstellen<br />
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
Zusammenfassend sollen kurz die drei Schnittstellen, die sich zwischen den<br />
Perspektiven der Mediensoziologie, des Knowledge Media Design <strong>und</strong> der Regionalwissenschaft<br />
ergeben dargestellt werden. Die folgende Übersichtsgrafik<br />
verdeutlicht interdisziplinäre Zusammenhänge, thematische Schnittstellen <strong>und</strong><br />
inhaltliche Foki des Projekts.<br />
Abb. 1: Identifikation von Schnittstellen für das Forschungsprojekt „Netzbasierte Narrationen“<br />
213
STeFAN SelKe<br />
Informationsräume: In der Wissensgesellschaft spannen netzbasierte IuK-Technologien<br />
neue Sphären der Informationsverteilung auf. Wissen wird zunehmend<br />
medial vermittelt. Auch Wissen über den lokalen <strong>und</strong> regionalen <strong>Raum</strong> wird nicht<br />
erfahrungsgesättigt gewonnen, sondern medial vermittelt konsumiert.<br />
Identitätsräume: In „Multioptionsgesellschaften“ finden unter der Bedingung der<br />
Kolonialisierung von lebenswelt <strong>und</strong> der Pluralisierung von lebensformen Vergemeinschaftungsprozesse<br />
verstärkt in multiplen Identitfikationsräumen statt.<br />
Alte <strong>und</strong> neue Medien wirken dabei als Identitätsgeneratoren. Auch Regionalbewusstsein<br />
<strong>und</strong> regionale Identität werden zunehmend medial vermittelt.<br />
Partizipationsräume: Gr<strong>und</strong>lage der medialen Vermittlung regionaler Identität<br />
sind sinnstiftende Narrationen <strong>und</strong> kollaborative Arbeitsformen im Netz. Hiermit<br />
werden neue Partizipationsräume aufgespannt, deren Wirkung <strong>und</strong> Potenzial<br />
weit über bisherige regionale Prägnanzbildungs- <strong>und</strong> Managementprozesse<br />
hinaus.<br />
literatur<br />
AlBY, T. (2007): Web 2.0 Konzepte, Anwendungen, Technologien. München.<br />
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Media Design. Theorie, Methodik, Praxis. München.<br />
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MölleR, e. (2006): Die heimliche Medienrevolution. Wie Weblog, Wikis <strong>und</strong><br />
freie Software die Welt verändern. Hannover.<br />
PAASI, A. (1986): The Institutionalization of Regions. A Theoretical Framework<br />
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eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die<br />
Sinnhaftigkeit des eigenen lebens. Frankfurt a. M.<br />
SelKe, S. (2005a): Symbolische Politik oder Politik als Ware? Netzbasierte <strong>Bild</strong>wirkungsanalyse<br />
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rekonstruktiver Sozialforschung. In: Fetzner/Selke (2005) (Hg.), 9-25.<br />
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STePHAN, P. F. (2006): Knowledge Media Design – Konturen eines aufstrebenden<br />
Forschungs- <strong>und</strong> Praxisfeldes. In: Eibl et al., 1-42.<br />
STReIF, A. (2006): Wiki – Zusammenarbeit im Netz. Norderstedt.<br />
WeRleN, B. (2004): Sozialgeographie. München.<br />
Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />
215
III. Studentische Abschlussarbeiten
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum<br />
Pretesting von Messeständen im Rahmen von erlebnismarketing<br />
1 Inhalt der Arbeit<br />
Im Rahmen der Diplomarbeit „Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum<br />
Pretesting von Messeständen im Rahmen des Erlebnismarketing“ wurde zunächst<br />
erörtert, wie ein Unternehmen den Besucher eines Messestandes im Rahmen<br />
einer Erlebnisstrategie emotional beeinflussen kann <strong>und</strong> welche Auswirkungen<br />
dies auf das Verhalten des Besuchers hat. Daraufhin wurden Methoden untersucht,<br />
ob <strong>und</strong> wie die ausgelöste emotionale Wirkung kontrolliert <strong>und</strong> gemessen<br />
werden kann. Anschließend wurde ein Blick auf die technische Herstellung einer<br />
passenden virtuellen Umgebung geworfen. Dabei kamen aktuelle Methoden <strong>und</strong><br />
Werkzeuge zur Erstellung derartig komplexer Computergrafiken zum Einsatz.<br />
Abschließend wurde der Aufwand des Verfahrens aufgezeigt <strong>und</strong> ein Vergleich<br />
mit alternativen Verfahren vorgenommen.<br />
Ziel der Arbeit war es, geeignete Verfahren zur Messung von emotionen, die von<br />
Messeständen ausgelöst wurden, im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit sowohl<br />
beim realen als auch beim virtuellen Messestand, zu untersuchen. Damit sollte<br />
eine Gr<strong>und</strong>lage zur entwicklung eines ganzheitlichen Messansatzes der emotio-<br />
219
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
nalen Wirkung von Messeständen mit virtuellen Umgebungen geschaffen werden.<br />
2 Fragestellung<br />
Wie lässt sich eine emotionale Wirkung bei Messeständen im Rahmen einer erlebnisstrategie<br />
erreichen <strong>und</strong> wie kann diese schon vor einem teuren <strong>und</strong> aufwendigen<br />
Aufbau, mit einer virtuellen Testumgebung gemessen werden? Wie<br />
hoch ist der Aufwand einer entsprechenden virtuellen Umgebung <strong>und</strong> welche<br />
Vorteile ergeben sich im Vergleich zu alternativen Verfahren?<br />
3 Vorgehensweise<br />
Nachdem einleitend die Gr<strong>und</strong>lagen des erlebnismarketing geklärt wurden,<br />
konnte darauf eingegangen werden, welche Beeinflussungsmöglichkeiten sich<br />
aus emotions-, umwelt- <strong>und</strong> sozialpsychologischer Sicht bieten <strong>und</strong> wie diese<br />
erkenntnisse in der Konzeption <strong>und</strong> Gestaltung eines Messestandes umgesetzt<br />
werden. Daraufhin wurde überprüft, ob die Gestaltungsmerkmale auch auf die<br />
virtuelle Testumgebung übertragbar sind <strong>und</strong> welche einschränkungen sich ggf.<br />
ergeben.<br />
Danach wurden Meßmethoden vorgestellt, die die ausgelösten emotionen erfassen<br />
sollen <strong>und</strong> auf ihre Anwendbarkeit, sowohl für den realen Messestand als<br />
auch für die virtuelle Testumgebung, untersucht. Die Aufbereitung der Ausgangsdaten<br />
sowie die erstellung der virtuellen Umgebung wurden zum Teil sehr ausführlich<br />
behandelt, um lösungen für gängige Probleme zu erörtern. Dies schloss<br />
auch eine laufweganalyse mit ein. Die anschließende Analyse des Aufwands <strong>und</strong><br />
die Bestimmung des Anwendungspotenzials zeigten, neben den Möglichkeiten<br />
<strong>und</strong> Risiken, zukünftige Forschungsfelder <strong>und</strong> Anwendungsmöglichkeiten.<br />
4 Darstellung der Inhalte<br />
Gr<strong>und</strong>lagen des erlebnismarketing<br />
Das erlebnismarketing ist eine sog. Differenzierungsstrategie, bei der es um<br />
sinnliche Konsumerlebnisse geht, „die in der Gefühlswelt der Konsumenten verankert<br />
sind <strong>und</strong> ihre Werte, Lebensstile <strong>und</strong> Einstellung beeinflussen“(Weinberg<br />
1992: 3). es geht um Strategien, die den Konsum von Produkten, Dienstleistungen<br />
oder Marken zu einem persönlichen erlebnis werden lassen, wobei sich<br />
die vermittelten Erlebnisse nach der Lebensqualität des Konsumenten <strong>und</strong> speziell<br />
der jeweiligen Zielgruppe richten (a.a.O.). Dabei sollen durch eine erlebnis-<br />
220
etonte Kommunikation emotionen <strong>und</strong> Triebe aktiviert oder verstärkt werden.<br />
Das umworbene Produkt <strong>und</strong> die damit vermittelten erlebnisse tragen dann zur<br />
Realisierung der geweckten Triebe <strong>und</strong> Gefühle bei (Thiemer 2004: 165). Den<br />
emotionalen Wert, den das Produkt dadurch bekommt, nennt man emotionalen<br />
Erlebniswert. Darunter versteht man „den subjektiv erlebten, durch die Kommunikation<br />
oder das Produkt oder die einkaufsstätte vermittelten Beitrag zur lebensqualität<br />
des Konsumenten“ (Weinberg 1992: 3).<br />
Das erlebnismarketing versucht, die Kognitionen des Konsumenten über seine<br />
emotionen zu erreichen, d. h. das Verhalten des Konsumenten soll über seine<br />
Gefühle beeinflusst werden. Dabei kommt es darauf an, „die ‚richtigen’ Emotionen<br />
anzusprechen bzw. auszulösen, die zur gewünschten leistungsbeurteilung<br />
führen“ (a.a.O.). Zur emotionalen Beeinflussung bei Messeständen bieten sich<br />
verschiedene erklärungsansätze aus unterschiedlichen Disziplinen an.<br />
Beeinflussungsmöglichkeiten bei Messeständen<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />
Die emotionspsychologie setzt auf eine multisensuale Ansprache des Besuchers.<br />
Diese bietet die Möglichkeit, „mehrere modalspezifisch ausgelöste Einzelerlebnisse<br />
zu einem Gesamterlebnis zu kombinieren“ (Kroeber-Riel/Weinberg 2003:<br />
123). Die visuelle Informationsvermittlung hat dabei die größte Bedeutung <strong>und</strong><br />
möchte man den Besucher eines Messestandes emotional ansprechen <strong>und</strong> ihn,<br />
ohne den Umweg über seine Kognitionen, erreichen, „kommt der visuellen Kommunikation<br />
eine dominante Bedeutung zu“ (a.a.O.) <strong>und</strong> die visuelle Umsetzung<br />
eines erlebniskonzeptes trägt entscheidend zur Wirkung bei.<br />
Unterstützend dazu bieten sich auch Reize an, die die übrigen Sinne des Besuchers<br />
ansprechen, also auditive, haptische, olfaktorische <strong>und</strong> gustatorische Reize.<br />
Stimmt man die eingesetzten Reize nicht richtig aufeinander ab oder vernachlässigt<br />
einzelne Reizmodalitäten grob, muss man mit erheblichen Wirkungsverlusten<br />
rechnen (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 123). Im Idealfall gilt: „Je sinnlicher<br />
ein Erlebnis, desto besser wird es sich einprägen.“ (Pine/Gilmore 2000: 92)<br />
Weitere erkenntnisse für die emotionale Wirkung bei Messeständen kommen aus<br />
der Umweltpsychologie, denn auch die Umwelt beeinflusst das Verhalten über<br />
emotionale Reaktionen (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 428). Das bekannteste<br />
emotionspsychologische Modell, dass Auskunft über die Umwelt – Mensch – Beziehung<br />
gibt, stammt von Mehrabian <strong>und</strong> Russel. Für sie löst eine bestimmte Umgebung<br />
bei einem Menschen auch immer gewisse emotionale Reaktionen aus,<br />
die den Menschen insofern beeinflussen, dass er sich den Umgebungen mehr<br />
oder weniger nähert oder sie meidet (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 428). eine<br />
emotionale Beeinflussung kann dabei über eine ganzheitliche Inszenierung <strong>und</strong><br />
dramaturgische Gestaltung stattfinden. „Inszenierung ist die prototypische Methode<br />
der Kommunikation, wenn es darum geht, erkenntnisse <strong>und</strong> Botschaften<br />
zu vermitteln, Zustimmung zu erhalten, emotionen zu wecken, Sympathie zu<br />
221
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
gewinnen, Wohlbefinden zu erreichen, eine angenehme Unterhaltung zu bieten<br />
<strong>und</strong> Verführung zu erzeugen“ (Thiemer 2004: 196). Einzigartigkeit (Nickel 1998:<br />
137) <strong>und</strong> ein guter <strong>und</strong> themengeb<strong>und</strong>ener Spannungsaufbau sind die Gr<strong>und</strong>lage<br />
für den erfolg (Mik<strong>und</strong>a 1996: 66).<br />
Die Sozialpsychologie beschreibt die emotionale Wirkung des sozialen <strong>Raum</strong>es<br />
<strong>und</strong> den interpersonellen Kommunikationsprozess, denn in seiner Existenz als<br />
soziales Wesen ist der Mensch sowohl Initiator <strong>und</strong> gleichzeitig Produkt eines<br />
fortlaufenden Kommunikationsprozesses (Fischer/Wiswede 2002: 309). Am<br />
Messestand sollte daher eine dialogische Kommunikation stattfinden, da diese<br />
langfristiger <strong>und</strong> einstellungswirksamer als beispielsweise Werbemaßnahmen<br />
bei Massenkommunikation sind (Nickel 1998: 144 <strong>und</strong> Thiemer 2004: 201). Für<br />
die <strong>Interaktion</strong> zwischen Besucher <strong>und</strong> Unternehmen bedeutet dies vor allem die<br />
gezielte erlebnisvermittlung durch das Messestandpersonal. Der Verkäufer kann<br />
hierbei als Kommunikator dienen, mit dem Ziel, den Besucher zu beeinflussen<br />
<strong>und</strong> ihn letztendlich in seiner einstellung zu verstärken oder sie zu ändern <strong>und</strong><br />
ihn dadurch zum Kauf zu bewegen (Weinberg 1992: 102). Zudem sollte immer<br />
die Kommunikation zwischen den Besuchern gefördert werden, denn ein Besuch<br />
eines Messestandes <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Übernahme einer bestimmten<br />
Rolle (z.B. aktionsorientierte Rollen) eröffnen die Möglichkeit einer sozialen<br />
Identität innerhalb einer Gruppe von Gleichgesinnten, wodurch die entwicklung<br />
eines klassischen Gefühls von Gemeinschaft entstehen kann (Thiemer 2004:<br />
205). Dies könnte neben der richtigen Dramaturgie <strong>und</strong> Regie (Zanger/Sistenich<br />
1998: 58) auch beispielsweise durch Sitz- <strong>und</strong> Ausruhgelegenheiten umgesetzt<br />
werden.<br />
Wie dargestellt bieten sich bei Messeständen vielerlei Möglichkeiten, den Besucher<br />
emotional zu beeinflussen. Die Beeinflussung ist dabei ein sehr komplexer<br />
Vorgang, auf den vielerlei Faktoren Einfluss haben. Durch die virtuelle Testumgebung,<br />
mit der diese Beeinflussung kontrolliert <strong>und</strong> gemessen werden soll, ergeben<br />
sich allerdings einige einschränkungen, die die emotionale Wirkung beeinträchtigen<br />
können:<br />
Abb. 2: Aufbau der Testumgebung<br />
222
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />
An der Grafik lässt sich erkennen, dass die virtuelle Umgebung derzeit noch nicht<br />
alle, für eine emotionale Ansprache, relevanten Merkmale darstellen kann. Besonders<br />
das Fehlen der sozialen Komponenten ist ein großes Manko. Den visuellen<br />
Reizen, die sehr gut darstellbar sind, kommt bei der erlebnisvermittlung<br />
allerdings eine besondere Bedeutung zu. Sie haben, richtig eingesetzt, eine hohe<br />
emotionale Wirkung <strong>und</strong> Einfluss auf Aktivierung, Atmosphäre <strong>und</strong> Einstellung.<br />
Zudem sind visuelle Reize in der Lage, sowohl spezifische, als auch unspezifische<br />
erlebnisse zu transportieren.<br />
Auch Dramaturgie <strong>und</strong> Inszenierung können gut simuliert werden, da die Testpersonen<br />
sich im virtuellen Messestand frei bewegen können, ähnlich wie beim<br />
realen Messestand. Sie haben vor allem Einfluss auf den Spannungsverlauf, die<br />
Atmosphäre <strong>und</strong> die Stimmung.<br />
Diese drei Komponenten sind in der Ve also gut bis sehr gut darstellbar <strong>und</strong> es<br />
wird davon ausgegangen, dass dies (wenn auch unter Verlusten) trotz der fehlenden<br />
Komponenten ausreicht, den Besucher emotional anzusprechen. Die<br />
Möglichkeiten einer realitätsnahen, emotionalen Ansprache scheinen also, wenn<br />
auch eingeschränkt, gegeben. Bisher ist allerdings noch ungeklärt, inwiefern die<br />
Wirkung eines virtuellen Messestandes mit der seines realen Pendants übereinstimmt.<br />
Um dies kontrollieren zu können, sind Methoden nötig, die eine erfassung<br />
der ausgelösten emotionen am virtuellen Messestand <strong>und</strong> am realen Messestand<br />
ermöglichen, um spätere Vergleichtests zu gewährleisten.<br />
emotionsmessung im Rahmen des erlebnismarketing<br />
Bei den untersuchten Messmethoden handelt es sich um eine Auswahl von Verfahren,<br />
die auch in der bisherigen Konsumentenforschung angewendet werden<br />
<strong>und</strong> auf den Komponenten (Dimensionen) von emotionen beruhen, die allen<br />
Gefühlen gemeinsam sind (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 105). Nach verbreiteter<br />
Auffassung sind dies (a.a.O.: 106):<br />
1. erregung/Aktivierung;<br />
2. Richtung (angenehm oder unangenehm);<br />
3. Qualität (erlebnisinhalt);<br />
4. Bewusstsein.<br />
Zur erfassung der emotionsdimensionen bieten sich Messungen auf einer physiologischen,<br />
motorischen <strong>und</strong> subjektiven Erlebnisebene an (a.a.O.: 63). Verfahren<br />
auf physiologischer ebene, d.h. die erfassung elektrophysischer Indikatoren, wie<br />
beispielsweise die Messung elektrodermaler Reaktionen, (Groeppel-Klein 2004:<br />
48) während der Darbietung, sind meist apparativ <strong>und</strong> daher recht aufwendig,<br />
scheinen aber relativ aussagekräftig <strong>und</strong> valide (Kroeber-Riel/Weinberg 2003:<br />
68). ein Nachteil dieser Methoden liegt auch darin, dass hierbei nur einzelne<br />
223
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
emotionsdimensionen, wie die Aktivierung, erfasst werden können <strong>und</strong> über die<br />
beispielsweise die Richtung einer Dimension keine Aussagen gemacht werden<br />
können (a.a.O.).<br />
Die Messungen auf einer subjektiven Erlebnisebene, d.h. die Testpersonen geben<br />
Auskunft über ihre subjektiv wahrgenommenen Empfindungen (a.a.O.), sind weit<br />
verbreitet <strong>und</strong> scheinen hinsichtlich ihrer Handhabung sowohl auf den realen, als<br />
auch auf den virtuellen Messestand gut übertragbar zu sein. Sie können in verbaler<br />
Form, beispielsweise durch Befragung, spontan (Weinberg 1992: 128) oder<br />
mittels Skalen (Trommsdorff 1993: 83), oder auch in nonverbaler Form, wie die<br />
Magnitudeskalierung (Neibecker 1985: 50), auftreten. Hierbei ist es, wenn auch<br />
unter einschränkungen, möglich, alle emotionsdimensionen zu erfassen. jedoch<br />
stehen der relativ leichten Anwendung, vor allem bei den verbalen Methoden,<br />
Validitätsprobleme gegenüber, die nicht unbeachtlich sind (Trommsdorff 1993:<br />
83). Beobachtungstechniken, also Messungen auf der motorischen ebene, wie die<br />
FAST-Technik (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 112 <strong>und</strong> Izard 1994: 144), scheinen<br />
derzeit weder für den realen, noch für den virtuellen Messestand anwendbar.<br />
5 Zwischenfazit<br />
Die unterschiedlichen Methoden bringen alle einige Vor- <strong>und</strong> Nachteile mit sich,<br />
weswegen es schwer fällt, eine eindeutige Aussage darüber zu treffen, welches<br />
die am besten geeignete für die Wirkungskontrolle bei Messeständen ist. Für<br />
welches Instrument man sich letztendlich entscheidet, wäre daher explizit nach<br />
den gegebenen Umständen, wie Budget, Zeit oder dem geplanten Forschungszeitraum,<br />
zu entscheiden. eine Kombination einzelner Verfahren erscheint aufgr<strong>und</strong><br />
der vorliegenden Bef<strong>und</strong>e allerdings als empfehlenswert. Um in Zukunft<br />
die emotionale Wirkung von Messeständen, speziell mit der Ve, kontrollieren<br />
<strong>und</strong> messen zu können, scheint noch einiger Forschungsaufwand nötig zu sein.<br />
Zum einen bieten sich derzeit noch keine ausreichenden erklärungsansätze zur<br />
Wirkung dreidimensionaler erlebniswelten <strong>und</strong> ihrer emotionalen Wirkung auf<br />
den Besucher. Dies erschwert auch die Aussage darüber, inwiefern die Darstellungsmöglichkeiten<br />
ausreichen, eine dem realen Messestand ähnliche Wirkung<br />
zu erzielen. Zum anderen wären Forschungen im Rahmen der beeinflussenden<br />
Wirkung der Ve auf die Testpersonen nötig, die in dieser Arbeit unberücksichtigt<br />
blieben. Sollten die aufgeführten Probleme eindeutig geklärt werden können, bietet<br />
die VE eine gute Alternative, die Wirkung von Messeständen <strong>und</strong> komplexeren<br />
erlebniswelten, vorab zu untersuchen.<br />
224
6 Aufbau der Testumgebung<br />
Im Folgenden wird beschrieben, welche technischen Geräte <strong>und</strong> Verfahren eingesetzt<br />
werden. Dabei werden die Mittel des VR-labors der <strong>Hochschule</strong> verwendet.<br />
Aufbau <strong>und</strong> Funktion werden an folgender Skizze beschrieben:<br />
Abb. 2: Aufbau der Testumgebung<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />
Bei der Darstellung wird ein passives Stereobildverfahren angewendet, um einen<br />
dreidimensionalen Eindruck beim Rezipienten zu erwecken. Dazu wird für jedes<br />
Auge eine separate Ansicht auf die Leinwand projiziert. Dabei ist jeder Beamer<br />
für genau ein Auge zuständig. Die Polfilter vor den Linsen der Beamer sorgen<br />
zusammen mit der Polarisationsbrille dafür, dass jedes Auge nur sein zugeordnetes<br />
<strong>Bild</strong> sieht. Dadurch entsteht bei der Wahrnehmung des Rezipienten ein<br />
künstlicher 3D-effekt. Mit dem joystick kann sich der Rezipient durch die virtuelle<br />
Umgebung bewegen. er steuert dabei die virtuelle Kamera der Umgebung<br />
<strong>und</strong> ändert somit je nach Bedarf seine Blick- bzw. Laufrichtung. Der Joystick ist,<br />
wie die zwei Beamer auch, an den Ausgaberechner angeschlossen. Dieser verarbeitet<br />
alle Signale in echtzeit <strong>und</strong> liefert dem Rezipienten ein kaum verzögertes<br />
Ergebnis. Eine Grafikkarte mit zwei Monitorausgängen (Dual Head) ist dabei notwendig.<br />
Die leistung des Rechners ist ausschlaggebend für die visuelle Qualität<br />
<strong>und</strong> Verzögerung der Darstellung. er muss in der lage sein, die virtuelle Szene<br />
in Echtzeit doppelt berechnen zu können, um jeden Beamer mit einer genügend<br />
hohen <strong>Bild</strong>rate (ideal sind 25 <strong>Bild</strong>er pro Sek<strong>und</strong>e oder mehr) zu versorgen. Die<br />
Rechenleistung, die für die Verarbeitung der eingabesignale des joysticks notwendig<br />
ist, fällt relativ gering aus.<br />
225
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
7 erstellung der Testumgebung<br />
Die erstellung der Ve gliedert sich in zwei Arbeitsumgebungen. Auf der einen<br />
Seite wird der Inhalt für die VE erstellt bzw. modifiziert (3D-Aufbereitung), auf<br />
der anderen Seite wird der Inhalt in das leere Gr<strong>und</strong>gerüst einer Ve eingeb<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> mit entsprechenden Merkmalen der Interaktivität versehen (echtzeit-Authoring).<br />
Abb. 3: technischer Arbeitsablauf für virtuelle Umgebung<br />
Damit beide Bereiche zusammenarbeiten können, muss vorher ein Austauschformat<br />
definiert werden. Dieses Format sollte vor Beginn der Arbeit feststehen, um<br />
spätere Inkompatibilitäten auszuschließen. Die verwendeten Softwareprodukte<br />
spielen dabei eine große Rolle, da sie das Format zum Großteil vorgeben. es geht<br />
dabei speziell um das Austauschformat der Daten <strong>und</strong> damit um die Schnittstelle<br />
zwischen CAD-Daten <strong>und</strong> 3D-Aufbereitung sowie zwischen 3D-Aufbereitung <strong>und</strong><br />
echtzeit-Authoring.<br />
Abb. 4: Weg der Aufbereitung der Polygonobjekte<br />
Diese Abfolge gilt für die meisten Objekte des Messestands. Dabei muss jedes<br />
einzelne Teil eines Objekts diesen Vorgang durchlaufen. Nach der richtigen Selektion<br />
folgt das Optimieren der Drahtgitterstruktur. Doppelte Flächen <strong>und</strong> Punkte<br />
werden gelöscht sowie nah beieinander liegende Flächen zusammengefügt. Dies<br />
ist Voraussetzung für eine automatische Untriangulierung, die bei optimierten<br />
Drahtgitternetzstrukturen sehr effizient funktioniert <strong>und</strong> somit ohne große Nachbearbeitung<br />
auskommt. Das abschließende „detachen“ sorgt für die richtige Zertrennung<br />
des Objekts bzw. dessen Unterteile in seine farblich unterschiedlichen<br />
einzelstücke. Dadurch lässt sich nachfolgende Technik für die optimierte Darstellung<br />
nutzen:<br />
226
Ambient Occlusion<br />
Abb. 5.1: Objekte ohne Textur Abb. 5.2: Objekt mit Textur/Ambient<br />
Occlusion<br />
Abbildung 5.1 zeigt ein Objekt ohne Textur. Die Unterobjekte sind jeweils nur in<br />
entsprechende Farben eingefärbt. In Abbildung 5.2 hat sich am Material nichts<br />
geändert <strong>und</strong> trotzdem sieht es anders aus. Der Gr<strong>und</strong> liegt in den unterschiedlichen<br />
Berechnungsverfahren der beiden Abbildungen. Das rechte <strong>Bild</strong> verwendet<br />
eine Renderfunktion mit der Bezeichnung „Ambient Occlusion“. Sie sorgt für<br />
eine leichte Selbstbeschattung der Objekte, ohne das eine Lichtquelle erforderlich<br />
ist. In echtzeit lässt sich diese Funktion momentan noch nicht realisieren. Die<br />
„backen”-Funktion eröffnet jedoch die Möglichkeit, diesen realistischen Effekt auf<br />
einem kleinen Umweg in die Echtzeitgrafik zu überführen. Ähnlich wie bei den<br />
Licht- <strong>und</strong> Schatteninformationen können auch die Informationen der „Ambient<br />
Occlusion“ in eine Texturdatei gespeichert werden. Das Ergebnis entspricht,<br />
je nach Auflösung der Textur, fast dem der Rendergrafik. Die Einstellungen für<br />
das „backen” <strong>und</strong> für die „Ambient Occlusion“ fallen sehr überschaubar aus <strong>und</strong><br />
bedürfen keiner aufwendigen Anpassung. Alle „wichtigen“ Objekte des Messestands<br />
wurden mit diesem Verfahren auf visueller ebene optimiert.<br />
echtzeit-Authoring<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />
Beim echtzeit-Authoring werden zuerst die aufbereiteten Daten in die echtzeit-<br />
Umgebung importiert <strong>und</strong> anschließend, je nach Funktion, überarbeitet, teilweise<br />
angeordnet <strong>und</strong> mit interaktiven Funktionen versehen. Materialien müssen<br />
zwar nicht neu definiert werden, eine Anpassung an die Renderengine der Echtzeit-Umgebung<br />
ist allerdings notwendig. Die lichter aus der Aufbereitungsphase<br />
werden durch ihre Parameter angepasst. Des öfteren müssen zusätzliche lichter<br />
erstellt oder aber vorhandene lichter gelöscht werden. eine 1:1 Übernahme aus<br />
der 3D-Aufbereitung ist aufgr<strong>und</strong> der unterschiedlichen Software nicht machbar.<br />
Die Kamera wird an die späteren Ausgabeeinstellungen angepasst <strong>und</strong> auf die<br />
richtige Augenhöhe platziert.<br />
227
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
Im nächsten Schritt werden die Kollisionsobjekte ermittelt <strong>und</strong> notfalls zusätzliche<br />
Objekte erstellt. Aufgr<strong>und</strong> der verwendeten Technik reichen die ursprünglichen<br />
Objekte des Messestands nicht aus, um eine einwandfreie Navigation ohne<br />
Durchdringungen <strong>und</strong> ohne „Flüge“ über niedrige Objekte zu verhindern. Außerdem<br />
wird die Steuerung erstellt <strong>und</strong> auf die entsprechenden eingabegeräte<br />
übertragen.<br />
Im letzten Schritt müssen nur noch die einstellungen für die stereoskopische<br />
Ausgabe gemacht werden. Dabei automatisiert die echtzeit-Software die Positionierung<br />
<strong>und</strong> erstellung der zwei notwendigen Kameras. Sie tauscht die aktive<br />
Kamera der Szene automatisch durch zwei richtig positionierte Kameras aus.<br />
Nachfolgend ein paar Screenshots aus der echtzeit-Testumgebung:<br />
Abb. 6: Screenshot vom eingangsbereich<br />
Abb. 7: Screenshot auf die lounge<br />
Nach dem Durchlauf der Testpersonen wurde unter anderem eine laufweganalyse<br />
durchgeführt.<br />
8 laufweganalyse<br />
Ziel war es, möglichst genaue Aussagen darüber zu erhalten, welche Orte oft aufgesucht<br />
wurden <strong>und</strong> welche Wege dabei Benutzung fanden. Damit ließen sich<br />
228
unter anderem Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Messestandes bezüglich<br />
seiner Promenierfunktion ziehen. Die Auswertung der laufwegdaten erfordert<br />
mehrere Arbeitsschritte, die nachfolgend aufgeführt sind:<br />
• Erweiterte Gr<strong>und</strong>rissvorlage;<br />
• Analyse der Laufwegdaten <strong>und</strong> Erstellung eines sog. Gr<strong>und</strong>rasters;<br />
• Übertragung der Laufwegdaten auf das Gr<strong>und</strong>raster;<br />
• Auswertung des Gesamtlaufwegs;<br />
• Interpretation der Ergebnisse.<br />
Diese Arbeitsschritte wurden, wie andere technische Schritte in dieser Diplomarbeit<br />
auch, unter dem Aspekt der Effizienz entwickelt. Sie erheben nicht den Anspruch<br />
auf Vollständigkeit, geben aber erste Aussagen ohne großen Aufwand. es<br />
wird auf Standardwerkzeuge- <strong>und</strong> Funktionen zurückgegriffen, die im Rahmen<br />
einer solchen Diplomarbeit verfügbar sind.<br />
Die komplette Vorgehensweise wird hier nur kurz beschrieben: Der Gr<strong>und</strong>riss<br />
wird vor allem um notwendige ein- <strong>und</strong> Ausgänge des Messestands erweitert.<br />
Sie zeigen später die bevorzugten ein- <strong>und</strong> Austrittsorte der Testpersonen. Das<br />
Gr<strong>und</strong>raster ergibt sich aus der Analyse der laufwege aller Testpersonen. es muss<br />
alle Orte <strong>und</strong> Wege aufweisen, da es als Digitalisierungsgr<strong>und</strong>lage für die laufwege<br />
der Testpersonen dient. Die Übertragung der analogen Aufzeichnungen<br />
erfolgt auf jeweils einzelne Layer einer <strong>Bild</strong>bearbeitungssoftware. Diese Layer<br />
werden dann bei der Auswertung des Gesamtlaufwegs in niedrigen Sättigungen<br />
übereinandergelegt. Das ergebnis aus dem Testdurchlauf sieht danach folgendermaßen<br />
aus:<br />
Abb. 8: Auswertung aller neun Testpersonen<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />
229
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
Bereiche, die nur von einer Person besucht worden sind, werden sehr schwach<br />
dargestellt. Die Sättigung der Farbe beträgt dort 11%. Deutlich zu erkennen sind<br />
häufig benutzte Wege wie der Mittelgang oder die Treppe hinauf zur Panoramaaussicht.<br />
Sie besitzen eine Sättigung von 77% oder höher <strong>und</strong> erstrahlen in der<br />
satten Gr<strong>und</strong>farbe. jetzt lassen sich also Aussagen darüber treffen, welche Plätze<br />
des Messestands oft <strong>und</strong> welche weniger oft besucht wurden.<br />
9 Abschätzung des Aufwands<br />
An dieser Stelle soll nur ein grober Überblick über den gesamten Aufwand des<br />
eingesetzten Verfahrens gegeben werden:<br />
Tab.: Aufwand des kompletten Verfahrens<br />
Gesamtaufwand<br />
Arbeitsschritte einheit in h<br />
erstellung 39,50<br />
Durchführung 5,00<br />
Auswertung 26,75<br />
Gesamt 71,25<br />
Aufgr<strong>und</strong> der kleinen Anzahl der Testpersonen ist die Durchführung mit dem<br />
geringsten Aufwand verb<strong>und</strong>en. je mehr Testpersonen genommen werden, desto<br />
größer wird der Aufwand der Durchführung <strong>und</strong> der Auswertung. Die erstellung<br />
bleibt davon unberührt. Rein rechnerisch ergibt sich aus dem Gesamtaufwand<br />
von 71,25 St<strong>und</strong>en eine Arbeitswoche von 2 Personen bei einer 35-St<strong>und</strong>en-Woche.<br />
In der Praxis wäre dieser Wert nicht zu erreichen, da einige Arbeitsschritte<br />
nicht zeitgleich erledigt werden können. Außerdem kann es bei Absprachen mit<br />
Vorgesetzten immer wieder zu Veränderungen kommen. Dieser Punkt wurde in<br />
den Tabellen nicht berücksichtigt. Bezogen auf die Größe <strong>und</strong> des Umfangs des<br />
Messestands <strong>und</strong> einer Testpersonenanzahl von ca. 10, kann mit einem realistischen<br />
Aufwand von eineinhalb bis zwei Wochen bei zwei zuständigen Personen<br />
gerechnet werden.<br />
230
10 Zukunft des Verfahrens<br />
Das entwickelte Verfahren ist momentan nur beschränkt einsatzfähig, da wichtige<br />
Größen, wie z.B. der So<strong>und</strong>, nicht berücksichtigt werden konnten. Außerdem<br />
ist die Methode zur Bestimmung der emotionen noch nicht valide. Der Ansatz,<br />
emotionen in einer virtuellen Umgebung zu messen, ist mit dieser Arbeit noch<br />
nicht ausgereift. Sie bietet vielmehr einen Gr<strong>und</strong>stein, auf dem weitere Forschungen<br />
aufbauen können, um das Verfahren zu standardisieren. In Bereichen<br />
der erstellung der virtuellen Umgebung werden schon einige Hinweise für eine<br />
Standardisierung gegeben. Weitere Messestände müssen untersucht werden, um<br />
dabei gewisse Kontinuitäten herauszufinden, auf denen eine spätere Standardisierung<br />
aufbauen kann.<br />
ein paar kleine erfolge hat diese Diplomarbeit dennoch zu verbuchen. So ist die<br />
Darstellungsqualität mit reinen Visualisierungslösungen zu vergleichen <strong>und</strong><br />
in manchen Bereichen sogar fortschrittlicher. Außerdem können die laufwege<br />
schon vorab ermittelt werden. Dieses Merkmal war bis jetzt nur der Wirkungskontrolle,<br />
also der Posttests, vorbehalten. ein Vergleichswert des realen Messestands<br />
fehlt allerdings, so dass auch hier noch keine Aussagen über die Validität<br />
getroffen werden können.<br />
Forschungsbereiche<br />
Damit das Verfahren also sein ursprüngliches Ziel erfüllen kann, gültige <strong>und</strong> zuverlässige<br />
Aussagen über die Wirkung eines Messestands geben zu können, ist<br />
noch einiger Forschungsaufwand nötig. Im technischen Bereich betrifft das vor<br />
allem den Einfluss des So<strong>und</strong>s, der Haptik <strong>und</strong> des Motion-Tracking. Im Bereich<br />
der Testmethodenentwicklung ist vor allem die Wirkung der virtuellen Umgebung<br />
auf den Rezipienten noch nicht ausreichend untersucht.<br />
Anwendungsbereiche<br />
Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />
Die zukünftigen Anwendungsbereiche des Verfahrens sollten Motivation genug<br />
sein, diesen Forschungsansatz weiter zu verfolgen. Das Verfahren lässt sich nämlich<br />
nicht nur allein auf Messestände anwenden. Gr<strong>und</strong>sätzlich kann es für jede<br />
komplexe Erlebniswirkung eingesetzt werden. Ein ganz aktuelles Thema sind dabei<br />
die Flagship Stores der Markenhersteller. Dort könnte ein valides Pretestverfahren<br />
von sehr großem Interesse sein. ebenso könnte das Verfahren im Bereich<br />
der Stadtplanung <strong>und</strong> bei der Vergabe von Werbeflächen eingesetzt werden. Die<br />
Anwendungsmöglichkeiten scheinen endlos <strong>und</strong> sagen einem funktionierenden<br />
Verfahren eine gute Zukunft voraus.<br />
231
KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />
literatur<br />
FISCHeR, l.,/WISWeDe, G. (2002): Gr<strong>und</strong>lagen der Sozialpsychologie. München.<br />
GRöPPel-KleIN, A. (2004): Aktivierungsforschung <strong>und</strong> Konsumentenverhalten.<br />
In: Gröppel-Klein, A./Weinberg, P. (Hg.), Konsumentenverhaltensforschung<br />
im 21. jahrh<strong>und</strong>ert. Wiesbaden.<br />
IZARD, C. e./MURAKAMI, B. (1994): Die emotionen des Menschen: eine einführung<br />
in die Gr<strong>und</strong>lagen der emotionspsychologie. Weinheim.<br />
KROeBeR-RIel, W./WeINBeRG, P. (2003): Konsumentenverhalten. München.<br />
MAXON COMPUTeR GMBH (2006): Cinema 4D Dokumentation. Friedrichsdorf.<br />
MIKUNDA, C. (2002): Der verbotene Ort oder Die inszenierte Verführung: Unwiderstehliches<br />
Marketing durch strategische Dramaturgie. Frankfurt a. M.<br />
NeIBeCKeR, B. (1985): Konsumentenemotionen: Messung durch computergestützte<br />
Verfahren; eine empirische Validierung nicht-verbaler Methoden.<br />
Würzburg.<br />
NICKel, O. (Hg.): (1998): eventmarketing. München.<br />
NICKel, O. (1998): Verhaltenswissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen erfolgreicher Marketingevents.<br />
In: Nickel, O. (Hg.), eventmarketing. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> erfolgsbeispiele<br />
München, 121-148.<br />
PINe, B. j./GIlMORe, j. H./GeBAUeR, S. (2000): erlebniskauf: Konsum als<br />
erlebnis, Business als Bühne, Arbeit als Theater. München.<br />
THIeMeR, j. (2004): erlebnisbetonte Kommunikationsplattformen als mögliches<br />
Instrument der Markenführung: Dargestellt am Beispiel der Automobilindustrie.<br />
Kassel.<br />
TROMMSDORFF, V. (1993): Konsumentenverhalten. Stuttgart.<br />
WeINBeRG, P. (1992): erlebnismarketing. München.<br />
ZANGeR, C./SISTeNICH, F. (1998): Theoretische Ansätze zur Begründung des<br />
Kommunikationserfolgs von eventmarketing. In Nickel, O. (Hg.), eventmarketing.<br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> erfolgsbeispiele. München, 39-60.<br />
232
ROlF GASSNeR<br />
environmental Scene Design<br />
Imitation <strong>und</strong> Verräumlichung von Geräuschkulissen<br />
1 Abstract<br />
Kein Geringerer als George lucas, bekannt für seine bildgewaltigen Kinospektakel,<br />
soll gesagt haben: „So<strong>und</strong> is 50 percent of the movie-going experience.“ Analog<br />
gilt solches auch für das erleben einer virtuellen Welt: Werden sowohl Sehen<br />
als auch Hören mit aufeinander abgestimmten Reizen versorgt, verstärkt sich<br />
der emotionale eindruck der nachgeahmten Szene aufgr<strong>und</strong> der vollständigeren<br />
Wahrnehmung beträchtlich.<br />
Ziel meiner Diplomarbeit war die Nachahmung von Geräuschkulissen, die in<br />
typischen Alltagssituationen auftreten. Der Möglichkeit einer einfachen Anbindung<br />
an bildgebende Programme sollte dabei Rechnung getragen werden.<br />
In einem ersten Schritt wurden Aufnahmen von ausgesuchten Alltagsszenarien<br />
gemacht. Anschließend erfolgte eine Analyse der vorkommenden Geräusche, <strong>und</strong><br />
zwar durch Klassifizierung nach Verursachern, Sortierung nach Häufigkeit <strong>und</strong><br />
Gewichtung im jeweiligen Kontext. Auf diese Art konnte ein Gestaltungsmuster<br />
herausgearbeitet werden, anhand dessen für beliebige Szenarien eine mediale,<br />
nachgebildete Klangkulisse aus einzelnen elementen wieder zusammengesetzt<br />
235
ROlF GASSNeR<br />
werden kann. Das erarbeitete Design wurde prototypisch in Software „gegossen“<br />
<strong>und</strong> die Anbindung an eine räumlich präzise Mehrkanalwiedergabe – Wellenfeldsynthese<br />
– über eine simple Maussteuerung verwirklicht.<br />
2 Fragestellung<br />
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet: Wie können akustische Szenen<br />
mit geringem Aufwand möglichst naturgetreu nachgebildet <strong>und</strong> räumlich wiedergegeben<br />
werden, so dass das Präsenzgefühl in der virtuellen Umgebung gesteigert<br />
wird? Hierzu soll angemerkt werden, dass das Ziel immersiver VR-Installationen<br />
das Eintauchen des Betrachters in die künstliche Welt ist – treffend<br />
zusammengefasst mit den Worten „supsension of disbelief“ (wörtlich: Aufheben<br />
der Ungläubigkeit). Gemeint ist damit der Punkt, an dem der Mediennutzer über<br />
Unzulänglichkeiten der <strong>Interaktion</strong>s-Schnittstelle sowie der audiovisuellen Darbietung<br />
zugunsten eines verstärkten emotionalen erlebens der künstlichen Szene<br />
hinwegsieht– dadurch wird die virtuelle Welt zum Erlebnisraum. 1 In diesem<br />
Zusammenhang kann man auch den Begriff Präsenzgefühl verstehen, der Nutzer<br />
fühlt sich hineinversetzt in eine zugedachte Rolle einer virtuellen Szene, „die<br />
ab diesem Zeitpunkt für ihn zum primären Aktions- <strong>und</strong> Wahrnehmungsraum<br />
wird“ (Gassner 2006: 32).<br />
Analyse von Geräuschkulissen<br />
An anderer Stelle wurde bereits gezeigt, dass der Hörsinn (unbewusst) detaillierte<br />
Informationen über <strong>Raum</strong>größe <strong>und</strong> das Vorhandensein, Beschaffenheit <strong>und</strong> Bewegung<br />
verschiedener Objekte darin liefert (Gaver 1993: 288f.). Diese Genauigkeit<br />
des Gehörs kann in virtuellen Welten dazu genutzt werden, den Immersionsgrad<br />
zu steigern, indem eine visuelle Szene passend auditiv untermalt wird. In einem<br />
ersten Schritt wurden gewünschte Szenen im Real life aufgenommen <strong>und</strong> analysiert,<br />
als Testszenario diente der Schauplatz „Tramhaltestelle Innenstadt an Straßenkreuzung“.<br />
Bei der quantitativen Analyse entstand eine Tabelle, welche die<br />
Verursacher der Geräusche sowie deren Häufigkeit auflistet. Durch sprachliche<br />
Vereinfachung wurden die Geräusche pro Szene etwas reduziert – das Wählen<br />
geeigneter Oberbegriffe (Klangerzeuger) ermöglichte, die So<strong>und</strong>quellen nach ihrer<br />
Entstehung zu kategorisieren, etwa: Mensch – Kommunikation – Lachen. Die<br />
qualitative Analyse erforderte eine Bewertung der Geräusche, wobei ich mich an<br />
der Vorarbeit von Chueng (2002) <strong>und</strong> Chueng/Marsden (2002) orientierte: Das<br />
Präsenzgefühl in virtuellen Umgebungen steigern jene „so<strong>und</strong> events“, welche<br />
1 Vgl. dazu auch den Beitrag „Techniken der Sichtbarmachung. Nutzungsbedingungen virtueller Test<br />
räume“ von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht<br />
236
• an einem Ort erwartet werden;<br />
• einzigartig im jeweiligen Kontext sind <strong>und</strong> dadurch einen hohen Wiedererkennungswert<br />
besitzen.<br />
Durch diese Bewertung konnte eine weitere Reduktion der Klangereignisse erreicht<br />
werden. eine Verschmelzung verschiedener, an ähnlichen Stellen mitgeschnittenen,<br />
Aufnahmen führte zu einer stärkeren Konzentration der ortstypischen<br />
Geräusche. Am ende dieser Auswertungen war es möglich, aus einer<br />
Tabelle die Häufigkeit eines Klangereignisses abzulesen. Diese Häufigkeitsverteilung<br />
konnte nach einer Plausibilitätsprüfung in einen entsprechenden Softwarealgorithmus<br />
übernommen werden.<br />
Synthese <strong>und</strong> Komposition<br />
Nach dieser ausführlichen Analyse kommt es nun auf eine adäquate Synthese<br />
einzelner Klangfragmente zu einer glaubwürdigen Gesamtkulisse an. Dabei halfen<br />
mir die Kriterien von Serafin (2004), die eine Audiokulisse in Vordergr<strong>und</strong>-<br />
<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong>geräusche einteilt. Nach Serafin steigt der Grad der Immersion<br />
einer audiogestützten VR durch folgende Faktoren:<br />
• sich bewegende Schallquellen;<br />
• interaktionsabhängige Klangereignisse (besonders effektiv in Verbindung<br />
mit User Tracking);<br />
• Vielfalt der Geräusche (wenig Wiederholungen, kein erkennbares Muster);<br />
• bewusste Übertreibung von Klängen (Nachvertonung, Foley-Effekte);<br />
• klangliche Erfüllung der Erwartungshaltung eines VR-Nutzers (Klischees<br />
bedienen, die durch häufigen Medienkonsum entstehen)“ (a.a.O.: 32).<br />
Anhand dieser Gestaltungskriterien war es nun möglich, eine Formel für die Synthese<br />
einer Geräuschkulisse zu entwerfen, welche an eine visuelle Szene gekoppelt<br />
<strong>und</strong> in ihr verortet ist.<br />
„Samples (Objekte/<strong>Interaktion</strong>)<br />
+ Transformation/effekte<br />
+ zeitliche Verteilung<br />
+ Position/Bewegung im <strong>Raum</strong><br />
+ akustische <strong>Raum</strong>eigenschaften<br />
+ Hintergr<strong>und</strong> (Atmosphäre)<br />
------------------------------<br />
= Environmental Scene“ (Gassner 2006: 43)<br />
environmental Scene Design<br />
237
ROlF GASSNeR<br />
Diese Formel beinhaltet den gr<strong>und</strong>ätzlichen Aufbau einer Klangkulisse <strong>und</strong> ermöglicht<br />
ihre Nachbildung mit Hilfe entsprechender technischer Vorrichtungen.<br />
Position <strong>und</strong> Bewegung im <strong>Raum</strong> sowie akustische <strong>Raum</strong>eigenschaften können<br />
mit einem entsprechenden Mehrkanal-Wiedergabesystem verwirklicht werden.<br />
Auf Transformation <strong>und</strong> Verteilung möchte ich noch näher eingehen.<br />
3 Der minimalistische Ansatz<br />
Besonderen Wert legte ich in meiner Arbeit auf die erzeugung natürlich <strong>und</strong> realistisch<br />
klingender Geräuschkulissen aus möglichst wenig Ausgangsmaterial,<br />
d.h. mit einer geringen Anzahl ortstypischer Audiosamples sollte eine möglichst<br />
reichhaltige Geräuschkulisse entstehen. Zu diesem Zweck ist, neben dem einsatz<br />
von einer Zufallsverteilung der Samples, die Verfremdung des Ausgangsmaterials<br />
nötig. Dies geschieht durch Beeinflussen verschiedener Parameter, wie: Tonhöhe,<br />
Abspieldauer, Abspielhäufigkeit, Lautstärke, Klangfarbe. Eine Veränderung<br />
der Lautstärke beispielsweise imitiert Nähe bzw. Ferne eines Objekts. Geschickte<br />
Veränderung der Tonhöhe lässt aus dem Sample eines Motorengeräusches den<br />
eindruck verschiedener Fahrzeugtypen entstehen. Bei Geräuschmustern, die aus<br />
regelmäßigen Wiederholungen bestehen, wie etwa Regen oder Schritte, lässt sich<br />
mit der zeitlichen Arrangierung eines einzigen Samples (Tropfen/Schritt) unter<br />
gleichzeitiger Veränderung seiner Tonhöhe, Abspiellänge (Timestretching) <strong>und</strong><br />
lautstärke ein kompletter Vorgang generieren, wie ein Regenguss oder das Vorbeilaufen<br />
eines Passanten.<br />
4 Ausblick<br />
Die auditive VR steht in einsatz <strong>und</strong> Forschung noch an ihrem Anfang: Zwar sind<br />
immersive Multichannelsysteme wie Wellenfeldsynthese bereits als Produkte verfügbar,<br />
jedoch wurde im gestalterischen Sinne wenig Feldforschung getrieben,<br />
so dass bislang wenig gesicherte erkenntnisse vorliegen, wie eine Klangkulisse<br />
beschaffen sein muss, um den immerisven Charakter einer virtuellen Szene zu<br />
verstärken. Im neuen Medienlabor der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, welches eine<br />
CAVE mit auditiver VR beinhaltet, ist es nun möglich, Projekte zu innitiieren <strong>und</strong><br />
durchzuführen, die sich mit Design <strong>und</strong> Wirkung von Klangkulissen beschäftigen.<br />
238
literatur<br />
environmental Scene Design<br />
BReGMAN, A. S. (1990): Auditory Scene Analysis: The Perceptual Organization<br />
of So<strong>und</strong>. Cambridge (USA).<br />
CHUeNG, P./MARSDeN, P. (2002): Designing Auditory Spaces to Support Sense<br />
of Place: The Role of Expectation. Position paper for The Role of Place in<br />
On-line Communities Workshop, CSCW2002, New Orleans.<br />
CHUeNG, P. (2002): „Designing so<strong>und</strong> canvas: The role of expectation and discrimination“,<br />
Extended abstracts of CHI 2002 Conference on Human Factors<br />
in Computing Systems.<br />
GASSNeR, R. (2006) „Environmental Scene Design – Räumliche Audiokulissen<br />
für immersive VR-Umgebungen“, Diplomarbeit, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>.<br />
GAVeR, W. W. (1993): How Do We Hear in the World? Explorations in Ecological<br />
Acoustics. ecological Psychology, Vol. 5, No. 4, 285-313<br />
SeRAFIN, S./SeRAFIN, G. (2004): „So<strong>und</strong> Design to Enhance Presence in Photorealistic<br />
Virtual Reality“, Proceedings of ICAD 04 – Tenth Meeting of the<br />
International Conference on Auditory Display, Sydney, Australia, july 6-9,<br />
2004.<br />
239
NADjA SCHANZ<br />
Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung von installativen virtuellimmersiven<br />
<strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />
1 Zusammenfassung der Diplomarbeit<br />
Zum Sommersemester 2007 wird im neuen Informatikgebäude der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong> ein Medienlabor, das als völlig neuartige Komponente ein ganzheitliches<br />
Virtual Reality-Cluster enthält, eingerichtet. Die technische einrichtung<br />
darin kann zur Bespielung einer <strong>Raum</strong>installation verwendet werden, die mit virtuellen<br />
<strong>und</strong> realen elementen arbeitet <strong>und</strong> interaktiv sein kann.<br />
Der unüberlegte einsatz von digitalen Medien im lehrbetrieb führt nach Michael<br />
Kerres oft zu ergebnissen, die geringe Akzeptanz, schwache lernerfolge <strong>und</strong><br />
Ineffizienz bei Lernenden mit sich bringt. Der Medieneinsatz macht andere Formen<br />
der Lernorganisation notwendig: „Mediale Lernangebote lassen sich nicht<br />
in ein <strong>Bild</strong>ungssystem einführen ohne gr<strong>und</strong>legende Überlegungen zur Aufbau-<br />
<strong>und</strong> Ablauforganisation von <strong>Bild</strong>ung“ (Kerres 2001: 85ff.). Es ist daher wichtig,<br />
dass man sich vor dem einsatz eines neuen Mediums, in diesem Fall das neue<br />
Media labor, mit diesem auseinandersetzt. Daher analysiert die Arbeit die Möglichkeiten<br />
der Gestaltung im neuen Medienlabor sowie den daraus entstehenden<br />
Nutzen für die <strong>Hochschule</strong> <strong>und</strong> allen Beteiligten.<br />
241
NADjA SCHANZ<br />
2 Fragestellung<br />
Die Arbeit untersucht die Fragestellung, wie <strong>und</strong> mit welcher Zielstellung die<br />
neue Technologie des Medienlabors im lehrbetrieb eingesetzt werden kann, damit<br />
sie effizient genutzt werden <strong>und</strong> dadurch für alle Beteiligten einen Mehrwert<br />
bieten kann. Sie diskutiert somit das Potential des Verb<strong>und</strong>labors, zu dem sowohl<br />
das neue VR-Labor als auch die anderen Labore zählen, im Kontext von <strong>Raum</strong>,<br />
<strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>.<br />
3 Vorgehen<br />
Zunächst beschäftigt sich die Arbeit mit der gr<strong>und</strong>legenden Konzeption von<br />
<strong>Raum</strong>installationen: dies beinhaltet die verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten,<br />
Kategorien <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>stechniken von <strong>Raum</strong>installationen. Nachdem<br />
die Technik der neuen laboreinrichtung erläutert wird, werden aufgr<strong>und</strong> dessen<br />
Anwendungen vorgestellt, die in der laboreinrichtung ohne größere Probleme<br />
installiert werden könnten. Mehrere Beispiele ähnlicher laboreinrichtungen anderer<br />
<strong>Hochschule</strong>n bilden den Übergang zur Thematik der Nutzung. Hier geht<br />
es um die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen, Kompetenzen <strong>und</strong> Strukturierungen, die in<br />
Betracht gezogen werden müssen, damit das neue Medium im Lehrbetrieb effizient<br />
eingesetzt werden kann. Mit Hilfe von qualitativen Befragungen zur Nutzung<br />
<strong>und</strong> Gestaltung des Medienlabors werden der daraus entstehende Mehrwert <strong>und</strong><br />
das entwicklungspotential an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> skizziert. Als ergebnis<br />
der Befragungen können Nutzungsszenarien, Handlungsempfehlungen <strong>und</strong><br />
Ansätze für die Zukunft entwickelt werden. Anschließend werden die Resultate<br />
der gesamten Arbeit zusammengefasst <strong>und</strong> daraus verschiedene Ansätze für die<br />
Zukunft abgeleitet.<br />
4 Das Potential des Verb<strong>und</strong>labors<br />
Das neue Medienlabor kann das Potential des Verb<strong>und</strong>labors im Rahmen von<br />
<strong>Bild</strong>, <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Raum</strong> entscheidend erhöhen. Dies hängt aber vor allem<br />
davon ab, ob dieses Medium auch erfolgreich genutzt wird. Neben dem einsatz<br />
als lernmittel aus erfahrungen kann das Medienlabor auch zur Realisierung eigener<br />
Projekte, Forschung <strong>und</strong> Entwicklung, <strong>und</strong> Zusammenarbeit mit anderen<br />
Institutionen genutzt werden. Als lernmittel eingesetzt, hängt der erfolg darin<br />
nach Kritzenberger (2005) von inneren <strong>und</strong> äußeren lernbedingungen ab. Dies<br />
sind im Wesentlichen vier Faktoren: „Methoden, Gr<strong>und</strong>lagen, Technologien <strong>und</strong><br />
Anwendungen“ (a.a.O.). Hierbei stehen „Technologien“ für die in dem Labor verwendete<br />
Technik, dies beinhaltet hauptsächlich physische eingabe-, Ausgabe- <strong>und</strong><br />
<strong>Interaktion</strong>sgeräte. Der Faktor „Anwendung“ bezeichnet die konkrete Ausgestal-<br />
242
Virtuell-immersive <strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />
tung <strong>und</strong> Bespielung der Umgebung unter Verwendung der darin bestehenden<br />
Technik. Beide Faktoren sind demnach abhängig von der verwendeten laboreinrichtung.<br />
Für den Anwender <strong>und</strong> alle mit dem labor involvierte Personen ist es<br />
daher umso wichtiger, dass entsprechende Vorraussetzungen oder „Gr<strong>und</strong>lagen“<br />
im Umgang mit dem Labor mitgebracht werden <strong>und</strong> bestimmte „Methoden“ verwendet<br />
werden, durch die vermittelt wird (a.a.O.: 1f.).<br />
Damit die Nutzung des neuen Medienlabors insbesondere für die Fakultät Digitale<br />
Medien optimiert werden kann, wurden qualitative Befragungen mit verschiedenen<br />
lehrkräften <strong>und</strong> Diplomanden durchgeführt. Die ergebnisse der Befragungen<br />
zeigen, dass sich das Potential des labors erst konkret nach Integration<br />
<strong>und</strong> Anwendung im lehrbetrieb zeigen wird. Da viele lehrkräfte dem Potential<br />
der einrichtung noch kritisch gegenüberstehen, gilt es, eine Vorbildfunktion einzunehmen,<br />
die kritischen Stimmen durch interessante <strong>und</strong> erfolgreiche Projekte<br />
<strong>und</strong> Veranstaltung vom Gegenteil überzeugt.<br />
Genügend interessierte Studierende zu finden, scheint weniger schwer, da VR<br />
<strong>und</strong> neue Technologien eine Gr<strong>und</strong>faszination ausüben. Die ergebnisse zeigen<br />
auch, dass die Rolle der lehrenden wichtig ist, die die Aufgaben verteilen <strong>und</strong><br />
zur Verfügung stellen. Zusätzlich wird eine Betreuung benötigt, die stets präsent<br />
ist <strong>und</strong> Studierenden bei der Arbeit in der laboreinrichtung unterstützt. Damit<br />
unter anderem diese Präsenz ermöglicht werden kann, ist die Suche nach geeigneten<br />
Finanzierungsmöglichkeiten unabdingbar.<br />
Die einrichtung kann zu einem Alleinstellungsmerkmal werden, dass sowohl<br />
Studierende anzieht als auch die Position im land erhöht. In diesem Gebiet<br />
könnte die <strong>Hochschule</strong> eine Vorreiterrolle spielen, die im Bereich der entwicklung<br />
von VR <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>stechniken einen entscheidenden Beitrag leistet.<br />
Zusätzlich bekommen Studierende mehr erfahrungen im Bereich <strong>Interaktion</strong>,<br />
Konzeption <strong>und</strong> VR. Dadurch könnten sich sowohl neue Berufsmöglichkeiten für<br />
Absolventen ergeben als auch ein neuer Studiengang im Bereich <strong>Interaktion</strong>/Interaktivität<br />
<strong>und</strong> Informatik entstehen.<br />
Die eher technisch orientierte <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> könnte die VR-laborein-richtung<br />
auch dazu nutzen, mehr Kunst an die <strong>Hochschule</strong> zu bringen. Gerade<br />
solche einrichtungen vereinen Technik <strong>und</strong> Kunst auf besondere Weise:<br />
Es „[…] geraten vermeintlich scharf konturierte Grenzen zwischen Technologie<br />
<strong>und</strong> Kunst in Auflösung. Weltweit arbeitet heute ein eng vernetzter Kreis von<br />
Künstlern in privilegierten Forschungsinstituten an der entwicklung virtueller<br />
Realitäten“(Grau 2002: 133). In der vorlesungsfreien Zeit, in der nur wenige<br />
Studenten die einrichtung nutzen, könnte man mit Stipendien Künstler an die<br />
<strong>Hochschule</strong> holen, die dort eigene Anwendungen realisieren.<br />
Die Einrichtung bietet sich zudem für Projekte an, die die Zusammenarbeit zwischen<br />
mehreren Fachrichtungen <strong>und</strong> Fakultäten fördert. Diesbezüglich wurde<br />
das Verb<strong>und</strong>konzept entwickelt, das durch die Einführung eines Kolloquiums<br />
243
NADjA SCHANZ<br />
zwischen verschiedenen Fachrichtungen die Zusammenarbeit schon teilweise<br />
umsetzt. Generell sollte die Kommunikation zwischen Fachrichtungen <strong>und</strong> Fakultäten<br />
verbessert werden, damit daraus noch mehr interdisziplinäre Projekte<br />
entstehen können. Um gemeinsame Projekte verschiedener Fachrichtungen<br />
im Zusammenhang mit dem Verb<strong>und</strong>labor zu ermöglichen, muss zunächst geklärt<br />
werden, welche Ziele die Fakultät mit der einrichtung verfolgt <strong>und</strong> welche<br />
Schwerpunkte gelegt werden sollen. Dadurch können beispielsweise die verwendeten<br />
Technologien <strong>und</strong> Software bestimmt werden. Durch eine bessere Kommunikation<br />
<strong>und</strong> Interdisziplinarität zwischen Fachrichtungen <strong>und</strong> Fakultäten kann<br />
so das Potential der einrichtung erhöht werden. Dies könnte zudem die lehre im<br />
Allgemeinen verändern.<br />
Aus technischer Sicht liegen die hauptsächlichen Schwierigkeiten des Potentials<br />
in der noch eingeschränkten Umsetzbarkeit von Anwendungen: Technologien,<br />
Software <strong>und</strong> Hardware können diese häufig nicht so darstellen, wie es gewünscht<br />
wäre. Die Steuerung, Navigation <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong> in diesen Umgebungen ist auch<br />
noch nicht ausgereift intuitiv <strong>und</strong> natürlich möglich. Doch vermutlich wird sich<br />
das in den nächsten jahren verbessern, dies hängt aber davon ab, wie viel in diesem<br />
Bereich in Forschung <strong>und</strong> entwicklung investiert wird. Dann kann durch<br />
entwicklung der Hard- <strong>und</strong> Softwaretechniken die Attraktivität der virtuell-immersiven<br />
Umgebungen noch gesteigert werden. Sinnvoll ist daher der einsatz<br />
von möglichst großen leinwänden, die die Immersion <strong>und</strong> das Präsenzgefühl der<br />
Nutzer verstärken. Zudem muss die einrichtung möglichst intuitive <strong>und</strong> natürliche<br />
<strong>Interaktion</strong>en ermöglichen.<br />
Für die neue laboreinrichtung heißt das zunächst, dass man versucht, die vorhandene<br />
Technik effektiv einzusetzen <strong>und</strong> darin eigene Projekte aufbaut. Viele<br />
Schwierigkeiten technischer Art werden vermutlich erst nach Integration <strong>und</strong><br />
Anwendung einiger Projekte sichtbar <strong>und</strong> können dann verbessert <strong>und</strong> erweitert<br />
werden.<br />
Aus gestalterischer Sicht ist es für eine einrichtung im lehrbetrieb wesentlich,<br />
dass der Zugang von mehreren Personen, die die virtuelle Welt interaktiv erfahren,<br />
gewährleistet werden kann. Das Trackingsystem ermöglicht momentan nur<br />
einem einzigen Akteur die <strong>Interaktion</strong> mit der virtuell-immersiven Umgebung.<br />
Die <strong>Interaktion</strong> mehrerer Teilnehmer mit der Umgebung kann nur über eine<br />
Netzwerkverbindung erreicht werden. es bietet sich daher an, die Umgebung an<br />
ein gutes Netzwerk zu binden, die den Zugriff <strong>und</strong> die Steuerung über die entfernung<br />
ermöglicht. Dann kann die laboreinrichtung auch für Fernlernszenarien<br />
verwendet werden. ein Faktor, der über den erfolg des lernraumes entscheidet,<br />
ist der Aufbau der Anwendung innerhalb der laborumgebung. Hier ist zu beachten,<br />
dass die Gestaltung über viele Faktoren entscheidet: Die „Begeisterung des<br />
Lerners, das interessante Programm, die Kontextualität der Lernumgebung, die<br />
hoch-interaktive Kommunikation, <strong>und</strong> schließlich die GUI, die Benutzerschnittstelle,<br />
die Ästhetik, Einfachheit <strong>und</strong> Interaktivität verbindet“ (Schulmeister 2002:<br />
244
91). Die Laboreinrichtung kann für vielfältige Aufgaben <strong>und</strong> Projekte verwendet<br />
werden, denn virtuelle Welten bieten viele verschiedene Präsentationsformen: sie<br />
weisen einerseits einen höheren Realitätsgrad als andere Medien auf, andererseits<br />
sind sie auch „dazu geeignet, abstrakte Informationen, die Sinnesorganen nicht<br />
unmittelbar zugänglich sind, erfahrbar zu machen“ (Schwan 2006: 16). Daher ist<br />
es wichtig, dass die Einrichtung möglichst flexibel gestaltet ist <strong>und</strong> ohne große<br />
Umstände für an die jeweiligen Projekte angepasst werden kann.<br />
5 Ausblick<br />
Wird die laboreinrichtung im lehrbetrieb entsprechend genutzt, kann sich dadurch<br />
ein sehr hohes Potential ergeben. Das tatsächliche Potential des Medienlabors<br />
wird sich aber hauptsächlich erst nach Integration <strong>und</strong> Anwendung im<br />
lehrbetrieb zeigen. Vieles hängt davon ab, wie <strong>und</strong> von wem die einrichtung genutzt<br />
wird. Insofern ist es schwierig, aus den ergebnissen der Arbeit das Potential,<br />
dass sich durch Nutzung des Verb<strong>und</strong>labors ergeben wird, zu bestimmen. Die<br />
Laboreinrichtung bietet auf jeden Fall genug <strong>Raum</strong> für neue Entwicklungen <strong>und</strong><br />
Forschungen für die Fakultät <strong>und</strong> die <strong>Hochschule</strong>. Man kann daher nur gespannt<br />
sein, inwieweit die laboreinrichtung in einigen jahren genutzt wird, welche Projekte<br />
darin entstehen <strong>und</strong> welches Potential sich im Bereich <strong>Interaktion</strong>, <strong>Raum</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Bild</strong> dadurch entwickelt.<br />
literatur<br />
Virtuell-immersive <strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />
GRAU, O. (2002): Virtuelle Kunst in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Visuelle Strategien.<br />
Berlin.<br />
KeRReS, M. (2001): Multimediale <strong>und</strong> telemediale lernumgebungen. Konzeption<br />
<strong>und</strong> entwicklung. München.<br />
KRITZeNBeRGeR, H. (2005): Multimediale <strong>und</strong> interaktive lernräume. München.<br />
SCHUlMeISTeR, R. (2002): Gr<strong>und</strong>lagen hypermedialer lernsysteme. Theorie<br />
- Didaktik -Design. Oldenburg.<br />
SCHWAN, S./BRUDeR, j. (2006): Virtuelle Realität <strong>und</strong> e-learning. Didaktisches<br />
Design. http://www.e-teaching.org/didaktik/gestaltung/vr/vr.pdf (Zugriff<br />
am 24.3.2006)<br />
245
AleXANDeR lUDWIG<br />
3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />
1 Zusammenfassung der Diplomarbeit<br />
je mehr man sich bei der Konzeption eines Interfaces bewusst macht, wie Menschen<br />
denken, handeln <strong>und</strong> wahrnehmen, desto leichter wird der Anwender mit<br />
dem Interface interagieren können. Das Interface wird eine umso höhere Akzeptanz<br />
finden, je mehr es sich an die Wahrnehmung des Menschen anlehnt <strong>und</strong> an<br />
ihr orientiert.<br />
Wir alle kennen die bisher üblichen <strong>und</strong> uns mittlerweile einverleibten <strong>Interaktion</strong>smetaphern<br />
wie Maus <strong>und</strong> Tastatur. Durch die neuen technischen Möglichkeiten<br />
sind inzwischen jedoch völlig neue Ansätze für die Bedienung von Anwendungen<br />
denkbar. Die neuen, komplementären Technologien erlauben einen<br />
neuen Blickwinkel: Beschränkungen durch Hardwarerestriktionen nehmen kontinuierlich<br />
ab <strong>und</strong> erlauben damit die bis dato engen Regeln bei der entwicklung<br />
der <strong>Interaktion</strong>smetaphern aufzuweichen <strong>und</strong> den Zugang zum System auf anders<br />
als bisher gekannte Weise zu erproben.<br />
Entscheidend für die Akzeptanz von zukünftigen ubiquitären Systemen wird<br />
das Design der Mensch-Maschine-Schnittstellen sein. Dabei wird die gewaltige<br />
247
AleXANDeR lUDWIG<br />
Anzahl von Systemen, mit denen ein einzelner Mensch in Zukunft interagieren<br />
muss, eine bedeutende Rolle spielen <strong>und</strong> eine Simplifizierung der Anwendungsbedienung<br />
verlangen. Je mehr wir von unserem Umfeld „gezwungen“ werden,<br />
uns auf zusätzliche Mensch-Maschine-Schnittstellen einzulassen, umso wichtiger<br />
wird es für uns werden, dass diese ähnlich „funktionieren“, <strong>und</strong> wir nicht<br />
jedes Mal völlig neue Kontexte im Umgang mit der Anwendung begreifen <strong>und</strong><br />
trainieren müssen. erfolg wird haben, wer es schafft, eine menschenfre<strong>und</strong>liche<br />
Umgebung der <strong>Interaktion</strong> zu schaffen, die auch noch das Gefühl gibt, eine erleichterung<br />
der Aufgabenbewältigung mit sich zu bringen.<br />
Solange beim Umgang mit dem User Interfaces noch das Vorhandensein dessen<br />
als erstes ins Auge springt oder wir mit der Notwendigkeit einer Aktion konfrontiert<br />
werden, die uns vielleicht noch fremd oder unklar ist, wird jede solche<br />
Schnittstelle erst einmal auf eine gewisse natürliche (wenn auch vielleicht unbewusste)<br />
Abwehrhaltung beim Anwender stoßen. Sobald wir die erfahrung machen,<br />
dass die <strong>Interaktion</strong> keine wirklich neuen Vorkenntnisse benötigt, werden<br />
wir uns ungezwungener auf immer neue Situationen einlassen können <strong>und</strong> auch<br />
bereit sein, neue Wege im Umgang mit der Maschine auszutesten. Der Zugang<br />
wird erleichtert.<br />
Die erkennbare entwicklung in Richtung Schnittstellen, die die Bedürfnisse des<br />
Users als zentralen Ansatz sehen, wird selbst der Motor sein, diese auch voranzutreiben.<br />
Automatisch kommt dabei ein weiterer Aspekt, nämlich ein wirtschaftlicher<br />
Gr<strong>und</strong> für das Entwickeln „menschenbezogener“ Anwendungen hinzu:<br />
je mehr userfre<strong>und</strong>liche Anwendungen in den Handel kommen, umso größer<br />
werden auch die Ansprüche diesbezüglich an zukünftige Programme sein. Die<br />
Erwartungshaltung wird mit jeder realisierten Verbesserung für jedes weitere<br />
Produkt bezüglich Bedienererleichterung steigen. je mehr Anwendungen es gibt,<br />
die einen leicht erlernbaren Charakter haben, umso größer wird die erwartungshaltung<br />
der User sein, auch zukünftige Anwendungen aus diesem Blickwinkel zu<br />
bewerten <strong>und</strong> somit zu akzeptieren oder auch nicht.<br />
Zu beachten ist auch, je mehr Anwendungen von uns bedient werden müssen,<br />
desto intuitiver muss jede Auseinandersetzung mit ihnen werden. Wenn wir auf<br />
bereits erlernte „Verhaltensmuster“ zurückgreifen können, werden wir neue Programme<br />
schneller akzeptieren <strong>und</strong> nicht dadurch abgeschreckt werden, schon<br />
wieder als Novize in eine erst zu trainierende Aufgabe hineinwachsen zu müssen.<br />
letztendlich werden sich nur die Anwendungen am Markt erfolgreich durchsetzen,<br />
die leicht erlernbar <strong>und</strong> einfach zu bedienen sind <strong>und</strong> die am meisten auf<br />
unsere Bedürfnisse eingehen, das ist, uns in den Mittelpunkt des Geschehens<br />
(der Anwendungen, der Werbung etc.) stellen.<br />
248
2 Fragestellungen <strong>und</strong> Vorgehen<br />
3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />
In meiner Thesis betrachte ich die entwicklung, Gestaltung, Analyse <strong>und</strong> Implementierung<br />
interaktiver Computersysteme für den menschlichen Gebrauch,<br />
wobei mein Augenmerk vor allem im praktischen Teil der Arbeit dem Teilaspekt<br />
„3D Interfaces <strong>und</strong> besonders der Integration von Motion Tracking in diese“ gilt.<br />
Folgende Ziele habe ich definiert <strong>und</strong> die Thesis danach strukturiert:<br />
• Aufzeigen neuer Aspekte <strong>und</strong> Trends auf dem Weg zu neuen Bedienoberflächen<br />
bzw. <strong>Interaktion</strong>möglichkeiten <strong>und</strong> deren Umsetzung <strong>und</strong> Nutzung im<br />
Allgemeinen <strong>und</strong> im Bereich des Marketings.<br />
• Zusammenfassungen der verschiedenen Thesen <strong>und</strong> Meinungen von Experten<br />
aus der Literatur zum Thema „Technologische Entwicklungen im Bereich<br />
der Ein- <strong>und</strong> Ausgabegeräte“ aufbereiten <strong>und</strong> daraus eigene Schlüsse<br />
über die Möglichkeiten <strong>und</strong> Auswirkungen dieser entwicklung in der Thesis<br />
ziehen.<br />
• Gedanken zu neuartigen Navigationskonzepten <strong>und</strong> deren Umsetzungs- <strong>und</strong><br />
Anwendungspotenzialen.<br />
• Nach den heute bekannten Gesetzen <strong>und</strong> Empfehlungen für die Gestaltung<br />
von Interaktive User Interfaces habe ich als praktischen Teil meiner Thesis<br />
eine Schaufensterinstallation entwickelt.<br />
Damit war neben der theoretischen Betrachtung des Themas der Aufbau einer<br />
Schaufensterinstallation, von der entwicklung des User Interfaces bis hin zur<br />
Auswertung der aus dem „Experiment“ gewonnen Daten, Gr<strong>und</strong>lage für meine<br />
Thesis. Die zukünftige einsatzmöglichkeit von 3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />
im Bereich Marketing anhand einer Prototyp-Installation zu beobachten<br />
<strong>und</strong> auszuwerten, soll Aufschlüsse über die Auswirkungen dieser neuen Interfaces<br />
auf das Konsumentenverhalten geben. Im Folgenden werden ausgewählte<br />
ergebnisse vorgestellt.<br />
3 Die Installation aus interface-designspezifischer Sichtweise<br />
Ziel der von mir durchgeführten Installation aus interface-designspezifischer<br />
Sicht ist es im Wesentlichen, das übliche eingabeinterface wegfallen zu lassen,<br />
um es dem User zu ermöglichen, direkt mit dem <strong>Raum</strong> zu interagieren - <strong>und</strong><br />
dies auf einfachste Art <strong>und</strong> Weise. Das visuelle ergebnis der <strong>Interaktion</strong> wird dem<br />
User im grafischen Frontend dargestellt, mit der Möglichkeit, über die eigene<br />
Bewegung die Position der dargestellten Figuren zu bestimmen. Das spielerische<br />
Szenario soll einen einfachen <strong>und</strong> ungezwungenen Umgang mit dem Interface<br />
erlauben. Die Verbindung der physischen Tätigkeit mit der dargestellten Reaktion<br />
249
AleXANDeR lUDWIG<br />
des Systems bietet Spaß, Freude <strong>und</strong> Vergnügen. Der Überraschungseffekt durch<br />
das plötzliche Auftauchen einer Figur auf dem Display beim Vorbeigehen ruft die<br />
nötige Aufmerksamkeit für die Installation hervor <strong>und</strong> gibt den Anreiz, sich mit<br />
den Figuren lange genug zu beschäftigen, um auch einen möglichen Kaufwunsch<br />
auszulösen.<br />
Norman (2004) weist in seinem Buch „Emotional Design“ unter anderem auf<br />
den spielerischen Ansatz hin. er beschreibt in diesem Buch auch die drei ebenen<br />
der Auffassung, die sich auch auf interaktive Installationen anwenden lassen.<br />
Das sind: die viszerale ebene, die Verhaltensebene <strong>und</strong> eine ebene des Nachdenkens.<br />
• Über die viszerale Ebene werden biologische Faktoren, wie etwa Emotionen,<br />
Unvernunft, Aufmerksamkeit aufgr<strong>und</strong> greller Farben, Geruch etc. einbezogen.<br />
• Die Verhaltensebene bezieht sich darauf, wie sich etwas verhält. Im Wesentlichen<br />
ist hiermit die Handhabung gemeint: Ist etwas einfach zu benutzen?<br />
• In der Ebene des Nachdenkens nehmen persönliche, kulturelle <strong>und</strong> soziologische<br />
Erfahrung Einfluss, wie Kontexte aufgenommen werden.<br />
Meine Installation lässt sich ebenfalls anhand dieser drei Aspekte beschreiben.<br />
Da sie spielerisch <strong>und</strong> unvernünftig ist, kommt sie dem Rezipienten auf der viszeralen<br />
ebene näher <strong>und</strong> soll durch eine einfache <strong>und</strong> intuitive Handhabung auf<br />
der Verhaltensebene überzeugen. Und soll schließlich, nicht zuletzt aus werblichen<br />
Hintergründen, zum Nachdenken über das Produkt anregen.<br />
Die Installation bietet eine direkte Handlungsanregung, bei der sofort klar wird,<br />
wie das Interface <strong>und</strong> somit die Installation zu benutzen ist. Das Interface lässt<br />
sich nicht falsch bedienen - <strong>und</strong> kann somit auch nicht falsch verstanden werden.<br />
Dieser Punkt bezieht sich auf die ebenfalls von Norman (1988) in „The Design<br />
of Everyday Things“ erwähnte Affordance (Aufforderungscharakter): Affordance<br />
verweist auf den Aufforderungscharakter einzelner <strong>Interaktion</strong>selemente. Diese<br />
vermitteln durch ihre Beschaffenheit, diese kann physisch oder optisch sein,<br />
die Art der möglichen Manipulation. Beispiel: Knöpfe können gedrückt werden.<br />
jedoch entsteht in diesem Punkt eine Kluft zwischen realen <strong>und</strong> virtuellen Objekten.<br />
So ist uns bei realen Objekten allein durch deren Form bewusst, wie wir<br />
sie anfassen <strong>und</strong> manipulieren können. In der virtuellen Welt, wie etwa einem<br />
User Interface, ist diese eindeutige Manipulierbarkeit nicht gegeben. Hinter der<br />
grafischen Fassade, den Graphical User Interface, steht eine klar programmierte<br />
Zuweisung der damit verknüpften Funktion, <strong>und</strong> es gilt diese dem User visuell zu<br />
propagieren. Hierzu haben sich jedoch bestimmte Konventionen über die <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit<br />
etabliert. Einen experimentellen Bruch dieser Konventionen<br />
zeigt beispielsweise die Webseite: http://www.dontclick.it<br />
250
4 Ubiquitous Computing - Die Allgegenwart der Informationstechnologie<br />
Die Allgegenwart der Informationstechnologie wird als Ubiquitious Computing<br />
bezeichnet. Vielerlei entwicklungen tragen dazu bei, dass wir uns in einer zunehmend<br />
von Technologie durchdrungenen Umwelt bewegen. Das Aufkommen von<br />
Funketiketten auf RFID-Basis, multimediafähige Handys <strong>und</strong> Chips in Kreditkarten<br />
<strong>und</strong> Ausweispapieren sind nur der Anfang dieser entwicklung. Der größte<br />
<strong>und</strong> wichtigste Schritt in dieser Entwicklung wird die Vernetzung der „übrig<br />
gebliebenen“ Gegenstände <strong>und</strong> deren Anbindung an das universale Netzwerk<br />
(Internet) sein. Der Computer als solcher kann somit zunehmend mit der Umgebung<br />
verschmelzen beziehungsweise ganz verschwinden. einzelne, miteinander<br />
agierende Gegenstände übernehmen dessen Aufgabe <strong>und</strong> bieten somit eine<br />
Art „intelligente“ Umwelt. Zudem erweist sich die Möglichkeit, sämtliche eingeb<strong>und</strong>enen<br />
Gegenstände zu orten, als zusätzliche Qualität. langfristig gesehen<br />
entsteht so ein „Internet der Dinge“. Ubiquitious Computing ist im Gr<strong>und</strong>e das<br />
Gegenteil von Virtual Reality. Wird der Mensch in der Virtual Reality in eine vom<br />
Computer simulierte Umwelt gesetzt, so wird er im Ubiquitious Computing vom<br />
Informationsnetz umgeben. Der Mensch steht hierbei im Zentrum, wobei sein<br />
reales Umfeld von Computern aufgewertet wird. (lipp 2004: 77 ff.)<br />
5 Ausblick<br />
3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />
Interfaces sollten in erster linie auf die Gewohnheiten des Menschen hinsichtlich<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> Bewegung eingehen <strong>und</strong> den technischen Fortschritt nutzen,<br />
um diese optimal zu unterstützen. je weniger abstrakt die Interfacemetapher ist,<br />
desto leichter lässt sich der User an das System heranführen. erfahrungen aus<br />
dem bisherigen Umgang mit Interfaces sowie die bekannten Usability-Aspekte<br />
lassen sich auf die neuen Technologien <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen neuen Interfaces<br />
portieren; diese müssen jedoch bei der Portierung auf die neuen Gegebenheiten<br />
angepasst werden.<br />
Neue Interfaces sind eigentlich nichts wirklich neues, sondern ein Schritt hin<br />
zur natürlicheren <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten, also die Umsetzung <strong>und</strong> Nutzung<br />
realer Handlungen auch im Anwendungsumfeld. Am effizientesten lässt sich<br />
anhand intuitiver <strong>und</strong> gewohnter Metaphern interagieren; hier zeigt sich jedoch<br />
auch, dass sich manchmal der User nur durch das Weglassen bekannter eingabegeräte<br />
auf eine neue <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit einlässt. ein großes Thema wird<br />
in der Zukunft der Werbung sein, darauf zu achten, dass Reizüberflutung vermieden<br />
wird. Denn noch hält sich hartnäckig die falsche Einschätzung, je höher<br />
die Datenmenge ist, die auf den zu Bewerbenden gerichtet ist, desto mehr bliebe<br />
hängen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Bei Reizüberflutung geht die Kapazität<br />
für Informationsaufnahme gegen Null. Damit würde auch eine der Gr<strong>und</strong>aussa-<br />
251
AleXANDeR lUDWIG<br />
gen der Medienpsychologie „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Paul Watzlawick)<br />
relativiert oder zumindest in Frage gestellt. Wenn man es jedoch schafft,<br />
Informationen in genau der richtigen Situation anzubieten, so werden diese auch<br />
mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Rezipienten aufgenommen. Wichtig ist auch<br />
in Zukunft den technischen Fortschritt <strong>und</strong> dessen Auswirkungen im Auge zu<br />
behalten, vielleicht mit dem besonderen Beachtung, dass es gerade die kleinen<br />
<strong>und</strong> unsichtbaren Dinge sind, die eine schleichende Änderung mit sich bringen,<br />
dann aber wesentlichen Einfluss auf die gesamte Interfacemetapher haben. Als<br />
Beispiel der einsatz von RFID. Der Zuwachs an Technologien in unserer Umwelt<br />
vergrößert auch das mögliche Überwachungspotential; <strong>und</strong> damit wird natürlich<br />
dem Datenmissbrauch eine Tür geöffnet. Den Datenschutz stellt dies vor<br />
eine neue Herausforderung, da es gilt, die Daten des Individuums optimal zu<br />
schützen. Wichtig ist, dass der Konsument weiterhin selbst bestimmen kann, <strong>und</strong><br />
sich bewusst ist, welche Daten er preisgeben möchte. Die Interessen des Konsumenten<br />
<strong>und</strong> des Werbetreibenden müssen in einem ausgewogenen Verhältnis<br />
bleiben. Mehr Werbung bedeutet auf der einen Seite vielleicht mehr Umsatz für<br />
die werbenden Unternehmen, auf der anderen Seite erhält der Beworbene zusätzliche<br />
Informationen, die ihm seine entscheidungen erleichtern können.<br />
literatur<br />
NORMAN, D. (1988): The Design of everyday Things. New York.<br />
NORMAN, D. (2004): emotional Design. New York.<br />
lIPP, l. (2004): <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch <strong>und</strong> Computer im Ubiquitious<br />
Computing. Münster.<br />
252
PATRICK SCHWAB<br />
Informationsvisualisierung mit Hilfe von Processing<br />
zur Darstellung von Websitestatistiken<br />
Heute fallen im beruflichen wie im privaten Bereich riesige Mengen digitaler Daten<br />
an. Hierzu zählt auch die Speicherung von Nutzerdaten, welche das Verhalten<br />
von Besuchern auf entsprechenden Internetseiten wiedergeben. Aus den gewonnenen<br />
Informationen können gezielt Maßnahmen zur Optimierung <strong>und</strong> Weiterentwicklung<br />
der Seiten getroffen werden. Die Menge <strong>und</strong> Komplexität der Daten<br />
steigt jedoch so schnell an, dass deren Analyse <strong>und</strong> Darstellung enorm aufwendig<br />
ist. Im laufe der Zeit haben sich verschiedene Methoden entwickelt, Daten zu<br />
analysieren <strong>und</strong> diese visuell aufzubereiten.<br />
1 Ausgangslage <strong>und</strong> Problemstellung<br />
Im Bereich der Websitestatistik ist das Webserver-Logfile eine häufig genutzte<br />
Quelle, um die darin enthaltenen Informationen zu visualisieren. Das vom Webserver<br />
produzierte Logfile enthält ein automatisch erstelltes Protokoll bestimmter<br />
Aktionen der Besucher einer Internetseite. Da die Anzahl der einträge schnell<br />
sehr groß werden kann, ist es in dieser Form schwierig, Kenngrößen aus dem Datensatz<br />
abzulesen. Deshalb ist es einerseits schwierig, die Daten zu vergleichen,<br />
255
PATRICK SCHWAB<br />
andererseits fehlt vielen Usern das Verständnis, Logfiles korrekt zu interpretieren.<br />
eine Möglichkeit, diese Daten übersichtlicher zu präsentieren, ist die Darstellung<br />
mittels Diagrammen verschiedener Art, zum Beispiel Balken-, Kreis- oder Flächendiagramme.<br />
Hieraus lassen sich zwar Statistiken <strong>und</strong> Strukturen ableiten,<br />
die visualisierten Daten werden jedoch nur relativ einseitig dargestellt. Komplexe<br />
Schaubilder, in denen versucht wird verschiedene Daten gleichzeitig darzustellen,<br />
sind oft unübersichtlich.<br />
Datensätze treten in den verschiedensten Formen auf <strong>und</strong> können auf ebenso<br />
vielseitige Weise dargestellt werden: in ihrer Reinform, gelistet <strong>und</strong> sortiert in Tabellen,<br />
zusammengefasst zu Datenpaketen, aufbereitet in Diagrammen <strong>und</strong> zusätzlich<br />
codiert über Form <strong>und</strong> Farbe. Websitestatistiken liefern in der Regel eine<br />
große Anzahl an Diagrammen, um den Betrachtern den Zugang zu den Daten<br />
zu verschaffen. Problematisch ist hierbei allerdings die relativ einseitige Darstellung<br />
der Diagramme, welche mehrheitlich ohne Bezug zueinander aufbereitet<br />
werden. Möchte man mehrere Faktoren betrachten, muss in der Regel zwischen<br />
unterschiedlichen Charts gewechselt werden. Hierdurch gehen dem Betrachter<br />
wichtige Informationen verloren, da der Bezug der Daten zueinander nicht gegeben<br />
ist. Gefordert ist folglich eine Form der Darstellung, die mehrere Variablen<br />
sinnvoll miteinander kombiniert. Darüber hinaus besteht in der Regel keine Möglichkeit<br />
mit dem visualisierten Datensatz zu interagieren.<br />
2 Zielsetzung<br />
Das Ziel ist es, eine neue Darstellungsform für die Websitestatistik zu finden, die<br />
dem Betrachter einen größeren einblick in den Datensatz ermöglicht, als bisherige<br />
Darstellungsformen. Dabei soll im Speziellen auf die Merkmale einzelner<br />
Seiten des zu visualisierenden Internetauftritts eingegangen werden, ohne dabei<br />
mehrere Schaubilder miteinander vergleichen <strong>und</strong> analysieren zu müssen. Anhand<br />
der statistischen Darstellung soll es möglich sein, direkte Rückschlüsse auf<br />
die Qualität einzelner Seiten zu treffen, welche wiederum strategische Maßnahmen<br />
zur Optimierung dieser erlauben.<br />
3 Vorgehen<br />
Für eine effektive Analyse der Seite sollen die verwendeten Variablen in einer Darstellungsform<br />
kombiniert werden. Ziel dabei ist es, Zusammenhänge der Daten<br />
gewinnbringend zu visualisieren <strong>und</strong> eine aufschlussreiche, übersichtliche Darstellung<br />
zu erzeugen. ein Problem das gerade bei neuen Visualisierungsformen<br />
häufig auftritt ist, dass diese für den Betrachter oft schwer zu lesen sind. Um den<br />
einstieg für die Betrachter zu erleichtern wird deshalb im Folgenden versucht,<br />
weitestgehend mit bereits gelernten Formen zu arbeiten. Die erste Variable, die<br />
256
Informationsvisualisierung mit Hilfe von Processing<br />
visualisiert werden soll, ist die Anzahl der Besucher pro Unterseite. Diese gibt<br />
an, wie viele Benutzer in einem bestimmten Zeitraum auf der entsprechenden<br />
Seite zu Besuch waren. Hierbei liegt es nahe, eine Form zu wählen, welche in<br />
Abhängigkeit von den Besuchern in ihrer Größe variiert <strong>und</strong> das aus der Treemap<br />
bekannte Prinzip der Größenrelevanz aufgreift. je größer die Anzahl der Besucher<br />
ist, desto größer ist auch das darzustellende Objekt. Gut geeignet ist hierfür<br />
der Kreis (vgl. Abb. 1).<br />
Abb. 1 : Kreisform Abb. 2: Kreisform im <strong>Raum</strong> Abb. 3: Trichterobjekt<br />
eine optisch angenehme Form, welche in statistischen Darstellungen bereits aus<br />
dem Kreisdiagramm bekannt ist. Dargestellt werden soll das Referenzobjekt im<br />
dreidimensionalen <strong>Raum</strong>. Folglich wird die Ausgangskreisform über die x- <strong>und</strong><br />
z-Achse gezeichnet (vgl. Abb. 2). Gezeigt wird ein Kreis mit variablem Radius,<br />
welcher sich an die Anzahl der Besucher anpasst. Da aber die Besucheranzahl<br />
alleine keine große Aussagekraft über die Tauglichkeit der einzelnen Seiten hat,<br />
wird diese mit der Verweildauer der Besucher kombiniert. Für die erweiterung<br />
der Kreisform ist eine Abtragung in Richtung der y-Achse angedacht. Wird zusätzlich<br />
die Verweildauer abgetragen, entsteht ein Trichterobjekt (vgl. Abb. 3),<br />
welches entsprechend der Besucheranzahl <strong>und</strong> Verweildauer in der Höhe sowie<br />
dem Durchmesser variiert. Jede Schicht des Trichterobjekts steht hierbei für eine<br />
festgelegte Verweildauer <strong>und</strong> die Anzahl der zu dieser Zeit noch vorhandenen<br />
Besucher. Beginnend mit der obersten Schicht, welche dem einstiegszeitpunkt<br />
entspricht (komplette Anzahl der Besucher), werden beispielsweise im Minutentakt<br />
weitere Schichten abgetragen <strong>und</strong> die noch verbleibenden Besucher über das<br />
Kreisobjekt dargestellt. Auf diese Weise ergeben sich für die einzelnen Seiten entsprechende<br />
Trichterobjekte, die bestimmten Typen zugeordnet werden können<br />
<strong>und</strong> somit erste Rückschlüsse bezüglich des Nutzerverhaltens auf der Seite erlauben.<br />
Abbildung 4 zeigt zwei Querschnitte möglicher Referenzobjekte. Der linke<br />
Querschnitt tendiert zu einer zylindrischen Form. Dies hängt damit zusammen,<br />
dass über die Zeit (y-Achse) nur ein geringer Abfall an Besuchern aufzuweisen<br />
ist.<br />
257
PATRICK SCHWAB<br />
Abb. 4: Querschnitt des Trichterobjekts<br />
Diese Art Trichter spricht für den Inhalt der entsprechenden Seite <strong>und</strong> weist<br />
eine hohe durchschnittliche Verweildauer auf. Der rechte Querschnitt hingegen<br />
kann bei gleicher Anzahl an Besuchern (vgl. Radius des Startkreises) nur eine<br />
geringere durchschnittliche Verweildauer aufweisen. Dies zeigt sich durch den<br />
schnellen Abfall der Besucher über die Zeit (y-Achse). Diese Art der Trichterform<br />
ist ein erstes Indiz für Seiten, welche beim Betrachter nicht ausreichend Begutachtung<br />
finden <strong>und</strong> unter Umständen optimiert werden sollten. Natürlich muss<br />
dies von Seite zu Seite differenziert werden. einstiegsseiten, die den User direkt<br />
zu weiteren Angeboten oder Unterseiten weiterleiten sollen, werden es schwer<br />
haben, mit einer hohen Verweildauer glänzen zu können. Handelt es sich hierbei<br />
allerdings um Seiten, die dem Besucher wesentliche Informationen vermitteln<br />
sollten, ist eine niedrige Verweildauer äußerst unvorteilhaft. Diese Fälle gilt es<br />
vorab zu unterscheiden. Die nächsten Variablen, die es darzustellen gilt, sind die<br />
Ein- <strong>und</strong> die Ausstiegsseiten. Hiefür werden einfache Pfeilobjekte verwendet, die<br />
durch ihre Richtung, ihre Größe sowie eine farbliche Codierung, die ein- <strong>und</strong> Aussteiger<br />
der entsprechenden Seite kennzeichnen. Über diese zusätzlichen Objekte<br />
erhält der Betrachter einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt, um Rückschlüsse<br />
auf die Seiten des Internetauftritts zu treffen. Kommt es bei Seiten, die eine hohe<br />
Anzahl an Besuchern aufweisen oder als typische einstiegsseiten gelten, zu vermehrten<br />
Ausstiegen, ist es angebracht, diese auf mangelhaften beziehungsweise<br />
fehlerhaften Inhalt zu überprüfen. eventuell können hier auch technische Probleme<br />
oder zu lange ladezeiten Gr<strong>und</strong> für den Ausstieg der User sein.<br />
Die bisher betrachteten Variabeln spiegeln den Zustand einer Unterseite wider.<br />
Im Folgenden gilt es zusätzlich eine Visualisierungsform für die Bewegung der<br />
Besucher zwischen den Seiten zu finden. Hierfür werden mehrere Unterseiten<br />
in der bereits bekannten Graphenform abgetragen <strong>und</strong> durch linien verb<strong>und</strong>en,<br />
sobald eine Bewegung zwischen den Seiten festgestellt wird. Je nach Häufigkeit<br />
der Bewegung nehmen die Stränge der linien an Intensität zu oder ab. Zusätzlich<br />
kann durch farbliche Codierung die Intensität unterstützt werden. Seiten, die gar<br />
nicht frequentiert werden oder kaum Bewegung aufweisen sind schnell auszumachen<br />
<strong>und</strong> können auf mögliche Ursachen hin untersucht werden. ein Gr<strong>und</strong><br />
hierfür ist womöglich eine schlechte Navigationsstruktur oder falsch platzierte<br />
Hyperlinks, die vom Besucher nicht gef<strong>und</strong>en werden.<br />
258
Informationsvisualisierung mit Hilfe von Processing<br />
Die Möglichkeit der <strong>Interaktion</strong> ist ein weiterer wichtiger Punkt für den Betrachter.<br />
Sie ermöglicht es ihm, die Datenbestände je nach Wunsch zu betrachten <strong>und</strong><br />
direkt in diese einzugreifen. Fehlerhafte oder unschlüssige <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />
hinterlassen beim User unter Umständen einen negativen eindruck <strong>und</strong><br />
schmälern somit die Chance, ihn mit der Anwendung zu überzeugen. Aktionen<br />
sollten schlüssig <strong>und</strong> nachvollziehbar sein. Folgende <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />
gilt es bei der prototypischen Umsetzung zu berücksichtigen:<br />
• Das Darstellen einer Zeitleiste, über die der Betrachter auf tagesbezogene<br />
Auswertungen zugreifen kann.<br />
• Die Bewegung im <strong>Raum</strong>. Der Betrachter soll die Möglichkeit haben, sich frei<br />
im dreidimensionalen <strong>Raum</strong> bewegen zu können. Ziel dabei ist es, die visualisierten<br />
Objekte aus der von ihm gewünschten Perspektive betrachten<br />
zu können. Um dem Problem der Desorientierung aus dem Weg zu gehen,<br />
soll es zusätzlich möglich sein, vordefinierte perspektivische Ansichten anzuspringen<br />
<strong>und</strong> über einen Standard-Zoomwert direkt in die Ausgangslage<br />
zurückkehren zu können.<br />
• Das Ein- <strong>und</strong> Ausblenden der Variablen, die grafisch dargestellt werden<br />
(Trichterobjekte, Ein- <strong>und</strong> Ausstiegsseiten, Besucherbewegung). Dies soll<br />
dazu dienen, gezielt bestimmte, für den Betrachter wichtige Parameter betrachten<br />
zu können.<br />
• Des Weiteren soll dem Betrachter die Möglichkeit gegeben werden, zwischen<br />
der Parallel- <strong>und</strong> der Zentralprojektion zu wechseln. „Parallelprojektionen<br />
werden sehr häufig in 3D-CAD-Systemen verwendet. Da Längen <strong>und</strong> Winkel<br />
erhalten bleiben, sind Messungen in der Projektion möglich. Bei allen Parallelprojektionen<br />
fehlt die Tiefeninformation. Ein von der Projektionsebene<br />
entferntes Objekt ist genau so groß wie das selbe Objekt unmittelbar vor der<br />
Projektionsebene“(DMA 2007). In der Zentralprojektion hingegen werden<br />
weit entfernte Objekte auch kleiner dargestellt als nahe liegende Objekte<br />
<strong>und</strong> perspektivisch verzerrt. Ist der Betrachter an einem Überblick auf die<br />
Zugriffe der einzelnen Seiten interessiert (die über den Radius der Kreise<br />
dargestellt sind) hat er die Möglichkeit, in die Parallelprojektion zu wechseln.<br />
Diese Ansicht ist verzerrungsfrei <strong>und</strong> erlaubt eine genaue Vergleichsmöglichkeit<br />
zwischen den einzelnen Seiten.<br />
• Abschließend soll dem Betrachter eine Detailansicht einzelner Objekte als<br />
weitere <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit angeboten werden. Diese erlaubt eine separate<br />
Darstellung einzelner Seiten mit genauen Werten wie der Besucheranzahl,<br />
der durchschnittlichen Besucherzeit, den ein- <strong>und</strong> Aussteigern <strong>und</strong>,<br />
falls vorhanden, den verweisenden Quellen.<br />
259
PATRICK SCHWAB<br />
4 ergebnisse <strong>und</strong> Ausblick<br />
Websitestatistiken werden genutzt, um einen eindruck über das Besuchersegment<br />
<strong>und</strong> dessen Verhaltensweise zu bekommen. Bis heute gibt es im Bereich<br />
der Websitestatistik kaum Alternativen zu etablierten Darstellungsmethoden. Da<br />
sich derzeit keine klare Richtung in der entwicklung neuer Formen der Darstellung<br />
abzeichnet, wurde im Rahmen der Diplomarbeit gezielt auf die Nachteile<br />
gängiger lösungen eingegangen <strong>und</strong> anhand dieser auf eine neue, klare Form<br />
hingearbeitet. Darüber hinaus sind die Betrachter statistischer Darstellungen<br />
durch den konzeptionellen Ansatz aus ihrer bisher recht „passiven“ Rolle befreit<br />
worden <strong>und</strong> durch eine interessante, interaktive lösung motivierter, sich genauer<br />
mit dem visualisierten Datensatz zu beschäftigen. Die <strong>Interaktion</strong>selemente erlauben<br />
es dem Betrachter, gezielt in die Darstellung der Daten einzugreifen <strong>und</strong><br />
diese je nach Wunsch zu betrachten. Um die Tragfähigkeit des Konzeptes zu verdeutlichen,<br />
wurde ein Prototyp mit Processing entwickelt. Den aktuellen Stand<br />
des Prototyps findet sich unter http://processing.sense-art.de.<br />
Abb. 5: Screenshot des Prototyps<br />
literatur<br />
DMA (2007) Gr<strong>und</strong>lage: 3D Grafikmodule.<br />
http://www.dma.ufg.ac.at/app/link/Gr<strong>und</strong>lagen:3D-Grafik/module/9643<br />
(14.01.2007)<br />
260
ARBeITSBeReICH INTeRAKTION
I. <strong>Interaktion</strong>skonzepte – Angewandte Forschung
WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />
Interaktive Medieninstallationen im Spannungsverhältnis<br />
von medialer Gestaltung <strong>und</strong> technischer<br />
Konstruktion<br />
1 einleitung: Veranstaltung Interaktive Medieninstallationen<br />
Seit dem Sommersemester 2006 wurde an der Fakultät Digitale Medien der<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> von dem Architekten Daniel Fetzner <strong>und</strong> dem Informatiker<br />
Wolfgang Taube die interdisziplinäre Veranstaltung ‚Interaktive Medieninstallationen‘<br />
entwickelt <strong>und</strong> mit guter studentischer Resonanz zweimal durchgeführt.<br />
Zielgruppe waren Studierende aus den Studiengängen Medieninformatik<br />
<strong>und</strong> Online Medien, die in eher generalistisch angelegten Studiengängen für<br />
Tätigkeiten im Zusammenhang mit den inzwischen nicht mehr ganz so Neuen<br />
Medien ausgebildet werden.<br />
Besonderheit der Veranstaltung war die enge Verzahnung von künstlerisch/gestalterischen<br />
Anforderungen mit der technischen Umsetzung in einer anspruchsvollen<br />
Programmierumgebung <strong>und</strong> deren realräumliche Inszenierung. Dies<br />
stellte sowohl für die Studierenden als auch für die lehrenden, die von unterschiedlichen<br />
fachlichen Traditionen geprägt sind, in der Seminarsituation eine<br />
Herausforderung dar.<br />
267
WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />
2 Interaktive Medieninstallationen<br />
Interaktive Medieninstallationen sind als Form der Medienkunst vorwiegend seit<br />
den 1980er jahren entstanden. es handelt sich um technische Umgebungen, bei<br />
denen BesucherInnen durch unterschiedliche <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten mit<br />
dem System kommunizieren <strong>und</strong> dabei Video- <strong>und</strong>/oder Audioausgaben in echtzeit<br />
beeinflussen. Die künstlerischen Konzepte thematisieren oft den Umgang<br />
mit medialen Strukturen.<br />
Bekannte Beispiele für Medieninstallationen sind etwa Access von Marie Sester 1<br />
im ZKM, the Very Nervous System (VNS) von David Rokeby 2 <strong>und</strong> der Zerseher<br />
von joachim Sauter 3 <strong>und</strong> Dirk lüsebrink.<br />
Für MedieninformatikerInnen ermöglichen interaktive Medieninstallationen<br />
eine Auseinandersetzung mit neuartigen ein- <strong>und</strong> Ausgabemedien <strong>und</strong> selbst<br />
gestaltbaren räumlichen Umgebungen. Als künstlerische Praxisform kann eine<br />
Installation über den engen Horizont kommerziell einsetzbarer Produkte hinausgehen<br />
<strong>und</strong> den Beteiligten zu einer innovativen Sicht auf moderne <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />
verhelfen.<br />
3 Werkzeuge für die echtzeit-Medienverarbeitung<br />
Nun ist die erstellung multimedialer Präsentationen mit einem PC heute trivial<br />
– ganze Bibliotheken wurden mit der Beschreibung der Verheißungen <strong>und</strong><br />
Gefahren von Multimedia in den letzten jahren gefüllt <strong>und</strong> eine Reihe von Produkten<br />
sind Bestandteile unseres technisierten Alltags geworden. Die vielzitierte<br />
Integration der unterschiedlichen Medien im PC beschränkt sich aber oft auf den<br />
universellen Mausklick, der dann ganz traditionell ein Musikstück, einen Film<br />
oder eine Animation startet. Höhepunkte der Medienintegration sind dann textbasierte<br />
Chats, die parallel zum Abspielen eines Films angeboten werden.<br />
Die aktive einbindung der BesucherInnen in multimediale Umgebungen <strong>und</strong> vor<br />
allem die Verwendung von in echtzeit manpulierbaren Audio- <strong>und</strong> Videodaten<br />
werden auch heute noch eher in aufwändigen <strong>und</strong> eher experimentellen Prototypen<br />
eingesetzt.<br />
erst mit der Möglichkeit, direkt in echtzeit auf Benutzer zu reagieren, werden<br />
neue multimediale erlebnisformen realisierbar. Das reine Betrachten vorgefertigter<br />
medialer Versatzstücke ist nicht zu vergleichen mit der direkten interaktiv-immersiven<br />
einbeziehung in eine elektronische Welt. Dazu muss auf der<br />
1 http://www.sester.net/<br />
2 http://homepage.mac.com/davidrokeby/vns.html<br />
3 http://www.artcom.de/<br />
268
Interaktive Medieninstallationen<br />
technischen ebene das Ausgabebild ca. 25 Mal pro Sek<strong>und</strong>e immer wieder neu<br />
berechnet <strong>und</strong> ausgegeben werden. Und auch konzeptionell stellen solche Umgebungen<br />
andere Anforderungen an die Produzenten <strong>und</strong> die Benutzer.<br />
Die technischen Voraussetzung für die schnelle echtzeit-Videoverarbeitung sind<br />
– vor allem getrieben durch den Verkaufserfolg der Computerspiele – in den<br />
letzten jahren immer mehr verbessert worden. Die dramatisch gestiegene leistungsfähigkeit<br />
der heutigen Grafikkarten <strong>und</strong> generell der heutigen Prozessoren<br />
ermöglichen komplexe grafische Berechnungen auch auf handelsüblicher Hardware.<br />
Auf der eingabeseite stehen mit preisgünstigen Webcams ganz einfache<br />
Möglichkeiten zur Aufnahme von Video- <strong>und</strong> auch Audiosignalen zur Verfügung,<br />
die dann bei Bedarf durch qualitativ hochwertigere Kameras ersetzt werden können.<br />
Für die Ausgabe kann man große lCD-Schirme oder auch Beamer einsetzen,<br />
die dann oft mit Rückprojektion verwendet werden.<br />
Diese Hardware-Komponenten sind eine Voraussetzung für die entwicklung einfacher<br />
<strong>und</strong> kostengünstiger Medieninstallationen. Auf der Softwareseite könnte<br />
man eine beliebige weitverbreitete Programmiersprache wie C++ oder java verwenden,<br />
um die beabsichtigte Funktionalität zu entwickeln. Allerdings zeigt sich<br />
hier, dass die Wahl einer für die Zielgruppe geeigneten Softwareumgebung von<br />
großer Bedeutung für das endprodukt ist.<br />
Weitverbreitete entwicklungsumgebungen wie etwa die java-Programmierung<br />
mit eclipse können zwar für die Programmierung einer medialen Installation<br />
eingesetzt werden. es zeigt sich aber, dass der konzeptionelle Graben zwischen<br />
der Implementierungsebene <strong>und</strong> dem beabsichtigten Resultat in vielen Fällen<br />
zu groß ist. Die Folge ist, dass dann Techniker technisch anspruchsvolle Umgebungen<br />
realisieren, die aus gestalterischer Sicht unbenutzbar sind, während<br />
die Gestalter Konzepte erstellen, von denen nur ein statischer eindruck in Photoshop<br />
realisiert wird <strong>und</strong> die nie lauffähig zum leben erweckt werden. Ausweg<br />
aus diesem Dilemma ist oft eine arbeitsteilige Zusammenarbeit von Technikern<br />
<strong>und</strong> Gestaltern zur Realisierung der gewünschten Produkte. Hierbei besteht die<br />
Gefahr, daß den Gestaltern der Kontakt zum eigentlichen medialen Material verlorengeht.<br />
Im Gegensatz zu traditionellen Medien besteht das Material bei den<br />
elektronischen Medien sowohl aus den elektronischen Repräsentanten der stofflichen<br />
Materie als auch aus den Algorithmen, die dieses Material auf unterschiedliche<br />
Art <strong>und</strong> Weise transformieren können. Dieser Zusammenhang mit seinen<br />
Gestaltungsmöglichkeiten kann nur einheitlich erfahren werden <strong>und</strong> setzt ein<br />
einlassen der Gestalter auf die Algorithmik voraus.<br />
Um diese integrierte Herangehensweise zu unterstützen, haben eine Reihe von<br />
Programmierprojekten eher aus dem künstlerischen Umfeld Programmierumgebungen<br />
speziell für die Zielgruppe künstlerisch/gestalterisch orientierter Personen<br />
entwickelt. Während Trogemann/Viehoff von der KHM (Code@Art) mit<br />
einem Toolkit sich noch recht eng am traditionellen Programmierverständnis<br />
269
WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />
halten, haben Casey Reas <strong>und</strong> Ben Fry mit der java-basierten Programmierumgebung<br />
Processing eine eigenständige entwicklungsumgebung realisiert, die nicht<br />
auf Informatik-spezifische Entwicklertugenden Wert legt. Processing unterstützt<br />
stark das Ausprobieren von effekten, die inkrementelle <strong>und</strong> interaktive Weiterentwicklung<br />
von Konstruktionsideen <strong>und</strong> die einfache Weitergabe für den kommunikativen<br />
Austausch. Von der Handhabung erinnert es stark an das in den 1990er<br />
jahren weitverbreitete HyperCard, allerdings mit einer nahtlosen Integration in<br />
die java-Welt mit all den Möglichkeiten, die der komponentenbasierte Ansatz von<br />
java bietet.<br />
In dem hier vorgestellten Seminar wurde eine weitere entwicklungsumgebung<br />
eingesetzt, die von vornherein von Künstlern für Künstler entwickelt wurde <strong>und</strong><br />
die ein ganz eigenständiges Programmierparadigma verwendet. es handelt sich<br />
um Max (zusammen mit den Komponenten Msp <strong>und</strong> Jitter), das von Miller Puckette<br />
<strong>und</strong> anderen seit 1996 entwickelt wurde 4 .<br />
Max 5 wurde zunächst zur Verarbeitung von Audio-Daten entwickelt, später kam<br />
mit jitter eine Komponente für die Verarbeitung von Video-Daten hinzu. eine<br />
möglichst schnelle Verarbeitung von live-Daten in echtzeit, die miteinander<br />
kombiniert, unterschiedlich transformiert <strong>und</strong> dann wieder ausgegeben werden<br />
können, stand von Anfang an im Zentrum der Entwicklung. Max ist als komfortable<br />
Oberfläche zur Kontrolle unterschiedlicher digitaler Signale konzipiert, die<br />
einem medialen Gestalter maximale Eingriffsmöglichkeiten in das mediale Material<br />
gewährt. Zur Realisierung vieler effekte ist man auf auf mehr oder weniger<br />
komplexe Programmierung angewiesen – die Programmierung ist aber immer<br />
nur Mittel zum (medialen) Zweck.<br />
Das zugr<strong>und</strong>liegende Programmierparadigma ist die datenfluß-orientierte Programmierung.<br />
Im Gegensatz zur prozeduralen Programmierung, die sich an den<br />
Verarbeitungsschritten des Prozessors orientiert, stehen bei der datenfluß-orientierten<br />
Programmierung die Daten – also das mediale Material – im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Max-Programme – sog. Patches – bestehen aus Objekten, die miteinander verb<strong>und</strong>en<br />
sind <strong>und</strong> die sich zu verarbeitende Daten <strong>und</strong> Kontroll-Messages zuschicken.<br />
Die TeilnehmerInnen der Seminare waren einerseits sehr fasziniert von den<br />
Möglichkeiten von Max, hatten andererseits auch große Schwierigkeiten, sich von<br />
dem ihnen vertrauten java-Programmiermodell zu lösen. Manche Funktionen<br />
wurden dann doch lieber als sog. Max-Externals in Java programmiert, obwohl<br />
eine einfachere Realisierung in Max durchaus möglich gewesen wäre.<br />
4 Ähnliche Ansätze verfolgen Pure Data (PD) <strong>und</strong> vvvv<br />
5 Max/Msp/Jitter sowie zusätzliche Komponenten werden als kommerzielle Produkte über www.<br />
cycling74.com vertrieben<br />
270
4 Ablauf<br />
Interaktive Medieninstallationen<br />
In dem Seminar mussten nun einerseits die notwendige technischen Gr<strong>und</strong>lage<br />
zur Realisierung der gewünschten Medieninstallationen vorbereitet werden, zum<br />
anderen mussten die inhaltlichen Konzepte erarbeitet werden. So wurden vorhandene<br />
Medieninstallationen untersucht, eigene Ideen zu umsetzbaren Konzepten<br />
weiterentwickelt <strong>und</strong> Texte zur Medientheorie diskutiert <strong>und</strong> gleichzeitig erfolgte<br />
eine schrittweise einarbeitung in die ungewohnte Systemumgebung mit ersten<br />
Durchführbarkeitstests bezogen auf die technischen Komponenten. Abger<strong>und</strong>et<br />
wurde das Seminar mit einem Besuch des ZKM in Karlsruhe, bei dem wichtige<br />
Medienkunstwerke live erlebt werden konnten.<br />
Als zentrales technisches Thema stellte sich das Tracking von Objekten in einer<br />
Videoszene in echtzeit heraus. Will man nicht auf spezielle Sensoren zurückgreifen,<br />
so ist die Analyse von Videobildern einer Szene zur erkennung von Benutzerverhalten<br />
zentrales Moment der <strong>Interaktion</strong>ssteuerung. Hier stand mit dem<br />
von jean Marc Pelletier entwickelten Paket CV6 (Computer Vision) ein hilfreiches<br />
Werkzeug zur Verfügung.<br />
Auf der gestalterischen ebene war der Umgang mit einer sehr offenen Fragestellung<br />
für viele Studierende eine große Herausforderung. Während sie in ihrem<br />
bisherigen Studium mit sehr detailliert festgelegten Aufgabenstellungen<br />
konfrontiert waren, wurde hier nur ein grober Rahmen vorgegeben, der von den<br />
einzelnen Gruppen konkretisiert werden musste. Im ersten Seminar war dies<br />
eine bestimmte <strong>Raum</strong>situation, im zweiten Seminar wurde das Thema ‚Grenzen‘<br />
vorgegeben.<br />
Zunächst liefen einige Konzepte auf die reine Bebilderung einer Meinung hinaus<br />
(z.B. ‚Studiengebühren sind schlecht‘). Erst in einem zweiten Schritt konnten<br />
sich die Studierenden auf die <strong>Raum</strong>situation einlassen <strong>und</strong> eine Installation entwerfen,<br />
die dem Benutzer ein erleben der Situation ohne pädagogischen Zeigefinger<br />
ermöglichte.<br />
Bei dem Versuch, das spezifisch Neuartige der interaktiven Medieninstallationen<br />
zu erfassen, stießen wir in den Diskussionen immer wieder auf die Mehrdeutigkeit<br />
des <strong>Interaktion</strong>sbegriffs7 . Von Dag Svanaes (2000) haben wir die Bedeutung<br />
des kinästhethischen Denkens gelernt, mit dem der norwegische Informatiker<br />
die zentrale Rolle von körperlichen Bewegungen für das Verständnis von <strong>Interaktion</strong>en<br />
fasst. In Fortführung <strong>und</strong> ergänzung der Gestaltheorie aus der Tradition<br />
des Bauhauses schlägt Svanaes im Kontext interaktiver Umgebungen eine Erweiterung<br />
sogenannter kinästhetischer Gestaltmomente vor. Neue eingabeverfahren<br />
wie die Analyse von Videobildern, die über die Beschränkungen von Maus <strong>und</strong><br />
6 http://www.iamas.ac.jp/~jovan02/cv/<br />
7 Vgl. dazu den Beitrag über den <strong>Interaktion</strong>sbegriff „<strong>Interaktion</strong> = (Actio + Reactio)*“ von Wolfgang<br />
Taube in diesem Arbeitsbericht.<br />
271
WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />
Tastatur hinausgehen, ermöglichen eine verstärkte Berücksichtigung des Körpers<br />
als eingabemedium. Bereits mit einfachen <strong>Bild</strong>verarbeitungsalgorithmen kann<br />
man aus den <strong>Bild</strong>ern einer Webcam interessante <strong>Interaktion</strong>sgesten extrahieren.<br />
Verschiedene Arbeiten in der Veranstaltung haben auf diese Weise das Verhalten<br />
von Besuchern im <strong>Raum</strong> thematisiert. In einer Installation wurde ein Betrachter,<br />
der bei Bewegung im Videobild sichtbar war, bei Nicht-Bewegung ausgeblendet<br />
<strong>und</strong> der Betrachter war auf einmal unsichtbar. Umgekehrt wurde in einer anderen<br />
Installation ein Avatar umso kleiner (<strong>und</strong> trauriger), je weniger Bewegung in<br />
der Szene erkennbar war.<br />
Abb. 1: Skizze T.I.M.<br />
David Rokeby, gleichzeitig Künstler <strong>und</strong> Programmierer, betont in seinem Aufsatz<br />
‚Transforming Mirrors‘ (1999) die neue Rolle des Zuschauers <strong>und</strong> den Verlust<br />
an Kontrolle auf Seiten des Künstlers: ‚Interaction is about encounter rather<br />
than control‘. Interaktive Kunstwerke schaffen einen Möglichkeitsraum für<br />
Handlungen. erst in den eigenständigen Handlungen der Interakteure materialisiert<br />
sich das Kunstwerk <strong>und</strong> ermöglicht in dieser Materialisierung ein neuartiges<br />
Erleben der Situation. Über den Text gab es viele Diskussionen zum Unterschied<br />
von linearen <strong>und</strong> interaktiven Arbeiten. Rockeby gibt hier bereits 1994 einen sehr<br />
differenzierten Standpunkt wieder, so dass Tranforming Mirrors auch die noch<br />
heute relevanten Fragen stellt.<br />
Abb. 2: Screenshot FKK<br />
272
entstanden sind insgesamt 12 sehr unterschiedliche Arbeiten, wobei einige konzeptionell<br />
<strong>und</strong> technisch herausragend waren. Besonders erwähnenswert sind die<br />
Installationen Farbtöne, FleX <strong>und</strong> T.I.M. im Sommersemester 2006 sowie eX-<br />
ClUSIO, Türhüter <strong>und</strong> Considerable Strain im Wintersemester 2006/07.<br />
Sämtliche Arbeiten sind inklusive Software-Patch im ISIC-Wiki dokumentiert<br />
unter:<br />
http://webuser.fh-furtwangen.de/~fetzner/spacestudies/index.php?n=Main.IMI<br />
5 erfahrungen<br />
Der technologische Aufwand bei dieser lehrform ist minimal, neben den lizenzen<br />
von Max/MSP/Jitter werden lediglich einfache Hardwarekomponenten<br />
wie etwa handelsübliche Firewire- oder USB-Kameras mit geringer Auflösung<br />
benötigt. Die Motivation unter den Studierenden war in beiden Semestern sehr<br />
hoch <strong>und</strong> es wurden von allen Teilnehmern interessante erfahrungen gesammelt<br />
<strong>und</strong> neue Beobachtungen gemacht. Seien es solche kleinen Experimente wie etwa<br />
das Drehen des Beamers an der Decke um 90°, so dass das <strong>Bild</strong> nicht wie gewohnt<br />
an die Wand, sondern auf den Boden projiziert wird <strong>und</strong> man darauf laufen kann.<br />
Oder die erfahrung, eine Videokamera als technisches Auge <strong>und</strong> Schnittstelle<br />
zu einer selbst programmierten Umgebung zu erleben, die im Gebrauch dann<br />
wieder neue Fragen aufwirft. Damit kann ein Verständnis für ein programmiertes<br />
Gegenüber als Systemkonzept in der theoretischen <strong>und</strong> praktischen Auseinandersetzung<br />
um eine selbstentwickelte Installation wachsen.<br />
Wir werden den Kurs also auch weiter anbieten.<br />
literatur<br />
Interaktive Medieninstallationen<br />
SVANAeS, D. (2000): Understanding Interactivity – Steps to a Phenomenology<br />
of Human-Computer Interaction. Trondheim. http://www.idi.ntnu.no/~dags/<br />
interactivity.pdf<br />
ROKeBY, D. (1999): Transforming Mirrors. http://homepage.mac.com/davidrokeby/mirrors.html<br />
TROGeMANN, G./VIeHOFF, j. (2005): Code@Art. eine elementare einführung<br />
in die Programmierung als künsterlische Praktik. Wien.<br />
273
WOlFGANG TAUBe<br />
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
1 <strong>Interaktion</strong> – Facetten eines umstrittenen Begriffs<br />
Wenn ein Begriff über lange Zeit in verschiedenen Fachdisziplinen kontrovers<br />
diskutiert wird, dann deutet er auf ein zentrales Problem hin, dessen Bedeutung<br />
sich noch nicht völlig entfaltet hat. ein Musterbeispiel hierfür ist die Diskussion<br />
um den <strong>Interaktion</strong>sbegriff in den vergangenen 20 jahren, die auch im jahre<br />
2007 nicht abgeschlossen ist <strong>und</strong> die hier um einen Beitrag aus der Sicht eines<br />
Informatikers bereichert werden soll. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit<br />
eine geeignete Fassung des <strong>Interaktion</strong>sbegriffs eine Hilfestellung bei der<br />
Konstruktion interaktiver Systeme sein kann.<br />
Mensch <strong>und</strong> Maschine<br />
Man kann den Begriff <strong>Interaktion</strong> sehr unterschiedlich definieren. Im Extremfall<br />
kann man ihn entweder für die <strong>Interaktion</strong>en zwischen Menschen (interpersonale<br />
<strong>Interaktion</strong>) reservieren oder ihn soweit fassen, dass es sämtliche Aktivitäten<br />
von Menschen <strong>und</strong> Maschinen umfasst. Wenn man die <strong>Interaktion</strong> für das aufeinander<br />
bezogene Handeln von Menschen reserviert, so wird oft als zusätzlicher<br />
275
WOlFGANG TAUBe<br />
Begriff die Interaktivität ins Spiel gebracht, um das Zusammenspiel von Menschen<br />
mit Maschinen (<strong>und</strong> vor allem Computern) zu fassen (z.B. Schulmeister<br />
2004). eine gr<strong>und</strong>sätzliche Unterscheidung zwischen Mensch <strong>und</strong> Maschine<br />
macht dann Sinn, wenn ansonsten die Gefahr besteht, dass man Maschinen menschenähnliche<br />
eigenschaften zuordnet <strong>und</strong> ihnen eigene Absichten, Gefühle <strong>und</strong><br />
Verstand unterstellt.<br />
Ich möchte in diesem Beitrag mit einem breit gefassten <strong>Interaktion</strong>sbegriff die<br />
Strukturen von <strong>Interaktion</strong>sprozessen untersuchen <strong>und</strong> Ablauf sowie Wirkungsweise<br />
von <strong>Interaktion</strong>en als wechselseitig aufeinander bezogene Handlungen von<br />
beliebigen Akteuren beschreiben <strong>und</strong> die ebene der Bedeutung von <strong>Interaktion</strong><br />
zunächst ausklammern. erst wenn wir die Funktionsweise <strong>und</strong> die Faszination<br />
von <strong>Interaktion</strong>sprozessen verstanden haben, können wir ihren Stellenwert im<br />
Rahmen menschlicher Begegnungsprozesse besser verstehen.<br />
Ein vielzitierter Ansatz stammt von Rafaeli (1988: 120): “Interactivity is feedback<br />
that relates both to previous messages and to the way previous messages related<br />
to those preceding them.” Wichtig ist der Bezug der Nachrichten untereinander<br />
<strong>und</strong> Rafaeli unterscheidet grob drei ebenen der Kommunikation: die nicht-interaktive<br />
Zweiweg-Kommunikation, bei der es keinen Bezug der Nachrichten untereinander<br />
gibt, die reaktive Kommunikation, bei der es einen einfachen Bezug der<br />
Reaktion auf die auslösende Kommunikationsaktion gibt <strong>und</strong> zum Schluß die eigentlich<br />
interaktive Ebene, auf der die Reaktion Bezug nimmt auf „Inhalt, Natur,<br />
Form oder einfach die Präsenz früherer Referenzen“ (1988: 119). Die Qualität der<br />
Reaktionen auf frühere Aktionen im Rahmen von <strong>Interaktion</strong>ssequenzen ist also<br />
von zentraler Bedeutung für die <strong>Interaktion</strong>. Dieser prozeßbezogene <strong>Interaktion</strong>sbegriff<br />
bildet auch die Gr<strong>und</strong>lage für die hier noch zu entwickelnde Sichtweise<br />
der <strong>Interaktion</strong>.<br />
Abb. 1: <strong>Interaktion</strong>svarianten<br />
276
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
Ausgehend von der <strong>Interaktion</strong> von zwei oder mehr Menschen in einer direkten<br />
Kommunikationssituation kann man verschiedene <strong>Interaktion</strong>sformen im Zusammenhang<br />
mit Computern unterscheiden. Im ersten Fall wird der Computer<br />
als Vermittlungs-Medium genutzt, um eine <strong>Interaktion</strong> mit einem menschlichen<br />
<strong>Interaktion</strong>spartner durchzuführen. Hierbei hat der Computer eine ganz ähnliche<br />
Funktion wie das Telefon, der Brief oder die Videokonferenz <strong>und</strong> er dient vor<br />
allem zur Überbrückung von <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> Zeit. Die Technik soll möglichst unsichtbar<br />
bleiben <strong>und</strong> dient nur als Träger für die eigentliche <strong>Interaktion</strong>shandlungen.<br />
eine völlig andere Situation ergibt sich bei der <strong>Interaktion</strong> mit einem Computer,<br />
bei der es um die Nutzung gespeicherter Daten oder die Arbeit mit Programmen<br />
geht. Hier soll die Technik sichtbar werden, da sie neuartige Nutzungs- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sformen<br />
ermöglicht. In realen technisch vermittelten <strong>Interaktion</strong>sprozessen<br />
ist die Grenze fließend. Während beim Telefon der reine Vermittlungscharakter<br />
deutlich überwiegt, wird die e-Mail-<strong>Interaktion</strong> durch eine ganze Reihe<br />
zusätzlicher Nutzungsfunktionen unterstützt <strong>und</strong> damit auch verändert.<br />
Greifen wir zwei weitverbreitete Nutzungsformen heraus: die Suche nach Informationen<br />
<strong>und</strong> Computerspiele. Der durch das Internet bereitgestellte riesige<br />
Informationsraum wird unter anderem durch Suchmaschinen wie Google erschlossen.<br />
Antworten auf Fragen findet man in einem interaktiven Frage- <strong>und</strong><br />
Antwortprozeß. Fragen sind die Suchbegriffe, die ergebnisseiten sind die Antworten.<br />
In einem mehrstufigen Prozeß werden die Fragen präzisiert <strong>und</strong> die Antworten<br />
vom Suchenden im Hinblick auf seine Problemstellung ausgewertet. In<br />
diesem Prozeß spielen die gespeicherten Daten, der Algorithmus der Zuordnung<br />
von Suchbegriff <strong>und</strong> Datenbank <strong>und</strong> die Bereitstellung der ergebnisse für die<br />
Suchenden eine entscheidende Rolle für die Interpretation durch die Suchenden<br />
<strong>und</strong> die Bestimmung der nächsten Suchschritte.<br />
Bei den Computerspielen ist die <strong>Interaktion</strong> mit dem auf dem Computer laufenden<br />
Spiel die essenz der Nutzung (Crawford 2003). Die Spieler handeln permanent<br />
im Kontext des Spiels, sie treffen Entscheidungen <strong>und</strong> führen sensomotorische<br />
Handlungen aus, die über erfolg <strong>und</strong> Nicht-erfolg entscheiden. Die<br />
Konsequenzen ihrer Handlungen werden unmittelbar am <strong>Bild</strong>schirm dargestellt<br />
<strong>und</strong> können so in kontinuierlichen Feedback-Zyklen optimiert werden. Die Initiative<br />
für Handlungen liegt nicht nur beim menschlichen Spieler, vielmehr treten<br />
im laufe des Spiele immer neue Herausforderungen auf (neue Monster, abnehmende<br />
Kraft), auf die der Spieler reagieren muss.<br />
Das gemeinsam Verbindende der verschiedenen <strong>Interaktion</strong>sformen mit dem<br />
Computer sind die Aktions-Reaktions-Zyklen, die eine schrittweise Bewegung<br />
im Handlungsraum ermöglichen. Der menschliche <strong>Interaktion</strong>spartner verfolgt<br />
dabei eigene Ziele, die allerdings nicht explizit formuliert sein müssen <strong>und</strong> sich<br />
auch im Verlauf der <strong>Interaktion</strong> ändern können. Auf der Seite des maschinellen<br />
<strong>Interaktion</strong>spartners kann man nicht von Zielen sprechen, aber hier sind die Re-<br />
277
WOlFGANG TAUBe<br />
aktionen von menschlichen Designern so entworfen, daß sie verstehbare Antworten<br />
auf Fragen des menschlichen <strong>Interaktion</strong>spartners liefern können. Die<br />
Asymmetrie des <strong>Interaktion</strong>sprozesses ist offenk<strong>und</strong>ig, die strukturelle Ähnlichkeit<br />
der Aktions-Reaktionsfolgen rechtfertigt aber die Sichtweise als wechselseitig<br />
aufeinander bezogene Handlungen.<br />
<strong>Interaktion</strong> mit dem Computer<br />
In der Informatik wird der <strong>Interaktion</strong>sbegriff erstaunlicherweise kaum gr<strong>und</strong>legend<br />
problematisiert. Nach dem gr<strong>und</strong>legenden Modell von Eingabe –> Verarbeitung<br />
–> Ausgabe (EVA) führt ein Computer eine Verarbeitung aufgr<strong>und</strong> einer<br />
Eingabe durch <strong>und</strong> erzeugt eine Ausgabe. Für klar definierte Aufgaben ist das<br />
Modell angemessen <strong>und</strong> zur Not ist es die Aufgabe der Informatiker, für eine<br />
klare Definition der Aufgaben zu sorgen.<br />
Abb. 2: eVA-Prinzip<br />
erst mit der zunehmenden medialen Nutzung von Computern, bei der nicht mehr<br />
der Werkzeugcharakter mit klar definierten Aufgaben im Vordergr<strong>und</strong> steht <strong>und</strong><br />
die interaktive Nutzung eher der Orientierung in neuartigen Handlungsräumen<br />
dient, stößt das klassische eVA-Modell an seine Grenzen.<br />
Peter Wegner (1997) hat vor 10 jahren an prominenter Stelle in den Communications<br />
der ACM eine Debatte um den Stellenwert von <strong>Interaktion</strong>en angestoßen<br />
(‚Why Interaction is more powerful than Algorithms‘) <strong>und</strong> dabei zentrale Konzepte<br />
wie die Offenheit interaktiver Systeme thematisiert. Allerdings ging es ihm<br />
vor allem um eine Ausweitung des Berechenbarkeitsbegriffs <strong>und</strong> nicht um ein<br />
Verständnis des Zusammenwirkens von Mensch <strong>und</strong> Maschine.<br />
Die Informatik als Wissenschaft beschäftigt sich intensiv mit der Konstruktion<br />
interaktiver Systeme <strong>und</strong> ein ganzes Teilgebiet – die Human-Computer Interaction<br />
– widmet sich den praktischen Problemen der <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch<br />
<strong>und</strong> Maschine. In Preece et al. (2002), einem der besten lehrbücher zum Thema<br />
Interaction Design, findet man eine Fülle von Vorschlägen für den Entwurf<br />
interaktiver Systeme, eine klare Begriffsbestimmung der <strong>Interaktion</strong> sucht man<br />
allerdings vergebens.<br />
278
Abb. 3: <strong>Interaktion</strong>smodell nach Norman<br />
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
Don Norman (1986: 42) hat ein erweitertes <strong>Interaktion</strong>smodell für die Mensch-<br />
Computer <strong>Interaktion</strong> entwickelt, bei dem BenutzerInnen aus übergeordneten<br />
Zielen Handlungsentwürfe ableiten, diese dann dem Computer zur Ausführung<br />
übergeben <strong>und</strong> anschließend das Resultat von der Wahrnehmung bis zur Bewertung<br />
verarbeiten. In dieser oder leicht abgewandelter Form gehört das Modell<br />
inzwischen zum Handwerkszeug der Informatik.<br />
Für eine funktionale Sichtweise auf die Ausführung von Kommandos <strong>und</strong> die anschließende<br />
Bewertung des Resultats ist dieses Modell sehr gut geeignet, den dialogischen<br />
Charakter eines fortlaufenden <strong>Interaktion</strong>s-Prozesses von zwei eigenständigen<br />
Akteuren fasst es allerdings nicht. eingabe <strong>und</strong> Ausgabe sind immer<br />
wiederkehrende ereignisse in einer längeren Folge von <strong>Interaktion</strong>sschritten, die<br />
aufeinander aufbauen <strong>und</strong> die sich gegenseitig bedingen.<br />
Chris Crawford, ein bekannter entwickler von Computerspielen, macht die spezielle<br />
Faszination der Computerspiele an der Interaktivität fest <strong>und</strong> definiert dies<br />
als „a cyclic process in which two active agents alternately (and metaphorically)<br />
listen, think and speak“ (2003: 76 – nebenstehend eigene Darstellung). In diesem<br />
Modell wird die eigenständige Rolle der beiden beteiligten Akteure gut sichtbar<br />
<strong>und</strong> auch der kontinuierliche Rollenwechsel von Sender <strong>und</strong> empfänger.<br />
279
WOlFGANG TAUBe<br />
Abb. 4: <strong>Interaktion</strong>smodell nach Crawford<br />
Allerdings bleibt das Modell von Crawford in dieser Darstellung bei allem Wechsel<br />
noch statisch, da kein Bezug auf den Verlauf der <strong>Interaktion</strong> erfolgt – es sind reine<br />
Reaktionen auf direkt vorangegangene Aktionen. Notwendig ist eine erweiterung<br />
des Modells, mit der die vorangegangenen <strong>Interaktion</strong>sschritte gespeichert werden<br />
<strong>und</strong> somit für eine Referenz verfügbar gemacht werden. Der Zustand, wie er<br />
sich über die vorausgegangenen <strong>Interaktion</strong>sschritte entwickelt hat, muss gespeichert<br />
werden <strong>und</strong> die beteiligten <strong>Interaktion</strong>spartner müssen damit arbeiten können.<br />
Notwendig ist eine erweiterung des Modells, die den <strong>Interaktion</strong>szustand in<br />
das Modell integriert, wobei die beteiligten <strong>Interaktion</strong>spartner sowohl über einen<br />
eigenen Zustand verfügen als auch über einen gemeinsam geteilten. Die beiden<br />
Interakteure nenne ich – wie in der Literatur zur <strong>Interaktion</strong> üblich – Ego <strong>und</strong> Alter,<br />
um die unterschiedlichen Rollen im <strong>Interaktion</strong>sprozess deutlich zu machen.<br />
Im Vergleich zum ursprünglichen Modell von Crawford sind auch die Phasen<br />
des Wahrnehmens, Denkens <strong>und</strong> Handelns stärker miteinander verzahnt, was<br />
den menschlichen Perzeptions- <strong>und</strong> Kognitionsprozessen eher entspricht (Gibson<br />
1982). Mit diesem Modell können interaktive Kommunikationsprozesse nach<br />
Rafaeli (1988) gut beschrieben werden.<br />
Abb. 5: erweiterung des <strong>Interaktion</strong>smodells von Crawford<br />
280
Im nächsten Schritt wird der zweite Interakteur – der bis jetzt ein Mensch war –<br />
durch einen Computer <strong>und</strong> die Begriffe wahrnehmen – denken – handeln durch<br />
technischen Verarbeitungsphasen Eingabe – Verarbeitung – Ausgabe ersetzt.<br />
In diesem Modell der <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch <strong>und</strong> Computer sind alle notwendigen<br />
Komponenten berücksichtigt. Als letzte erweiterung kommt hier noch<br />
die Berücksichtigung der vergangenen <strong>Interaktion</strong>schritte hinzu.<br />
Abb. 6: <strong>Interaktion</strong> zwischen Computer <strong>und</strong> Mensch<br />
Der von Rafaeli geforderte Rückbezug der <strong>Interaktion</strong>shandlungen erfordert notwendigerweise<br />
eine Speicherung der <strong>Interaktion</strong>shistorie – als Erinnerung beim<br />
Menschen oder als Speicherung in einer Datenstruktur beim Computer. Die gespeicherten<br />
Inhalte müssen dann bei der Produktion der Reaktion berücksichtigt<br />
werden <strong>und</strong> ausgewählte elemente des Zustandes sollten auch visualisiert<br />
werden. Die detaillierten Anforderungen an das Zusammenspiel von Aktion <strong>und</strong><br />
Reaktion müssen allerdings genauer untersucht werden.<br />
2 <strong>Interaktion</strong> als kontinuierliches Zusammenspiel von Aktion <strong>und</strong><br />
Reaktion<br />
Interaktive erfahrungen von BenutzerInnen<br />
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
In den Diskussionen um Definition <strong>und</strong> Stellenwert der <strong>Interaktion</strong> wird meist<br />
die <strong>Interaktion</strong>ssituation als Ganzes betrachtet, ohne die verschiedenen Rollen<br />
zu beachten. Aber auch hier muss man für eine Analyse der Wirkungsmechanismen<br />
die sich gegenseitig ergänzenden Perspektiven der beteiligten Akteure, von<br />
Ego <strong>und</strong> Alter, einnehmen <strong>und</strong> die <strong>Interaktion</strong>ssequenzen aus der Sicht von Ego<br />
durchdeklinieren.<br />
Aus der Perspektive der Gestaltung interaktiver (Computer-)Systeme ist vor allem<br />
die Perspektive der BenutzerInnen von entscheidender Bedeutung. Auch wenn<br />
man Mensch <strong>und</strong> Maschine als beteiligte <strong>Interaktion</strong>spartner analysiert, so exi-<br />
281
WOlFGANG TAUBe<br />
stiert die ebene der Intentionalität <strong>und</strong> des erlebens von geglückten <strong>Interaktion</strong>en<br />
selbstverständlich nur auf der Seite des menschlichen <strong>Interaktion</strong>spartners.<br />
In der Diskussion um Interaktivität findet man immer wieder Hinweise auf die<br />
spezifische Erlebnisqualität von <strong>Interaktion</strong>en. Rafaeli (1988: 124) spricht von<br />
der <strong>Interaktion</strong> als einem menschlichen Gr<strong>und</strong>bedürfnis, jaeckel (1995: 463)<br />
beschreibt die physische Präsenz der <strong>Interaktion</strong>spartner als wichtiges Definitionselement<br />
des soziologischen <strong>Interaktion</strong>sbegriffs, da nur hier die direkten<br />
Rückkopplungsmechanismen greifen. Für Goleman ist die Fähigkeit, unmittelbar<br />
auf andere Menschen reagieren zu können, ein gr<strong>und</strong>legendes Merkmal unseres<br />
„sozialen Gehirns“ (2006: 19) <strong>und</strong> Bauer (2006) betont die Wichtigkeit der Spiegelung<br />
<strong>und</strong> der Resonanz der eigenen Aktionen in den Reaktionen der Umwelt.<br />
Im Kern geht es bei der interaktiven erfahrung darum, dass meine Aktion als<br />
Akteur eine Reaktion bei einem Gegenüber auslöst, die ich – der Akteur – als<br />
Re-Aktions-Handlung wahrnehme. Meine zentrale These lautet nun, daß die<br />
Gr<strong>und</strong>elemente dieser interaktiven erfahrung auch in der <strong>Interaktion</strong> mit dem<br />
computergestützten Material wirksam sind <strong>und</strong> die Faszination interaktiver Systeme<br />
ausmachen. Voraussetzung ist allerdings, daß die Aktionen als nicht-triviale<br />
Handlungen erlebt werden <strong>und</strong> dass das Gegenüber ein eigenständiges Verhalten<br />
zeigt.<br />
Gr<strong>und</strong>lage der interaktiven erfahrung ist die eigene Handlung. Diese Handlung<br />
ist nicht auf verbale – gesprochene oder textuelle Äußerungen – beschränkt <strong>und</strong><br />
schließt im Gegenteil immer auch eine körperliche Komponente mit ein. Auch in<br />
den oft beschriebenen Gesprächssituationen hat die Körpersprache einen großen<br />
<strong>und</strong> notwendigen Anteil an der Gesamtinteraktion. In der computergestützten<br />
<strong>Interaktion</strong> ergeben sich z. Zt. gerade neue <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten durch entwicklung<br />
neuer eingabegeräte, die nicht nur die Fingerspitzen, sondern auch die<br />
<strong>Raum</strong>position <strong>und</strong> die Gestik des Körpers erfassen können.<br />
Die Fähigkeit zu handeln <strong>und</strong> die Befriedigung, die sich aus einer erfolgreich<br />
durchgeführten Handlung ergibt, findet sich gut in dem englischen Begriff<br />
‚Agency‘ wieder. Eine deutsche Übersetzung ist nicht einfach <strong>und</strong> wird unterschiedlich<br />
gehandhabt. Eine gute Formulierung ist der Begriff der ‚Handlungsmächtigkeit‘,<br />
der sowohl die Fähigkeit zur Handlung als auch das Machtgefühl,<br />
das sich aus der Handlung ergibt, beinhaltet. janet Murray formuliert sehr schön<br />
die spezielle Befriedigung, die sich aus der Handlungsmächtigkeit ergibt: “When<br />
the things we do bring tangible results, we experience the second characteristic<br />
delight of electronic environments – the sense of agency. Agency is the satisfying<br />
power to take meaningful action and see the results of our decisions and choices.”<br />
(1999: 126) Im Umgang mit interaktiven Systemen erleben die BenutzerInnen<br />
ein Gefühl von Agency, von Handlungsmacht, das viele von ihnen in anderen<br />
Situationen selten erleben <strong>und</strong> das die Gr<strong>und</strong>lage für die Faszination dieser Systeme<br />
darstellt.<br />
282
Aufbauend auf dem erleben der Agency ist es gerade die Asymmetrie der <strong>Interaktion</strong><br />
mit dem Computer, die die <strong>Interaktion</strong> mit dem Computer aus anderen<br />
<strong>Interaktion</strong>en heraushebt: die strukturelle Ähnlichkeit mit der menschlichen <strong>Interaktion</strong><br />
ohne den Kampf um Durchsetzung <strong>und</strong> soziale Macht in menschlichen<br />
<strong>Interaktion</strong>en – der Computer beschwert sich nicht, hat keine Widerworte, aber<br />
er antwortet trotzdem.<br />
<strong>Interaktion</strong> mit dem Material<br />
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
Häufig wird der <strong>Interaktion</strong> zwischen Menschen die <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch<br />
<strong>und</strong> Maschine gegenübergestellt. Eine Maschine ‚an sich’ gibt es aber nicht – eine<br />
Maschine transformiert immer etwas Gegebenes nach einem Algorithmus in ein<br />
geplantes Ziel. Dieses Gegebene ist das Material des Transformationsvorganges<br />
<strong>und</strong> im Gr<strong>und</strong>e findet bei der <strong>Interaktion</strong> mit der Maschine eine <strong>Interaktion</strong> mit<br />
dem Material statt. So ist die <strong>Interaktion</strong> mit den Ausstellungsrechnern im Kaufhaus,<br />
auf denen nur das Betriebssystem läuft, extrem eingeschränkt <strong>und</strong> lässt die<br />
Faszination der vernetzten Notebooks kaum erahnen. Erst mit meinen Texten,<br />
<strong>Bild</strong>ern, Videos <strong>und</strong> e-Mails wird die Maschine zum Bezugspunkt spannender<br />
<strong>Interaktion</strong>en.<br />
Das über einen Computer bereitgestellte Material ist kein reines passives Objekt<br />
von Aktionen. Durch die Verarbeitungsmöglichkeiten des Computers bekommt<br />
das Material eine eigene Plastizität <strong>und</strong> innere Dynamik, kann das Material eine<br />
eigenständige Logik entfalten. So wird in der Medieninstallation ‚Der Zerseher’<br />
von Sauter (1991) ein dargestelltes <strong>Bild</strong> an der Stelle, die die ZuschauerInnen im<br />
Fokus haben, ‚zerfressen‘ oder, um es technischer auszudrücken, durch Eye-Tracking<br />
wird der Blickpunkt bestimmt <strong>und</strong> die dort befindlichen Pixel nach einem<br />
Algorithmus transformiert.<br />
Mit der Perspektivverschiebung von der Maschine zum computergestützten Material<br />
gerät auch der eigentliche Inhalt der <strong>Interaktion</strong>, die über den Computer<br />
vermittelte <strong>Interaktion</strong> mit dem algorithmischen Material, in den Mittelpunkt der<br />
Untersuchung. Mit der numerischen Repräsentation (Manovich 2001) von Texten,<br />
Tönen, <strong>Bild</strong>ern <strong>und</strong> Videos ergibt sich die Möglichkeit, Algorithmen auf diesem<br />
Material auszuführen <strong>und</strong> fast beliebige Operationen vom reinen Abspielen<br />
bis hin zur Konstruktion virtueller Welten zu realisieren. So entstehen Objekte<br />
in künstlichen Räumen, die aber zunächst seltsam leblos bleiben. erst in der <strong>Interaktion</strong><br />
mit BenutzerInnen können die Objekte ein eigenes Verhalten zeigen,<br />
indem sie auf Eingaben nach beliebig komplexen Algorithmen reagieren <strong>und</strong> so<br />
in der kontinuierlichen Abfolge von Aktion <strong>und</strong> Reaktion einen Dialog mit dem<br />
Material ermöglichen.<br />
283
WOlFGANG TAUBe<br />
Analyserahmen für die <strong>Interaktion</strong><br />
Ich schlage einen <strong>Interaktion</strong>sbegriff vor, der sowohl das interpersonale Handeln<br />
als auch Handeln mit Maschinen umfasst. Dabei versuche ich die Spezifik von<br />
interaktivem Handeln, die Faszination herauszuarbeiten, die ganz offensichtlich<br />
mit dieser speziellen Art von Handlungen verb<strong>und</strong>en ist. Meine Vermutung ist,<br />
dass dieses interaktive Handeln sehr gr<strong>und</strong>legend in der menschlichen körperlichen<br />
<strong>und</strong> geistigen Struktur verankert ist. Die Faszination der sozialen <strong>Interaktion</strong><br />
mit dem Anderen überträgt sich in veränderter Form auf die von Menschen<br />
geschaffenen Artefakte.<br />
<strong>Interaktion</strong>en sind <strong>Interaktion</strong>sprozesse, bei denen einzelne <strong>Interaktion</strong>sschritte,<br />
die jeweils aus einer Aktion <strong>und</strong> einer darauf bezogenen Reaktion bestehen, zeitlich<br />
nacheinander <strong>und</strong> in enger Verzahnung miteinander ablaufen. Dies wird in<br />
der Formel <strong>Interaktion</strong> = (Actio + Reactio)* ausgedrückt, die die bekannte Newtonsche<br />
Formel von actio = reactio in abgewandelter Form aufnimmt <strong>und</strong> um den<br />
in der Informatik bekannten Wiederholungsoperator (...)* ergänzt.<br />
Die gr<strong>und</strong>legenden Komponenten eines <strong>Interaktion</strong>sprozesses sind <strong>Interaktion</strong>sschritte.<br />
Von einem <strong>Interaktion</strong>sschritt kann man sprechen, wenn eine Aktion<br />
eines Akteurs eine durch den Akteur wahrnehmbare Reaktion eines eigenständigen<br />
Anderen auf die Aktion hervorruft. Dieses eigenständige Andere ist ein<br />
Gegenüber, das einen eigenen Zustand hat <strong>und</strong> ein nicht-triviales Verhalten zeigt.<br />
Mit Interaktivität wird das Potential eines Akteurs bezeichnet, <strong>Interaktion</strong>sschritte<br />
durchzuführen, also Aktionen auszuführen <strong>und</strong> Reaktionen wahrzunehmen.<br />
Nach dieser Definition ist die Existenz eines Gegenübers, eines an der <strong>Interaktion</strong><br />
beteiligten Partners, von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung. Bei der <strong>Interaktion</strong> zwischen<br />
zwei Menschen ist dies offensichtlich gegeben. Bei Artefakten sind mehrere Fälle<br />
zu unterscheiden. Bei einem Gegenstand, der als erweiterung des eigenen Körpers<br />
erlebt wird wie z.B. eine Gabel oder ein Spazierstock, sprechen wir in der<br />
Regel nicht von einer <strong>Interaktion</strong>. Ganz anders verhält es sich, wenn Artefakte<br />
ein Verhalten zeigen, dass nicht durch rein physikalische Gesetze offensichtlich<br />
erklärbar ist. Der menschliche Wahrnehmungsapparat kann sehr schnell willkürliche<br />
Bewegungen in der Umwelt unterscheiden <strong>und</strong> wendet ihnen erhöhte Aufmerksamkeit<br />
zu. Solche willkürlichen Begungen sind Störungen der visuellen<br />
Struktur (Gibson 1982: 109), die von hoher Relevanz für den Beobachter sind.<br />
Damit ein Artefakt als Gegenüber erlebt wird, ist die Nicht-Vorhersehbarkeit des<br />
Verhaltens <strong>und</strong> damit die eigenständigkeit eine wichtige Voraussetzung.<br />
Die in einem <strong>Interaktion</strong>sprozess von ego <strong>und</strong> Alter ausgetauschten Aktionen<br />
<strong>und</strong> Reaktionen stellen eine Sprache dar, die sowohl aus explizit ausgetauschten<br />
verbalen Äußerungen als auch aus dem gesamten Spektrum körperlicher Signale<br />
<strong>und</strong> technischer Sensoren bestehen kann. einzige Voraussetzung ist, dass die<br />
jeweiligen Signale auch von den Interakteuren wahrgenommen <strong>und</strong> interpretiert<br />
284
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
werden können. Während die <strong>Interaktion</strong>ssprache sich beim Menschen im evolutionsprozeß<br />
über einen langen Zeitraum entwickelt hat, wird sie bei der Mensch-<br />
Maschine <strong>Interaktion</strong> zumindest für die Seite der Maschine im Hinblick auf die<br />
<strong>Interaktion</strong> bewusst gestaltet. Beim entwurf einer Benutzungsschnittstelle wird<br />
eine <strong>Interaktion</strong>ssprache entworfen <strong>und</strong> in diesem entwurfsprozeß müssen zentrale<br />
Qualitätsdimensionen beachtet werden.<br />
Der Bezug von Aktion <strong>und</strong> Reaktion muss sich in der <strong>Interaktion</strong>ssprache wiederfinden.<br />
So muss die Reaktion des Gegenübers im Zusammenhang mit der Aktion<br />
erlebt werden, also in einer Wirkungs-Ursache Beziehung stehen, <strong>und</strong> muss zeitlich<br />
deutlich gekoppelt sein. eine zentrale eigenschaft dieser Kopplung <strong>und</strong> wichtiges<br />
Qualitätskriterium ist ihre Direktheit. Hutchins, Hollan <strong>und</strong> Norman (1986:<br />
99) schlagen eine Unterscheidung zwischen semantischer <strong>und</strong> artikulatorischer<br />
Direktheit vor. Die semantische Direktheit bezieht sich auf die Übereinstimmung<br />
von Aktion <strong>und</strong> Reaktion auf der bewußten symbolischen ebene, auf der ein<br />
Mensch <strong>Interaktion</strong>sschritte durchführt. Die artikulatorische Direktheit bezieht<br />
sich auf die Form der einzelnen <strong>Interaktion</strong>sschritte. je näher die physische Form<br />
der Objekte der <strong>Interaktion</strong>ssprache ihrer Bedeutung ist, desto höher ist die artikulatorische<br />
Direktheit. Dieser Gr<strong>und</strong>gedanke liegt dem bekannten <strong>Interaktion</strong>sprinzip<br />
der direkten Manipulation zugr<strong>und</strong>e, bei dem eine direkt wahrnehmbare<br />
Repräsentation von Objekten durch kontinuierlich wahrnehmbare <strong>Interaktion</strong>shandlungen<br />
verändert werden kann (Shneiderman 1992: 205).<br />
Für ein Verständnis der artikulatorischen Direktheit ist die einbeziehung der Körperlichkeit<br />
der menschlichen Interakteure wichtig. Oft werden <strong>Interaktion</strong>en auf<br />
den Austausch symbolischer Nachrichten auf der ebene der semantischen Direktheit<br />
reduziert. Dabei wird die körperliche F<strong>und</strong>ierung unserer Aktionen <strong>und</strong><br />
die nicht-symbolische Wahrnehmung der verschiedenen ebenen von Reaktionen<br />
ausgeblendet. In der phänomenologischen Tradition (Merleau-Ponty 1946) haben<br />
Autoren wie Dag Svanaes (2000) <strong>und</strong> Paul Dourish (2001) die Bedeutung des ‚kinaestetic<br />
thinking’ (Svanaes), also dem Denken in <strong>und</strong> durch Bewegung, <strong>und</strong> der<br />
‚embodied interaction’ (Dourish) herausgearbeitet. Erst in unserem körperlichen<br />
Dasein kann der Mensch agieren <strong>und</strong> hat vor aller symbolischen Konzeptualisierung<br />
der Reaktionen mit seiner körperlichen Wahrnehmung längst vorbewußte<br />
Facetten der Reaktion aufgenommen.<br />
Durch die enorme leistungssteigerung von ein- <strong>und</strong> Ausgabegeräten von Computern<br />
können heute <strong>Interaktion</strong>ssprachen entworfen werden, die ein hohes Maß<br />
an artikulatorischer Direktheit realisieren. Das erleben der Direktheit auf semantischer<br />
<strong>und</strong> auf artikulatorischer ebene führt beim Interakteur zum Gefühl des<br />
direkten engagements (Hutchins, Hollan <strong>und</strong> Norman 1986: 114) in der <strong>Interaktion</strong>.<br />
Ein einzelner <strong>Interaktion</strong>sschritt ist gr<strong>und</strong>sätzlich asymmetrisch – Akteur <strong>und</strong><br />
Re-Akteur (ego <strong>und</strong> Alter) sind funktional deutlich unterschieden. Die mögliche<br />
285
WOlFGANG TAUBe<br />
Symmetrie kommt über die Prozesse – also über aufeinander aufbauende <strong>und</strong><br />
sich gegenseitig referenzierende <strong>Interaktion</strong>sschritte. Wenn die Rolle von Akteur<br />
<strong>und</strong> Re-Akteur regelmäßig wechselt, so kann man einer symmetrischen <strong>Interaktion</strong><br />
sprechen.<br />
<strong>Interaktion</strong>sprozesse von Menschen mit Artefakten sind in der Regel asymmetrisch<br />
– der Mensch ist der Akteur. Wenn allerdings das Artefakt (Computer)<br />
eine Folge von Aktionen ausführt (Fragen, eingabeaufforderungen), auf die der<br />
Mensch jeweils eine Antwort (Reaktion) geben soll, so kann man auch hier ansatzweise<br />
von einem symmetrischen <strong>Interaktion</strong>sprozess sprechen.<br />
Bei Computerspielen wächst der Computer in die Rolle des Akteurs hinein –<br />
Handlungs-Sequenzen, eigenständige Aktionen (neue Monster tauchen an unerwarteten<br />
Stellen auf) – hier handelt es sich um einen weitgehend symmetrischen<br />
<strong>Interaktion</strong>sprozess.<br />
3 Folgerungen<br />
Aus der Betonung des Prozeßcharakters von <strong>Interaktion</strong>en folgt eine stärkere Berücksichtigung<br />
von <strong>Interaktion</strong>sprozessen auch bei der Gestaltung technischer<br />
interaktiver Systeme. es reicht nicht, isolierte Aktionen in einer Anwendung zu<br />
implementieren <strong>und</strong> es den Benutzer-Innen zu überlassen, diese Aktionsatome<br />
zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Kontinuierliche Rückmeldungen<br />
während der Aktionsausführung, Visualisierung des sich entwickelnden<br />
Zustands der <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> Operationen, die sich auf einzelne elemente des<br />
Zustands beziehen, sind wichtige Gestaltungsanforderungen im Systementwurf.<br />
Diese Punkte klingen altvertraut, sie müssen aber im lichte der besonderen Bedeutung<br />
der Wahrnehmung von Reaktionen schärfer gefasst werden. Neuere ergebnisse<br />
der Perzeptionsforschung (Spitzer 1996, Ware 2004) machen die große<br />
Bedeutung vorbewußter Wahrnehmungen deutlich. Noch bevor wir Objekte auf<br />
einer abstrakten ebene bewußt wahrnehmen, laufen verschiedene Wahrnehmungsoperationen<br />
ab, die die Bewertung der aktuellen Situation betreffen. Diese<br />
Prozesse sind gerade im Rahmen von <strong>Interaktion</strong>en sehr wichtig <strong>und</strong> müssen<br />
bewußt beim Systementwurf gestaltet werden.<br />
Der Zustand einer <strong>Interaktion</strong> – die Kenntnis von den vorher abgelaufenen <strong>Interaktion</strong>sschritten<br />
– muss auf der Seite des interaktiven Systems stärker als bisher<br />
visualisiert werden <strong>und</strong> auch für Operationen nutzbar gemacht werden. Dazu<br />
gehören die Darstellung von Navigationsschritten, Bezug auf frühere eingaben,<br />
Rückkehr zu früheren Zuständen auch jenseits des ‚Undo’ <strong>und</strong> ähnlichen Funktionalitäten.<br />
eine Analyse von <strong>Interaktion</strong>sabläufen der hier vorgeschlagenen Sichtweise wird<br />
neue <strong>Interaktion</strong>sgesten als zusammenhängende Nutzungsmuster identifizieren.<br />
286
Die Handlungen von BenutzerInnen dürfen nicht länger auf isolierte KeyPressevents<br />
beschränkt bleiben, sondern müssen stärker als ganzheitliche Aktionen<br />
verstanden werden, bei denen übergeordnete Ziele <strong>und</strong> auch perzeptive <strong>und</strong> sensomotorische<br />
ebenen zusammenspielen.<br />
Auch für die lehre im Fach Medieninformatik ergeben sich neue Anforderungen.<br />
Vielfach wird die Medieninformatik als Integration von vor allem visueller Gestaltung<br />
<strong>und</strong> Informatik gesehen, wobei einige Vertreter wie z.B. die <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong> großen Wert auf die einbeziehung wirtschaftlicher Aspekte legen. es<br />
fehlt die explizite Einbeziehung der Humanwissenschaft, vor allem der Wahrnehmungspsychologie.<br />
Der Mensch steht zwar selbstverständlich immer im Zentrum<br />
– nur ist dort leider oft der Blinde Fleck auf der Netzhaut. Die Details des direkten<br />
Zusammenspiels zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Handeln müssen verstärkt im<br />
Hinblick auf die Gestaltung interaktiver Systeme untersucht werden.<br />
literatur<br />
BAUeR, j. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation<br />
<strong>und</strong> das Geheimnis der Spiegelneuronen. München.<br />
BIeBeR, C./leGGeWIe, C. (2004) (Hg.): Interaktivität – Ein transdisziplinärer<br />
Schlüsselbegriff. Frankfurt.<br />
CRAWFORD, C. (2003): On Game Design. Indianapolis.<br />
DOURISH, P. (2001): Where the Action is. The Fo<strong>und</strong>ations of ebodied Interaction.<br />
Cambridge.<br />
GIBSON, j. j. (1982): Wahrnehmung <strong>und</strong> Umwelt. München.<br />
GOleMAN, D. (2006): Soziale Intelligenz. München.<br />
HUTCHINS, e. l./HOllAN, j. D./NORMAN, D. A. (1986): Direct Manipulation<br />
Interfaces. 87 - 124. In: Norman, D./Draper, St.: User Centered Systems Design.<br />
Hillsdale.<br />
MANOVICH, l. (2001): The language of New Media. Cambridge.<br />
MIlNeR, D. A./GOODAle, M. A. (1995): The Visual Brain in Action. Oxford.<br />
MURRAY, j. (1999): Hamlet on the Holodeck. Cambridge.<br />
Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />
NeUBeRGeR, C. (2007): Interaktivität, <strong>Interaktion</strong>, Internet – Eine Begriffsanalyse.<br />
In: Publizistik, jg. 52, Heft 1, 33 - 50.<br />
NORMAN, D. A. (1986): Cognitive engineering. 31 - 62. In: Norman, D./Draper,<br />
St.: User Centered Systems Design. Hillsdale.<br />
287
WOlFGANG TAUBe<br />
QUIRING, O./SCHWeIGeR, W. (2006): Interaktivität – ten years after. Eine Bestandsaufnahme<br />
<strong>und</strong> ein Analyserahmen. In: Medien <strong>und</strong> Kommunikationswissenschaft,<br />
54. jg, 5 - 24.<br />
RAFAelI, S. (1988): Interactivity. From New Media to Communication. In:<br />
Hawkins, R. P./ Wieman, j. M./Pingree, S. (Hg.): Advancing Communication<br />
Science: Merging Mass and Interpersonal Processes. Newbury Park, 110-134.<br />
SCHUlMeISTeR, R. (2004): Didaktisches Design aus hochschuldidaktischer<br />
Sicht - ein Plädoyer für offene lernsituationen. In: Rinn, U./Meister, D. M.<br />
(Hg.): Didaktik <strong>und</strong> Neue Medien. Konzepte <strong>und</strong> Anwendungen in der <strong>Hochschule</strong>.<br />
(Medien in der Wissenschaft; 21), 19-49.<br />
SHeIDeRMAN, B. (1992): Designing the User Interface. Reading.<br />
PReeCe, j./ROGeRS, Y./SHARP, H. (2002): Interaction design: beyond humancomputer<br />
interaction. New York.<br />
SPITZeR, M. (1996): Geist im Netz – Modell für Lernen, Denken <strong>und</strong> Handeln.<br />
Heidelberg, Berlin.<br />
WeGNeR, P. (1997): Why Interaction is more powerful than Algorithms. Communications<br />
of the ACM, Vol. 40, No. 5, 80 – 91.<br />
WARe, C. (2004): Information Visualization - Perception for Design. 2nd edition,<br />
San Francisco.<br />
288
BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />
<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />
Technologien im labor Neue Medien (lNM) der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong><br />
1 einleitung<br />
Interaktive Medien sind in der Regel für Menschen gemacht, die als Benutzer<br />
<strong>und</strong> in zunehmendem Maße auch als Akteure <strong>und</strong> Gestalter von virtuellen Umgebungen<br />
in erscheinung treten. Neben dem immer noch stark vernachlässigten<br />
Tast- <strong>und</strong> Gleichgewichtssinn in den meisten Produktionen, sind nach wie vor<br />
Augen <strong>und</strong> Ohren die wesentlichen medialen endglieder. Als menschliche Aktoren<br />
fungieren meist die direkte <strong>und</strong> bewusste Bedienung von Tastatur, Maus<br />
oder ähnlichen handgesteuerten Geräten. Diese Trennung in separate Wahrnehmungskanäle<br />
<strong>und</strong> technologische endgeräte führt leicht zu einer Reduktion des<br />
in seiner Natur ganzheitlichen <strong>und</strong> gesamtkörperlichen menschlichen erlebens<br />
auf wenige diskrete Verbindungen zwischen Benutzer <strong>und</strong> technischem System.<br />
In vielen Medienproduktionen ist daher ein Verlust an synästhetischen <strong>und</strong> vor<br />
allem auch kinästhetischen erfahrungen als simultane Durchdringung der verschiedenen<br />
Sinne die Folge. Der Neurologe Viktor von Weizsäcker trat dieser technologischen<br />
entwicklung schon 1947 entgegen <strong>und</strong> bezeichnete das konkrete Verschmolzen-Sein<br />
mit der realen Welt als „Kohärenzerfahrung“ (Weizsäcker 1947).<br />
Um dieser, in der zeitgenössischen Forschung wieder sehr aktuellen, Sichtweise<br />
291
BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />
Rechnung zu tragen, wurde das labor Neue Medien (lNM) an der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong> erklärtermaßen als integratives Verb<strong>und</strong>labor konzipiert. Damit ist<br />
es möglich, multimodale <strong>Interaktion</strong>ssysteme (Schomaker 1995) zu realisieren,<br />
die einen ganzheitlichen menschlichen erlebnisraum schaffen.<br />
2 Das labor Neue Medien<br />
Das labor konzentriert in einem <strong>Raum</strong> die wichtigsten der oben genannten Medienkomponenten.<br />
Neben einem Videoatelier mit Greenscreen ist vor allem das<br />
VR-Cluster zu nennen, das aus einem visuellen, einem auditiven <strong>und</strong> einem Trackingteil<br />
besteht, Abb. 1.<br />
Abb. 1: VR-Cluster im Labor Neue Medien der HFU <strong>Furtwangen</strong> (Wax 2005)<br />
Die reale Welt wird in jedem Augenblick mit allen Sinnen erlebt. Der Gesichtssinn<br />
als Hauptsinn für die erfassung der Umwelt wird durch die auditive Wahrnehmung<br />
unterstützt, die vor allem die emotionale Ebene bedient. Im „Nahbereich“<br />
sind weitere Sinnesmodalitäten wichtig; sozusagen case sensitiv, kommt es<br />
292
auf das wahrzunehmende ereignis an, welche Sinne welche Rolle spielen. Immer<br />
wirken diese aber im Zusammenspiel <strong>und</strong> nie als getrennte einheiten. Das labor<br />
Neue Medien soll für einen eingeschränkten Realitätsbereich zunächst den<br />
Seh- <strong>und</strong> den Gehörsinn, sowie das kinästhetische Moment des Benutzers ansprechen.<br />
Ziel ist es, das dieser mental darin eintauchen kann <strong>und</strong> sich in der für<br />
ihn so entstandenen Realität selbst erfährt. Durch eine physisch aktive Teilnahme<br />
an dieser virtuellen Realität kann die Immersivität wesentlich gesteigert werden.<br />
Für eine interaktive einbindung von Rezipienten <strong>und</strong> Akteuren werden die Trackingsysteme<br />
des labors verwendet.<br />
3 <strong>Interaktion</strong><br />
<strong>Interaktion</strong> ist im Medienbereich zu einem attraktiven <strong>und</strong> schillernden Begriff<br />
avanciert. Durch die enorme Vielfalt der verwendeten Technologien lassen sich<br />
damit installative <strong>und</strong> performative Werke konzipieren, was seit den 1980er jahren<br />
vor allem im Bereich der elektronischen Medienkunst geschah. <strong>Interaktion</strong>,<br />
als (Re-) Aktion auf einen situativen Vorgang, der dadurch beeinflusst, verändert,<br />
umgestaltet wird, somit neue Reaktionen auslöst oder beeinflusst, kann als<br />
Kommunikation, als schöpferischer Vorgang oder als Wirkungskreis verstanden<br />
werden. In diesen werden verschiedene Komponenten eingeb<strong>und</strong>en, die als technische<br />
einheiten an ein interaktives Werk, eine Installation <strong>und</strong> einen interaktiv<br />
beeinflussbaren dramaturgischen Ablauf angepasst sein müssen.<br />
Das labor Neue Medien stellt ein Framework von <strong>Interaktion</strong>stechnologien als<br />
Werkzeuge zur Schaffung von Medieninstallationen <strong>und</strong> -aktionen zur Verfügung.<br />
Um diese Technologien optimal verwenden zu können, ist eine kybernetische Betrachtung<br />
von verschiedenen <strong>Interaktion</strong>smodellen <strong>und</strong> deren Dynamik wichtig.<br />
Hierzu wird die in der Kybernetik übliche Systemanalyse mit ihren regelungstechnischen<br />
Bezügen qualitativ auf den Wirkungskreis <strong>Interaktion</strong> appliziert.<br />
Abb. 2: <strong>Interaktion</strong> als Wirkungskreis<br />
<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />
293
BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />
Abb. 2 zeigt eine einfache allgemeine <strong>Interaktion</strong>sstruktur: eine visuell-auditive<br />
Szene (VAS) wird von einer Szenenanalyseeinheit (Scene analysis) erfasst <strong>und</strong><br />
mit einer Referenzszene verglichen, die auch eine Änderung oder zeitliche Fortführung<br />
der VAS sein kann. ergibt dieser Vergleich einen Unterschied, eine Differenz<br />
∆s, so wird diese über eine geeignete Technologiekomponente, einem Human-Computer-Interface<br />
(HC-Interface), der Szenensteuerung (Scene Control)<br />
zugeführt; mit entsprechenden Szenenänderungen als Folge.<br />
Ist ein Mensch als Akteur eingeb<strong>und</strong>en, so ist er es, der eine Szene beobachtet<br />
(Scene analysis), deren Wahrnehmung mit einer bewussten oder unbewussten<br />
Wunschvorstellung (Referenz VAS) vergleicht <strong>und</strong> gegebenenfalls reagiert, also<br />
ein ∆s erzeugt. Das in Abb. 2 skizzierte Blockschaltbild wird im Einzelfall differenzierter<br />
sein; beispielsweise können die Reaktionszeiten des Akteurs oder<br />
von technischen Komponenten eingeb<strong>und</strong>en werden, die Szenensteuerung kann<br />
komplexere Komponenten enthalten, die fremd- oder zufallsgesteuert sind. Solche<br />
rückgekoppelten Wirkungskreise hängen in ihrer Dynamik stark von der<br />
konkreten (technischen) Realisierung ab. Die Steuerung eines virtuellen Autos<br />
zum Beispiel weist eine andere Kreisdynamik auf, als die bewusste Veränderung<br />
eines virtuellen audio-visuellen Stillebens (Beispiel hierzu: Der Zerseher, von joachim<br />
Sauter). Die Dynamik eines <strong>Interaktion</strong>skreises beeinflusst entscheidend<br />
den Immersionsgrad eines interaktiven Projektes: was geschieht bei plötzlichen<br />
Änderungen, hervorgerufen durch den Akteur oder durch eine „intelligente“ Szenensteuerung<br />
(Scene control) oder durch eine Beeinflussung, eine Störung von<br />
Außen, fühlt sich der Akteur hierbei wohl, kann er dazu adäquat reagieren.<br />
Die Kreiskomponenten des <strong>Interaktion</strong>skreises in Abb. 2 werden im einzelfall<br />
stark variieren, die Rückkopplungsstruktur ist jedoch immer vorhanden. Einige<br />
Besonderheiten sollen nun am Beispiel von zwei Arbeiten an der Fakultät Digitale<br />
Medien aufgezeigt werden. Die installative Projektarbeit LogIn1 wurde im schon<br />
länger bestehenden VR-labor der Fakultät Digitale Medien realisiert, sie wird in<br />
das neue labor Neue Medien portiert <strong>und</strong> erweitert werden. Die zweite Installationssoftware<br />
ist MOTOX, sie wurde im Rahmen einer Thesisarbeit (Wahl 2007)<br />
im Institut für Musik <strong>und</strong> Akustik, Zentrum für Medienkunst (ZKM), Karlsruhe,<br />
entwickelt <strong>und</strong> dort auch aufgeführt.<br />
1 Mitglieder der Projektgruppe LogIn: Tobias Früh, Nadine Hahn, Dominik Lüffe, Fabian Maier, Stefan<br />
Nösges, Vidunan Pirathaparajah - Doku: http://webuser.fh-furtwangen.de/~fetzner/medialab/<br />
294
4 Interaktive Projekte<br />
Das Projekt LogIn<br />
<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />
Die neuen Medientechnologien im LNM sollten bei diesem Projekt kreativ genutzt<br />
werden, <strong>und</strong> es wurde ein Konzept für eine <strong>Raum</strong>installation entwickelt.<br />
Das so geschaffene technologische Netzwerk hat auch generischen Charakter,<br />
das heißt, dessen Komponenten sollen als Werkzeuge für weitere lNM-Realisierungen<br />
dienen.<br />
logIn thematisierte das neue Informatikgebäude der <strong>Hochschule</strong>. Als Gr<strong>und</strong>lage<br />
für den Videoteil wurden Detailbilder des Neubaus verwendet, als Klangelemente<br />
wurden Geräusche <strong>und</strong> Klänge von Computer aufgenommen. Die Installation<br />
wurde schließlich mit Hilfe der Software MAX/MSP, Virtools <strong>und</strong> einem Ambisonics<br />
System realisiert.<br />
Abb. 3: logIn<br />
Da das lNM noch nicht betriebsfertig war, wurde das logIn-Konzept in kleinerem<br />
Rahmen im bestehenden VR-labor realisiert. ein Akteur bewegt zwei Trackingsensoren<br />
des Trackingsystems Flock-of-Birds, Abb. 3 <strong>und</strong> kann damit <strong>Bild</strong>manipulationen<br />
auf einer Leinwand mit 3D-Stereorückprojektion sowie ein<br />
<strong>Raum</strong>klangsystem steuern. letzteres ist ein Ambisonics System 2 , realisiert als<br />
MAX/MSP-Patcher, mit 8 lautsprechern. Die Bewegungen der Floc-of-Birds-Sensoren<br />
wurden als Input <strong>und</strong> Steuersignal für Video <strong>und</strong> Audio benutzt.<br />
2 Frei verfügbar von der Webseite des Institut of Computer Music and So<strong>und</strong> of the Zurich School of<br />
Music, Drama and Dance, www.icst.net/downloads<br />
295
BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />
Abb. 4: MOTOX (Wahl 2007)<br />
MOTOX<br />
MOTOX, Abb. 4, ist die technologische Realisierung einer <strong>Interaktion</strong>sperformance,<br />
die im ZKM, Karlsruhe als Thesisarbeit (Wahl 2007) entwickelt <strong>und</strong> mit<br />
einer Gruppe von Capoeira-TänzerInnen aufgeführt wurde. Die räumlichen Bewegungen<br />
der Akteure wurde mit Videotracking erfasst <strong>und</strong> dienten zur Steuerung<br />
eines Algorithmus zur Musikerzeugung; die Musik wurde mit einem<br />
<strong>Raum</strong>klangsystem über 8 lautsprecher, die sich über den TänzerInnen befanden,<br />
wiedergegeben.<br />
5 Diskussion<br />
Das Framework logIn wird von einer Art kybernetischen Steuermann bedient<br />
(Abb. 3). Dieser hat die Sensoren <strong>und</strong> damit das virtuelle Geschehen „fest im<br />
Griff“ <strong>und</strong> wirkt damit als bestimmender <strong>und</strong> auch notwendiger Akteur im Gesamtkreis.<br />
er analysiert die audio-visuelle Szene <strong>und</strong> bestimmt deren Verlauf.<br />
Seine Handbewegungen im <strong>Raum</strong> werden direkt in So<strong>und</strong>veränderungen <strong>und</strong><br />
Manipulationen der 3D-Videoprojektion abgebildet.<br />
296
Nun kann dieser sehr direkte interaktive Wirkungskreis (closed loop), Abb. 5,<br />
auch aufgebrochen werden: der Akteur hört <strong>und</strong> sieht nicht mehr auf das, was er<br />
produziert, sondern bewegt lediglich seine Trackingsensoren nach einem vorgegebenen<br />
oder spontanen Muster. Die Rückführung über den Beobachter unterbrochen,<br />
es handelt sich somit nur um eine Szenensteuerung, nicht mehr um<br />
einen <strong>Interaktion</strong>skreis.<br />
Abb. 5: logIn als <strong>Interaktion</strong>skreis<br />
<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />
Das Framework MOTOX begleitet auditiv eine Tanz-, eine Spielszene mit mehreren<br />
Beteiligten. Die Bewegungen der Spielenden bzw. TänzerInnen werden erfasst,<br />
aus diesen Trackingdaten wird ein So<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Musikszenario erzeugt, das,<br />
räumlich gestaltet, das Tanz- bzw. Spielszenario ergänzt <strong>und</strong> verdichtet.<br />
Angenommen, die Akteure agieren, wie bei der Uraufführung im ZKM Karlsruhe<br />
geschehen, selbstständig, dann existiert auch keine direkte Rückführung über<br />
eine Szenenanalyse, siehe Abb. 3. Somit handelt es sich auf den ersten Blick um<br />
keine direkte <strong>Interaktion</strong>. Genauer betrachtet, zeigen sich dann aber doch deutliche<br />
Wirkungskreise: die Spielerbewegungen erzeugen <strong>und</strong> beeinflussen über<br />
das Trackingsystem das auditive Umfeld. Die so entstehende So<strong>und</strong>atmosphäre<br />
wird hierdurch geprägt <strong>und</strong> verdichtet, somit schwingen die Bewegungen als<br />
Töne <strong>und</strong> Rhythmen, als Klangfelder um die Akteure. Diese Stimmung beeinflusst<br />
die TänzerInnen <strong>und</strong> deren Bewegungen zumindest unbewusst. Dieser<br />
emotionale Wirkungskreis unterliegt nicht dem bewussten Vergleich zwischen<br />
VAS <strong>und</strong> einer gewünschten Referenz-VAS, sondern beeinflusst letztere direkt,<br />
Abb. 6. Damit ist die Wahrnehmung an sich gemeint, die Interpretation des Perzeptiven<br />
<strong>und</strong> auch die emotionale „Sicht“ die starken Einfluss auf Bewertung <strong>und</strong><br />
Reaktion von <strong>und</strong> auf äußere ereignisse hat. Hier wird nun die Referenz-VAS<br />
beeinflusst, die Vorstellung also von der visuell-auditiven Szene <strong>und</strong> somit auch<br />
die davon geprägten Bewegungsaktivitäten der Akteure.<br />
297
BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />
Abb. 6: MOTOX als interaktiver Kreis<br />
Hier zeigen sich sehr deutlich die Unterschiede zwischen <strong>Interaktion</strong>en im Bereich<br />
digitaler Medien <strong>und</strong> technisch motivierten Regelkreissystemen. Bei letzteren<br />
bedarf es klarer Hierarchien <strong>und</strong> eindeutiger, wenn möglich linearer, bzw.<br />
linearisierter Zusammenhänge zwischen Aus- <strong>und</strong> eingang der Komponenten.<br />
Bei medialen <strong>Interaktion</strong>en, in denen der Mensch nicht nur physisch elementarer<br />
Bestandteil des <strong>Interaktion</strong>ssystems ist, können determinierte Kreisstrukturen<br />
nicht funktionieren - zumal in einem kreativen Kontext.<br />
Im Gegensatz zu logIn ist also das Spielerensemble bei MOTOX nicht Bestandteil<br />
des direkten <strong>Interaktion</strong>skreises. Dieser Zweig ist unterbrochen, dafür ist<br />
der unbewusste Rückwirkungskanal, siehe Abb. 6, vorhanden. Die Akteure in<br />
MOTOX können jedoch auch die direkte Rückkopplung aktivieren, indem sie die<br />
Klangkulisse bewusst wahrnehmen <strong>und</strong> mit ihren Bewegungen Einfluss darauf<br />
nehmen.<br />
Dieser essentielle Unterschied wurde zu Beginn der kybernetischen Forschung<br />
ende der 1940er jahre nicht nur von Viktor von Weizsäcker (s.o.), sondern auch<br />
von seinem Kollegen Paul Christian (Christian 1948) beobachtet. In seinem bekannten<br />
Pendelexperiment stellte er fest, dass komplexe <strong>und</strong> rückgekoppelte<br />
Bewegungsfolgen dem Wissen entzogen, automatisiert sind, also unbewusst<br />
prozessieren: „Die Kohärenz zwischen Organismus <strong>und</strong> Umwelt ist somit eine<br />
fließende. Es ist nicht möglich, diese Grenze im Versuch zu determinieren. […]<br />
Im Versuch selbst ist es unmöglich, eine räumliche, zeitliche oder energetische<br />
Grenze anzugeben, an welcher die motorische Tätigkeit des Organs aufhört <strong>und</strong><br />
die physikalische anfängt.“<br />
6 Zusammenfassung<br />
Das Labor Neue Medien ermöglicht die Produktion von solchen komplexen, immersiven<br />
Umgebungen. Mit Hilfe der dreifachen Stereorückwandprojektion <strong>und</strong><br />
298
der Wellenfeldsynthese kann ein visuell-auditiver <strong>Raum</strong> überzeugend simuliert<br />
werden. Ferner sind durch die Trackingmöglichkeiten interaktive Szenarien realisierbar,<br />
die als aktive rückgekoppelte Perzeption die Immersivität ebenfalls<br />
steigern können. Diese Technologien sollen auch die Performances von professionellen<br />
Tänzern <strong>und</strong> Musikern interaktiv unterstützen <strong>und</strong> erweitern. Das<br />
VR-Cluster wirkt dann als vom Künstler gespieltes Instrument oder fügt dem<br />
selbstständig agierenden Künstler visuell-auditive zeitvariante Patterns hinzu. ein<br />
solches Instrument erfordert eine sensible <strong>und</strong> intelligente Umsetzung der Trackingdaten.<br />
logIn ist ein erstes rudimentäres Beispiel hierfür. Bei selbstständig<br />
agierenden Akteuren kann das VR-Cluster mit Hilfe von algorithmischen Prozessen<br />
<strong>und</strong> einer vorgegebenen Performance Timeline (z. B. mit MAX/MSP/jitter)<br />
der realen Darbietung eine virtuelle Komponente hinzu fügen, die über den<br />
unbewussten Kreis verläuft <strong>und</strong> z. B. einem Bewegungskünstler eine völlig neue<br />
erfahrung seines eigenen künstlerischen Ausdrucks vermitteln kann.<br />
Das HC-Interface <strong>und</strong> die Szenensteuerung sind bei MOTOX recht aufwändig<br />
gestaltet. Beispielsweise können bestimmte Tänzerfiguren als Patterns erfasst<br />
werden (pattern matching). Damit können dann einzelne Klangmuster gestartet<br />
oder in bestimmter Weise geändert werden. Der Ausbau dieser dynamischen<br />
Komponenten auf der Basis von MAX/MSP/jitter wird <strong>Interaktion</strong>sszenarien entscheidend<br />
aufwerten <strong>und</strong> flexibler machen. Die Einbeziehung von nichtdeterministischen<br />
Übertragungsalgorithmen <strong>und</strong> zufälligen oder von außen bestimmten<br />
entscheidungsprozessen ermöglichen den Studierenden die Generierung von<br />
multiplen Systemzuständen, die über simple Wenn-Dann-Zusammenhänge hinausgehen<br />
<strong>und</strong> vor allem den Benutzer mit seiner ganzen Körperlichkeit in den<br />
Mittelpunkt stellen.<br />
literatur<br />
<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />
CHRISTIAN, P. (1948): Die Willkürbewegungen im Umgang mit beweglichen<br />
Mechanismen. Berlin, Heidelberg.<br />
SCHOMAKeR, l. et. al. (1995). A Taxonomy of Multimodal Interaction in the<br />
Human Information Processing System. A Report of the Esprit BRA Project<br />
8579 MIAMI, WP1.<br />
WAHl, K. (2007): The generic developement of a motion controlled musical device<br />
for multiuser interaction with an exemplary live performance. Diploma-<br />
Thesis an der Fakultät Digitale Medien, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong><br />
WAX, S. (2005): Abschlussbericht zur Projektkoordination der Anforderungsprofile<br />
für das Media Lab der Fachhochschule <strong>Furtwangen</strong>. <strong>Furtwangen</strong>, München<br />
.<br />
WeIZSÄCKeR, V. VON (1947): Körpergeschehen <strong>und</strong> Neurose. Stuttgart.<br />
299
STeFAN SelKe<br />
MyTown<br />
Implizite Einflussfaktoren auf die Entwicklung eines Computerspiels.<br />
eine mediensoziologische Rekonstruktion<br />
1 Spielentwicklung als Untersuchungsfeld: Ausgangsfrage <strong>und</strong> Zielsetzung<br />
der Studie zum Computerspiel MyTown<br />
MyTown ist ein Computerspiel, bei dem es für den (studentischen) Spieler darum<br />
geht, eine Wohnung an einem neuen Studienort zu finden. Es wurde von<br />
Studierenden der Fakultät Digitale Medien an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> mit<br />
Hilfe einer Open Source Software programmiert. Die verwendete Software bietet<br />
potenziell viele Möglichkeiten zur Programmierung eines Spiels. Aus der hier<br />
vertretenen Perspektive ist es daher nicht selbstverständlich <strong>und</strong> auch nicht trivial,<br />
welches Konzept letztlich entstand. Die spannende Aufgabe bestand darin,<br />
nach den Randbedingungen der Spielprogrammierung zu fragen. Sie sind „das<br />
Soziale“ an Software. Damit kann exemplarisch gezeigt werden, wie sich „Gesellschaft“<br />
bei der Planung <strong>und</strong> Umsetzung eines Computerspiels in den Entwicklungsprozess<br />
einschreibt. Was dies über die „Mind Sets“ der Entwickler aussagt<br />
<strong>und</strong> wie diese sich in den verschiedenen etappen des entwicklungsprozesses auf<br />
entscheidungen auswirken, ist Gegenstand der hier vorgelegten Studie. Vor allem<br />
wird damit die Frage beantwortet, ob es überhaupt möglich ist, mit Hilfe von<br />
Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung (z.B. Bohnsack 2003) bzw. quali-<br />
301
STeFAN SelKe<br />
tativer Methoden der Medienforschung (z.B. Ajaß/Bergmann 2006) eine solche<br />
Analyse überhaupt vorzunehmen. In jedem Fall geht es dabei darum, das scheinbar<br />
Selbstverständliche zu hinterfragen <strong>und</strong> die eigene (Produzenten-)Kultur zu<br />
befremden. Dieser Beitrag ist das Ergebnis exemplarischer methodischer Befremdung<br />
der Kultur der Spielentwicklung.<br />
Wesen des (Computer-)Spiels<br />
Was macht ein Spiel zum Spiel? Warum spielen wir überhaupt? Spiele sind gleichermaßen<br />
Simulationen, Modelle <strong>und</strong> Projektionsflächen für Sehnsüchte. Dies<br />
gilt nicht nur für die Alltagswelt sondern auch die Sinnsphäre der Wissenschaft.<br />
In beiden Sphären modellieren Spiele Wirklichkeiten – die vom Spieler „erlebt“<br />
werden. Diese Modellierung von Wirklichkeit unterliegt jedoch selbst wieder eigenen<br />
Gesetzmäßigkeiten. Spiele leben von der drastischen Vereinfachung der<br />
Wirklichkeit. Sie sind vereinfachte (teils abstrakte) Abbildungen realer Systeme. es<br />
macht also Sinn zu fragen, welche (bewussten <strong>und</strong> unbewussten) Vorannahmen<br />
in die jeweilige Konzeption dieser Abstraktion einfließen. Genau darin drückt<br />
sich der Einfluss impliziter Gesellschaftsentwürfe aus. Wesentlich am Spiel ist<br />
weiter, dass es Veränderungen entlang einer Zeitachse enthält. Diese Straffung<br />
der Zeit ist eine der phänomenologischen Gr<strong>und</strong>eigenschaften des Spiels. Die<br />
im Spiel enthaltenen Akteure werden derart modelliert, dass ihr Handlungsspektrum<br />
in einem maßstäblichen Verhältnis zur Regelhaftigkeit sozialen Handelns<br />
in der Realwelt steht. Straffung der Zeit <strong>und</strong> regelhafte Modellierung von Verhalten<br />
sind Mechanismen der Reduktion von Komplexität, ohne die ein Spiel eben<br />
kein Spiel wäre.<br />
Perspektiven des Forschungsfeldes „Computerspiel“<br />
Der hier vorgestellte Beitrag reiht sich nicht in den Kanon der literatur über Computerspiele<br />
ein, da nicht das Spielen selbst, sondern das entwickeln des Spiels<br />
Gegenstand der Untersuchung ist. Beide Zugänge zum Spiel unterscheiden sich<br />
radikal. In der literatur wird oft darauf hingewiesen, dass Computerspielsoftware<br />
einen stärkeren Absatz findet, als Anwendungsprogramme (Fritz/Fehr 1999).<br />
Meist begegnet man daher unter dem platten (aber medienwirksamen) Stichwort<br />
„Medienverwahrlosung“ (Christian Pfeiffer) Computerspielen in kritischer Einstellung.<br />
In den Medienwissenschaften dominieren Untersuchungen zum (vermeintlichen)<br />
Zusammenhang von Spiel <strong>und</strong> Identität (Fritz/Fehr 1999), Spiel<br />
<strong>und</strong> Gewalt (z.B. Fehr 2002; Feibel 2004; Gesmann 2006; Strüber 2006) oder<br />
zum Illusionscharakter von Spielen <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Gefahr des Realitätsverlustes<br />
(z.B. Gieselmann 2002). In Studien, die sich an den bekannten kommerziellen<br />
Spielen (ego-Shootern etc.) abarbeiten, wird der Zusammenhang von<br />
Fiktionalität <strong>und</strong> Realität kritisch untersucht (z.B. Schlüter 2007), teilweise explizit<br />
auf der Ebene der Akteurstypen, die dann als „fiktionale Helden“ (z.B. Buschbaum<br />
2006) gebrandmarkt werden. eine weitere Gruppe von Studien betrachtet<br />
302
Computerspiele aus größerer Distanz als eine (neue) Form von Kultur (z.B. Butler<br />
2007) oder versucht (konstruktiv) zu zeigen, wie Computerspiele durch einbindung<br />
narrativer Strukturen besser an die lebenswelt der Spieler rück zu binden<br />
sind (Finsterbusch 2006). Die dritte Gruppe von Beiträgen richtet sich an die<br />
Spielentwickler selbst. Zahlreiche Anleitungen zur Herstellung von Computerspielen<br />
sind auf dem Markt, die jedoch im Wesentlichen rein technische Aspekte<br />
der Programmierung mit der jeweiligen Software in den Mittelpunkt rücken (z.B.<br />
Habgood/Overmars 2006). Sie richten sich teilweise (durchaus widersprüchlich<br />
zur Verwahrlosungsthese!) explizit an Kinder (z.B. Schumann 2006).<br />
Inversion der Untersuchungsperspektive – Spielentwicklung statt Spielen<br />
MyTown<br />
In vielen Abhandlungen steht daher entweder der technische oder der immersive<br />
Modus des Spielens im Vordergr<strong>und</strong>, z.B. wenn Computerspielen als „Handlungsform“<br />
untersucht wird (Klimmt 2006). Im immersiven Modus geht es darum,<br />
wie das Spiel „erlebt“ wird, wie also der Spieler darin „eintaucht“. Davon<br />
handelt dieser Beitrag gerade nicht. Hier steht die symbolische Perspektive der<br />
Produzenten im Vordergr<strong>und</strong>. Das Spielen tritt hinter das entwickeln des Spiels<br />
zurück. Untersucht wird, woher die Sehnsucht nach Simulation der Produzenten<br />
rührt <strong>und</strong> auf welche Faktoren sie sich gründet. es geht, im Sprachstil der Soziologie,<br />
um deren „Weltsicht“ (klassisch dazu Luckmann 1988), Leitbilder, Prägungen<br />
sowie um implizite Wissensformen. es ist nicht beabsichtigt, zu zeigen, welche<br />
Art von Gesellschaft das Spiel in seiner jetzigen Form illustriert, sondern um den<br />
Versuch, aus den retrospektiven Selbstdeutungsversuchen der entwicklerInnen<br />
– die ihr eigenes Produkt <strong>und</strong> dessen Entstehungsgeschichte kommentieren –<br />
eine Deutungsebene zweiter Ordnung zu etablieren. Die Ausgangsfrage lässt sich<br />
dann so formulieren: Wie verhalten sich die technischen Möglichkeiten bei der<br />
entwicklung <strong>und</strong> Programmierung eines Computerspiels zu den gesellschaftlich<br />
geprägten, intersubjektiven Vorstellungen <strong>und</strong> Ideen der EntwicklerInnen? Oder<br />
einfacher: Was sagt das Spiel über seine Entwickler aus?<br />
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine einmalige Befragung der<br />
Produzenten <strong>und</strong> beanspruchen daher lediglich heuristischen Charakter. Im<br />
Sommersemester 2006 bestand die Gelegenheit, eine Gruppendiskussion mit<br />
den sechs studentischen entwicklerInnen (zwei Studentinnen, vier Studenten)<br />
des Spiels MyTown durchzuführen. Für die Befragung selbst wurde keine besondere<br />
Methode bevorzugt . eine Besonderheit muss gleich zu Beginn erwähnt<br />
werden: Das Spiel wurde nie fertig gestellt. Was bleibt, ist also die Möglichkeit zur<br />
Rekonstruktion des Konzepts. Diese Möglichkeit wurde genutzt. Den kritischen<br />
Stimmen, die nun vermuten, dass es ohne „einsatzfähiges“ Spiel unmöglich sei,<br />
Zusammenhänge zwischen einem Computerspiel <strong>und</strong> Gesellschaftsbildern zu<br />
analysieren, lässt sich entgegnen: Man kann aus der Not auch eine Tugend machen.<br />
es geht hier nicht um eine Studie über aktives Spielen, sondern um eine<br />
Untersuchung des Konzepts eines Spiels <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>e liegenden gemein-<br />
303
STeFAN SelKe<br />
samen Überlegungen der Produzenten, die gemeinsamen Aushandlungsprozesse,<br />
die gemeinsam getroffenen entscheidungen. Soweit diese rekonstruierbar<br />
sind, geben sie ausreichend Aufschluss über die nichtzufällige Verschränkung<br />
von Spielwelt <strong>und</strong> gesellschaftlicher Wirklichkeit.<br />
Im ersten Teil des Artikels wird daher der Prozess der Spielentwicklung im Feld<br />
institutionalisierter Wissensvermittlung (<strong>Hochschule</strong>) rekonstruiert, um Faktoren<br />
aufzuzeigen, die dafür verantwortlich sind, dass das Spiel als Spiel letztlich<br />
seine (konzeptionelle) Form angenommen hat. erst in einem zweiten Teil kann<br />
dann gefragt werden, welche dieser Faktoren auch als Indikatoren für die „Einschreibung“<br />
von Gesellschaft in den Prozess der Entwicklung gewertet werden<br />
können.<br />
2 Institutionelle Rahmenbedingungen der Spielentwicklung – Übergreifende<br />
Rekonstruktion des entwicklungsprozesses<br />
Welche Bedeutung hat der äußere Rahmen für die Spielentwicklung? Wie verhalten<br />
sich Aufgabenstellung, Planung, Entscheidungsfindung <strong>und</strong> Konzepterstellung<br />
im Kontext des institutionellen Feldes <strong>Hochschule</strong> zueinander? Nur eine auf<br />
die Aussagen der entwickler selbst gestützte Rekonstruktion des gesamten entwicklungsprozesses<br />
– einschließlich seines Scheiterns – kann Aufschluss über<br />
den Einfluss impliziter Gesellschaftsentwürfe geben.<br />
Die Entwicklung des Spiels fand im Rahmen eines Projektstudiums über zwei<br />
Semester statt. Das entwicklerteam bestand aus sechs Studierenden, die sich in<br />
drei Unterteams aufteilten: Grafik, Inhalt <strong>und</strong> Programmierung. Der Zusammenarbeit<br />
dieser Teams kommt im Folgenden eine besondere Bedeutung zu. Die von<br />
den Lehrenden formulierte Aufgabenstellung war denkbar offen: Ein „reales“<br />
Erlebnis sollte in eine „künstliche“ Welt übersetzt werden. Was entwickelte sich<br />
ausgehend von dieser Aufforderung?<br />
Im ersten Semester bestand die Herausforderung darin, die o. g. Aufgabenstellung<br />
gemeinsam mit den lehrenden <strong>und</strong> untereinander im entwicklerteam zu<br />
diskutieren. Dieser Projektabschnitt diente somit ausschließlich dazu, das noch<br />
offene Rahmenkonzept mit plausiblen Inhalten zu füllen. Damit war eine Arbeitsweise<br />
vorgegeben, die Kreativität in den Mittelpunkt rückte: „Uns kam es am<br />
Anfang vor allem darauf an, erst mal eine Idee zu finden“ (GD, 4). Das Brainstorming<br />
selbst fand im Rahmen eines Workshops statt <strong>und</strong> war in der erinnerung<br />
der Studierenden durch größtmögliche Offenheit gekennzeichnet: „Am Anfang<br />
konnten wir noch ein bisschen herum spinnen. Da wollte man dann eine Komplexität<br />
haben von der Szene“ (GD, 12). Die im Zitat angesprochene Komplexität<br />
zielte auf eine möglichst heterogene Ideensammlung ab, aus der durch eliminative<br />
Konkurrenz schließlich die Beste ausgewählt wurde . Aus Sicht der Studierenden<br />
wirkte der Ideenfindungsprozess ergebnisoffen: „Wir hatten ja nicht<br />
304
MyTown<br />
in dem Sinne irgendwelche Vorgaben oder Zielsetzungen, sondern wir konnten<br />
ja wirklich alles bis ins Detail frei diskutieren“ (GD, 93-96). Das spätere Spielkonzept,<br />
die Suche nach einer studentischen Wohnung in einer fremden Stadt,<br />
wurde also in einem Aushandlungsprozess erarbeitet, wobei man insgesamt auf<br />
der Suche nach einer neuen Spielform war. Handlungsleitend war, aus Sicht der<br />
EntwicklerInnen, „eher so ein intellektueller Spielanreiz“ (GD, 246-248). Diese<br />
endgültige einigung auf eine gemeinsame Kernidee begründen die Studierenden<br />
wie folgt sehr schlüssig:<br />
„Das ist eben eine Situation, die wir alle im Prinzip haben, wie 98 Prozent der Furtwanger<br />
Studenten […], dass man irgendwo hinkommt, wo man sich nicht auskennt <strong>und</strong> erst<br />
nach <strong>und</strong> nach sich die Stadt zu eigen machen kann. Weil wir festgestellt haben, dass<br />
man sogar in einer Kleinstadt wie <strong>Furtwangen</strong>, die jetzt tatsächlich recht übersichtlich<br />
ist, sich am ersten Tag verlaufen kann <strong>und</strong> sich aber nach zwei jahren nicht mehr vorstellen<br />
kann, wie das überhaupt funktioniert.“ (GD, 4).<br />
Diese Äußerung liefert einen ersten Hinweis darauf, welche gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit sich als mögliche Projektion im Konzept des Spiels wieder finden<br />
wird – die der eigenen Lebenswelt , die im Kern durch zwei Konstanten zusammengehalten<br />
wird: dem Studienort <strong>Furtwangen</strong> im Schwarzwald <strong>und</strong> dem Studium<br />
an der Fakultät Digitale Medien.<br />
Schon zu Ende des ersten Semesters zeigten sich jedoch Umsetzungsprobleme.<br />
Diese zogen sich wie ein roter Faden durch das Projektstudium <strong>und</strong> bestimmten<br />
damit das Ergebnis des Entwicklungsprozesses gravierend: „Wir hatten am ende<br />
des Semesters ein ganz tolles Konzept mit unserem Spiel <strong>und</strong> den ganzen Ideen<br />
- spielen konnte man es aber nicht!“ (GD, 145-157). Lehrende wie Studierende<br />
hatten schlicht den zeitlichen Aufwand, inhaltlichen Konsens zu erzielen, massiv<br />
unterschätzt. Dennoch begann im zweiten Semester die eigentliche Arbeit<br />
in den einzelteams mit dem Ziel, ein Prototypenkonzept aus dem vorhandenen<br />
Spielkonzept heraus zu entwickeln. Trotz intensiver Zusammenarbeit zwischen<br />
den drei entwicklerteams konnte das Konzept des Spiels technisch nicht umgesetzt<br />
werden. Insgesamt fühlten sich die Studierenden durch den Versuch, ein<br />
komplettes Spiel zu programmieren, überfordert. Auch der Versuch, mit einer<br />
3D-Engine einen „funktionsfähigen“ Spielcharakter (die Spielfigur) zu erzeugen,<br />
der soziale <strong>Interaktion</strong>en ausführt, scheiterte. Diese Überforderung hing vor<br />
allem mit der Modellierung der Spielakteure zusammen: In MyTown geht es darum,<br />
dass ein Wohnungssuchender in einer Stadt mit anderen Stadtbewohnern<br />
Gespräche führt, d.h. auf strategische Weise interagiert. Von der Qualität dieser<br />
<strong>Interaktion</strong> hängt dann der weitere erfolg der Wohnungssuche ab. An dieser<br />
Stelle überschätzten die Entwickler sich, bzw. unterschätzen die Komplexität <strong>und</strong><br />
Kontingenz sozialer <strong>Interaktion</strong>en. es zeigte sich, dass die Modellierung sozialer<br />
Situationen, „mit allem, was damit zusammenhängt […] einfach ein bisschen viel“<br />
(GD, 206-209) ist. letztlich wurde das Spiel nur in einer sehr reduzierten Version<br />
mit extrem eingeschränkten Funktionalitäten realisiert. Das bedeutet konkret: „es<br />
305
STeFAN SelKe<br />
gab kein leben. es war kein <strong>Interaktion</strong>spartner da. Also alles, was man machen<br />
konnte, war ja im Prinzip durch eine leere Stadt laufen, durch eine tote Stadt laufen“<br />
(GD, 216). Dennoch kann anhand der vorliegenden konzeptionellen Überlegungen<br />
eine Rekonstruktion von Einflussfaktoren auf die Spielentwicklung<br />
vorgenommen werden. Im nächsten Abschnitt wird daher gezeigt, auf welchen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen das Konzept basiert <strong>und</strong> welche Einflussfaktoren hierbei eine Rolle<br />
spielten.<br />
3 Gr<strong>und</strong>elemente <strong>und</strong> Einflussfaktoren auf die Entwicklung des<br />
Spiels MyTown<br />
Aus der Diskussion mit den entwicklern kristallisierten sich einige gr<strong>und</strong>legende<br />
Faktoren heraus, die Einfluss auf die Entwicklung des Spiels hatten <strong>und</strong> daher im<br />
Folgenden im Zusammenhang vorgestellt werden.<br />
Die virtuelle Stadt als Spielszene<br />
Die Szene des Spiels (der Handlungsraum) sollte von Anfang an eine Stadt sein.<br />
Mit dieser entscheidung ging die Überlegung einher, die erlebnisvielfalt, Aufgabendichte<br />
<strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten zu erhöhen: „es war einfach auch<br />
so […], wenn jetzt jemand ein Spiel sieht […], wo ein Haus drin ist, also in einem<br />
Haus, da kann man einfach nichts erleben. Das ist man auch einfach nicht so<br />
gewöhnt. Um halt nur die Spielinteraktion zu haben <strong>und</strong> was erleben zu können,<br />
muss halt einfach der Spieler eine gewisse Bewegungsfreiheit haben in der 3D-<br />
Welt <strong>und</strong> nicht nur auf ein Haus eingeschränkt sein. Da kann man einfach schon<br />
von der allgemeinen Meinung her viel unterbringen“ (GD, 13). Die Studierenden<br />
richten sich erkennbar am generalisierten Anderen (der „allgemeinen Meinung“)<br />
aus <strong>und</strong> antizipieren Akzeptanzkriterien eines potenziellen Spielpublikums. Ihnen<br />
schwebte eine große Stadt mit moderner Architektur vor. Sie sollte zudem<br />
„sehr aussagekräftige Orte“ (GD, 36) enthalten. Letztlich sah die Stadtszene dann<br />
vollkommen anders aus, als geplant: „Also […] ursprünglich hatten wir wirklich<br />
so riesen Bürogebäude oder größere Bürogebäude mit Glasfassaden <strong>und</strong> ziemlich<br />
viel Stahlkonstruktion […] Dann wurde die Anzahl an sich auch runtergeschraubt<br />
[…] Dann sind wir zu der Idee gekommen, das eben wie Las Vegas darzustellen,<br />
dass die Gebäude an sich nicht so zusammenpassen, aber gerade dass dieses<br />
Nicht-Zusammenpassen eben wieder ein Zusammenspiel ergibt“ (GD, 174). An<br />
diesem Punkt zeigt sich, dass der entwicklungsprozess tatsächlich nicht ganz so<br />
ergebnisoffen war, wie es den Studierenden zuerst erschien. Bei näherer Betrachtung<br />
werden die institutionalisierte Deutungsmacht der lehrenden <strong>und</strong> weitere,<br />
externe Einflussfaktoren sichtbar. Ein Diskussionsteilnehmer erinnert sich: „es<br />
gab lange Diskussionen auch mit den Professoren sozusagen, wie eine Stadt auszusehen<br />
hat <strong>und</strong> welche Umgebung die haben soll. Und da mussten wir […] auch<br />
völlig neu lernen“ (GD, 184). Die Alltagswahrnehmung der Studierenden reichte<br />
306
nicht aus, um eine komplette Stadt im virtuellen <strong>Raum</strong> zu planen. Die Definitionsmacht<br />
der lehrenden führte dazu, dass das ursprünglich anvisierte Stadtkonzept<br />
radikal modifiziert wurden, bis letztlich das bestehende Modell – eine „Mischung<br />
aus Tschernobyl <strong>und</strong> Las Vegas“ – herauskam. Mit Hilfe der Lehrenden konnten<br />
noch weitere aussagekräftige Quellen zum Thema Stadtplanung erschlossen werden.<br />
Hiermit sind insbesondere filmische Darstellungen von Städten gemeint.<br />
Verb<strong>und</strong>en mit diesem szenischen Konzept ist auch die Idee der „Aneignung“ der<br />
Stadt. Die Stadt soll „zu seiner [der des Spielers] Stadt“ (GD, 196) werden. Aber<br />
wie wird die Stadt zur Stadt des Spielers? Indem er immer wieder „zum selben<br />
Döner-Mann geht“ <strong>und</strong> „nach <strong>und</strong> nach leute kennen lernt“ (GD, 192). Aneignung<br />
geschieht also durch die Verdichtung der <strong>Interaktion</strong>en durch Wiederholungen.<br />
Implizites Ziel des Spiels war es daher auch, einen „Lebensraum“ (GD,<br />
196) zu finden: „Ich glaube, das Spiel, diese Wohnung zu finden, ist automatisch<br />
das ergebnis sich einen aktiven lebensraum gestaltet zu haben“ (GD, 196). In<br />
dieser Wortwahl schwingt eine nicht unkritische Konnotation mit, auf die aber an<br />
dieser Stelle aus Platzmangel nicht näher eingegangen werden kann.<br />
Die Spielaufgabe<br />
MyTown<br />
MyTown ist letztlich eine Art Rollenspiel. Die Spielaufgabe besteht aus der Wohnungssuche<br />
in einer fremden Stadt, wobei dem Suchenden verschiedene andere<br />
Akteure begegnen, mit denen er interagieren kann. Auf der konzeptionellen ebene<br />
erhält die jeweilige Spielfigur „Lebenspunkte“ <strong>und</strong> „Charismapunkte“ . Der<br />
Spieler muss durch sein (soziales) Handeln Aufgaben lösen, die ihn in der Welt<br />
des Spiels weiterbringen. Die lösung der Aufgaben ist an den erfolg/Misserfolg<br />
bei der Wohnungssuche geknüpft, d.h. je nach individuellem Verhaltensmuster<br />
gibt es alternative Spielfortgänge. Dabei ist die Anzahl der Verhaltenskategorien,<br />
die im Verlauf des Spiels bewertet werden, endlich. je nach der Höhe ihres Punktestandes<br />
reagiert die Umwelt dann entweder positiv-wohlwollend oder negativablehnend.<br />
Eine positive Sanktionierung bedeutet, dass die Spielfigur z.B. Tipps<br />
für die Wohnungssuche erhält, eine negative Sanktionierung wirkt sich dahingehend<br />
aus, dass die Spielfigur z.B. eine bereits angebotene Wohnung letztlich<br />
nicht erhält.<br />
Hierin zeigt sich die eigentliche Spielidee, denn das Spiel soll der „Fortentwicklung“<br />
des Spielcharakters, wenn nicht gar seiner „Optimierung“ dienen. Die<br />
entwickler stellten sich folgende Fragen: Was passiert mit der entwicklung des<br />
Studenten? Wie wirkt sich seine charakterliche Entwicklung auf das Ergebnis seiner<br />
Wohnungssuche aus? Wie verändert sich die Person durch ihre Handlungen?<br />
Durch die „Wandlung“ der Person – so die These – verbessern oder verschlechtern<br />
sich seine Chancen auf dem Wohnungsmarkt. In den Worten eines der entwickler:<br />
„Also wenn er jetzt immer nur pampige Antworten gibt, da hatten wir z.<br />
B. vorgesehen, dass er dann in Zukunft einfach auch eine schlechte Ausstrahlung<br />
hat <strong>und</strong> die anderen Menschen schon gleich negativer auf ihn reagieren, dass er<br />
307
STeFAN SelKe<br />
es irgendwie schwieriger hat, irgendwelche Informationen zu bekommen; währenddessen<br />
wenn er immer fre<strong>und</strong>lich ist <strong>und</strong> hilfsbereit, dass er dann eben eine<br />
positive Ausstrahlung hat <strong>und</strong> andere Menschen eher bereit sind, ihm zu helfen“<br />
(GD, 18). Die Charakteroptimierung passiert durch „angemessene“ Dialoge: Jedes<br />
Gespräch wird nach einem Rankingverfahren <strong>und</strong> Algorithmus neu berechnet.<br />
Dazu dient im Hintergr<strong>und</strong> eine umfangreiche Datenbank mit (unterschiedlich<br />
bewerteten) Antwortmöglichkeiten. Das gleichermaßen technische wie sozialwissenschaftliche<br />
Problem hierbei sind die Indikatoren <strong>und</strong> deren Skalierung.<br />
Unklar bleibt, wie bestimmte Antworten bewertet werden (sollen). Damit ist das<br />
Kernproblem des vorgelegten Konzepts benannt: Wie können die komplizierten<br />
einzelfaktoren, die zwischenmenschliches Zusammenleben ermöglichen (<strong>und</strong><br />
bestimmen) in angemessene technische Parameter zerlegt werden? Wie können<br />
abhängige, unabhängige <strong>und</strong> intervenierende Variablen so definiert werden, dass<br />
sie in technische Parameter umgewandelt werden können?<br />
Die Reduktion der realweltlichen Optionsparalyse durch ein Rankingverfahren<br />
ist zwar eine charmante Idee, letztlich jedoch Ausdruck eines technizistischen<br />
Weltbildes. Dem durchaus spürbaren intellektuellen Interesse an der sozialen<br />
Wirklichkeit <strong>und</strong> ihren Mechanismen, an Dialogen <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>en, steht das<br />
Problem der Algorithmisierung sozialer Parameter gegenüber: „Wir hatten es halt<br />
herunter gebrochen. Es gab Charismapunkte, es gab Essen, Sättigung. […] Geld.<br />
[…] Auf diese drei Sachen hatten wir es im Prinzip herunter gebrochen. Das Geld<br />
hatte keine Auswirkung auf den Charakter, wohl aber wie hoch der Sättigungsgrad<br />
ist <strong>und</strong> wie halt das Charisma aktuell ist“ (GD, 44-49). Letztlich erkennen die<br />
Studierenden die damit verb<strong>und</strong>enen Probleme selbst: „Da haben wir auch relativ<br />
eindimensional gedacht. Da haben wir dann einfach gesagt, das eine sind minus<br />
drei Punkte, das andere sind plus ein Punkt. Das war dann einfach auch nur ein<br />
Zahlenstrahl im Prinzip“ (GD, 50). Hier setzt sich eine Form „technokratischen“<br />
Denkens durch. Der erfolg auf dem Wohnungsmarkt ist kaum von der charakterlichen<br />
Verfassung oder gar Wandlung eines Suchenden abhängig, sondern von<br />
Markt- oder Informationsvorteilen.<br />
Die Spielcharaktere – Exemplarische Stereotypen<br />
An den Spielcharakteren zeigt sich besonders deutlich, welche Folgen die radikale<br />
Vereinfachung von Wirklichkeit im Computerspiel MyTown hat. Die realweltliche<br />
Heterogenität wird auf nur drei exemplarische Stereotypen reduziert.<br />
Als Spielfiguren wurden ein Informatiker, ein Betriebswirt <strong>und</strong> ein Sozialpädagoge<br />
konzipiert. Diese drei Typen repräsentieren die Kategorie „Studierender“ vor<br />
dem Hintergr<strong>und</strong> unterschiedlicher „Ontologien“ im studentischen Milieu: „Die<br />
starten mit verschiedenen Werten, haben verschiedene Bedürfnisse […] Also der<br />
Typus des Sozialpädagogen hatte sehr viele Allergien, war sehr kontaktfreudig, so<br />
ganz klischeehaft oder vielleicht Teilklischee, ich weiß gar nicht, ob man das so<br />
ganz allgemein sagen kann“ (GD, 88-97). Die Reduktion der gesellschaftlichen<br />
308
MyTown<br />
Wirklichkeit auf drei Sozialtypen sollte aus Sicht der Entwickler „Komplexität der<br />
Wohnungssuche in die Figuren hinein implementieren . […] so Sachen wie jetzt<br />
beispielsweise, dem Informatiker war immer sehr wichtig, dass seine zukünftige<br />
Wohnung auch auf jeden Fall einen DSL-Anschluss hat, dafür nicht unbedingt<br />
Fenster. […] Dafür hat er weniger Charisma“ (GD, 88-89). Hinter diesen vereinfachten<br />
Sozialfiguren steht ein vereinfachtes Menschenbild (Spielfigur braucht<br />
Schlaf, muss essen, sich duschen), das sich auf eine behavioristische Auffassung<br />
von Wirklichkeit gründet. Menschliches Verhalten wird dabei ausschließlich als<br />
Folge der Veränderung der äußeren Umwelt (Reiz-Reaktions-Schema) erklärt:<br />
Wenn die Spielfigur nicht genug zu essen bekommt, wird sie gereizter, führt<br />
<strong>Interaktion</strong>en auf einem anderen „Level“ durch. Dies wirkt sich dann letztlich<br />
negativ auf die Aufgabenerfüllung aus. Aber selbst diese scheinbar einfachen<br />
Kausalketten sind technisch kaum umzusetzen. Selbst stereotypische <strong>Interaktion</strong>en<br />
besitzen noch unendliche viele Varianten. Diese müssen vorausgedacht,<br />
skaliert, bewertet <strong>und</strong> als Frage- <strong>und</strong> Antwortparameter in eine Datenbank abgelegt<br />
werden. Zudem wird von den <strong>Interaktion</strong>spartnern im Spiel (Menschen auf<br />
der Straße, Mitstudierende vor dem schwarzen Brett, Gastronomiebetreiber) ein<br />
potenzieller „Codeswitch“ erwartet, d.h. sie müssen wie im realweltlichen Alltag<br />
unterschiedlich auf die drei exemplarischen Spieltypen reagieren.<br />
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, auf welcher Wissensbasis die<br />
entwickler die Spielcharaktere modellierten. In der Diskussion wird sehr schnell<br />
deutlich, dass einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Spielentwicklung der<br />
eigene lebensweltliche Hintergr<strong>und</strong> der Studierenden, ihre Selbstbeobachtungsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> Erfahrung darstellt. Damit ist der Wunsch verb<strong>und</strong>en, „eben einfach<br />
mal unsere Erlebnisse sozusagen in dieses Spiel ein[zu]bringen“ (GD, 4). Die<br />
entwickler studieren ein informationstechnisches Fach <strong>und</strong> hatten sich vorher<br />
noch nie bewusst mit sozialen <strong>Interaktion</strong>en auseinander gesetzt. Sie haben sich<br />
daher auch nicht explizit mit (sozial-)psychologischen Theorien beschäftigt, die<br />
ihnen einen konkreten Anhaltspunkt für die Modellierung sozialer Prozesse liefern<br />
könnten. Woher kommt also das Wissen über den Ablauf zwischenmenschlicher<br />
<strong>Interaktion</strong>en? Es kann sich nur aus Selbstbeobachtungen <strong>und</strong> eigenen<br />
erfahrungen speisen, auf deren Basis die entwickler sich ihr eigenes Menschenmodell<br />
„zusammenbasteln“. Es besteht aus Ableitungen erster Ordnung auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage eigener Erfahrungen <strong>und</strong> ist Ergebnis von Selbstbeobachtung: „Und<br />
so kamen wir halt drauf, dass wir so eine für uns erfahrbare Situation […] nehmen,<br />
an vielen Punkten aber auch wirklich mit viel Humor versehen, weil gerade<br />
Wohnungssuche etwas Menschliches ist. Man sucht sich ja so ein neues Nest<br />
irgendwie.“ (GD, 36). Die Entwickler erkennen den Einfluss der eigenen Umgebung<br />
unmittelbar an: „Wenn man dann so in der R<strong>und</strong>e sitzt <strong>und</strong> sagt, so, wie<br />
sieht es denn hier bei uns in <strong>Furtwangen</strong> aus <strong>und</strong> wie fühlen wir uns denn, oder<br />
wie haben wir uns gefühlt, dann wird das natürlich auch teilweise in das Spiel<br />
oder die Konzeption hineinprojiziert“ (GD, 96). Anhand dieses Einflussfaktors<br />
drückt sich ein mittelbares (aber nicht verwirklichtes) Ziel des Spieles aus, dass<br />
309
STeFAN SelKe<br />
darin besteht, die Stadt <strong>Furtwangen</strong> (wohungssuchend) besser kennen zu lernen:<br />
„Wir wussten auch alle nicht, wie <strong>Furtwangen</strong> aussieht, bevor wir hierher gekommen<br />
sind“ (GD, 181).<br />
Die „sinnhafte“ Spielform in Abgrenzung zu „normalen“ Computerspielen<br />
Das Konzept für MyTown entstand in expliziter Abgrenzung gegenüber „normalen“<br />
Computerspielen. Studierende, die hier als Spielentwickler tätig wurden,<br />
sind nicht bloß naive Anwender, sondern auch bereit zu kritischer Reflektion:<br />
„Man beschäftigt sich ja auch immer ein bisschen mit Computerspielen, wenn<br />
man sie selbst spielt, man kriegt ja immer mal was mit, dann hätte man schon<br />
gemerkt, dass es irgendwas Tolles, Neues gibt, was eben auf diese Art <strong>und</strong> Weise<br />
seinen Sinn macht“ (GD, 232). Dazu war allerdings der oben beschriebene<br />
institutionelle Rahmen eines Projektstudiums notwendig <strong>und</strong> hilfreich. Für die<br />
Entwickler besteht die Aufgabe, sich mit ihrem Konzept von einem „normalen“<br />
Computerspiel abzugrenzen. Was aber ist ein „normales“ Computerspiel? Immer<br />
wenn der Begriff „normal“ gebraucht wird, gibt er einen Hinweis auf sozial relevante<br />
Wirklichkeitsentwürfe.<br />
Die Entwickler selbst entwerfen eine pragmatische Definition dieser Normalität.<br />
„Normal“ ist ein Computerspiel, „das man kaufen kann, das massenhaft verbreitet<br />
ist, das man persönlich kennt“ (GD, 188). Durch die „normalen“ Spiele werden<br />
Genre „gesetzt“ (Ego Shooter, Kolonialisierungsspiele etc.), die aber für den<br />
vorliegenden Entwicklungskontext (Projektstudium) nicht akzeptabel erschienen.<br />
Diese Spiele dienten jedoch ex-negativo als Inspirationsquelle. Die Studierenden<br />
waren auf der Suche nach einem besonderen Element: „Für uns war auch ziemlich<br />
wichtig, dass wir irgendwas haben, was es so noch nicht gibt. Und es gibt<br />
tatsächlich auf dem Markt ziemlich wenige Spiele, die sich mit zwischenmenschlicher<br />
<strong>Interaktion</strong> tatsächlich jetzt auf der menschlichen Ebene befassen. <strong>Interaktion</strong><br />
klar, aber dann immer nur weil ein Charakter irgendwas möchte“ (GD, 223).<br />
Keines der „normalen“ Computerspiele machte aus Sicht der Befragten „Sinn“.<br />
Sinnhaftigkeit war aber genau das element, das sie suchten: Sinnhaftigkeit statt<br />
Fiktionalität.<br />
Ihr Spiel sollte auf keinen Fall ein Gewaltspiel, ebenso kein „Lern- oder Zeigefingerspiel“<br />
(GD, 246-248) werden. Die Entwickler grenzen sich ebenso von realitätsfernen<br />
oder fiktionalen Genres ab. Die Figuren sollten mit normalen, d.h. von<br />
uns allen geteilten Fähigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten ausgestattet sein, also keine<br />
Superhelden mit Superkräften darstellen. Dieses Merkmal der entwicklung verdient<br />
besondere Beachtung, da alle Produzenten selbst erfahrene, aktive Spieler<br />
sind <strong>und</strong> sich gut mit fiktionalen Spielen auskennen. Was bedeutet es also, wenn<br />
im Rahmen eines institutionalisierten lernprozesses gerade diese erfahrungswelt<br />
auf der Suche nach „Normalität“ verlassen wird? Eine Reaktion auf die Gewöhnung<br />
an die bombastischen Übertreibungen in den üblichen Spielen? Oder<br />
eher eine gr<strong>und</strong>legende Kritik an der Realitätsferne, wie es dieser Diskussionsteil-<br />
310
MyTown<br />
nehmer stellvertretend ausdrückt: „Was mich immer […] sehr gestört hat, dass die<br />
Charaktere - okay, die können seitwärts laufen, vorwärts laufen, aber die können<br />
auch rückwärts laufen. Die laufen 50 Meter rückwärts, bis sie an irgendeine Wand<br />
kommen <strong>und</strong> dann stehen sie da. […] Es geht nicht. Kein Mensch läuft irgendwie<br />
rückwärts <strong>und</strong> fällt nicht hin“ (GD, 249-253). Die Kritik an den „normalen“<br />
Spielen äußert sich auch in der Art der Zeitstraffung, wie sie einleitend als konstituierendes<br />
Element von Spielen beschrieben wurde. In „normalen“ Computerspielen<br />
agiert die Spielfigur nur, um direkt Erfolg zu haben. Wird die vermeintlich<br />
„richtige“ Antwort gegeben, geht das Spiel schnell weiter. „Das ist wirklich nur<br />
so eine kleine Hürde, über die man springen muss“ (GD, 227). Stattdessen sollte<br />
sich in MyTown jeder Dialog auf den nächsten <strong>und</strong> übernächsten auswirken um<br />
so die Latenz von Verhaltensmustern zu simulieren, wie sie ja aus dem Alltag<br />
bekannt ist. Explizit suchten die Produzenten auf dieser Entwicklungsstufe nach<br />
Realismus. Dabei trennten sie scharf zwischen der ebene der Gestaltung <strong>und</strong><br />
der des Inhalts: „Diese grafischen Sachen sollten eben nicht realistisch sein, aber<br />
das Inhaltliche sollte allerdings schon ans leben angepasst sein“ (GD, 249-255).<br />
Sie suchten also nicht nach Foto-Realismus, sondern nach Sozial-Realismus. es<br />
erschien ihnen als besonders reizvoll, sich mit sensiblen, komplexen sozialen <strong>Interaktion</strong>en<br />
zu beschäftigen. Damit gaben sie der inhaltlichen ebene eine herausgehobene<br />
Stellung, vor der ebene der technischen Realisierbarkeit. Sie zeigten<br />
Interesse für die variablen Formen <strong>und</strong> Bedingungen zwischenmenschlichen<br />
Zusammenlebens <strong>und</strong> zielten darauf ab, diese Formen <strong>und</strong> Bedingungen des Zusammenlebens<br />
technisch zu simulieren (ohne dies realisieren zu können).<br />
4 Parallelwelt mit Limesfunktion – Zur Rekonstruktion impliziter<br />
Gesellschaftsmodelle bei der Konzeption des Computerspiels My-<br />
Town<br />
Die Rekonstruktion der wesentlichen Elemente <strong>und</strong> Einflussfaktoren zeigt, wie<br />
vielschichtig der entwicklungsprozess dieses Computerspiels ist. Was sagt also<br />
das Konzept des Spiels über die Haltung der Entwickler aus? Welche impliziten<br />
Gesellschaftsentwürfe sind darin vorborgen? Im letzten Abschnitt wird das bisher<br />
erörterte noch einmal unter dieser leitfrage verdichtet. Da der Beitrag sich als<br />
heuristische Annäherung an die Fragestellung versteht, werden die ergebnisse<br />
als Thesen formuliert.<br />
• These 1: Die während des Entwicklungsprozesses erfolgte Änderung der Relevanzsetzung<br />
verdeutlicht die Suche nach Sinnhaftigkeit als bestimmenden<br />
Anreizfaktor der Spielentwicklung<br />
Die gesamte Spielentwicklung war geprägt von einem Klima latenter Überforderung,<br />
der sich in der mangelnden Trennung zwischen konzeptioneller <strong>und</strong><br />
technischer Ebene ausdrückte. Indem die Studierenden diesen Gr<strong>und</strong>konflikt<br />
311
STeFAN SelKe<br />
erkennen, verschieben sich im entwicklungsprozess anfangs gesetzte Motivationsrelevanzen<br />
(vgl. Schütz 1982: 78ff.) derart, dass die folgende Planung sich neu<br />
ausrichten kann. Die Idee der technisch ausgefeilten Umsetzung einer komplexen<br />
Spielwelt wird aufgegeben, an ihre Stelle tritt das konzeptionelle Arbeiten,<br />
das „Basteln“ an der Spielidee.<br />
Dieses Plausibilitätskriterium steuert im Folgenden den gesamten entwicklungsprozess.<br />
Seine deutlich zu rekonstruierende Dominanz ist das eigentlich Überraschende.<br />
Die technische Umsetzung der plausiblen Hintergr<strong>und</strong>geschichte wird<br />
als nachgelagerte entwicklungsaufgabe neu eingestuft <strong>und</strong> damit eigentlich abgewertet.<br />
Dabei schiebt sich das Plausibilitätskriterium „Sinnhaftigkeit“ immer<br />
deutlicher in den Vordergr<strong>und</strong>. Spielhandlungen, die in der Realwelt unmöglich<br />
sind, werden vehement ausgeschlossen, da sich die entwickler stark von den bekannten<br />
fiktionalen Genres abgrenzen: „Solche Gedanken sind aber immer wieder<br />
eingeflossen, wo wir uns gefragt haben, wieso w<strong>und</strong>ert sich niemand, dass<br />
das in Spielen einfach geht, dass man da einfach Sachen machen kann, die man<br />
im echten leben niemals macht“ (GD, 244). Infolgedessen suchen sie nach realistischen<br />
Darstellungsmöglichen sozialer <strong>Interaktion</strong>. Genau an dieser Stelle kippt<br />
der entwicklungsprozess. Die Suche nach Sozialrealismus, nach Sinnhaftigkeit<br />
wird zum bestimmenden Antrieb der entwicklung. Im Spiel MyTown geht es<br />
also weder nur darum, den Charakter der Spielfigur zu optimieren, noch darum,<br />
sich durch die geografische Mobilität <strong>und</strong> die Dichte sozialer <strong>Interaktion</strong>en einen<br />
Lebensraum zu erschließen, sondern darum, „Sinn aufzubauen“ (GD, 235). Sinn<br />
meint: nachhaltige Beziehungen, spürbare Wirkungen sozialer <strong>Interaktion</strong>en. einer<br />
der Studierenden fasst dies in einer anschaulichen Fokussierungsmetapher<br />
zusammen: „Wir wollten schon Realismus reinbringen an der Stelle“ (GD, 244).<br />
Wie aber kann Sinnhaftigkeit in ein Computerspiel „implementiert“ werden? Die<br />
Entwickler sehen sich gezwungen, sich mit der Matrix sozialer Prozesse auseinander<br />
zu setzen. Dies gelingt ihnen allerdings nur auf der Basis eigener lebensweltlicher<br />
Anschauungen <strong>und</strong> erfahrungen, so dass der von ihnen gewünschte<br />
Realismus letztlich in eine technizistische Stereotypisierung mündet.<br />
• These 2: Die Modellierung des Spiels als Arena kompetetiver Selbstdarstellung<br />
verdeutlicht die Wirksamkeit des leistungsgedankens als implizitem<br />
leitbild der entwickler<br />
Dem selbst eingeforderten Anspruch nach Realismus wird das Konzept auf den<br />
ersten Blick gerecht, denn die soziale Situation „Wohnungssuche“ könnte nicht<br />
anschaulicher <strong>und</strong> plausibler sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass<br />
die Studierenden ein unabgeschlossenes Verständnis sozialer Prozesse besitzen<br />
<strong>und</strong> daher mit ihrem Spiel eine Arena kompetetiver Selbstdarstellung erdenken,<br />
die letztlich viel über die impliziten Vorannahmen der entwickler aussagt. Zwei<br />
Konzepte konkurrieren dabei unbemerkt: In der ersten Konzeption geht es im<br />
Kern um eine Charakteroptimierung durch bewertete <strong>und</strong> selbstwertdienliche<br />
Dialoge. Der wohnungssuchende Spieler tritt in <strong>Interaktion</strong> mit den Bewohnern<br />
312
MyTown<br />
der Stadt, er stellt <strong>und</strong> beantwortet Fragen. Seine Frage- <strong>und</strong> Antwortwahl wird<br />
zum Identitätsakt, da sie sich auf den weiteren Spielverlauf <strong>und</strong> -erfolg auswirkt.<br />
In diesem Konzept wird die Welt des Sozialen mit ihren komplexen <strong>und</strong> kontingenten<br />
sozialen Grammatiken auf ein sehr einfaches (man könnte auch sagen:<br />
durchschaubares) System von Dialogen reduziert. Durch die technische limitierung<br />
der Komplexität dieser Sprechakte wird entgegen des eigenen Anspruchs<br />
gerade kein Realismus ins Spiel eingebaut. Vielmehr ist das zugr<strong>und</strong>e liegende<br />
Konzept als Ausdruck eines technokratischen Menschenbildes zu werten, dass<br />
sich als ein weiterer Einflussfaktor manifestiert.<br />
Das zweite, eng damit verb<strong>und</strong>ene Konzept, stellt vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer prozessuralen<br />
Logik <strong>und</strong> der virtuellen Stadt als Experimentierraum das Thema der<br />
Erschließung von „Lebensraum“ in den Mittelpunkt. Aber auch dafür sind <strong>Interaktion</strong>en<br />
mit Menschen notwendig, <strong>Raum</strong> allein kann nicht sinnvoll erschlossen<br />
werden, worauf schon Simmel (1995: 218) hingewiesen hat: „Von allen Potenzen<br />
des lebens ist der <strong>Raum</strong> am meisten die zur Anschauung gewordene Unparteilichkeit.<br />
[…] Und dieser Unparteilichkeit des <strong>Raum</strong>es überhaupt nähert sich<br />
für die praktischen Verwertungen am meisten das unbewohnte, niemandem weiter<br />
gehörige Terrain, das eben sozusagen bloß <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> weiter nichts ist“. Nur<br />
durch <strong>Interaktion</strong>en erhält der einzelne die Möglichkeit, sich durch den Kontakt<br />
mit verschiedenen Gruppen eine Identität zu erschaffen, das, was Simmel (1989:<br />
237ff., 1992: 456ff.) klassisch die „Kreuzung sozialer Kreise“ <strong>und</strong> die daraus folgende<br />
„Bestimmtheit der Person“ nennt.<br />
Zwischen diesen beiden Konzepten, der Punktelogik der Charakteroptimierung<br />
<strong>und</strong> der Prozesslogik des erschließens von lebensraum herrscht eine ambivalente<br />
Spannung. Hinter beiden Konzeptionen aber zeigt sich der Einfluss eines<br />
impliziten Gesellschaftsbildes. Dieses kann in erster Annäherung mit dem Paradigma<br />
der leistungsgesellschaft in Deckung gebracht werden. Die Spieler<br />
müssen etwas leisten, um etwas anderes zu bekommen. Hierin drückt sich eine<br />
spezielle – intersubjektiv verbindliche – Motivationsrelevanz aus: „Denn das, was<br />
getan werden muss, ist dadurch motiviert, wofür es getan werden muss“ (Schütz<br />
1982: 80). Charakteroptimierung <strong>und</strong> Selbstverortung werden immer mehr zum<br />
notwendigen Handwerk im Überlebenskampf einer Gesellschaft, in der wichtige<br />
Ressourcen wie Arbeit <strong>und</strong> soziale Anerkennung immer knapper werden. Die<br />
entwickler haben die öffentliche Rhetorik um Selbstmanagement, Soft Skills <strong>und</strong><br />
andere Parolen, die letztlich die Rückkehr zur Selbstverantwortlichkeit des Individuums<br />
ausdrücken, verinnerlicht <strong>und</strong> verdeutlichen (wieder einmal) die schon<br />
von Beck (1986) postulierten Individualisierungstendenzen. In der virtuellen<br />
Welt des Spiels wird die realweltliche logik nur noch radikalisiert: Dort einen<br />
Platz zu finden (=MyTown) bedeutet, sich den „normregulierenden“ Verhaltensanforderungen<br />
(Habermas 1988: 132ff.) von Vermietern, Mitschülern <strong>und</strong> anderen<br />
Protagonisten schon auf der sprachlichen ebene perfekt anzupassen. Soziales<br />
Verhalten wird in der virtuellen Kopie der leistungsgesellschaft zu einer<br />
313
STeFAN SelKe<br />
entweder-Oder logik reduziert, während es im realweltlichen Pendant zumindest<br />
(noch) fließende Übergänge zwischen Inklusion <strong>und</strong> Exklusion, Insidern <strong>und</strong><br />
Outsidern gibt.<br />
• These 3: Die Sehnsucht nach Simulation ist geprägt vom Wechselspiel zwischen<br />
kontingenter Sinnhaftigkeit <strong>und</strong> der Komplexität algorithmischer Prozesse<br />
Gleichzeitig drückt dieses ambivalente Konzept von MyTown die Sehnsucht nach<br />
Beherrschbarkeit einer durch <strong>und</strong> durch unüberschaubaren Welt aus. Der Versuch,<br />
mittels einer Parameter-logik die Optionsparalyse der Realwelt zu reduzieren,<br />
muss zwangsläufig scheitern. Technik in Form von Software wird zum<br />
Modell für Naturbeherrschung. Gleichzeitig scheitern die entwickler an einem<br />
gr<strong>und</strong>legendem Problem: der Komplexität sozialer Vorgänge.<br />
Obwohl Computerspiele für viele User fester Bestandteil der eigenen lebenswelt<br />
sind, die Spielwelt als Kommunikations- <strong>und</strong> Kontaktraum selbstverständlich<br />
geworden ist, können realweltliche Vorgänge dort letztlich nur sehr holzschnittartig<br />
abgebildet werden. Auf die Komplexität sozialer Vorgänge wies schon Simmel<br />
(1995: 209) hin, indem er behauptete, dass: „die wirkliche Struktur einer<br />
Vergesellschaftung […] keineswegs durch ihr sociologisches Hauptmotiv allein<br />
bestimmt [wird], sondern durch eine sehr große Anzahl von Verbindungsfäden<br />
<strong>und</strong> Verknotungen“. Das Hauptmotiv „Wohnungssuche“, so alltagstauglich es<br />
erscheint, reicht also noch nicht aus, um die realweltliche Heterogenität dieser<br />
„Verknotungen“ adäquat abzubilden. Die verschiedenen Kodierungsschichten,<br />
die in der realen Welt mittels Sprache <strong>und</strong> vor allem auch parasprachlich transportiert<br />
werden, die Mehrschichtigkeit sozialer Prozesse, die Kontextgeb<strong>und</strong>enheit<br />
zwischenmenschlicher Kommunikation lässt sich im Spiel MyTown nicht<br />
angemessen herunter skalieren („downsizen“ in der Sprache der Entwickler). Es<br />
lässt sich daher feststellen, dass sich der Wunsch nach Sinnhaftigkeit <strong>und</strong> der<br />
damit verb<strong>und</strong>enen Konstruktion einer „Parallelwelt“ im Konzept zwar deutlich<br />
ausdrückt, technisch aber nicht plausibel umgesetzt werden kann <strong>und</strong> an einen<br />
limeswert stößt: Die Möglichkeiten zur technisch-algorithmischen Parametrisierung<br />
sozialer Prozesse verhalten sich umgekehrt proportional zur Kontingenz<br />
sozialer Wirklichkeit.<br />
Fassen wir zusammen: Ausgangspunkt dieses Beitrages war das unstrukturierte<br />
„Feld offener Möglichkeiten“ (Schütz 1982: 52), den eine gegebene 3D-Engine<br />
für die Verwirklichung eines Computerspiels vorgibt. Dringendste Frage war,<br />
was innerhalb dieses Feldes an Bedeutung gewinnt <strong>und</strong> warum, „wie <strong>und</strong> durch<br />
welches Verfahren […] einige der offenen Möglichkeiten ausgewählt <strong>und</strong> in Beziehung<br />
zueinander gesetzt“ werden (Schütz 1982: 53). Diese Frage ist Ausdruck einer<br />
spezifischen Forschungshaltung, wie sie sich gerade in der Wissenssoziologie<br />
ausdrückt. Etwas Gegebenes derart anzuzweifeln bedeutet: „Einen Gegenstand<br />
[…] zum Problem, zum Thema oder zur Aufgabe unseres Denkens zu machen,<br />
314
MyTown<br />
bedeutet nichts anderes, als ihn als zweifelhaft oder fragwürdig zu begreifen, ihn<br />
aus dem Hintergr<strong>und</strong> der fraglosen <strong>und</strong> unbefragten Vertrautheit […] herauszulösen“<br />
(Schütz 1982: 56). Ziel der Untersuchung war es daher, die Denkmodelle<br />
zu erörtern, die als nicht-technische Voraussetzung sowohl den Produktions- als<br />
auch den Rezeptionsprozess limitieren.<br />
Der anfangs offene entwicklungsprozess mündete in ein Konzept, das einen<br />
intersubjektiv bekannten Vorgang (Wohnungssuche) vor dem Hintergr<strong>und</strong> des<br />
eigenen sozialräumlichen erlebens (<strong>Furtwangen</strong>) thematisiert. Das Kernthema<br />
Wohnungssuche in einer fremden Stadt wird in die Form einer rudimentären<br />
Grammatik des Alltagslebens gebracht, die im Kern auf die Zerlegung, wenn<br />
nicht gar Atomisierung des Suchprozesses in Form mechanistisch gedachter <strong>und</strong><br />
instrumentell bewerteter Situationen <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>en hinausläuft. Der erlebnistransfer,<br />
der ja die ursprüngliche Aufgabe (aus Sicht der Lehrenden) darstellte,<br />
mündet darin, realweltliche <strong>Interaktion</strong>en algorithmisch zu parametrisieren <strong>und</strong><br />
als bewertetes Frage-Antwortschema in eine Datenbank als Steuerungsinstrument<br />
zu transferieren.<br />
Diese exemplarische Rekonstruktion des Spielentwicklungsprozesses führt zu<br />
gr<strong>und</strong>legenden einsichten über das prekäre Wirklichkeitsverhältnis von Computerspielen:<br />
Das Spiel stellt einerseits auf der ebene des Konzepts den Versuch<br />
dar, komplexe Grammatiken sozialer <strong>Interaktion</strong>en zwischen den Spielfiguren<br />
in ein einfaches entscheidungsmodell zu überführen. es zeigt andererseits auf<br />
der ebene der technischen Realisierung, dass kontingente realweltliche Prozesse<br />
der Herstellung von Sinnhaftigkeit sich nur sehr unzureichend durch algorithmische<br />
Prozesse simulieren lassen. Den vielen Möglichkeiten der Software stehen<br />
nur begrenzte Realisierungsformen gegenüber. Dies zeigt sehr deutlich die<br />
Aktualität einer der Kernthesen der Wissenssoziologie. Die Freiheit des individuellen<br />
Handelns ist begrenzt, Handlungsoptionen unterliegen vorstrukturierten<br />
Bedingungen, da wir alle nur ein „plug-in“ in einer Menge (Bloom 1999: 124)<br />
sind. Dennoch drückt das Spiel den Wunsch aus, der „Entdinglichung des Sozialen“<br />
(Giesen 1991) entgegenzutreten. Denkt man das Konzept von MyTown<br />
konsequent weiter, so landet man schließlich in der Parallelwelt Secondlife (www.<br />
secondlife.com), einer netzbasierten 3D-Welt, die von ihren inzwischen gut 3 Millionen<br />
Bewohnern programmiert wird. Realweltliche soziale <strong>Interaktion</strong>en wird<br />
hier in (fast) vollem Umfang simuliert. Man kann Partner kennen lernen, sich<br />
binden <strong>und</strong> wieder trennen, land kaufen <strong>und</strong> verkaufen. IBM hat in der Welt von<br />
Secondlife Geschäfte eröffnet, Schweden vor kurzem die erste offizielle Online-<br />
Botschaft im Cyberspace . Wieso sich diese Spirale, basierend auf der Sehnsucht<br />
nach Simulation, immer weiter dreht, wäre eine eigene Untersuchung wert. ein<br />
anderes Mal.<br />
315
STeFAN SelKe<br />
literatur<br />
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STeFAN SelKe<br />
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318
II. Studentische Abschlussarbeiten
KATRIN STANGWAlD<br />
Entwicklung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung<br />
des BOE-BOT in Max/MSP/Jitter<br />
Der Parallax Boe-Bot bezeichnet einen Roboter, der zur Fortbewegung mit zwei<br />
Servo-Motoren ausgestattet ist. Die energie bezieht der Boe-Bot über ein angebrachtes<br />
Akku-Pack oder durch den Anschluss eines angebrachten Netzteiles.<br />
Ausgestattet mit verschiedenen Sensoren <strong>und</strong> Aktoren ist es möglich, die Umgebung<br />
wahrzunehmen <strong>und</strong> auf ereignisse zu reagieren. Der Boe-Bot ist mit einer<br />
Steuereinheit, dem „Javelin Stamp Module“ ausgestattet. Dieses Modul bezeichnet<br />
einen in java programmierbaren Mikrocontroller, mit dem ein prozessorgesteuertes<br />
Verhalten ausgeführt werden kann.<br />
Max/MSP/Jitter ist eine graphische Programmierumgebung, die eine Vielzahl an<br />
Komponenten zur Audio- <strong>und</strong> Videobearbeitung bereitstellt. Max stellt dabei das<br />
Gr<strong>und</strong>gerüst dar, auf dem MSP mit Audio-Komponenten <strong>und</strong> jitter mit Video-<br />
Komponenten aufsetzt. Die Komponenten werden auch Externals bezeichnet.<br />
323
KATRIN STANGWAlD<br />
1 Ziel der Untersuchung<br />
Ziel der Diplomarbeit ist es, eine Lösung für einen flexiblen Datenaustausch zwischen<br />
den Programm zwischen dem Programm Max/MSP/Jitter von Cycling‘74<br />
<strong>und</strong> dem Roboter Parallax Boe-Bot zu entwickeln <strong>und</strong> zu implementieren. Die<br />
Übertragung der Daten soll mittels Bluetooth erfolgen, so dass die Daten jedes<br />
Sensors in Max/MSP zugänglich sind. Bluetooth ist ein Industriestandard gemäß<br />
Institute of electrical and electronics engineers (Iee) für drahtlose (Funk-)Vernetzung<br />
von Geräten über eine kurze Distanz.<br />
Vor dem Versand der Sensordaten werden diese mit einer Sensorkennung versehen,<br />
um beim empfang dem Sensorursprung der Daten zuordnen zu können.<br />
Die Kommunikation erfolgt dabei in beide Richtungen. Die ankommenden Daten<br />
sollen in Max/MSP/Jitter ausgewertet werden. Ziel ist es, eine Anbindung des<br />
Boe-Bots an Max/MSP in Form eines flexiblen Werkzeuges zu erstellen. Dies soll<br />
den Gr<strong>und</strong>stein für weitere Projekte bilden.<br />
2 Anforderungen<br />
Die Anforderungen der Steuerungsplattform des Boe-Bots umfassen dabei die<br />
Realisierung einer Verbindung der zwei Komponenten Boe-Bot <strong>und</strong> Max/MSP<br />
über Bluetooth. Dabei ist eine fehlerfreie, biderektionale Datenübertragung zu<br />
gewährleisten. ein Kamera-Modul soll ebenfalls in den Boe-Bot integriert werden.<br />
Weitere Sensoren/ Aktoren müssen integriert werden können, ohne das es<br />
einer Änderung der Software-Architektur bedarf. Eine Schnittstelle in Max/MSP<br />
ist mit Hilfe von Externals zu realisieren. Die Datenübertragung der Sensoren soll<br />
mit möglichst einer hohen Übertragungsrate, geringer latenz <strong>und</strong> einer Priorisierung<br />
zur laufzeit erfolgen.<br />
Für die Realisierung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung wird eine Analyse<br />
der technischen Komponenten vorausgesetzt. Hier ist zu klären, ob eine erweiterung<br />
mit Max/MSP/Jitter durchführbar ist. Desweiteren ist es notwendig, einen<br />
Überblick über die einzelnen Komponenten des „Parallax Boe-Bots“ zu erhalten.<br />
Hierzu gehören die „Conitnuous Rotation Servos“, das „Javelin Stamp Module“,<br />
die „Javelin Stamp IDE“, als auch diverse Erweiterungen des Boe-Bots mit Sensoren.<br />
Hierunter fällt auch die Bluetooth-Komponente, mit der die verschiedenen<br />
Daten des Roboters an das Programm Max/MSP übertragen werden sollen.<br />
3 Analyse<br />
Die Analyse beschäftigt sich überwiegend mit dem lösungsansatz der Robotersteuerung.<br />
Hierzu wird die leitungsorientierte <strong>und</strong> die paketvermittelte Übertra-<br />
324
gung in Betracht gezogen. eine Bandbreitenanalyse bestimmt die notwendige<br />
Übertragungskapazitäten <strong>und</strong> bildet die Voraussetzung zur Wahl einer Architektur-lösung.<br />
Verschiedene Szenarien werden vorgestellt, eine Auswahl mit Begründung<br />
wird getroffen, die im Rahmen der Diplomarbeit zum einsatz kommt.<br />
Als Realisierungsmöglichkeit ist die paketvermittelte Übertragung in Betracht gezogen.<br />
Ein Protokoll definiert dabei die Vereinbarungen über die Struktur der zu<br />
versendenden Datenpakete. Für die Durchführung einer erfoglreichen Kommunikation<br />
müssen Sender <strong>und</strong> empfänger eine identische Struktur der Datenpakete<br />
annehmen <strong>und</strong> somit das gleiche Protokoll verwenden. Dabei besteht ein Datenpaket<br />
stets aus einem Header <strong>und</strong> dem Anteil der eigentlichen Nutzdaten. Der<br />
Header ist in mehrere Felder unterteilbar. jedes Feld kann dabei Status-Informationen<br />
zu dem aktuellen Kommunikationsvorgang oder Meta-Informationen zu<br />
den Nutzdaten enthalten. Die Daten werden separiert <strong>und</strong> in Frames aufgeteilt.<br />
Für Max/MSP sind Patches realisiert, die Steuerpakete für den Boe-Bot generieren.<br />
Die Abfolge der Pakete, die Kommunikation als auch die Bedienelemente<br />
wurden durch vorhandene Externals von Max realisiert. Für den Javelin ist dabei<br />
eine Architektur zu realisieren, die eine scheinbar gleichzeitige Abarbeitung<br />
der ankommenden Pakete, die Generierung neuer Sensordatenpakete sowie den<br />
Versand der Sensordatenpakete durchführt. Dies wird erreicht, indem diese Aufgaben<br />
in kurzen Zeitabständen wiederholend abgearbeitet werden. Der Boe-Bot<br />
kann somit möglichst zügig auf das eintreffen neuer Steuerbefehle sowie auf die<br />
Reizung der installierten Sensoren reagieren.<br />
4 einsatzmöglichkeiten<br />
Entwicklung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung<br />
eine einsatzmöglichkeit im lehrbetrieb liegt in Vorlesungen, die sich mit <strong>Interaktion</strong><br />
beschäftigen. Hier ist denkbar, verschiedene Boe-Bots miteinander in Aktion<br />
treten zu lassen. Eine <strong>Interaktion</strong> kann durch Tracking gegeben sein – das<br />
Verfolgen eines Objektes oder einer Lichtquelle, welche auf einem weiteren Boe-<br />
Bot montiert ist.<br />
• Desweiteren sind auch Projekte mit Künstlicher Intelligenz (KI) denkbar. Folgendes<br />
Beispiel ist hierzu angeführt: der Boe-Bot soll ein bestimmtes Objekt<br />
in einem <strong>Raum</strong> finden <strong>und</strong> diesen an eine andere Stelle des <strong>Raum</strong>es transportieren.<br />
Hierbei ist die Reaktion des Boe-Bots nicht vorhersehbar.<br />
• Mit dem Einsatz von Whiskers können Aktionen bei einer Kollision durchgeführt<br />
werden.<br />
• Farbige Linien, die auf dem Boden angebracht sind, können verfolgt werden.<br />
• Denkbar ist auch der Einsatz von Boe-Bots in der Programmierveranstaltung.<br />
Über ein erweitertes Display-Modul können Statusmeldungen <strong>und</strong> Sensordaten<br />
direkt auf dem Bot angezeigt werden.<br />
325
KATRIN STANGWAlD<br />
• Eine Datenbankanbindung, in der verschiedene Aktionen gespeichert sind<br />
<strong>und</strong> beispielsweise von einem Zufallsgenerator ausgewählt werden, können<br />
dem Boe-Bot Befehle erteilen, ohne dass seine Reaktion vorhersehbar ist.<br />
• Eine Internetanbindung in Max/MSP kann Daten liefern. Als Szenario ist<br />
denkbar, dass verschiedene Boe-Bots auf einem Spielfeld interagieren. eine<br />
über dem Spielfeld montierte Kamera, filmt die Szene <strong>und</strong> überträgt diese<br />
über Internet an Dritte, die über die entfernung aktiv in das Spielgeschehen,<br />
beispielsweise über ein java-Applet, einwirken können.<br />
Mit der Erstellung des flexiblen Werkzeuges in Form einer Steuerungsplattform<br />
des Boe-Bots ist eine Anwendung entstanden, die noch sehr viel erweiterungspotenzial<br />
für zukünftige Projektarbeiten <strong>und</strong> Thesen aufweist. Die Möglichkeiten<br />
der Realisierungen sind nahezu unbegrenzt, da der Boe-Bot den kompletten<br />
Funktionsumfang des Programmes Max/MSP/Jitter enthält. Daher stellen die zuvor<br />
angeführten Beispiele lediglich einen kleinen Abriss der Möglichkeiten dar.<br />
Zukünftige Projekte hängen von der kreativen Gestaltung der Max/MSP Patches<br />
durch ihre Nutzer ab, welchen keine Grenzen gesetzt sind.<br />
links<br />
http://www.cycling74.com<br />
http://www.parallax.com<br />
326
MATTHIAS HeINTZ<br />
Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java<br />
3D<br />
1 Zusammenfassung der Diplomarbeit<br />
Gegenstand der Arbeit ist die entwicklung einer neuartigen, intuitiven <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit<br />
in einer mit java 3D erstellten Anwendung. Um die entscheidung<br />
für java 3D als Programmiersprache für die realisierte Anwendung zu begründen,<br />
werden verschiedene Möglichkeiten zur erstellung interaktiver, virtueller <strong>und</strong><br />
stereoskopisch präsentierter Umgebungen miteinander verglichen. Die Vorteile<br />
einer stereoskopischen gegenüber einer monoskopischen Ausgabe werden erläutert<br />
<strong>und</strong> verschiedene Methoden zur erzeugung <strong>und</strong> Reproduktion von stereoskopischen<br />
<strong>Bild</strong>ern beschrieben. Da eine solche Ausgabe aber noch nicht interaktiv<br />
ist, werden bestehende Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten evaluiert <strong>und</strong><br />
daraus die umgesetzten <strong>Interaktion</strong>en abgeleitet. Das eigens dafür entwickelte<br />
eingabegerät, eine Spraydose mit Mausbuttonklick-Funktion, wird vorgestellt<br />
<strong>und</strong> es wird dargelegt, wie es zur Intuitivität der gesamten Anwendung beigetragen<br />
hat. Neben einer detaillierten Präsentation der entstandenen Anwendung<br />
J-fitti 3D <strong>und</strong> ihrer Einsatzmöglichkeiten, wird auch ein Ausblick gegeben, welche<br />
erweiterungen zukünftige Verwendungsfelder erschließen können.<br />
329
MATTHIAS HeINTZ<br />
2 Bedeutung des Themas<br />
<strong>Interaktion</strong>en haben in unserem realen, alltäglichen leben einen sehr hohen<br />
Stellenwert, da wir durchgängig <strong>und</strong> meist unbewusst mit unserer Umwelt interagieren.<br />
Ohne Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten wäre man von der<br />
Außenwelt isoliert, da man weder den Standort in der Welt verändern, noch auf<br />
die Umgebung einwirken könnten.<br />
Gleiches gilt auch in virtuellen Welten. Deshalb wurde nach Wegen gesucht, um<br />
aus der Realität bekannte <strong>Interaktion</strong>en in die vom Computer erzeugten, künstlichen<br />
Welten zu übertragen. Dies wird dadurch erschwert, dass wir uns nicht<br />
wirklich in der virtuellen Umgebung befinden. Somit müssen wir uns zwangsläufig<br />
eines oder mehrerer Eingabegeräte bedienen, um mit der Welt innerhalb des<br />
Rechners in Wechselwirkung zu treten.<br />
Hier knüpft diese Diplomarbeit an. es werden bestehende Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />
evaluiert, um auf dieser Basis eine möglichst immersive<br />
<strong>und</strong> intuitive Anwendung, mit einer neuartigen <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit, zu entwickeln.<br />
3 Navigationsarten<br />
Man unterscheidet zwischen First-, Second- <strong>und</strong> Third-Person Navigation, je<br />
nachdem wie direkt oder indirekt die Navigationsmethode arbeitet (Barrilleaux<br />
2001: 127-129).<br />
• Die First-Person Navigation basiert darauf, dass der Benutzer navigiert, indem<br />
er „sich selbst“, die „erste Person“, beziehungsweise deren Repräsentation<br />
in der Anwendung (dies könnte zum Beispiel eine Kamera oder ein<br />
View sein), mit Hilfe der eingabegeräte direkt kontrolliert. Diese Art der Navigation<br />
ist uns aus der Realität bekannt <strong>und</strong> kommt beispielsweise in ego-<br />
Shootern zum einsatz.<br />
• Bei der Second-Person Navigation navigiert man durch die Szene, indem<br />
man einzelne elemente der Szene als Hilfsmittel verwendet. eine Form der<br />
Second-Person Navigation wird bei vielen Rollenspielen eingesetzt, bei denen<br />
man den Charakter, den man spielt, <strong>und</strong> die Umgebung aus einer isometrischen<br />
Ansicht von schräg oben sieht. Man bewegt sich zu Personen<br />
oder Gegenständen hin, indem man sie anklickt. Man kann sich aber auch<br />
frei durch den <strong>Raum</strong> bewegen, indem man irgendwo auf den Boden klickt,<br />
wodurch die Spielfigur dann dorthin läuft.<br />
• Bei der Third-Person Navigation geschieht die Navigation losgelöst von der<br />
eigentlichen Szene. Das heißt, die Navigationselemente befinden sich außerhalb<br />
der Szene, werden dort bedient <strong>und</strong> bewirken dann die Navigati-<br />
330
on durch die Szene. Auch diese Navigationsart findet in Computerspielen<br />
Anwendung. Beispielsweise wird sie in Simulationsspielen eingesetzt, um<br />
einheiten an einen Punkt außerhalb des aktuell sichtbaren Bereichs zu bewegen.<br />
Dazu gibt es, meist am unteren <strong>Bild</strong>schirmrand, eine Kommandoleiste,<br />
die eine kleine Minikarte enthält. Diese Minikarte ist somit kein Teil der eigentlichen<br />
Szene, in der sich die Einheiten befinden, da die Kommandoleiste<br />
außerhalb dieser Szene ist. Zum Bewegen der einheiten kann man nun die<br />
Minikarte als Hilfsmittel verwenden <strong>und</strong> die einheiten somit auch an eine<br />
Stelle außerhalb des aktuell sichtbaren Bereichs bewegen.<br />
Des Weiteren wird in der literatur (a.a.O.: 126-127 <strong>und</strong> 129-130) zwischen räumlicher<br />
<strong>und</strong> kontextabhängiger Navigation unterschieden, abhängig davon, in<br />
welchem Bereich die Navigation angewendet wird. Die räumliche Navigation ist<br />
die Art von Navigation, die wir aus dem täglichen leben kennen: Der Benutzer<br />
bewegt sich durch den geometrisch bestimmten <strong>Raum</strong> von A nach B. Die kontextabhängige<br />
Navigation bezeichnet die Navigation durch einen konzeptionellen<br />
<strong>Raum</strong>, der nicht durch räumliche Parameter bestimmt ist, sondern der sich durch<br />
die Ähnlichkeit oder Zusammengehörigkeit der dargestellten Daten ergibt. Zum<br />
Beispiel könnte eine Webseite ein solcher „<strong>Raum</strong>“ sein, der dann dadurch definiert<br />
wird, dass sich alle Dateien im gleichen Ordner auf dem Server befinden.<br />
Durch das Navigieren mit Hilfe der Menüpunkte auf der Webseite navigiert man<br />
dann eigentlich durch diesen Ordner.<br />
4 <strong>Interaktion</strong>sarten<br />
Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />
<strong>Interaktion</strong>, im Kontext virtueller Umgebungen, bedeutet die (direkte oder indirekte)<br />
Manipulation von Objekten <strong>und</strong> ihren Eigenschaften in der virtuellen<br />
Umgebung durch den Benutzer <strong>und</strong> das unmittelbare (visuelle, auditive, haptische,...)<br />
Feedback für ihn auf der einen Seite sowie die Veränderung der virtuellen<br />
Umgebung durch die einwirkungen des Benutzer <strong>und</strong> ihre Restriktionen<br />
für ihn auf der anderen Seite.<br />
• First-Person <strong>Interaktion</strong> ist im Gr<strong>und</strong>e das Gleiche wie First-Person Navigation.<br />
Denn der Benutzer interagiert dabei mit seiner Repräsentation in<br />
der virtuellen Welt (der ersten Person). Dadurch führen Bewegungen <strong>und</strong><br />
Rotationen zu einer Veränderung des Standortes <strong>und</strong> der Blickrichtung<br />
<strong>und</strong> somit zu einer Navigation durch die Umgebung.<br />
• Bei der Second-Person <strong>Interaktion</strong> manipuliert der Benutzer die Objekte<br />
in der Szene direkt, um sie zu bewegen oder zu rotieren: „[…] the user<br />
has the feeling of directly manipulating an object in the scene, the second<br />
person.” (a.a.O.: 151). Der Name dieser <strong>Interaktion</strong>sart kommt daher, dass<br />
die Objekte in der Szene als „Second Persons“, neben dem Benutzer als<br />
„First Person“, bezeichnet werden.<br />
331
MATTHIAS HeINTZ<br />
332<br />
• Bei der Third-Person <strong>Interaktion</strong> manipuliert der Benutzer die Objekte in<br />
der Szene nicht direkt, sondern indirekt, indem er Knöpfe, Regler oder<br />
andere Hilfsmittel (die Third-Persons oder „dritten Personen“) außerhalb<br />
der Szene, aber innerhalb der Anwendung, verwendet.<br />
5 java 3D <strong>und</strong> dessen Alternativen zur erstellung von echtzeit 3D-<br />
Anwendungen<br />
Zur erstellung von virtuellen, interaktiven Umgebungen <strong>und</strong> zur Umsetzung<br />
der unterschiedlichen Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sarten gibt es verschiedene<br />
Möglichkeiten. In den folgenden Abschnitten werden einige davon mit ihren jeweiligen<br />
Vor- <strong>und</strong> Nachteilen beschrieben. Sie lassen sich grob in APIs <strong>und</strong> Softwarelösungen<br />
unterteilen. APIs sind Application Programming Interfaces <strong>und</strong><br />
definieren eine Schnittstelle zwischen dem Anwendungscode <strong>und</strong> den Betriebssystemfunktionen.<br />
Das heißt, sie abstrahieren die Betriebssystemfunktionen (zum<br />
Beispiel für die grafische Ausgabe) für den Programmierer. Damit kann er eine<br />
höhere Programmiersprache zur Implementierung der Anwendung verwenden.<br />
Man unterscheidet dabei zwischen Low- <strong>und</strong> High-Level-APIs, je nachdem wie<br />
hoch der Abstraktionsgrad der API ist. Softwarelösungen (wie Max/MSP von Cycling74<br />
oder Virtools) sind nicht nur Interfaces, sondern komplette Programme.<br />
Sie abstrahieren noch weiter als APIs <strong>und</strong> stellen dem Anwender eine grafische<br />
Oberfläche zur Verfügung. Mit deren Hilfe kann er die virtuelle Welt <strong>und</strong> ihre<br />
Funktionalitäten erzeugen, ohne eine Programmiersprache einsetzten zu müssen.<br />
low-level-APIs (wie OpenGl <strong>und</strong> DirectX) sind einfach gehalten <strong>und</strong> besitzen<br />
eine geringe Abstraktionsstufe. Ihr Vorteil liegt darin, dass sie sehr direkt auf die<br />
Hardware aufsetzen <strong>und</strong> damit dem Programmierer die größtmögliche Freiheit<br />
bei der Nutzung aller von der Hardware angebotenen Funktionen geben. „Sie<br />
betrachten die darzustellenden Daten als einen Strom von nur minimal zusammenhängenden<br />
Dreiecken, sehen aber nicht die logischen Zusammenhänge von<br />
Objekten.“ (Reiners 2004: 532). Daher muss der Programmierer die komplette<br />
Szene aus einzelnen Dreiecken, so genannten Triangles, zusammensetzen. Durch<br />
die geringe Abstraktion der Daten kann dies, je nach Komplexität der Szene, sehr<br />
schwierig sein.
Abb. 1: 3D-Würfel aus 12 Triangles<br />
Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />
Auch die Translationen <strong>und</strong> Rotationen einzelner Objekte sind kompliziert, da diese<br />
nicht als komplexes Ganzes angesehen werden. So kann der Programmierer<br />
beispielsweise nicht „den Würfel“ von A nach B bewegen, sondern muss jedes<br />
der zwölf Dreiecke, die zusammen den Würfel bilden, so verschieben, dass der<br />
eindruck entsteht, als würde sich der komplette Würfel von A nach B bewegen.<br />
Die Ausgabe auf diese Art zu erzeugen, ist sehr gut geeignet um besonders realistische<br />
ergebnisse zu erzielen, denn durch den einsatz von low-level-APIs können<br />
die neuesten Entwicklungen im Grafikkartensektor genutzt werden. Durch<br />
die soeben beschriebenen Schwierigkeiten bei der erstellung <strong>und</strong> Manipulation<br />
der Objekte sind sie für interaktive Anwendungen eher weniger geeignet. „Für<br />
entwickler, für die die Graphik nur ein Mittel zum Zweck <strong>und</strong> nicht Selbstzweck<br />
ist, ist das eine zu niedrige Abstraktionsebene mit zu vielen Problemen.“ (Reiners<br />
2004: 532)<br />
High-level-APIs (wie Open Scenegraph <strong>und</strong> java 3D) besitzen eine höhere Abstraktionsstufe,<br />
als die vorgestellten low-level-APIs. Sie liegen nicht so dicht über<br />
der Hardware <strong>und</strong> können daher erst nach einiger Anpassungszeit neue Grafikkartenfeatures<br />
unterstützen. Dafür betrachten sie die darzustellenden Daten nicht<br />
als Datenstrom aus Dreiecken, sondern als Graph mit verschiedenen Objekten.<br />
Dieser Graph wird Szenengraph genannt <strong>und</strong> wird verwendet um die Szene zu<br />
erzeugen. Dazu werden verschiedene Objekte, wie Kugeln oder Würfel, erzeugt<br />
<strong>und</strong> in den Graph eingehängt. So ist es möglich komplexe Objekte zu erstellen,<br />
indem man zum Beispiel für ein einfaches Auto einen Quader (als Karosserie) erzeugt<br />
<strong>und</strong> an diesen vier Zylinder (als Räder) anfügt. Um dieses Auto von A nach<br />
B zu bewegen muss dann nur noch der Quader bewegt werden, wodurch sich die<br />
davon abhängigen Zylinder automatisch mitbewegen.<br />
java 3D ist eine High-level-API auf Basis der Programmiersprache java. Sie baut,<br />
je nach Version, auf OpenGL oder DirectX auf, welche die Schnittstelle zur Hardware<br />
bilden <strong>und</strong> das Rendern der Szene übernehmen. Auch java 3D verwendet<br />
zur erzeugung der Szene einen Szenengraph. ein java 3D-Szenengraph ist ein<br />
Baum, an dessen Wurzel alle in der Szene vorkommenden Objekte angehängt<br />
333
MATTHIAS HeINTZ<br />
werden. er besteht aus BranchGroups, TransformGroups <strong>und</strong> leaves. Die Groups<br />
haben immer genau einen elternknoten <strong>und</strong> können mehrere Kindknoten besitzen.<br />
Als leaves werden, wie auch bei sonstigen Bäumen in der Informatik, die<br />
Knoten ohne Kindknoten bezeichnet. Während die BranchGroups die Objekte in<br />
der Szene darstellen, realisieren die TransformGroups die verschiedenen Transformationen<br />
(wie verschieben, rotieren <strong>und</strong> skalieren) der Objekte.<br />
6 J-fitti 3D<br />
J-fitti 3D ist die im Rahmen dieser Diplomarbeit entstandene Anwendung, mit<br />
der ein Benutzer auf dem virtuellen Marktplatz von <strong>Furtwangen</strong> dreidimensionale<br />
Sprayobjekte erzeugen kann. Dazu steht ihm, als neuartiges Eingabegerät,<br />
eine umgebaute Spraydose zur Verfügung, mit der er eine virtuelle Spraydose<br />
in der Anwendung steuert. Das Erzeugen neuer Sprayobjekte geschieht durch<br />
Betätigen des Sprühkopfes: Solange er gedrückt wird entsteht ein Spraystrang,<br />
der an der Stelle im <strong>Raum</strong> bleibt, an die er gesprüht wurde. Der Benutzer kann<br />
durch einen Doppelklick auf den Spraykopf alle bisher erzeugten Objekte wieder<br />
löschen. Die Navigation durch die Anwendung geschieht durch herumlaufen in<br />
der realen Umgebung, da die Bewegungen des Benutzers getrackt <strong>und</strong> in die<br />
virtuelle Umgebung übertragen werden.<br />
Der Name J-fitti 3D setzt sich aus Java 3D, der Programmiersprache, in der die<br />
Anwendung geschrieben wurde <strong>und</strong> Graffiti 3D zusammen, was die realisierte,<br />
neuartige <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit beschreibt.<br />
Abb. 2: Entwickler bei der Verwendung von J-fitti 3D<br />
334
7 Anwendungsmöglichkeiten<br />
Mit J-fitti 3D kann man kreativ tätig werden <strong>und</strong> unkompliziert dreidimensionale<br />
Objekte erzeugen, auch wenn man sich nicht mit 3D-Modellingprogrammen auskennt.<br />
Diese Objekte können dann als Vorlage für einen Modeller dienen, der<br />
damit ein den Vorstellungen des Benutzers entsprechendes 3D-Modell erstellen<br />
kann. Des weiteren kann J-fitti 3D als Designtool zur skizzenhaften Umgestaltung<br />
von Außenarealen <strong>und</strong> Innenräumen verwendet werden, indem die zu gestaltenden<br />
Umgebungen als Modell geladen werden <strong>und</strong> dann mit der Spraydose<br />
die gewünschten Objekte erzeugt <strong>und</strong> platziert werden. Damit ist eine intuitive<br />
Anwendung entstanden, die schon einige Verwendungsmöglichkeiten besitzt,<br />
aber auch noch einiges an erweiterungspotential für kommende Thesen <strong>und</strong> Projekte<br />
aufweist.<br />
literatur<br />
Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />
BARRIlleAUX, j. (2001): 3D User Interfaces with java 3D. Greenwich.<br />
ReINeRS, D. (2004): Herausforderungen an moderne Szenengraphsysteme am<br />
Beispiel OpenSG. In: Informatik-Spektrum 27, 6, 531–541.<br />
335
KATjA WAHl<br />
Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />
Als interdisziplinäre ergänzung zur ISIC Kernthematik beschäftigt sich meine im<br />
Februar 2007 fertig gestellte Diplomarbeit mit dem „Hörbarmachen von <strong>Interaktion</strong>“<br />
unter maximaler Einbeziehung des Körpers <strong>und</strong> in künstlerischem Kontext.<br />
Hinter dem Titel „The generic development of a motion controlled musical device<br />
for multiuser interaction with an exemplary live performance“ verbirgt sich die erstellung<br />
einer modularen Software, die über zwei Kameras in echtzeit tänzerische<br />
Bewegung aufnimmt, auswertet <strong>und</strong> in Klangereignisse <strong>und</strong> Klangmodulationen<br />
umsetzt. Im Mittelpunkt steht das auditive erlebnis durch die körperliche <strong>Interaktion</strong><br />
zweier Akteure sowie die Generierung eines publikumswirksamen Klangbildes,<br />
das den Charakter der Bewegungen widerspiegelt – darauf aufsetzend Beobachtungen<br />
zur Zuschauerwirkung sowie der Wechselwirkung zwischen Klang<br />
<strong>und</strong> Bewegungsqualität. Das generelle Ziel der Arbeit war die Entwicklung eines<br />
künstlerischen Rahmenkonzeptes <strong>und</strong> des zugehörigen technischen Systems<br />
bis zur Aufführungsreife. Systemkomponenten <strong>und</strong> Klangcharakteristik wurden<br />
dabei maßgeblich bestimmt vom gewählten Aufführungskontext, dem brasilianischen<br />
Kampf-Tanz „Capoeira“.<br />
337
KATjA WAHl<br />
1 Capoeira<br />
Die vor ca. vierh<strong>und</strong>ert jahren in Brasilien von Sklaven afrikanischer Herkunft<br />
entwickelte Bewegungskunst Capoeira erfordert den einsatz des gesamten Körpers<br />
(siehe Abb. 2). Geführte <strong>und</strong> langsame bis hin zu ausschweifenden <strong>und</strong><br />
extrem schnellen, akrobatischen Bewegungselementen dienen der <strong>Interaktion</strong><br />
mit dem Gegenüber <strong>und</strong> bieten ein Schauspiel, das den alltäglichen Überlebenskampf<br />
der ehemals Versklavten darstellt. Im Fluss aus Angriff <strong>und</strong> Verteidigung<br />
ergibt sich unter ständiger Beobachtung des Gegenübers jede Bewegung aus der<br />
vorangegangenen. Tricks <strong>und</strong> Finten gehören ebenso zum Repertoire wie die bloße<br />
Andeutung von Angriffen zur Demonstration der eigenen Überlegenheit.<br />
Abb. 1: Capoeira Bewegungsbeispiele (eigene Aufnahme)<br />
„Die Musik ermöglicht es uns, miteinander zu kommunizieren. Sie erzählt die<br />
Geschichte der Capoeira, kommentiert das Geschehen <strong>und</strong> treibt die Spieler an.<br />
Ohne Musik geht gar nichts.“ – Mestre Rosalvo (Rodust 2005: 76). Die Musik hat<br />
in der Capoeira einen mindestens ebenso hohen Stellenwert wie die Bewegung<br />
<strong>und</strong> ist fester Bestandteil der eigenen Philosophie. Das Berimbau, ein einsaitiger<br />
Musikbogen, gibt den Rhythmus vor <strong>und</strong> die Begleitinstrumente wie die Atabaque<br />
(Standtrommel) oder das Pandeiro (Tambourin) stimmen ein. Gesangssoli<br />
<strong>und</strong> Dialoge zwischen Vorsänger <strong>und</strong> Chor bilden den stimmlichen, kommentierenden<br />
Anteil. eine Capoeira Roda 1 folgt einer Dramaturgie, die sich prinzipiell<br />
auszeichnet durch einen langsamen Beginn <strong>und</strong> eine sukzessive Steigerung des<br />
Rhythmus- <strong>und</strong> Bewegungstempos sowie der Dynamik des Gesanges.<br />
1 Roda: Kreis aus Musikern <strong>und</strong> Spielern, der die Akteure umgibt <strong>und</strong> antreibt. Der Begriff bezeichnet<br />
auch generell eine Capoeira Performance.<br />
338
2 Neue Dimension durch neue Technologien<br />
Dieser kontexttypische Ablauf bildete auch die dramaturgische Basis für die Inszenierung<br />
von Capoeira mit live-elektronik 2 <strong>und</strong> ermöglichte die Durchführung<br />
als abgeschlossene Performance. Die Motivation, eine vielschichtige <strong>und</strong><br />
bewährte Tradition wie Capoeira mit neuer Medientechnologie zu konfrontieren,<br />
entspringt zum einen der Absicht, für Experimente mit Klang <strong>und</strong> Bewegung<br />
einen geeigneten Präsentationsrahmen mit einer mitgebrachten Vielfalt an Bewegungen<br />
zu erhalten; hauptsächlich aber, durch die neu hinzugefügte Dimension<br />
Beobachtungen zur Wechselwirkung zwischen tänzerischer Aktion <strong>und</strong> einem<br />
ungewohnten, in echtzeit gestaltbaren Feedback anzustellen.<br />
Abb. 2: Systemaufbau (eigene Abbildung)<br />
Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />
Hierzu wurde folgendes Szenario realisiert: eine Seiten- <strong>und</strong> eine Deckenkamera<br />
eröffnen einen <strong>Interaktion</strong>sraum (Abb. 1) von 4 x 3 x 3 Metern. Die Spieler bewegen<br />
sich in diesem <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> können auch jederzeit heraustreten <strong>und</strong> weiteragieren.<br />
Die Kameras sind verb<strong>und</strong>en mit einem entsprechend leistungsstarken<br />
Rechensystem, das die beiden digitalen, unkomprimierten Videostreams gleichzeitig<br />
verarbeitet. Die <strong>Bild</strong>auswertung erfolgt über Videomodule zur Analyse der<br />
<strong>Bild</strong>matrizen, die Klangsynthese über entsprechende Audiomodule (s.u., Analysekomponenten).<br />
Zur Steigerung der Immersivität durch räumliche effekte geschieht<br />
die Klangausgabe über ein 8-Kanal-lautsprecherarrangement, das über<br />
ein Audiointerface mit dem Rechner verb<strong>und</strong>en ist. Die lautsprecher werden mit<br />
2 live-elektronik: Instrumentale oder vokale Klänge, die in echtzeit elektronisch verarbeitet werden.<br />
Hier bezogen auf die Beeinflussung von Klängen durch Bewegung, mit Hilfe elektronischer Komponenten.<br />
Beides angewendet im Rahmen einer live-Performance.<br />
339
KATjA WAHl<br />
Hilfe der Ambisonics 3 -Technologie angesteuert, die ein dynamisches Verschieben<br />
von Klanquellen über die acht Kanäle ermöglicht. Die Tänzer bewegen sich<br />
nun in gewohnter Manier in- <strong>und</strong> außerhalb des Feldes <strong>und</strong> erzeugen so durch<br />
unterschiedliche Bewegungen unterschiedliche Klangereignisse, verschieben<br />
Klangquellen über die Bewegungsrichtung oder modulieren Tonhöhe <strong>und</strong> Tempo<br />
durch die Geschwindigkeit der Bewegung.<br />
Tracking<br />
Das bildbasierte Tracking bietet den Vorteil eines uneingeschränkten Bewegungsumfanges<br />
von beliebiger Intensität. es sind keine am Körper befestigte Geräte,<br />
Kabel, oder aufwändig anzubringende Markierungen nötig, wie es etwa bei einem<br />
sensor- oder markerbasierten Tracking der Fall wäre. Des Weiteren ist der „interaktive<br />
<strong>Raum</strong>“ ein größtmöglicher, da die detektierbaren Flächen großzügig durch<br />
Kamerawinkel <strong>und</strong> Kameraabstand bestimmt sind <strong>und</strong> nicht durch ein beispielsweise<br />
eng zu definierendes Magnetfeld oder die Länge von Kabeln. Als nachteilig<br />
in der Umsetzung des Kameratrackings erwies sich der erhebliche Aufwand zur<br />
Herstellung von konstanten lichtbedingungen, um den notwendigen Kontrast<br />
zwischen Akteuren <strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong> zu erzielen. ebenso traten aufgr<strong>und</strong> der<br />
großen zu verarbeitender Datenmengen Performanzprobleme auf, die nur durch<br />
den kontinuierlichen Test <strong>und</strong> Austausch von Hardwarekomponenten wie Prozessor,<br />
Kameratypen <strong>und</strong> Signalleitungen zu lösen waren.<br />
Analysekomponenten<br />
Die Vielfalt der Bewegungsqualitäten bot ein breites Ideenspektrum für die Implementierung<br />
von Analysemodulen, von denen hier drei beispielhaft aufgeführt<br />
sind. Durch die Wahl von weißer Kleidung <strong>und</strong> schwarzem Unter- <strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong><br />
entstand ein größtmöglicher Kontrast <strong>und</strong> es konnte damit eine Graustufen<br />
(Abb. 3) - <strong>und</strong> Binärbildauswertung (Abb. 4) angewendet werden. Alle Softwaremodule<br />
wurden realisiert in der Entwicklungsumgebung Max/MSP/Jitter .<br />
1. „Proximity“: Die Annäherung von Körpern<br />
Durch das Verhältnis von Umfang zu Fläche des im Binärbild befindlichen<br />
Schwarzanteils wird die „Zirkularität“ der Objekte gemessen, mit zunehmender<br />
Annährung der Körper ähnelt der Schwarzanteil zunehmend einem Kreis. Die<br />
Messvarianzen in Form von Fließkommawerten zwischen null <strong>und</strong> eins werden<br />
auf einen lautstärkeregler abgebildet, so dass bei Annäherung ein zugeordneter<br />
Ton an Dynamik zunimmt <strong>und</strong> bei entfernung abnimmt. Dieser effekt dient der<br />
Spannungserzeugung durch direktes Hörbarmachen der <strong>Interaktion</strong>. entsprechende<br />
Analysemethoden wurden der „Cv.jit“ -Bibliothek entnommen.<br />
3 Ambisonics: Verfahren zur Wiedergabe eines mehrdimensionalen Klangfeldes, entwickelt in den<br />
1960er <strong>und</strong> 1970er jahren in Großbritannien. In dieser Arbeit verwendet wurden die Ambisonics<br />
Externals für Max MSP von ICST Zürich.<br />
340
2. „Tempo“: Die Geschwindigkeit von Bewegungen<br />
Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />
Durch Auswertung der Differenz in der <strong>Bild</strong>information von aufeinander folgenden<br />
Frames (engl. „framesubstraction“) wird die Geschwindigkeit einer Bewegung<br />
gemessen. Schnelle Bewegungen bewirken eine hohe <strong>Bild</strong>differenz,<br />
langsame Bewegungen eine niedrigere. Die resultierenden Werte werden auf<br />
Rhythmusgeschwindigkeit, Tonhöhe (Pitch) oder einmalige Klangereignisse abgebildet.<br />
Dieser Effekt ermöglicht eine wechselseitige Beeinflussung von Bewegungsgeschwindigkeit<br />
<strong>und</strong> Rhythmustempo. Die Methoden zur <strong>Bild</strong>analyse entstammen<br />
der Max/Jitter Standardbibliothek.<br />
3. „Pattern Matching“: Klangereignisse durch Mustererkennung<br />
Spezielle Klangereignisse können durch die echtzeit-Auswertung eindeutiger<br />
Bewegungsmuster ausgelöst werden. Der live-Videostream durchläuft dabei ein<br />
Objekt, das anhand mehrerer Deskriptoren den aktuellen Frame mit einer gespeicherten<br />
<strong>Bild</strong>matrix vergleicht <strong>und</strong> bei hoher Ähnlichkeit anschlägt. Es können<br />
mehrere Muster (Abb. 4) gleichzeitig aktiv sein. So können Körperhaltungen grob<br />
identifiziert werden <strong>und</strong> entsprechende akustische Ereignisse bewirken. Die Auswertung<br />
erfolgt mit Hilfe von Objekten aus der Cv.jit Bibliothek <strong>und</strong> funktioniert<br />
rudimentär, bei sehr eindeutigen Mustern.<br />
Abb. 3: Ansicht Deckenkamera, Graustufendarstellung (eigene Aufnahme)<br />
Abb. 4: Beispiele für Bewegungsmuster, Binärdarstellung (eigene Aufnahme)<br />
341
KATjA WAHl<br />
Klangcharakteristik<br />
Der Klangcharakter der Anwendung kann beliebig durch die Wahl der Audiosamples<br />
bestimmt werden. Im Falle der ersten MOTOX 4 Performance war dies<br />
rein rhythmisches Material, gesampelt aus live-Aufnahmen von Berimbau,<br />
Trommeln, Stimmen <strong>und</strong> Saxophongeräuschen. Die mögliche Klangmodulation<br />
beinhaltet Pitch-Shifting, Tempovariation <strong>und</strong> Dynamikänderung. Das Klangmaterial<br />
wird zur laufzeit aus beliebig mit Audiosamples zu füllenden lokalen Datei-Pools<br />
bezogen. Der Gr<strong>und</strong>klang lässt sich wie auf einer Zeitleiste in mehrere<br />
Teile gliedern, sodass beispielsweise einzelne gepufferte Parts zu gewünschten<br />
Zeitpunkten abgespielt werden <strong>und</strong> eine Dramaturgie gebildet werden kann. einzelne<br />
Klangsamples, die zum Beispiel von ereignissen wie hohen Sprüngen oder<br />
Bewegungsmustern ausgelöst werden, hinterliegen in entsprechenden listen, die<br />
per Drag & Drop vom Programm generiert werden. Die listeneinträge lassen sich<br />
über ihre Identifikationsnummern von den Ereignissen aufrufen <strong>und</strong> die zugehörigen<br />
Audiodateien werden ohne auffällige latenzen wiedergegeben.<br />
<strong>Interaktion</strong><br />
Das erfahren von Interaktivität durch eine allgemeine Gestaltung des Klangbildes<br />
spielt in dieser Arbeit eine größere Rolle als die eins zu eins Zuordenbarkeit von<br />
Aktion <strong>und</strong> Reaktion. Deshalb beschreibt der Begriff „<strong>Interaktion</strong>“ hier weniger<br />
die direkte akustische Rückmeldung des Systems auf dediziert ausgeführte Aktionen<br />
als vielmehr eine subtilere, vielschichtigere Wirkung durch ein zwar direkt<br />
gestaltetes, aber gleichzeitig stellenweise extrem verdichtetes <strong>und</strong> deshalb nicht<br />
immer unmittelbares auditives Feedback. es handelt sich also nicht um eine rein<br />
technische Demonstration, sondern um eine Performance als integratives Ganzes,<br />
die einen eigenen Charakter entwickeln kann <strong>und</strong> soll. Im Falle der beschriebenen<br />
ersten Vorführung ist dies ein Geflecht aus Rhythmen <strong>und</strong> Tönen, das wie<br />
eine elastische Masse geformt werden kann <strong>und</strong> das wechselseitig die Aktionen<br />
hinsichtlich Tempo <strong>und</strong> Dynamik beeinflusst.<br />
Systemgenerik<br />
Der generische Ansatz zeigt sich in der Offenheit für zusätzliche Schnittstellen<br />
<strong>und</strong> der allgemeinen Weiterverwendbarkeit des Systems. Dies wurde erreicht<br />
durch eine vollständige Implementierung aller Komponenten in der entwicklungsumgebung<br />
Max/MSP/Jitter sowie durch die Wahl von vergleichsweise einfach<br />
montier- <strong>und</strong> konfigurierbarer Hardware. Als zukünftige Erweiterung ist die<br />
einbindung von zusätzlichen Sensordaten über MIDI oder UDP genauso denkbar<br />
wie die Ressourcenerweiterung durch ein Clustern von Rechnern <strong>und</strong> eine<br />
Datenübermittlung via Open So<strong>und</strong> Control. Die Offenheit von Max/MSP/Jitter<br />
<strong>und</strong> die konsolenartigen Module von MOTOX erlauben das einfache Hinzufügen<br />
4 MOTOX: „Motion To X“, Eigenname des Systems („X“ steht für beliebige Audioparameter).<br />
342
von weiteren <strong>Bild</strong>auswertungsmethoden <strong>und</strong> Klangkomponenten. Durch die ausschließliche<br />
Verwendung von Open-Source-Externals <strong>und</strong> den Standardobjekten<br />
von Max selbst ist MOTOX ohne weitere Lizenzen auf jedem geeigneten Rechensystem<br />
weiterentwickelbar.<br />
live-Performance<br />
Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />
Die Anpassung des Systems an die Bewegungscharakteristik der einzelnen Akteure<br />
durch häufige Proben, sowie deren enge Einbindung in den Entwicklungsprozess<br />
stellte sich als wesentlich heraus, war hier aber hinsichtlich Zeit <strong>und</strong><br />
Ressourcen nur eingeschränkt möglich. Dies ließ sich teilweise durch die ausgedehnte<br />
Verwendung repräsentativer Videoaufnahmen ausgleichen. entwicklungs-<br />
<strong>und</strong> Aufführungsumgebung unterschieden sich zudem maßgeblich hinsichtlich<br />
der Größe des <strong>Raum</strong>es, der Lautsprecheranordnung <strong>und</strong> dem Licht-Reflexionsverhalten<br />
des Bodenbelages. Deshalb war in der Endphase des Projektes eine umfangreiche<br />
Adaptierung der Umgebungsparameter sowie des Softwareverhaltens<br />
notwendig, um eine Aufführung realisieren zu können.<br />
Die Live-Performance „MOTOX – body so<strong>und</strong>s body“ wurde am 27. Januar 2007<br />
am ZKM, Zentrum für Kunst <strong>und</strong> Medientechnologie in Karlsruhe, im Rahmen<br />
der Veranstaltung „Flying Circus“ des Instituts für Musik <strong>und</strong> Akustik (IMA) gezeigt.<br />
Zehn Capoeiristas spielten wie beschreiben im Rhythmus der gesampelten<br />
Klänge <strong>und</strong> zweier live gespielter Berimbaus. Die Akteure schilderten ihre erfahrung<br />
der Performance als spannend <strong>und</strong> interessant, gerne wiederholbar <strong>und</strong><br />
durch mehr Proben optimierbar. Die Zuschauerreaktionen machten einerseits die<br />
schwierige direkte Zuordenbarkeit von Bewegung <strong>und</strong> Klang deutlich, andererseits<br />
die unterschiedliche Rezeption der <strong>Interaktion</strong> – die Stimmen reichten von<br />
„nicht zuordenbar“ über „manchmal erkennbar“ bis hin zu „eindeutig erkennbar“.<br />
Die Klangqualität konnte laut dem Feedback von Akteuren <strong>und</strong> Zuschauern<br />
durch Dichte, Rhythmik <strong>und</strong> Dramatik überzeugen. eine Weiterentwicklung der<br />
Anwendung wird hinsichtlich Performanz, erweiterter Schnittstellen <strong>und</strong> einer<br />
eventuellen Reduktion der Anzahl der Akteure stattfinden.<br />
343
Autoren<br />
MelTeM ACARTÜRK, geb. 1980; Studium der Soziologie, Psychologie <strong>und</strong> europäischen<br />
ethnologie an der Universität Augsburg. Neben der Produktion ethnologischer<br />
<strong>und</strong> soziologischer Dokumentarfilme (2003-2006) Mitgestaltung des<br />
interkulturellen Stadtplanes Augsburg (www.interkultureller-stadtplan.de), dabei<br />
verantwortlich für Fotografien <strong>und</strong> Interviews in der türkischsprachigen Community.<br />
Magisterabschlussarbeit im Fach Soziologie zum Thema Identitätskonstruktion<br />
durch visuelle Kommunikation – im Rahmen der Kampagne „Du bist<br />
Deutschland“ (2007).<br />
TOBIAS BOlTe, geb. 1980; 2001-04 Studium (Gr<strong>und</strong>studium) der Medieninformatik<br />
an der Technischen Universität Dresden, seit 2004 Studium der Medieninformatik<br />
an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University; 2003/04 Programmierer für<br />
Content Management Systeme am Media Design Center Dresden; aktuell Bachelor-Thesis<br />
im Bereich mobiler GIS-Applikationen.<br />
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Autoren<br />
PATRIK BURST, geb. 1980; 2002-2007 Studium der OnlineMedien an der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong>. Titel der Diplomarbeit: ConVis: ein visuelles Chatsystem für<br />
die Unterstützung von Online-Gruppendiskussionen. lebt derzeit im <strong>Raum</strong> Freiburg.<br />
DANIel FeTZNeR, geb. 1966; Architekturstudium <strong>und</strong> Combined Media Studies<br />
in München, london <strong>und</strong> Berlin. Abschlussarbeit mit Auszeichnung zum<br />
Thema Translokation, Kinematografie <strong>und</strong> Kolonialarchitektur; 1994-96 Mitarbeiter<br />
am Institut für Architektur <strong>und</strong> Design der Universität der Künste in Berlin;<br />
1997-98, Producer bei America Online in Hamburg; 1998-2001 Creative Director<br />
bei der echtzeit AG in Berlin; 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum<br />
für Technologie- <strong>und</strong> Innovationsmanagement CeTIM München/Rotterdam. Seit<br />
dem Wintersemester 2002/03 Professor an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, Aufbau<br />
<strong>und</strong> leitung des laborNeueMedien. 2007 Visiting Professor an der San Francisco<br />
State University <strong>und</strong> Gastkünstler am ZKM in Karlsruhe.<br />
DANIel FeUeReISSeN, geb. 1981; seit 2002 an der HS-<strong>Furtwangen</strong>.Ursprünglicher<br />
Schwerpunkt Allgemeine Informatik, seit 2003 Schwerpunkt Medieninformatik<br />
des Fachbereich Digitale Medien. 2005 Projektleiter für das Projekt<br />
„Martin <strong>und</strong> die KMT“ an der Universitätsklinik Heidelberg <strong>und</strong> 2006 für das<br />
Projekt „Translocation“ am Max Planck Institut. 2006-2007 Studienaufenthalt an<br />
der SFSU in San Francisco.<br />
ANDREAS FILLER; arbeitet als wissenschaflicher Mitarbeiter am Forschungszentrum<br />
Intelligent Media der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> sowie im Projekt SmaProN<br />
um seine Forschungen im Bereich der Smart Products zu vertiefen mit welchen<br />
er sich auch in seiner Diplomarbeit des Studiengangs Online-Medien befasste. er<br />
wird sein Studium im März 2007 durch ein Aufbaustudium fortsetzen, um einen<br />
Master-Abschluss zu erhalten.<br />
BRUNO FRIeDMANN, Prof. Dr.-Ing., geb. 1954; studierte Kommunikationstechnik<br />
an der FH Karlsruhe, dann Medizinische Messtechnik <strong>und</strong> Biokybernetik an<br />
der Universität Karlsruhe, währenddessen auch 2 Semester Harmonielehre an<br />
der Musikhochschule sowie verschiedene Aktivitäten als Musiker in div. Gruppierungen.<br />
Nach der Promotion 2 jahre Postdoktorand am Institut für Genetik <strong>und</strong><br />
Mikrobiologie, Universität Würzburg <strong>und</strong> 2 jahre bei Fresenius GmbH, medizinische<br />
Sicherheitstechnik, Berufung an die <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, im jahre<br />
1994. Forschungs- <strong>und</strong> Interessensgebiete: Auditive Wahrnehmung, Multimodale<br />
<strong>Interaktion</strong>, interaktive Systeme <strong>und</strong> Technologien.<br />
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Autoren<br />
ROlF GASSNeR, Dipl. Inf. FH; in der realen Welt Studium der Online Medien<br />
2006. Zur Zeit als Mediengestalter <strong>und</strong> -programmierer beschäftigt bei b2c.tv in<br />
Ludwigsburg. Nebenberuflich Event Manager <strong>und</strong> DJ (Electro, House). Fre<strong>und</strong><br />
epischer Spielwelten wie Oblivion <strong>und</strong> Gothic 3. Zieht das friedliche, naturnahe<br />
landleben einem postindustriellen urbanen Ballungszentrum vor.<br />
GUNNAR HANSeN, geb. 1981; 2001-2006 Studium der Politischen Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Deutschen Sprachwissenschaft an der Universität Hannover, 2003-<br />
2006 Studium der Medienwissenschaft am Institut für journalistik <strong>und</strong> Kommunikationsforschung<br />
Hannover. Magisterarbeit zum Thema „Politisches Marketing<br />
<strong>und</strong> Regierungskommunikation. Die öffentlichkeitsarbeit der B<strong>und</strong>esregierung<br />
zur Vermittlung der Agenda 2010.“<br />
MATTHIAS HeINTZ, geb. 1982; Studium der Medieninformatik an der <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Furtwangen</strong> mit dem Abschluss Diplom, Thema der Diplomarbeit: „Stereoskope<br />
Projektion <strong>und</strong> 3D-<strong>Interaktion</strong> mit Java 3D“; Zur Zeit Student im Masterstudiengang<br />
„Computer Science in Media“ an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>,<br />
Abschluss voraussichtlich Mitte 2008.<br />
AleXANDeR lUDWIG, geb. 1981; Studium im Bereich Online Medien an der<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, Thema der Bachelor Thesis: „3D Interfaces <strong>und</strong> Motion<br />
Tracking“.<br />
KARINA MIeS, geb. 1977; 2002-2007 Studium Medieninformatik an der <strong>Hochschule</strong><br />
in <strong>Furtwangen</strong>. Diplomarbeit zum Thema: Potenzialanalyse virtueller<br />
Umgebungen zum Pretesting von Messeständen im Rahmen des erlebnismarketings.<br />
Seit 3/2007 als Freiberuflerin in der Webentwicklung <strong>und</strong> Onlineprogrammierung<br />
tätig.<br />
FeRNANDO SAAl, geb. 1981; 2002-2007 Studium der Medieninformatik an der<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> <strong>und</strong> am Tecnológico de Monterrey in Mexiko; Diplomarbeit<br />
zum Thema: Potenzialanalyse virtueller Umgebungen zum Pretesting von<br />
Messeständen im Rahmen des erlebnismarketings. lebt seit 3/2007 in München<br />
<strong>und</strong> arbeitet bei Real Time Technology als Consultant im Bereich Virtual Prototyping.<br />
PATRICK SCHWAB, geb. 1980; 2002-2007 Studium der Online Medien an der<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University; Diplomarbeit zum Thema Informationsvisualisierung<br />
mit Hilfe von Processing zur Darstellung von Websitestatistiken. Seit<br />
05/2007 junior Art Director bei jung von Matt/Neckar GmbH.<br />
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Autoren<br />
NADjA SCHANZ, geb. 1981; 2001-2006 Studium der Medieninformatik an der<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>; Diplomarbeit zum Thema: „Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung<br />
von installativen virtuell-immersiven <strong>Raum</strong>arbeiten im Lehrbetrieb“. Lebt seit<br />
1/2007 in Sydney, Australien <strong>und</strong> arbeitet u.a. für iCinema | Center for interactive<br />
cinema research.<br />
STeFAN SelKe, Dr. phil., geb. 1967; Visueller Soziologe <strong>und</strong> empirischer Sozialforscher,<br />
Mitbegründer von ISIC, arbeitet z.Zt. als Wissenschaftlicher Angestellter<br />
an der Universität Karlsruhe sowie der PH Karlsruhe. Arbeitsschwerpunkte:<br />
Mediensoziologie, Social Software, Wissenssoziologie, <strong>Bild</strong>wirkungsforschung.<br />
KATRIN STANGWAlD; 2002-2007 Studium der Medieninformatik, Fachbereich<br />
Digitale Medien, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University<br />
STeFANIe STRUBl; arbeitet als Creative Director bei der auf die fotorealistische<br />
Personalisierung von <strong>Bild</strong>ern spezialisierten Firma „von Aichberger & Roenneke“.<br />
WOlFGANG TAUBe, geb. 1955; Dr. Ing., Informatikstudium an der TU Berlin,<br />
1983-1996 Software-Ingenieur <strong>und</strong> Technologieberater in Bremen, 1996-2001<br />
Professor für Verwaltungsinformatik an der FH Kehl, seit 2001 Professor für<br />
Medieninformatik an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>. Aktuelle Forschungsschwerpunkte:<br />
entwurf <strong>und</strong> Implementierung interaktiver Systeme, <strong>Interaktion</strong>skonzepte<br />
in virtuellen 3D-Umgebungen.<br />
KATjA WAHl schloss mit dieser Arbeit im Februar 2007 als Diplom-Informatikerin<br />
(FH) im Fach Online-Medien an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> ab. Sie hat als<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin im März 2007 die technische leitung im labor<br />
Neue Medien der Fakultät Digitale Medien an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> übernommen<br />
<strong>und</strong> betreut dort den laboraufbau <strong>und</strong> die lehre <strong>und</strong> Forschungsarbeit<br />
in immersiven, virtuellen Umgebungen. Projektseite: http://kwahl.de/motox<br />
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