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Bild, Raum, und Interaktion - Hochschule Furtwangen

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Daniel Fetzner / Stefan Selke (Hg.)<br />

Image, Space and Interaction Center (ISIC)<br />

www.isic-furtwangen.de<br />

Fakultät Digitale Medien<br />

Arbeitspapier Nr. 4<br />

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung <strong>und</strong> Verbreitung,<br />

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner<br />

Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne<br />

schriftliche Genehmigung der Fakultät reproduziert oder unter Verwendung<br />

elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet,<br />

vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />

Copyright © 2007 Fakultät Digitale Medien | <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong><br />

ISBN 3-9810384-3-6<br />

ReDAKTION: Stefan Selke<br />

COVER: Daniel Fetzner unter der Verwendung einer Fotografie von Katja Wahl<br />

SATZ: Fabian Maier<br />

DRUCK: Druckerei <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>


Daniel Fetzner / Stefan Selke (Hg.)<br />

BILD – RAUM – INTERAKTION<br />

Angewandte empirische Wirkungsforschung.<br />

ergebnisse interdisziplinärer Zusammenarbeit<br />

Schriftenreihe Fakultät Digitale Medien


Inhalt<br />

Vorwort 1<br />

DANIel FeTZNeR / STeFAN SelKe 3<br />

einleitung<br />

ARBeITSBeReICH BIlD<br />

I. Gr<strong>und</strong>lagen – Empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

STeFAN SelKe 11<br />

Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann.<br />

Voraussetzungen empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

STeFAN SelKe 35<br />

Rekonstruktive Sozialforschung online. Qualitative<br />

<strong>Bild</strong>analyse-Chats mit der Open Source Software VeraICON<br />

TOBIAS BOlTe 45<br />

entwicklung von Systemkomponenten für die Software VeraICON<br />

II. <strong>Bild</strong>kampagnen <strong>und</strong> kollektive Identitäten<br />

aus Sicht der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR 53<br />

Das Auge entscheidet mit – Exemplarische Ergebnisse<br />

aus Wahlplakatanalysen zur B<strong>und</strong>estagswahl 2005<br />

STeFAN SelKe 65<br />

Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />

als Anwendungsfeld empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung


MelTeM ACARTÜRK 75<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

im Kontext der Kampagne „Du bist Deutschland“<br />

GUNNAR HANSeN 91<br />

Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong>: Bedeutung der<br />

Plakatkampagnen „Deutschland bewegt sich“ <strong>und</strong><br />

„Warum? Darum!“ im Rahmen der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />

III. Projektentwürfe, Dokumentation,<br />

studentische Abschlussarbeiten<br />

STeFAN SelKe 111<br />

Visuelle Kompetenz für junge Bürger. Einübung von<br />

Wahrnehmungskompetenz am medienpädagogischen lernort Schule<br />

PATRICK BURST 129<br />

ConVis - ein visuelles Chatsystem für die Unterstützung<br />

von Online-Gruppendiskusionen


ARBeITSBeReICH RAUM<br />

I. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Methode – Virtuelle Testräume<br />

STeFAN SelKe 141<br />

Techniken der Sichtbarmachung.<br />

Nutzungsbedingungen virtueller Testräume<br />

STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR 157<br />

VeRTeX beta - <strong>Bild</strong>wirkungsmessung durch Wahrnehmungssimulation<br />

ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl 165<br />

Umsetzung von VeRTeX beta<br />

DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />

Translocation<br />

173<br />

II. Projektentwürfe<br />

STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR 183<br />

Wirkungsmessung von Erlebniswelten – Konzeptionelle<br />

<strong>und</strong> methodologische Überlegungen zu zukünftigen Projekten<br />

DANIel FeTZNeR 193<br />

Zwischen Raster <strong>und</strong> Nebelkörper. Max Bense<br />

in San Francisco – Rekonstruktion einer Körperspannung


STeFAN SelKe 203<br />

Netzbasierte Narrationen regionaler Identität.<br />

Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis im Kontext digitalisierter<br />

Regionalmanagementprozesse<br />

III. Studentische Abschlussarbeiten<br />

KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl 219<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum Pretesting<br />

von Messeständen im Rahmen von erlebnismarketing<br />

ROlF GASSNeR 235<br />

Environmental Scene Design – Imitation <strong>und</strong><br />

Verräumlichung von Geräuschkulissen<br />

NADjA SCHANZ 241<br />

Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung von installativen<br />

virtuell-immersiven <strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />

AleXANDeR lUDWIG 247<br />

3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />

PATRICK SCHWAB 255<br />

Informationsvisualisierung mit Hilfe von<br />

Processing zur Darstellung von Websitestatistiken


ARBeITSBeReICH INTeRAKTION<br />

I. <strong>Interaktion</strong>skonzepte – Angewandte Forschung<br />

WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR 267<br />

Interaktive Medieninstallationen im Spannungsverhältnis<br />

von medialer Gestaltung <strong>und</strong> technischer Konstruktion<br />

WOlFGANG TAUBe 275<br />

Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR 291<br />

<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien-Technologien<br />

im labor Neue Medien (lNM) der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong><br />

STeFAN SelKe 301<br />

MyTown. Implizite Einflussfaktoren auf die Entwicklung eines<br />

Computerspiels. eine mediensoziologische Rekonstruktion


II. Studentische Abschlussarbeiten<br />

KATRIN STANGWAlD 323<br />

Entwicklung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung<br />

des BOE-BOT in Max/MSP/Jitter<br />

MATTHIAS HeINTZ 329<br />

Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />

KATjA WAHl 337<br />

Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance


Vorwort<br />

Vor gut zwei jahren gründeten wir das Zentrum für <strong>Bild</strong>-, <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung<br />

<strong>Furtwangen</strong> (ISIC) - damals noch unter dem Namen „Center for Visual<br />

Studies“. Unser gemeinsames Interesse an bildwissenschaftlichen Themen<br />

führte uns über gemeinsame Projektideen zusammen. Ziel war die Entwicklung<br />

von Methoden im Bereich der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung im Rahmen von lehrveranstaltungen<br />

gemeinsam mit Studierenden. Von Anfang an wurde also keine einzelforschung<br />

betrieben, sondern ein integrativer Ansatz verfolgt. So sind dann<br />

auch die in diesem Arbeitsbericht präsentierten ergebnisse <strong>und</strong> Arbeitsstände<br />

das ergebnis vereinter Bemühungen von lehrenden <strong>und</strong> Studierenden der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong>. Dies ist dann auch das Besondere an der hier präsentierten<br />

Publikationsform. ein Arbeitsbericht ist eine Querschnittsaufnahme aus der praxisbezogenen<br />

Forschung, die in Seminarkontexten gemeinsam von Lehrenden<br />

<strong>und</strong> Studierenden durchgeführt wurde. Es ist immer eine vorläufige Dokumentation<br />

von ergebnissen, aber auch von Hindernissen. Dabei folgten wir der Prämisse,<br />

dass es im Kern um „reflektierendes Produzieren“ geht, d.h. die interdisziplinäre<br />

Annäherung an Themenfelder, die Verschränkung methodischer Zugänge<br />

<strong>und</strong> im besten Fall die kritische Reflektion der eigenen Arbeitsergebnisse.<br />

Im Sommer 2005 gaben wir unseren ersten Arbeitsbericht heraus, der unter dem<br />

Titel „selling politics“ unsere Bemühungen dokumentierte, sich der visuellen<br />

Kommunikation mit politischen Inhalten auf methodisch innovative Art <strong>und</strong><br />

Weise zu nähern. Diese Publikation wurde mit viel Interesse rezipiert. Allen, die<br />

uns durch einladungen zu Kongressen <strong>und</strong> Workshops die Gelegenheit gaben,<br />

unseren Ansatz vorzustellen, möchten wir hiermit herzlich danken. Sie bestärkten<br />

uns damit in unserer inhaltlichen <strong>und</strong> methodischen Ausrichtung. Wir hoffen,<br />

dass der hier vorliegende Arbeitsbericht auf ähnlich fruchtbaren Boden fällt.<br />

Daniel Fetzner <strong>und</strong> Stefan Selke<br />

<strong>Furtwangen</strong>/Karlsruhe, im Sommer 2007<br />

1


DANIel FeTZNeR / STeFAN SelKe<br />

einleitung<br />

Angewandte Wirkungsforschung am Zentrum für <strong>Bild</strong>-,<br />

<strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung (ISIC)<br />

Das Zentrum für <strong>Bild</strong>-, <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung <strong>Furtwangen</strong> ist ein interdisziplinäres<br />

Forschungszentrum. Hierunter werden heterogene Ansätze der<br />

Wirkungsforschung unter einer übergreifenden Fragestellung vereint. In unseren<br />

drei unterschiedlichen Arbeitsfeldern – <strong>Bild</strong>, <strong>Raum</strong>, <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong> – stellen wir<br />

den Begriff „Wirkung“ in den Mittelpunkt. Um eine Vorstellung der Ausrichtung<br />

von ISIC zu bekommen, ist es angebracht, das Spektrum der von uns verfolgten<br />

– interdisziplinären – Forschungsfragen kurz dazustellen.<br />

Interdisziplinäre Fragestellungen zwischen <strong>Bild</strong>, <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong><br />

Im Arbeitsbereich „<strong>Bild</strong>“ erforscht ISIC anwendungsbezogen Fragestellungen<br />

interdisziplinärer <strong>Bild</strong>wissenschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die<br />

Bedeutung von <strong>Bild</strong>ern entsteht <strong>und</strong> welche Dimensionen von <strong>Bild</strong>wirkungen<br />

sich empirisch f<strong>und</strong>iert rekonstruieren lassen. Im Untersuchungsfeld „<strong>Bild</strong>wirkungen<br />

im Kontext öffentlicher Diskurse“ fragen wir danach, wie sich die Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern in kontextvariablen Distributionskontexten<br />

verändert. <strong>Bild</strong>er sind mit einigen wenigen Ausnahmen immer in öffentliche<br />

Diskurse eingeb<strong>und</strong>en. Beispiele hierfür sind Wahlplakate <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>werbung. Im<br />

3


DANIel FeTZNeR / STeFAN SelKe<br />

Untersuchungsfeld „Empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung“ forschen wir auf einer<br />

empirischen Basis nach <strong>Bild</strong>wirkungen, da allein die theoretische Betrachtung<br />

von <strong>Bild</strong>lichkeit <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen medialen Aspekten für das Verständnis<br />

des Phänomens <strong>Bild</strong> nicht ausreichend ist. Dabei fragen wir danach, wie sich die<br />

einzelnen Dimensionen von <strong>Bild</strong>wirkungen methodisch trennen, operationalisieren<br />

<strong>und</strong> empirisch vermessen lassen. Mit neuen Versuchsanordnungen messen<br />

wir die unbewussten Aufmerksamkeitsleistungen, ebenso wie erinnerungsleistungen<br />

<strong>und</strong> Selbstdeutungsprozesse von Rezipienten.<br />

Im Arbeitsfeld „<strong>Raum</strong>“ fragen wir nach neuen Formen der Orts- <strong>und</strong> <strong>Raum</strong>bezogenheit.<br />

Orte <strong>und</strong> Räume werden durch die globalisierten entgrenzungsprozesse<br />

vereinheitlicht <strong>und</strong> neutralisiert. landschaften werden zu Standorten <strong>und</strong><br />

die Welt zur Benutzeroberfläche. Angesichts dieser Disneyfizierung von Städten,<br />

Gebäuden <strong>und</strong> Bekleidungen bis hin zum menschlichen Körper entstehen hybride<br />

Territorien mit einem austauschbaren erscheinungsbild. Der physische <strong>Raum</strong><br />

wird mit dynamischen Daten überzogen <strong>und</strong> reale Umgebungen mit kontextuellen<br />

Formaten zur Augmented Reality erweitert. Diese Überlagerung analoger<br />

Räume mit digitalen Symbolen eröffnet neue Perspektiven der angewandten <strong>Bild</strong>forschung.<br />

In diesem weiten Feld liegen die Forschungsfragen zum Thema <strong>Raum</strong><br />

bei ISIC. Wie Probanden diese symbolischen Welten erleben <strong>und</strong> sich interaktiv<br />

darin verhalten ist die Kernfrage. Dabei wurde in den letzten zwei jahren der<br />

Versuch unternommen, bildwissenschaftliche Fragestellungen einerseits mit Methoden<br />

der empirischen Sozialforschung zu bearbeiten, andererseits klassische<br />

Methoden der Sozialforschung in Online-Instrumente zu überführen bzw. für<br />

virtuelle Testräume nutzbar zu machen.<br />

Alle Arbeiten im Arbeitsbereich „<strong>Interaktion</strong>“ basieren auf der Tatsache, dass virtuelle<br />

Umgebungen von der <strong>Interaktion</strong> leben. erst durch eigene Handlungen<br />

in der virtuellen Umgebung werden sie für die BesucherInnen als neue Qualität<br />

erfahrbar. Aufbauend auf einer Modellierung des statischen <strong>Raum</strong>es werden<br />

dynamische <strong>und</strong> interaktive elemente in die Umgebung integriert. Dynamische<br />

elemente wie etwa Veränderungen der Beleuchtung <strong>und</strong> die einbeziehung von<br />

selbständig handelnden Agenten sowie die interaktiven Handlungsmöglichkeiten<br />

unterstützen das Eintauchen in die virtuelle Umgebung – „suspension of disbelief“.<br />

Die Fragestellungen im Feld <strong>Interaktion</strong> beschäftigen sich mit dem Entwurf<br />

interaktiver Handlungsmöglichkeiten in virtuellen Umgebungen <strong>und</strong> dem Verhältnis<br />

von notwendiger Realitätsabbildung der Umgebung <strong>und</strong> erwünschter Realitätskonstruktion<br />

bei der BesucherIn. Trotz immenser Fortschritte der Grafik-<br />

Hardware ist der entwurf virtueller Umgebungen immer noch ein differenziertes<br />

Austarieren von widersprüchlichen Anforderungen. Interaktive Handlungsgesten<br />

müssen in echtzeit technisch wahrgenommen <strong>und</strong> kontinuierlich visualisiert<br />

werden. Beim Entwurf muss das Erleben der Besucher (user experience) im<br />

Zentrum der Überlegungen stehen.<br />

4


Institutionelle einbindung trotz Virtualität<br />

ISIC ist ein virtuelles Forschungszentrum mit institutionellen Anbindungen. Diese<br />

werden von den ISIC-Gründern <strong>und</strong> ihren beruflichen Kontexten repräsentiert.<br />

ISIC ist im Rahmen von Forschung <strong>und</strong> lehre angeb<strong>und</strong>en an die Fakultät<br />

Digitale Medien der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> <strong>und</strong> die Pädagogische <strong>Hochschule</strong><br />

Karlsruhe. Seit 2006 ist ISIC gleichzeitig Mitglied des Instituts für angewandte<br />

Forschung (IAF) der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>. Damit wird nochmals die interdisziplinäre<br />

Ausrichtung unterstrichen. Diese institutionelle einbindung legt<br />

Themenfelder, Arbeitsformen <strong>und</strong> Methodenkanon weitgehend fest. Vor allem<br />

liefert sie die paradigmatische Ausrichtung, die sich am Begriff „angewandte“<br />

Forschung festmacht. Dies bedeutet eine Abgrenzung von Gr<strong>und</strong>lagenforschung,<br />

die in dem hier vorliegenden Kontext nicht geleistet werden kann. Dafür bietet<br />

das institutionelle Umfeld eine reichhaltige Fülle von Querbezügen, die nutzbar<br />

gemacht werden konnten <strong>und</strong> im vorliegenden Bericht dokumentiert werden.<br />

Ziel <strong>und</strong> Aufbau des Arbeitsberichts<br />

Der vorliegende Arbeitsbericht dient der Dokumentation aller Arbeiten, die die<br />

im Kontext <strong>und</strong> Umfeld von ISIC zwischen 2005 <strong>und</strong> 2007 entstanden sind. Der<br />

Sammelband enthält Gr<strong>und</strong>lagentexte, Forschungsergebnisse, Projektentwürfe<br />

<strong>und</strong> studentische Abschlussarbeiten. Aufgenommen wurden auch Arbeiten von<br />

ForscherInnen anderer <strong>Hochschule</strong>n, die sich in ihrer Arbeit auf unseren ersten<br />

Arbeitsbericht „selling politics“ beziehen.<br />

Die Publikation hat das Format eines „Arbeitsberichts“, d.h. die Sammlung heterogener<br />

Themen <strong>und</strong> Textformate ist durchaus gewollt, um das Spektrum von<br />

ISIC zu dokumentieren. Der Arbeitsbericht gliedert sich in drei Teile (<strong>Bild</strong>, <strong>Raum</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>), die die Arbeitsbereiche von ISIC widerspiegeln. Innerhalb dieser<br />

drei Hauptbereiche wird folgende Abfolge den Arbeitsbericht (soweit als möglich)<br />

strukturieren:<br />

• Teil I: Theoretische bzw. methodische/methodologische<br />

Gr<strong>und</strong>lagentexte<br />

• Teil II: Forschungsergebnisse bzw. Ergebnisse aus Modellprojekten<br />

• Teil III: Zusammenfassungen studentischer Abschlussarbeiten<br />

sowie weitere Texte<br />

einleitung<br />

Unser Dank gilt an dieser Stelle den AutorInnen, die, oft unter erheblichem Zeitdruck,<br />

ihre Beiträge erstellt haben sowie weiteren Personen, ohne die der vorliegende<br />

Band nicht hätte realisiert werden können: Heike Schmidt-Bäumler für ihr<br />

zuverlässiges Lektorat, Fabian Maier für das Setzen des Textes sowie Horst Nopper<br />

für die Vorbereitung des Drucks. Wie immer liegt die alleinige Verantwortung<br />

für den Inhalt bei den Herausgebern.<br />

5


ARBeITSBeReICH BIlD


I. Gr<strong>und</strong>lagen – Empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung


STeFAN SelKe<br />

Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

Voraussetzungen empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

1 Genese <strong>und</strong> disziplinäre einordnung der empirischen<br />

<strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

Während sich die Wissenschaft, insbesondere die Philosophie, gerne mit theoretischen<br />

Fragen zum „Wesen“ des <strong>Bild</strong>es beschäftigt, treten in anderen, weniger<br />

handlungsentlasteten Bereichen die <strong>Bild</strong>wirkungen in den Mittelpunkt der Betrachtung.<br />

In der Werbebranche, bzw. der daran angegliederten Mediaforschung,<br />

werden diese Wirkungen möglichst konkret mit dem Ziel einer Wirkungsoptimierung<br />

untersucht. Seit den 1920er Jahren spielt daher das Phänomen „<strong>Bild</strong>wirkung“<br />

vor allem in der Werbetheorie <strong>und</strong> -praxis eine Rolle. Seit den 1960er<br />

jahren ist die besondere Wirkung der <strong>Bild</strong>kommunikation Gegenstand empirischer<br />

Forschungen in den Sozialwissenschaften (Bauer et al. 1998). Wissenschaftliche<br />

Disziplinen, die sich mit <strong>Bild</strong>wirkungen auseinandersetzen, sind<br />

vor allem die Psychologie (Werbe-, Wahrnehmungs- <strong>und</strong> lernpsychologie; vgl.<br />

Naumann 2000), die Medien- <strong>und</strong> Kommunikationswissenschaften, die Werbewirkungsforschung<br />

(vgl. Bongard 2002; Bonfandelli 2004) sowie die Gehirn-,<br />

Kognitions- <strong>und</strong> Imageryforschung. Trotz zahlreicher Bemühungen gibt es über<br />

den Forschungsgegenstand <strong>Bild</strong>, oder genauer: <strong>Bild</strong>wirkung jedoch keine empi-<br />

11


STeFAN SelKe<br />

rischen Verallgemeinerungen, die das F<strong>und</strong>ament für eine gegenstandsbegründete<br />

Theoriebildung liefern.<br />

empirische <strong>Bild</strong>wirkungsforschung <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />

In aller Kürze soll das hier vorgeschlagene Konzept einer empirischen <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

in das Großprojekt „<strong>Bild</strong>wissenschaften“ eingeordnet werden.<br />

Sachs-Hombach (2001) stellt einen Rahmen für eine interdisziplinäre <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />

zur Verfügung. Ausdruck der intensivierten Bemühungen, die zu einer<br />

interdisziplinären erforschung des <strong>Bild</strong>es führen, sind die bekannten Metabegrifflichkeiten<br />

Imagic Turn (Fellmann 1991: 26), Pictural Turn (Mitchell 1992:<br />

89) oder Iconic Turn (Boehm 1994: 13). Trotz dieser Begriffe bestehen erhebliche<br />

Unklarheiten: „Nach wie vor ist jedoch unklar, in welchem Maße wir überhaupt<br />

in der lage sein werden, die innerhalb der <strong>Bild</strong>verwendung als wesentlich erachteten<br />

eigenschaften <strong>und</strong> Funktionen nach wissenschaftlichen Standards zu<br />

erfassen“ (a.a.O.: 4). Da bisher bildwissenschaftliche Fragestellungen innerhalb<br />

von einzeldisziplinen verhandelt wurden, lässt sich immerhin der Wunsch nach<br />

Interdisziplinarität formulieren: „Obschon das <strong>Bild</strong> neben der Sprache als das<br />

wichtigste Medium der Darstellung <strong>und</strong> der Mitteilung gelten kann, hat sich […]<br />

im Unterschied zur Sprachwissenschaft bisher keine disziplinübergreifende, allgemeine<br />

<strong>Bild</strong>wissenschaft herausgebildet“ (a.a.O.: 14). <strong>Bild</strong>wissenschaften sind<br />

alle jene Disziplinen, die einen systematischen Beitrag zum <strong>Bild</strong>verständnis liefern.<br />

Die Formen dieser Beiträge lassen sich nach dem Grad ihrer Theorie- bzw. Praxisnähe<br />

systematisieren. In weiteren konzeptionellen Rahmenüberlegungen nimmt<br />

Sachs-Hombach (2005) daher folgende (grobe) einteilung vor: 1. Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen,<br />

2. Historisch orientierte Disziplinen, 3. Sozialwissenschaftlich orientierte<br />

Disziplinen, 4. Anwendungsbezogene Disziplinen <strong>und</strong> 5. Praxisbereich<br />

moderner <strong>Bild</strong>medien. Wie können wir uns in diesem Spektrum verorten? Die<br />

Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen sind nicht auf einen <strong>Bild</strong>typ oder eine bestimmte Form der<br />

<strong>Bild</strong>verwendung fixiert, sondern untersuchen das <strong>Bild</strong> als Phänomen insgesamt.<br />

Interessanterweise rechnet Sachs-Hombach neben Philosophie, Semiotik, Mathematik/logik,<br />

Psychologie/Kognitionswissenschaften, Kommunikations- <strong>und</strong> Medienwissenschaft<br />

sowohl die Kunstwissenschaft <strong>und</strong> Kunstgeschichte, als auch<br />

die Medienwirkungsforschung zu den Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen! Deren empirische<br />

Ausrichtung hat ja eine deutliche Nähe zu den bei ISIC verfolgten Ansätzen – wir<br />

könnten uns in diesem Sinne durchaus den Gr<strong>und</strong>lagendisziplinen zurechnen.<br />

Die historisch orientierten Disziplinen brauchen wir für die hier notwendigen<br />

Überlegungen nicht weiter beachten, wohl aber die sozialwissenschaftlichen. Im<br />

Rahmen dieser Disziplinen wird nach „konkreten <strong>Bild</strong>verwendungen“ gefragt.<br />

Hierzu gehören <strong>Bild</strong>gebrauchsanalysen, die auf die <strong>Bild</strong>verwendung <strong>und</strong> ihrer<br />

Einbettung in soziale Kontexte abzielen. Genau diese (Re-)Kontextualisierung<br />

steht jedoch bei der von uns entwickelten <strong>Bild</strong>chatsoftware VeraICON im Mittel-<br />

12


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

punkt. Anwendungsorientierte Disziplinen, so Sachs-Hombach weiter, würden<br />

zur Integration technischer Verfahren beitragen <strong>und</strong> einen Bezug zur Praxis der<br />

<strong>Bild</strong>herstellung <strong>und</strong> -bearbeitung leisten. Diese Vermittlung zwischen der ebene<br />

der <strong>Bild</strong>produktion <strong>und</strong> den (sozialen) Verwendungsbedingungen von <strong>Bild</strong>ern ist<br />

eben das Programm von ISIC. Da in der Werbewirkungsforschung nach der Ableitung<br />

von <strong>Bild</strong>theorien <strong>und</strong> deren gezielter Umsetzung in Gebrauchskontexte<br />

geforscht wird, zählt diese Disziplin zu diesem Bereich.<br />

Fasst man diese konzeptionellen Rahmenüberlegungen zusammen, dann ist der<br />

von ISIC vertretene Ansatz einer angewandten empirischen <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

gleich mehreren bildwissenschaftlichen Forschungsbereichen zuzurechnen,<br />

1. dem Gr<strong>und</strong>lagenbereich, weil hier bildtyp- <strong>und</strong> bildfunktionenübergreifend<br />

nach empirisch zu bestimmenden Wirkungen geforscht wird, 2. dem sozialwissenschaftlichen<br />

Bereich, weil der Inhalt der von ISIC verfolgten Fragestellungen<br />

(der sog. content) sich nur vor den innerhalb der dortigen Spezialdiskurse (Visuelle<br />

Politik, Visuelle Soziologie) verorten <strong>und</strong> verstehen lässt, <strong>und</strong> 3. dem anwendungsorientierten<br />

Bereich, da es uns vor allem um die gezielte Optimierung von<br />

<strong>Bild</strong>wirkungen analog zu den Anforderungen der Werbewirkungsforschung geht.<br />

Die von uns betriebene <strong>Bild</strong>wirkungsforschung ist also eindeutig anschlussfähig<br />

an bestehende Diskurse <strong>und</strong> das Gesamtprojekt „<strong>Bild</strong>wissenschaft“. Der empirische<br />

Nachweis von <strong>Bild</strong>wirkungen ist in allen diesen Diskursen allerdings ein<br />

offenes Forschungsfeld. Genau diese lücke versuchen wir zu schließen.<br />

2 Paradigmatische Gr<strong>und</strong>thesen zur Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern<br />

Visualisierungen <strong>und</strong> visuelle Repräsentationen nehmen in modernen Gesellschaften<br />

<strong>und</strong> deren Kommunikationsstruktur eine exponierte Stellung ein. <strong>Bild</strong>er<br />

umgeben uns, wir leben mit, durch <strong>und</strong> in <strong>Bild</strong>ern. Diese exponierte Stellung des<br />

<strong>Bild</strong>es wird immer wieder betont (z.B. Müller 2003: 13ff.; Schelle 2005: 523f.).<br />

Die Begründung der visuellen Omnipräsenz fällt allerdings im Vergleich dazu<br />

schwer! Meist wird auf die Verhaltenswirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern sowie auf das Evokationspotenzial<br />

der <strong>Bild</strong>er für emotionen verwiesen.<br />

Fasst man die verfügbaren deskriptiven <strong>und</strong> empirischen Bef<strong>und</strong>e aus der literatur<br />

zusammen, so lässt sich eine paradigmatische Gr<strong>und</strong>these zur Wirksamkeit<br />

von <strong>Bild</strong>ern formulieren: Visuelle Stimuli sind textuellen Stimuli überlegen.<br />

Man könnte dies die These der Überlegenheitswirkung nennen. Tatsächlich<br />

lautet der Fachbegriff in der Literatur „picure superiority effect“. Im Vergleich<br />

zu textlichen Stimuli werden visuellen Reizen (in Form von <strong>Bild</strong>ern) eine umfangreiche<br />

Wirkung auf den menschlichen Organismus, d.h. erst einmal: auf den<br />

Prozess der kognitiven Verarbeitung von Sinnesreizen, nachgesagt. Damit wird<br />

ein <strong>Bild</strong>wirkungseffekt postuliert, dessen ergebnis zwar bekannt, dessen Zustandekommen<br />

aber weitgehend unklar ist. Sprache, so der Ausgangspunkt der mei-<br />

13


STeFAN SelKe<br />

sten Argumentationsketten, ist „komplizierter“ als <strong>Bild</strong>haftigkeit. Sprache ist ein<br />

„verschlüsseltes“ Zeichensystem, dass erst unter hohem Aufwand „entschlüsselt“<br />

(decodiert) werden muss. <strong>Bild</strong>er hingegen werden meist als etwas „quasi-natürliches“<br />

empf<strong>und</strong>en, zu dem man meist einen direkten Zugang hat (vgl. Kroeber-<br />

Riel 1993; Paivio 1986). <strong>Bild</strong>er sind wie ein Zimmer, dessen Tür unverschlossen<br />

offen steht <strong>und</strong> in das jeder eintreten kann <strong>und</strong> auch gerne eintritt.<br />

Präzisierung des <strong>Bild</strong>wirkungsbegriffs auf Basis der <strong>Bild</strong>überlegenheitswirkung<br />

Neben der Frage nach disziplinärer Zuständigkeit ist es angeraten, den <strong>Bild</strong>wirkungsbegriff<br />

selbst zu präzisieren. Welche Formen von <strong>Bild</strong>wirkung gibt es <strong>und</strong><br />

welche sind von Interesse? Dabei ist in der Literatur nicht immer klar, was mit<br />

„<strong>Bild</strong>wirkung“ gemeint ist. Die oben postulierte Überlegenheitswirkung von <strong>Bild</strong>ern<br />

könnte sich potenziell auf eine Vielzahl von Aspekten (Wahrnehmung, Verarbeitung,<br />

Speicherung, Abruf von <strong>Bild</strong>ern im Vergleich zu Texten) beziehen. Im<br />

weiteren Sinne soll hier unter <strong>Bild</strong>wirkung eine Veränderung verstanden werden,<br />

die sich beim <strong>Bild</strong>betrachter im Kontext der <strong>Bild</strong>wahrnehmung ereignet. Gegenstand<br />

der angewandten Forschungen bei ISIC ist die genaue Bestimmung dieser<br />

Veränderungen. Potenzielle eingrenzungsmöglichkeiten für <strong>Bild</strong>wirkungen sind<br />

dabei 1. die Beschränkung auf nur einen bestimmten <strong>Bild</strong>typ, 2. die Beschränkung<br />

auf nur einen bestimmten Aspekt von <strong>Bild</strong>wirkung, 3. die Beschränkung<br />

auf bestimmte <strong>Bild</strong>betrachter, 4. die Beschränkung auf bestimmte <strong>Bild</strong>betrachtungskontexte.<br />

Diese Einschränkungen ergeben sich aus der Dimensionierung<br />

von <strong>Bild</strong>wirkungen, wie sie – im engeren Sinne – in der Werbeforschung vorgenommen<br />

wird. Dabei geht es immer um die feststellbare Wirkung von <strong>Bild</strong>ern auf<br />

das Verhalten der Konsumenten. In den Begrifflichkeiten der Werbewirkungsforschung<br />

kann die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern auf folgenden ebenen untersucht<br />

werden:<br />

14<br />

• Spontane (unbewusste) Aufmerksamkeit (Aktivierung)<br />

• Bewusste Aufmerksamkeit<br />

• Einstellungsänderungen (mit dem Ergebnis einer sog. Imagebildung)<br />

• Lernen <strong>und</strong> Erinnern (Gedächtniswirkungen)<br />

• Verhaltenswirkungen (Auslösen von Handlungen durch <strong>Bild</strong>er)<br />

Man erkennt, dass die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern sich von „einfachen“ bis zu „komplexen“<br />

Phänomenen fortsetzt. Man erkennt weiter, dass es einen Bereich gibt,<br />

in dem <strong>Bild</strong>er unbewusst wirken <strong>und</strong> der mit Messmethoden nur sehr schwer<br />

zugänglich ist. Die Herausforderung auf der empirischen ebene besteht genau<br />

darin, für diese Ebenen Indikatoren zu finden <strong>und</strong> diese messtechnisch exakt<br />

zu operationalisieren. es macht keinen Sinn, die einzelnen <strong>Bild</strong>wirkungsebenen<br />

gleichzeitig in einem Test abzufragen.


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

3 Gr<strong>und</strong>legende Theorien bildlicher Informationsverarbeitung<br />

Ausgangslage der Beurteilung von <strong>Bild</strong>wirkungen ist immer wieder die Prämisse<br />

der Quasi-Natürlichkeit visueller Reize im Vergleich zur Verarbeitung semantischer,<br />

syntaktischer oder grammatikalischer Strukturen. So folgern etwa Bauer<br />

et al. (1998): „Die kognitive Verarbeitung von <strong>Bild</strong>ern läuft weitgehend automatisch<br />

ab <strong>und</strong> erfordert nur eine geringe gedankliche Kontrolle durch den Rezipienten“.<br />

Folgende Ergebnisse aus Untersuchungen zur kognitiven Verarbeitung<br />

von <strong>Bild</strong>ern gelten inzwischen als gesichert <strong>und</strong> stellen Allgemeinplätze der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

dar:<br />

• Visuelle Reize werden effizienter verarbeitet, sie sind, nach einem klassischen<br />

Zitat von Kroeber-Riel (1993: 53) „schnelle Schüsse ins Gehirn“.<br />

• <strong>Bild</strong>er lassen sich also schneller „verarbeiten“ <strong>und</strong> auch leichter im Gedächtnis<br />

behalten (vgl. esch 1998; Rossiter/Percy 1996; edell/Staelin 1983).<br />

• Für die Speicherung eines <strong>Bild</strong>es mittlerer Komplexität benötigt man ca. 1-2<br />

Sek<strong>und</strong>en – in der gleichen Zeit können nur ca. 7-10 Wörter aufgenommen<br />

werden (Kroeber-Riel 1993).<br />

• Visuelle Reize sind daher die bevorzugte Form von Informationsaufnahme<br />

(esch 1998; jeck-Schlottmann 1987; Kroeber-Riel 1986; Spoehr/lehmkuhle<br />

1982; Pylyshyn 1981).<br />

• <strong>Bild</strong>er weisen im Vergleich zu Texten bei einer vergleichbaren Anzahl von<br />

Informationseinheiten einen wesentlich höheren Informationsgehalt auf<br />

(Bauer et al. 1998: 2).<br />

Zur Verarbeitung visueller Informationen greifen verschiedene Prozesse ineinander.<br />

Im Folgenden werden diese Prozesse der encodierung, der Repräsentation,<br />

des Wiederfindens, des Vergleichs <strong>und</strong> der Expression (Ausdruck) vorgestellt <strong>und</strong><br />

zueinander in Beziehung gesetzt.<br />

15


STeFAN SelKe<br />

Abb. 1: Prozessmodell der Informationsverarbeitung<br />

16<br />

Prozess Funktion Speicher<br />

encodierung (1) Transformation eines externen<br />

physikalischen Stimulus in einen<br />

internalen Code<br />

Schnittstelle zwischen sensorischer<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

Kurzzeitgedächtnis<br />

Repräsentation (2) Aufrechterhaltung eines Codes Innerhalb des Kurzzeitgedächtnisses<br />

Wiederfinden (3) Suche nach bereits gespeicherten<br />

Informationen<br />

Vergleich (4) Beurteilung der Ähnlichkeit<br />

zweier Stimuli<br />

Ausdruck (Expression) (5) Transformation eines internalen<br />

Codes in einen beobachtbaren<br />

Output wie Sprache oder<br />

Handeln<br />

(Quelle: Bauer et al. 1998: 6)<br />

Schnittstelle zwischen Kurz-<br />

<strong>und</strong> langzeitgedächtnis<br />

Innerhalb des langzeitgedächtnisses<br />

Schnittstelle zwischen langzeitgedächtnis<br />

<strong>und</strong> Verhaltensebene<br />

Die physikalischen eigenschaften eines visuellen Stimuli werden zuerst in einen<br />

bildlichen Code umgewandelt (1). erst derart ist ein Reiz dem Kurzzeitgedächtnis<br />

zugänglich (2). Ausgehend vom Kurzzeitgedächtnis wird eine Abstimmung mit<br />

bereits gespeicherten Informationen vorgenommen, um vorhandene Gedächtnisspuren<br />

zu aktivieren (3). Der <strong>Bild</strong>code wird dabei stabilisiert, um ihn in das langzeitgedächtnis<br />

zu integrieren. Um die kognitive Verarbeitung der Informationen<br />

in beobachtbares Verhalten zu überführen, wird von der Ausdrucksfähigkeit (5)<br />

Gebrauch gemacht. Dieses Prozessmodell der Informationsverarbeitung gibt nur<br />

einen idealtypischen <strong>und</strong> sehr abstrakten Überblick über die Prozesshaftigkeit<br />

von Rezeptions-, Konsolidierungs- <strong>und</strong> Rekonstruktionsvorgängen im Gehirn.<br />

Wie genau visuelle Reize bzw. Informationen darin verarbeitet werden, geht<br />

daraus nicht hervor. Vor allem kann damit die Überlegenheit von <strong>Bild</strong>ern noch<br />

nicht erklärt werden. Betrachten wir also im Folgenden zwei konkurrierende Informationsverarbeitungstheorien,<br />

die genau dies versuchen. Dabei stehen sich<br />

– prototypisch <strong>und</strong> paradigmatisch – erstens die Theorien analoger Informationsverarbeitung<br />

<strong>und</strong> zweites die Theorien propositionaler Informationsverarbeitung<br />

gegenüber.<br />

erstens: Theorien analoger Informationsverarbeitung<br />

Dieses theoretische Paradigma lässt sich bis zu den griechischen Atomisten<br />

(Demokrit) zurückverfolgen. Sie entwickelten eine ikonische Abbildtheorie, die<br />

besagt, dass reale Objekte materielle Abbilder „ausstrahlen“, die über die Sinnesorgane<br />

in das Gehirn gelangen. Kern dieser Abbildtheorie ist die Annahme<br />

einer konkreten Analogiebeziehung zwischen Objekt <strong>und</strong> Abbild (vgl. Kosslyn<br />

1994). Analogie bedeutet in diesem Zusammenhang: Das Abbild ist zwar vom<br />

Objekt verschieden, dennoch von ihm abhängig. Ohne Objekt kein Abbild. Das


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

Abbild ist eine objektive Eigenschaft der Materie, nicht aber die Materie selbst<br />

(Nöth 1985). 1<br />

Neuere Theorien der analogen Informationsverarbeitung gehen weiter, indem<br />

sie die ikonische Abbildtheorie um linguistische Aspekte erweitern. Sie behaupten,<br />

dass mentale (bildliche oder sprachliche) Vorstellungen bestimmte Stimuli<br />

in strukturerhaltender Weise abbilden (Steiner 1988). Dies ist gleichzeitig eine<br />

Abschwächung wie auch eine Weiterentwicklung der Gr<strong>und</strong>aussage der Theorie<br />

analoger Informationsverarbeitung. Was bedeutet es, wenn visuelle Reize<br />

in strukturerhaltender Weise erhalten werden? Es bedeutet, dass es sich bei der<br />

inneren Repräsentation nicht um ein kleines Abbild der äußeren Wirklichkeit<br />

handelt, sondern dass zwischen den eigenschaften der äußerern Gegebenheiten<br />

in der internalen (inneren) Repräsentation eine Analogie besteht. Zwischen<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Vorstellen bzw. zwischen äußerer <strong>und</strong> innerer Welt gibt es<br />

einen Zusammenhang, der nun jedoch komplexer modelliert wird als nur über<br />

die „Verkleinerung“ des großen Abbildes als inneres Vorstellungsbild. Innere visuelle<br />

Vorstellungen stehen in einem Analogieverhältnis zu externalen Gegebenheiten,<br />

die sie isomorph abbilden (Hänggi 1989: 16). Isomophie ist eine andere<br />

Formulierung für strukturerhaltende Abbildung. Solche isomorphen, strukturerhaltenden<br />

Merkmale können sein: Informationen über räumliche Ausdehnung,<br />

figurale Anordnung, Kombination <strong>und</strong> Orientierung (Betrachtungswinkel) von<br />

elementen, visuelle eigenschaften wie Farbe, Struktur oder Kontrast. Paivio (1971,<br />

1983, 1986) gilt als der bekannteste Vertreter der analogen Informationsverarbeitungstheorie.<br />

er geht von zwei funktional unabhängigen, aber miteinander interagierenden<br />

Kodierungssystemen aus <strong>und</strong> behauptet, dass es ein sprachliches <strong>und</strong><br />

ein visuelles (imaginales) System gibt. Hier findet sich ein Erklärungsansatz für<br />

die Überlegenheitswirkung von <strong>Bild</strong>ern, denn Text wird hauptsächlich im sprachlichen<br />

System verarbeitet <strong>und</strong> aufbewahrt. <strong>Bild</strong>er werden – umgekehrt – hauptsächlich<br />

im imaginalen System verarbeitet <strong>und</strong> gespeichert. Gleichzeitig werden<br />

sie jedoch als „teilweise verbalisierte Kopie“ auch im verbalen System abgelegt.<br />

Die einzige Ausnahme, die seine Theorie enthält, bestätigt seine Gr<strong>und</strong>annahme<br />

zugleich: Anschauliche Textteile werden ebenfalls visualisiert <strong>und</strong> somit in das<br />

imaginale Kodierungssystem überführt werden.<br />

Das Prinzip der „doppelten Kodierung“ bedeutet, dass prinzipiell Text <strong>und</strong> faktisch<br />

<strong>Bild</strong>er zweifach gespeichert werden. Hieraus ließe sich dann mühelos der<br />

„picture-superiority-effekt erklären: <strong>Bild</strong>er können stets aus zwei unabhängigen,<br />

aber miteinander interagierenden Gedächtnissystemen abgerufen werden (vgl.<br />

dazu auch Ballstaedt/Molitor/Mandl 1986), Texte werden nur aus einem Speichersystem<br />

rekapituliert. Dies wäre in der Tat eine plausible erklärung für die<br />

größere Effizienz des imaginalen Codes.<br />

1 Platon veranschaulichte die Analogiebeziehung mit der Metapher des Wachstabletts: Internale (innere)<br />

Repräsentationen seien mit den eindrücken eines Siegelrings im Wachs vergleichbar. Hieraus<br />

leitet sich übrigens auch der Begriff Imagery ab.<br />

17


STeFAN SelKe<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass <strong>Bild</strong>er nach der Theorie der analogen<br />

Informationsverarbeitung deshalb (im Vergleich zur Sprache) so wirksam sind,<br />

weil visuelle Reize 1. anders verarbeitet, 2. doppelt gespeichert <strong>und</strong> 3. häufig in<br />

Form von Verknüpfungen abgerufen bzw. erinnert werden. Das Problematische<br />

an dieser Theorie soll hier bezogen auf unsere eigenen <strong>Bild</strong>wirkungstests skizziert<br />

werden: Die Affinität, in <strong>Bild</strong>ern zu denken, wäre dann aber eine intervenierende<br />

Variable bei Recalltests, d.h. man müsste im Samplingprozess die Affinität<br />

zu bestimmten Denkstilen erfragen (z.B. darüber, wie sich Personen eine Wegbeschreibung<br />

merken, sich auf einen Test vorbereiten, über ein Buch sprechen<br />

o.ä.). Die Verbalizer (Personen, die einen sprachlichen Denkstil bevorzugen) <strong>und</strong><br />

Visualizer (Personen, die bevorzugt in <strong>Bild</strong>ern denken) wären dann als getrennte<br />

Kontrollgruppen zu behandeln. Stimmt die Theorie der analogen Informationsverarbeitung,<br />

dann ist dies deshalb wichtig, weil ansonsten nicht festgestellt werden<br />

kann, ob die Varianz in den Untersuchungsergebnissen aus der unterschiedlichen<br />

Güte von <strong>Bild</strong>ern oder Plakaten herrührt oder aus den unterschiedlichen,<br />

schon vor dem Test vorhandenen <strong>und</strong> generell wirksamen Informationsverarbeitungsmodi<br />

der Testpersonen. Diese Informationsverarbeitungsmodi sind in der<br />

Sprache der empirischen Sozialforschung eine intervenierende Variable.<br />

Zweitens: Theorien propositionaler Informationsverarbeitung<br />

Den Theorien analoger Informationsverarbeitung stehen theoretische Positionen<br />

gegenüber, die sich nicht unmittelbar auf die strukturerhaltenden Merkmale des<br />

visuellen Vorstellens beziehen. Sie werden deshalb als Theorien propositionaler<br />

Informationsverarbeitung oder strukturelle Beschreibungstheorien bezeichnet<br />

(Hänggi 1989). Hierbei lautet die Kernannahme, dass die von der Außenwelt replizierten<br />

<strong>und</strong> die intern generierten Informationen symbolisch in einem einheitlichen<br />

Format für <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Sprache repräsentiert werden, womit auch gesagt<br />

wird, dass mentale Repräsentationen sich gr<strong>und</strong>sätzlich von der realen Wahrnehmung<br />

unterscheiden (Mecklenbräuker et al. 1992, Farah 1988). Informationen<br />

würden, so die Vertreter dieses Paradigmas, in Bedeutungseinheiten (Propositionen)<br />

gespeichert, als abstrakte Darstellungen, die Wahrheitsgehalt haben <strong>und</strong><br />

untereinander über „Verknüpfungsregeln“ organisiert sind. In ihrer Abstraktheit<br />

stehen dieses Bedeutungseinheiten jenseits des sprachlichen <strong>und</strong> visuellen Bereichs<br />

– sie sind amodale symbolische Wissensrepräsentationen (Ballstaedt et<br />

al. 1986). Propositionen entziehen sich also wegen ihres amodalen Charakters<br />

dem sprachlichen <strong>und</strong> visuellen Ausdrucksvermögen. Sie sind eher als „Eigenschaftslisten“<br />

vorstellbar, wobei dann einige in Bezug auf ein wahrgenommenes<br />

Objekt zutreffen oder nicht. Diese möglichen Eigenschaften sind untereinander<br />

logisch verknüpft, weshalb man auch von „konzeptioneller Wissensrepräsentation“<br />

(Mecklenbräuker et al. 1992) spricht.<br />

Der Single-Code-Ansatz der propositionalen Informationsverarbeitung radikalisiert<br />

dann auch das Verständnis visueller Kommunikation: <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Sprache,<br />

18


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

so Pylyshyn (1981) können jeweils in die andere Dimension konvertiert werden.<br />

Letztlich entsteht eine sog. „Interlingua“. Wie aber kann dieser interne Code der<br />

Speicherung <strong>und</strong> Verarbeitung von Informationen in Form von Bedeutungseinheiten<br />

die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern erklären? Konzeptionelle Repräsentationen<br />

können schneller aktiviert werden als Wörter, da <strong>Bild</strong>er in der Regel bedeutungshaltiger<br />

sind bzw. weil sich eine zusätzliche phonemische Analyse wie bei der<br />

Sprache erübrigt.<br />

Auch für diese Theorie sprechen einige empirische Bef<strong>und</strong>e, die zeigen, dass es<br />

Asymmetrien zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> internaler Repräsentation gibt. Vorgestellte<br />

Objekte scheinen bei näherer Betrachtung nicht einem „<strong>Bild</strong> im Kopf“<br />

zu entsprechen, sondern detailarm, verzerrt <strong>und</strong> zerlegt in bedeutungshaltige<br />

<strong>und</strong> bedeutungslose Details oder einheiten zu sein. <strong>Bild</strong>er werden besser erinnert,<br />

wenn sie etwas bedeuten, d.h. wenn sie interpretiert werden können, bzw.<br />

wenn ihre Bedeutung bekannt ist. erinnerung scheint also doch eher in Form<br />

konzeptueller Informationen oder abstrakter Bedeutungseinheiten zu funktionieren<br />

– für das Gedächtnis wäre dies zumindest ökonomischer. Andererseits<br />

entsteht hier ein Zirkularitätsproblem, da die abstrakten Konzepte wiederum aus<br />

eigenschaften bestehen, die erinnert werden müssen usf.<br />

In ihrer vergleichenden Analyse kommen Bauer et al. (1998: 15f.) dann zum ergebnis,<br />

dass das „Imagery-Phänomen, d.h. die Erfahrung, ein ‚<strong>Bild</strong> im Kopf’ zu<br />

haben, […] nicht geleugnet werden [kann]. Wenn wir ein Objekt betrachten, speichern<br />

wir typischerweise einige Eigenschaften in einer modalitätsspezifischen<br />

Weise, so z.B. die Maserung eines Holzstücks. Die Sinne scheinen das Tor zum<br />

Geist zu sein, das jede neue Information ‚passieren’ muss. Deswegen sind Gedächtnisinhalte,<br />

die nicht ursprünglich aus unserer Wahrnehmung erwachsen,<br />

schwer vorstellbar“.<br />

4 Zur Verhaltenswirksamkeit visueller Kommunikation<br />

Werbliche <strong>Bild</strong>kommunikation zielt auf Verhaltensbeeinflussung ab. Das Verhalten<br />

ändert sich infolge veränderter Denk- <strong>und</strong> Bewusstseinshaltungen. ein <strong>Bild</strong><br />

kann aber nur wirken, wenn es überhaupt wahrgenommen wird. letztendlich<br />

muss sich ein <strong>Bild</strong>motiv in einer von visuellen Reizen überfluteten Umwelt von<br />

anderen absetzen <strong>und</strong> dadurch durchsetzen. Wahrnehmung ist also die notwendige<br />

aber noch nicht hinreihende Bedingung für <strong>Bild</strong>wirksamkeit. In der Werberwirkungsforschung<br />

hat sich gezeigt, dass diejenigen <strong>Bild</strong>motive die größte<br />

Aufmerksamkeit erregen <strong>und</strong> am wirksamsten sind die die konkrete erlebnisse<br />

darstellen (s.o.) <strong>und</strong> damit konservieren (Dieterle 1992: 3). Darstellungen, die erlebnisse<br />

illustrieren, rufen beim Betrachter stärkere affektive Reaktionen hervor,<br />

die sich positiv auf die Informationsverarbeitung <strong>und</strong> -speicherung auswirken.<br />

Die Frage hierbei ist, welche Gefühle derart viel Aufmerksamkeit erzeugen, dass<br />

19


STeFAN SelKe<br />

sich dies verhaltenswirksam auswirkt. Kennt man die erlebnisdimensionen, die<br />

verhaltenswirksam sind, lässt sich die Werbung derart transformieren, dass sie<br />

„wirkungsvoller“ ist. Diese Betonung einer gleichsam intersubjektiv nachvollziehbaren<br />

Erlebnisorientierung muss jedoch nicht zwangsläufig auf eine Emotionalisierung<br />

hinauslaufen. Es kann sogar sein, dass die <strong>Bild</strong>motive eine „Emotionalisierung<br />

mit umgekehrtem Vorzeichen“ hervorrufen, weil sie sich nicht an den<br />

Bedürfnissen der Betrachter sondern an den Vorlieben der Produzenten orientieren.<br />

Tatsächlich werden <strong>Bild</strong>motive häufig nach (impliziten) Regeln gestaltet, die<br />

auf die intersubjektive Erlebnisorientierung verzichten. Vielmehr steht die Selbstbezogenheit<br />

der <strong>Bild</strong>produzenten im Vordergr<strong>und</strong>. Dies wird jedoch nur selten<br />

offen kritisiert, so z.B. von Dieterle (1992: 3f.): „Die überwiegende Mehrheit der<br />

in der Werbung verwendeten <strong>Bild</strong>motive ‚lässt den Betrachter bzw. Konsumenten<br />

kalt’, da diese Motive nicht auf Verhaltenswirksamkeit, sondern auf die individuellen<br />

Vorlieben des Kreativen oder des Auftraggebers ausgerichtet sind“. So ist es<br />

nicht eben verw<strong>und</strong>erlich, dass manche „Emotionalisierungsversuche“ fehlschlagen,<br />

da die <strong>Bild</strong>motive keine ausreichende psychologische Attraktivität (im Sinne<br />

von lebensweltlichen Anknüpfungspunkten) aufweisen. Zwischen Konsumenten<br />

<strong>und</strong> Werbern klaffen Abgründe. ergebnisse halbherziger Marktforschungen können<br />

– wenn sie denn überhaupt betrieben werden – nicht automatisch auf die<br />

Gestaltung von Plakaten übertragen werden. Was fehlt, ist ein empirisch verlässliches<br />

Testinstrument, das die Ergebnisse explorativer Einstellungstests direkt<br />

mit der wahrnehmungsleitenden Optimierung von <strong>Bild</strong>kommunikation in Verbindung<br />

setzt. es besteht also insgesamt eine Forschungslücke also im Bereich<br />

der Untersuchung verhaltenswirksamer <strong>Bild</strong>motive <strong>und</strong> der ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Argumentationsmuster.<br />

Verhaltenswirksame <strong>Bild</strong>motive – Begriffliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Verhaltenswirksamkeit im Rahmen von <strong>Bild</strong>werbung bedeutet, dass ein <strong>Bild</strong> 1.<br />

Aufmerksamkeit erregt, 2. es erinnerungsstark ist <strong>und</strong> 3. die im Motiv konservierten<br />

erlebnisse sich möglichst lebendig abrufen lassen. Diese Gr<strong>und</strong>begriffe<br />

sollen hier kurz erläutert werden.<br />

20<br />

• Aufmerksamkeit zielt auf die Aktivierung des Betrachters ab. Zur erzielung<br />

von Aufmerksamkeit stehen Sozialtechniken wie die Verwendung physisch<br />

intensiver, emotionaler oder überraschender Reize zur Verfügung (Kroeber-<br />

Riel 1988: 121-130; Bösel 1986). Die Anwendung von Sozialtechniken auf<br />

<strong>Bild</strong>kommunikation verfolgt den Zweck der Aufmerksamkeitsmaximierung.<br />

• Die erinnerungsstärke eines <strong>Bild</strong>es hängt von dessen Kapazität ab, innere<br />

<strong>Bild</strong>er zu erzeugen. Ziel von Werbung ist es, ein Wahrnehmungsbild in ein<br />

stabiles Gedächtnisbild zu überführen (Kroeber-Riel 1986: 81). Zur erzeugung<br />

innerer <strong>Bild</strong>er sollte das Wahrnehmungsbild konkret sein, der Inhalt<br />

sich durch thematische Klarheit <strong>und</strong> einmaligkeit auszeichnen. Dabei vereinfacht<br />

sich die Informationsverarbeitung durch affektive Reaktionen, d.h.


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

die erinnerungsstärke, der Abrufungsprozess, vollzieht sich über die Suche<br />

nach kongruenten „emotionalen Etiketten“.<br />

• Die lebendigkeit (vividness) beeinflusst die Verhaltenswirksamkeit am<br />

deutlichsten. Damit ein inneres <strong>Bild</strong> verhaltenswirksam wird, muss es „psychische<br />

Nähe“ besitzen (Kroeber-Riel 1986: 90).<br />

Wie korrespondieren diese leitbegriffe mit den Dimensionen von <strong>Bild</strong>wirkung,<br />

die wir oben vorgestellt haben. Aufmerksamkeit kann in spontane, d.h. unbewusste<br />

<strong>und</strong> bewusste Aufmerksamkeit zerlegt werden. einstellungsänderungen<br />

(Imagebildung) sowie lernen <strong>und</strong> erinnern (Gedächtniswirkungen) sind Ausdruck<br />

der erinnerungsstärke. Und Handeln (Verhaltenswirkungen) korrespondiert<br />

mit der lebendigkeit. Somit lässt sich das eine Kategoriensystem kongruent<br />

in das zweite überführen.<br />

Abb. 2: Dimensionen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>begriffe der <strong>Bild</strong>wirkung im Vergleich<br />

ebene der Verhaltenswirksamkeit<br />

Situativer Kontext <strong>und</strong> Medienselektion<br />

Dimension der <strong>Bild</strong>wirkung<br />

Aufmerksamkeit Aktivierung (spontane Aufmerksamkeit)<br />

Aufmerksamkeit (bewusste<br />

Aufmerksamkeit)<br />

erinnerungsstärke einstellungsänderungen<br />

(Imagebildung)<br />

lernen <strong>und</strong> erinnern (Gedächtniswirkungen)<br />

lebendigkeit Handeln (Verhaltenswirkungen)<br />

Wahrnehmungsselektion <strong>und</strong><br />

Aktivierung im Kurzzeitspeicher<br />

Anmutung <strong>und</strong> spontane Bewertung<br />

im Kurzzeitspeicher<br />

Kognitive Verarbeitung in<br />

lern- <strong>und</strong> Verhaltensprozessen<br />

(langzeitspeicher)<br />

Herausbildung von einstellungen<br />

<strong>und</strong> Images (langzeitspeicher)<br />

Handeln<br />

Dieterle (1992) Bauer et al. (1992) Naumann (2000)<br />

Naumann (2000) nimmt in seiner systematischen Darstellung der Methoden der<br />

Medienwirkungsforschung eine andere Systematisierung vor, deren Übertragbarkeit<br />

in den Kontext der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung nur begrenzt gegeben ist. Versucht<br />

man diese verschiedenen Klassifikationssysteme zu einer brauchbaren Synthese<br />

zusammen zu fassen, so bilden übergreifend die Schritte 1. kontextgeb<strong>und</strong>ene<br />

Selektion, 2. Differenzherstellung durch aufmerksamkeitsmaximierende Motivinhalte,<br />

3. qualitative Transformation (Überführung in stabile Gedächtnisbilder),<br />

4. intentionale Verarbeitungsprozesse <strong>und</strong> 5. intersubjektive, handlungsleitende<br />

21


STeFAN SelKe<br />

Erlebnisqualität die gr<strong>und</strong>sätzlichen Komponenten zur Rekonstruktion der Wirkung<br />

von <strong>Bild</strong>kommunikation. Werden sie beachtet, können derart gestaltete<br />

<strong>Bild</strong>er im Idealfall die objektive Wahrnehmung von Marken, Produkten, Unternehmen<br />

oder Personen nachhaltig verändern. Über die etablierung einer erlebniswelt<br />

lassen sich über die Scheinrealität der <strong>Bild</strong>er Erlebnisqualitäten erstellen<br />

bzw. manipulieren: „Das <strong>Bild</strong> manipuliert dabei die objektive Wahrnehmung der<br />

Marke, indem es dem Konsumenten emotionale Zusatzinformationen bietet, welche<br />

in einer für ihn nicht durchschaubaren Weise auf die entwicklung seines Gesamtausdrucks<br />

von der Anzeige bzw. dem Spot Einfluss nehmen“ (Dieterle 1992:<br />

7). <strong>Bild</strong>er haben, derart eingesetzt, einen „manipulativen Effekt“ (dazu z.B. Mitchell/Olson<br />

1981: 318ff.). Dieser verhaltenswirksame Einfluss innerer <strong>Bild</strong>er auf<br />

die Präferenzbildung sind jedoch enge Grenzen gesetzt. Grenzen, die durch die<br />

Technik des Neuromarketings in seiner momentanen Perfektionierung langsam<br />

aber sich noch ein Stück weiter in Richtung der etablierung verhaltenswirksame<br />

erlebniswelten verschoben werden.<br />

5 empirische Messung von <strong>Bild</strong>wirkungen<br />

Den oben genannten Ebenen der <strong>Bild</strong>wirkung können jeweils verschieden Methoden<br />

der <strong>Bild</strong>wirkungsmessung zugeordnet werden.<br />

Erste Ebene: Kontextgeb<strong>und</strong>e Selektion<br />

Hierunter fallen alle Methoden zur erfassung situativer Gegebenheiten <strong>und</strong> des<br />

erweiterten Kontextes der <strong>Bild</strong>kommunikation. Diese Ebene ist insbesondere<br />

dann wichtig, wenn es sich um Fragestellungen im Rahmen sozialwissenschaftlicher<br />

<strong>Bild</strong>gebrauchsanalysen handelt. Hierbei wird gefragt, wie sich die Kontexte<br />

<strong>und</strong> situativen Gegebenheiten des <strong>Bild</strong>gebrauchs auf die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern<br />

auswirken. In der Medienwirkungsforschung werden dabei a) direkte 2 von b)<br />

indirekten Methoden unterschieden. Eine direkte Abfrage zielt auf eine objektive<br />

Rekonstruktion der Situation, unabhängig von der Wirkung auf die Zielgruppe.<br />

Eine indirekte Abfrage versucht, die subjektiven, d.h. vor allem die psychologischen<br />

Wirkungen bei der eigentlichen Zielgruppe zu erfragen.<br />

2 Methoden zur Messung der Medienselektion können prinzipiell im Rahmen von <strong>Bild</strong>wirkungsanalysen<br />

eine Rolle spielen. Ziel ist es hierbei, herauszufinden, über welche Informationskanäle sich<br />

ein K<strong>und</strong>e/Verbraucher/Wähler etc. informiert. In der Mediaforschung werden dazu zahlreiche Daten<br />

zur Auswahl <strong>und</strong> zum Umgang mit Medien in Media-Analysen (MA) zusammengestellt <strong>und</strong><br />

veröffentlicht. Hierbei geht es vor allem um die Bestimmung der „Reichweite“ bestimmter Medien<br />

sowie der soziodemografischen Zusammensetzung der Nutzer.<br />

22


Zweite ebene: Herstellung von Differenzen<br />

Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

Die Messung der Aufmerksamkeitsstärke <strong>und</strong> das Aktivierungspotenzial eines<br />

<strong>Bild</strong>motivs lässt sich mit Hilfe der Aktivierungsmessung kontrollieren (so etwa<br />

Dieterle 1992: 8). Aktivierungsmessung kann dabei auf drei ebenen, der physiologischen,<br />

der subjektiven <strong>und</strong> der motorischen Ebene stattfinden (Kroeber-Riel<br />

1990b: 60).<br />

• Aktivierungsmessung auf der physiologischen ebene kann erfolgen durch<br />

Messung elektrophysiologischer (z.B. Hautreaktionen), viszerokortikaler<br />

(z.B. Blutdruck, Atmung) oder biochemischer Indikatoren. Neu hinzukommen<br />

die Möglichkeiten der sog. bildgebenden Verfahren. Die Vorteile der<br />

Aktivierungsmessung auf der physiologischen ebene liegen in der Ausschaltung<br />

von Störvariablen wie Auskunftsbereitschaft oder sprachliches Auskunftsvermögen<br />

einer Versuchsperson. Allerdings kann mit physiologischen<br />

Messmethoden weder die Richtung noch die Qualität des Reizes bestimmt<br />

werden, der eine körperliche Reaktion auslöst (Weinberg 1988: 46). letztlich<br />

sind hier Probleme auf der ebene der Validität vorhanden. Gerade aber diese<br />

Dimensionen sind für eine Wirkungsanalyse verhaltenswirksamer <strong>Bild</strong>motive<br />

von Interesse.<br />

• Messmethoden zur Bestimmung der Aktivierung auf der subjektiven ebene<br />

lassen sich nach verbalen <strong>und</strong> nichtverbalen Verfahren unterscheiden. Vorteil<br />

von verbalen Verfahren, z.B. in Form mündlicher oder schriftlicher Befragungen<br />

ist, dass sich damit Daten über die Richtung <strong>und</strong> den erlebnisgehalt<br />

emotionaler Reize erheben lassen. Andererseits können mit dieser Verfahrensgruppe<br />

keine unbewussten Emotionen erfasst werden, deren Existenz<br />

gemäß psychoanalytischer Forschungen als gesichert gelten darf (Zimbardo<br />

1983: 406). Zusätzlich besteht die Gefahr von Falschaussagen, oder abgemildert<br />

ausgedrückt: mangelnder Auskunftsbereitschaft sowie das Problem,<br />

dass sich das Antwortverhalten oft an soziale Normen anpasst (effekt der sozialen<br />

erwünschtheit). Zudem wird die Qualität von Befragungsergebnissen,<br />

durch die individuelle Sprachkompetenz der Versuchsperson eingeschränkt.<br />

Letztere Schwierigkeit kann jedoch durch Polaritätenprofil (semantisches<br />

Differential) vermieden werden. Nichtverbale Methoden zur erhebung subjektiver<br />

Aktivierung sind z.B. der Programmanalysator, die Magnitudenskalierung<br />

sowie <strong>Bild</strong>er- oder Farbskalen. Hiermit können emotionsaspekte<br />

erfasst werden, die nur bedingt sprachlich artikuliert (<strong>und</strong> aktiviert) werden<br />

können.<br />

• Auf der motorischen ebene schließlich kann die Beobachtung mimischer<br />

oder gestischer Ausdrucksmuster Auskunft über die emotionale Aktivierung<br />

geben. Der damit verb<strong>und</strong>ene Verfahrensaufwand steht jedoch meist nicht<br />

im Verhältnis zur Qualität der identifizierten Emotionen.<br />

23


STeFAN SelKe<br />

Zahlreiche Methoden zur Messung der Wahrnehmungsselektion versuchen zu<br />

rekonstruieren, wie eine (visuelle) Information in den Kurzzeitspeicher des Gehirns<br />

gelangen kann. Daneben gibt es Methoden zur Messung der allgemeinen<br />

Aktivierung (Involvements), z.B. durch direkte Verhaltensbeobachtung oder indirekte<br />

Befragung. Gefühle sind „schneller“ als die mit einem Reiz zusammenhängen<br />

Kognitionen (erkenntnisvorgänge). Daher spielt neben dem Involvement in<br />

den Methoden zur Messung der Anmutung der erste spontane eindruck, den eine<br />

Anzeige oder ein Produkt beim Konsumenten hinterlässt, eine zentrale Rolle. es<br />

ist notwendig diesen „ersten Eindruck“ zu untersuchen, weil der überwiegende<br />

Teil von Alltagshandlungen (darunter z.B. auch Käufe) unreflektiert vollzogen<br />

wird. Handeln ist nur scheinbar rational <strong>und</strong> wird eher von emotionalen Motiven<br />

ausgelöst. Gerade Werbebilder werden nur flüchtig <strong>und</strong> erst nach zahlreichen<br />

Kontakten bewusst wahrgenommen, so dass eine bewusste Zuwendung die erste<br />

Anmutung im Idealfall konkretisieren <strong>und</strong> präzisieren soll.<br />

Dritte ebene: Qualitative Transformation in stabile Gedächtnisbilder<br />

Bei den Verfahren zur Messung der quantitativen/qualitativen Skalierung des<br />

klar bewussten eindrucks geht es übergreifend darum, den Weg eines <strong>Bild</strong>es von<br />

der Perzeption hin zu einer handlungsleitenden Qualität nachzuverfolgen, d.h.<br />

die Transformation in stabile Gedächtnisbilder, in intentionale Verarbeitungsprozesse<br />

<strong>und</strong> letztlich in Verhaltensänderungen. Hierzu zählen Methoden zur<br />

Messung von lern- <strong>und</strong> Verhaltensprozessen. Am häufigsten werden dabei Recallmessungen<br />

angewendet. Hierbei werden die Versuchspersonen zuerst mit<br />

den zu testenden Informationen konfrontiert <strong>und</strong> danach dazu befragt, woran sie<br />

sich erinnern können oder ob sie eine bestimmte Vorlage erkennen können. Recalltests<br />

dienen als direkte Methode der Abfrage der erinnerungsstärke. Daneben<br />

dienen Recognitiontests zur Wiedererkennung einer bestimmten Vorlage. Sie liefern<br />

höhere Werte als Recalltests. In der literatur zu Recall- <strong>und</strong> Recognitiontests<br />

wird empfohlen, dass der Kontakt zwischen Versuchspersonen <strong>und</strong> Testinformationen<br />

am besten „biotisch“ erfolgen sollte. Ein Problem dieser Testform ist daher<br />

die Messung der erinnerungsstärke ohne Wechsel der Modalitätsebene. Wesentliches<br />

Kennzeichen für die Validität eines erinnerungstest ist die Operation auf<br />

derselben Modalitätsebene, d.h. die erinnerung an bildhafte Informationen sollte<br />

ebenfalls bildhaft erfolgen. Wird die Modalitätsebene beibehalten, können erinnerungsinhalte<br />

erfasst werden, die sich durch Recallmessungen nicht aktivieren lassen.<br />

Der Wechsel der Modalitätsebene ist umgekehrt einer der häufigsten Fehler<br />

bei Recall-Recognitiontests. Recalltests sind allerdings dann sinnvoll einsetzbar,<br />

wenn die Messung der erinnerungsstärke von verhaltenswirksamen <strong>Bild</strong>motiven<br />

unter laborbedingungen erfolgt, die ein hohes Maß an situativem Involement<br />

beinhalten.<br />

Um Aussagen über die erinnerungsstärke eines <strong>Bild</strong>es treffen zu können, ist<br />

zu überprüfen, welche bildlichen Detailinformationen tatsächlich abgespeichert<br />

24


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

wurden. Diese Prämisse ist Ausgangspunkt aller lern- <strong>und</strong> erinnerungstests.<br />

Dabei ist jedoch die Messung gespeicherter Informationen keineswegs unproblematisch.<br />

Die diversen Messverfahren liefern bei gleichen Bedingungen unterschiedliche<br />

ergebnisse (Krugmann 1985: 45ff.). Diese Methoden werden allgemein<br />

zur Überprüfung von Gedächtniswirkungen akzeptiert, jedoch hinsichtlich<br />

möglicher Aussagen bezogen auf Verhaltenswirkungen kritisiert (Blair 1987).<br />

Recallmessungen zu <strong>Bild</strong>ern sind besonders problematisch, da die unbewussten<br />

<strong>Bild</strong>verarbeitungsprozesse nur bedingt zu erfassen sind (Krugman 1977: 7ff.,<br />

1986: 83). Deshalb sind zur Überprüfung der erinnerungsstärke von <strong>Bild</strong>ern Recognitiontests<br />

zu bevorzugen (Krugman 1986: 85).<br />

Vierte ebene: Intentionale Verarbeitungsprozesse<br />

Zur Messung intentionaler Reizverarbeitungsprozesse werden Methoden zur<br />

Messung von Einstellungen/Images angewandt. Im quantitativen Bereich kommt<br />

hier z.B. das Polaritätenprofil zum Einsatz, im qualitativen Bereich projektive Fragen<br />

(im Gegensatz zu direkten Fragen), likes & Dislikes-Fragen, die sich nur auf<br />

die Extrempole einer möglichen Einstellung beziehen, assoziative Verfahren, Expertendelfis<br />

oder sog. Imagery-Messmethoden.<br />

Fünfte Ebene: Handlungsleitende Erlebnisqualität<br />

Zur Messung der lebendigkeit eignen sich insbesondere introspektive Verfahren,<br />

z.B. verbale Ratingskalen oder nonverbale <strong>Bild</strong>erskalen. Beide Verfahren können<br />

kombiniert werden. So zeichnet sich das von Marks (1973) entwickelte VVIQ (Vividness<br />

of Visual Imagary Questionnaire) durch Validität <strong>und</strong> Reliabilität aus. es<br />

umfasst eine fünfstufige Ratingskala mit 16 Items zur Einschätzung der Lebendigkeit<br />

innerer <strong>Bild</strong>er. Bipolare <strong>Bild</strong>erskalen haben demgegenüber den Vorteil,<br />

dass sie die „kognitive Kontrolle“ unterlaufen <strong>und</strong> so ansonsten schwer erfassbare<br />

Empfindungen erfasst werden können.<br />

Insgesamt weist Dieterle (1992: 12) darauf hin, dass es zwar eine ganze Palette<br />

an Verfahren zur Messung der Aktivierung, der erinnerungsstärke <strong>und</strong> der lebendigkeit<br />

von <strong>Bild</strong>ern gibt, in der Praxis jedoch aus forschungspragmatischen<br />

Gründen eine sinnvolle Auswahl aus diesem Angebot getroffen werden muss.<br />

Zusätzlich ist für eine empirisch f<strong>und</strong>ierte <strong>Bild</strong>wirkungsmessung die einhaltung<br />

der klassischen Gütekriterien der Sozialforschung zu beachten. Hierbei zeichnet<br />

sich schon jetzt ab, dass sich das Phänomen <strong>Bild</strong>, bzw. visuelle <strong>Bild</strong>kommunikation<br />

gegenüber diesen Gütekriterien (Reliabilität, Validität <strong>und</strong> Objektivität) sehr<br />

„sperrig“ verhält.<br />

25


STeFAN SelKe<br />

6 Bewusstheit visueller Kommunikation <strong>und</strong> Verhaltensänderung<br />

duch <strong>Bild</strong>er<br />

Bei der Messung von <strong>Bild</strong>wirkungen konnten bisher die ebenen Aufmerksamkeit,<br />

erinnerung <strong>und</strong> lebendigkeit unterschieden werden. Nun ist weiter zu fragen, ob<br />

<strong>und</strong> wie man die „verborgenen“ Bewusstseinsinhalte eines <strong>Bild</strong>betrachters analysiert.<br />

Wir können nicht angeben, bis zu welchem Grad sich die Verhaltenswirksamkeit<br />

von <strong>Bild</strong>ern letztlich auf diese unbewussten kognitiven Vorgänge stützt.<br />

Die Notwendigkeit, über die Bewusstheit visueller Kommunikation nachzudenken,<br />

besteht aber in jedem Fall. Hierbei sind Exkurse in verschiedene wissenschaftliche<br />

Disziplinen notwendig, die sich aus je unterschiedlicher Perspektive<br />

mit dem Über-Individuellen unserer erfahrungen <strong>und</strong> erlebnisinhalte auseinandersetzen.<br />

Bevor wir aber die Frage angehen können, wie unbewusst oder bewusst<br />

<strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wahrnehmung ist, müssen wir uns mit den Graden der Bewusstheit unseres<br />

menschlichen Verhaltens insgesamt beschäftigen. Menschliche Verhaltensmuster<br />

unterscheiden sich dabei nach der Art des Auslösers (interne Faktoren<br />

= Triebe, kognitive Prozesse oder externe Faktoren = Umweltreize), der Art der<br />

entstehung <strong>und</strong> Tradierung (biologische versus kulturelle evolution) sowie der<br />

Art der Bewusstheit (bewusst vs. unbewusst). Die Messung von <strong>Bild</strong>wirkungen<br />

zielt letztlich auf die methodische Isolierung von Differenzen ab. es geht nicht<br />

um Verhalten, sondern um Verhaltensänderung durch <strong>Bild</strong>er. Dabei ist zu fragen,<br />

welchen Determinanten eine Verhaltensänderung durch <strong>Bild</strong>er eigentlich<br />

unterliegt. Im Rahmen der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung muss die Frage beantwortet<br />

werden, durch welche Auslöser eine Änderung eines Verhaltens herbeigerufen<br />

wird. Die Determinanten der Verhaltensänderung werden von den verschiedenen<br />

wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich eingeschätzt.<br />

26<br />

• Triebtheoretische Ansätze (Psychoanalyse) gehen davon aus, das menschliches<br />

Verhalten auf unabhängige <strong>und</strong> starke innere Kräfte (Triebe, Instinkte)<br />

zurückzuführen (Freud 1933 Rensch 1965) ist. Hierbei wird erklärt, warum<br />

ein gleichartiger Reiz zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder bei unterschiedlichen<br />

Personen verschiedene Reaktionen auslöst – indem man interne,<br />

intervenierende Faktoren annimmt. Um Verhalten in dieser Perspektive<br />

zu erklären, muss nach „Symbolen des Unbewussten“ (in <strong>Bild</strong>ern) gesucht<br />

werden. Situativen Umwelteinflüssen wird zu wenig Beachtung geschenkt.<br />

So wird z.B. mit diesen Ansätzen nicht erklärt, wie etwa das Lernen, das ja<br />

definitiv mit Umwelteinflüssen zu tun hat, sich in Form von Verhaltensänderungen<br />

auswirkt.<br />

• Behavioristische Theorien postulieren hingegen, dass menschliches Verhalten<br />

vollständig durch Umweltreize determiniert ist. In dieser einstellung<br />

macht es dann Sinn, die Stärke von Reizen zu untersuchen <strong>und</strong> Reaktionen<br />

auf diese Reize dazu ins Verhältnis zu setzen. Der Behaviorismus vernachlässigt<br />

jedoch in extremer Weise kognitive Prozesse, da Menschen als umfassend<br />

fremd gesteuerte Wesen betrachtet werden.


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

• Kognitivistische Ansätze versuchen Individuen als relativ unabhängig von<br />

äußeren Situationsfaktoren, also Trieben <strong>und</strong> Reizen, zu verstehen. Menschen<br />

haben in dieser einstellung einsicht in ihr Handlungspotential, sie<br />

können ihr Verhalten selbst regulieren <strong>und</strong> ihr leben eigenständig mit Sinn<br />

füllen. Innerhalb des kognitivistischen Paradigmas sind die Determinanten<br />

der Verhaltensänderung durch offene Befragungen zu rekonstruieren. Aktive<br />

Informationsverarbeitungs- <strong>und</strong> Sinngebungsprozesse können so plausibel<br />

gemacht werden. Übersehen wird jedoch dabei, wie sich Bedürfnisse, Stimmungen<br />

etc. sich auf genau dieses Informationsmanagement auswirken. Der<br />

freie Wille <strong>und</strong> die Rationalität von entscheidungen, die diesem Paradigma<br />

zu Gr<strong>und</strong>e liegen, müssen durch die neuesten ergebnisse der Neurobiologie<br />

zudem stark in Zweifel gezogen werden.<br />

Insgesamt kann jeder theoretische Ansatz bzw. jedes Paradigma mit seinem spezifischen<br />

Menschenbild nur je einen Ausschnitt menschlichen Verhaltens erklären.<br />

Im Allgemeinen ergibt sich menschliches Verhalten aus einer Kombination<br />

unterschiedlicher Determinanten. eine Wirkungsmessung von verhaltenswirksamen<br />

<strong>Bild</strong>ern muss zwischen bewusstem <strong>und</strong> unbewusstem Verhalten unterscheiden.<br />

Der Zustand „Bewusst“ umfasst dabei gr<strong>und</strong>legend zwei Aspekte, die<br />

im Rahmen von <strong>Bild</strong>wirkungstests differenziert werden <strong>und</strong> auf der ebene der<br />

Operationalisierung beachtet werden müssen.<br />

• Bewusstheit (awareness) meint hierbei die Fähigkeit, ereignisse <strong>und</strong> Vorgänge<br />

bezogen auf eine Umwelt oder den eigenen Organismus im „Hier<strong>und</strong>-Jetzt“<br />

der eigenen Lebenswelt wahrzunehmen <strong>und</strong> dementsprechend zu<br />

reagieren.<br />

• Bewusstsein (consciousness) umfasst die subjektive Bewertung <strong>und</strong> Reflektion<br />

des bewusst erlebten. Festzuhalten ist ebenfalls, dass Bewusstheit eine<br />

notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Bewusstsein ist.<br />

Das „Unbewusste“ umfasst im Kontrast dazu psychische Prozesse, die einer<br />

konkret entäußerbaren Reflektion verschlossen bleiben. Selbst bewusstes Nachdenken<br />

oder bewusste Willensanstrengungen können dem Bewusstsein das Unbewusste<br />

nicht zugänglich machen. Diese Tatsache hat weit reichende Auswirkungen<br />

auf <strong>Bild</strong>wirkungstests: „Die unbewussten psychischen Prozesse steuern<br />

in weiten Bereichen das menschliche Verhalten, dies sollte in der Analyse von<br />

Verhaltensmustern berücksichtigt werden“ (Dieterle 1992: 27).<br />

Der Stellenwert von <strong>Bild</strong>ern in der Triebtheorie <strong>und</strong> Kulturwissenschaft<br />

ein Trieb oder ein Bedürfnis hat eine interne Quelle. er ist geknüpft an einen somatischen<br />

Vorgang in einem Organ oder Körperteil. Dies wäre die physiologische<br />

Komponente des Triebes. Aufgr<strong>und</strong> des physiologischen Ursprungs sind Triebe<br />

(entgegen der landläufigen Meinung) unabhängig von Außenreizen, sie entstehen<br />

intern <strong>und</strong> müssen intern befriedigt werden. Dabei ist nicht der Trieb selbst,<br />

27


STeFAN SelKe<br />

sondern sind die Triebrepräsentanzen Gegenstand des Bewusstseins. Hiermit<br />

sind Vorstellungen <strong>und</strong>/oder Phantasien gemeint. Im Unbewussten wird der<br />

Trieb durch diese Triebrepräsentanzen abgebildet. Nur auf Basis dieser Vorstellungen<br />

kann der Trieb in das Bewusstsein gelangen. Kann ein Trieb aufgr<strong>und</strong> von<br />

Dissonanzen mit moralischen, ethischen oder normativen Bedingungen nicht<br />

befriedigt werden, beginnt ein psychischer Vorgang der Abwehr, d.h. die Triebrepräsentanzen<br />

müssen unabänderlich in das Unbewusste abgelegt werden. Im<br />

Positivfall ist das Ziel jedoch die „lustvolle“ Triebbefriedigung, die zu einer Veränderung<br />

des mit dem Trieb verb<strong>und</strong>enen erregungszustandes führt. Das Mittel,<br />

um zu dieser Triebbefriedigung zugelangen, ist das Triebobjekt, das nicht mit<br />

der Triebrepräsentanz verwechselt werden darf! Nach Freud ist das Triebobjekt<br />

die variabelste Komponente des Triebes, d.h. ein Objekt ist nicht an einen Trieb<br />

geb<strong>und</strong>en, sondern eignet sich nur in mehr oder weniger typischer Weise zur<br />

Befriedigung eines Triebes.<br />

<strong>Bild</strong>er in der Werbung können im Idealfall die darauf abgebildeten Objekte zu<br />

Triebobjekten machen, wenn die Erlebnisqualitäten der Abbildung den psychischen<br />

Triebrepräsentanzen eines Triebes entsprechen. In diesem Fall würde<br />

das <strong>Bild</strong> sicher am wirkungsvollsten sein. Umgekehrt ist im Rahmen von <strong>Bild</strong>wirkungsstudien<br />

zu fragen, welche möglichen Triebrepräsentanzen aus Sicht der<br />

Betrachter in einem <strong>Bild</strong>motiv wahrgenommen werden.<br />

Die Theorie des Unbewussten auf Basis der Psychoanalyse ist nur eine Möglichkeit,<br />

die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern zu erklären. es liegt vielleicht näher, sozialwissenschaftliche<br />

bzw. kulturanthropologische Theorien zu Rate zu ziehen, was hier<br />

abschließend getan werden soll. Dabei geht man davon aus, dass die Verhaltenswirksamkeit<br />

von <strong>Bild</strong>motiven an symbolische <strong>und</strong> intersubjektiv verständliche<br />

Sinnformeln geb<strong>und</strong>en ist. Im Rahmen der Kulturanthropologie wird behauptet,<br />

dass individuelle Verhaltensweisen von kulturspezifischen symbolischen Sinnformeln<br />

(den sog. transkulturellen Verhaltensuniversalien) überformt werden, die<br />

als eine Art „kulturelle Fixpunkte“ (Tiger/Fox 1973: 23) fungieren <strong>und</strong> unser Verhalten<br />

in seinen Möglichkeitsformen einschränken. Symbolische Sinnformeln<br />

sind die operationalisierbaren Inhalte des Konstrukts Kultur. Sie überformen das<br />

Wissen des Einzelnen, sie nehmen Einfluss auf sein Tun <strong>und</strong> Lassen. Im Rahmen<br />

von sozialen lernprozessen werden solche symbolischen Sinnformeln angeeignet.<br />

In jeder Gesellschaft lernen Individuen, flüchtige Informationen durch<br />

begriffliches Denken zu objektivieren <strong>und</strong> schafft sich so eine allgemein verständliche<br />

Sammlung von Symbolen. Das daran geb<strong>und</strong>ene Wissen ist dann objektunabhängig,<br />

es lässt sich durch soziale Diffusionsprozesse tradieren bzw. vererben.<br />

Individuelles Wissen wird dabei institutionalisiert, d.h. in typisierte Routinen <strong>und</strong><br />

Rituale überführt, die allgemeinverständliche Hintergr<strong>und</strong>folien zur Gestaltung<br />

des Alltags, zur Bewältigung konkreter Handlungssituationen <strong>und</strong> zur Deutung<br />

der Wirklichkeit darstellen. Diese objektivierten <strong>und</strong> institutionalisierten Wissensbestände<br />

müssen jedoch legitimiert werden, damit sie wirksam bleiben. Le-<br />

28


Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann<br />

gitimation geschieht durch die „Beilegung“ von Sinn. Zu diesem Zweck sind also<br />

symbolische Sinnformeln notwendig, die allgemein zugänglich <strong>und</strong> verständlich<br />

sind. Sinnformeln basieren dabei hauptsächlich auf sog. atheoretischem Wissen,<br />

d.h. Moralvorstellungen, Werten, Glaubensgr<strong>und</strong>sätzen, Sprichwortweisheiten,<br />

Mythen, Märchen, legenden, Riten etc. (Berger/luckmann 1987: 56ff.). Derart<br />

formt sich die eigene Sicht auf die Wirklichkeit, das eigene Weltbild, aus.<br />

Symbolische Sinnformeln legitimieren also die wissensbasierten Institutionen<br />

einer Kultur. Dies tun sie meist bildhaft. Symbolische Sinnformeln kleiden ihre<br />

Aussagen oft in <strong>Bild</strong>motive, wodurch sich ansonsten abstrakte ethische Prinzipien<br />

besser, d.h. wirksamer darstellen lassen. es ist bemerkenswert, dass unterschiedliche<br />

Kulturen sehr ähnliche symbolische Sinnformeln ausweisen. Als erklärung<br />

für diese Universalität der Motive können die angeborenen Triebe <strong>und</strong> Bedürfnisse<br />

angeführt werden, die es im Kontext kultureller <strong>und</strong> sozialer Ordnung zu<br />

kanalisieren gilt. Im Zusammenhang zwischen erlebnisbetonter Gestaltung von<br />

<strong>Bild</strong>motiven in der Werbung <strong>und</strong> der Verhaltenswirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern kann<br />

der Wert symbolischer Sinnformeln erkannt werden. „Als visuelle Operationalisierung<br />

von symbolischen Sinnformeln sind solche <strong>Bild</strong>motive allgemein verständlich<br />

<strong>und</strong> verfügen über einen Bedeutungsgehalt, der sich auf Probleme des<br />

menschlichen Daseins gründet <strong>und</strong> somit eine (fast) uneingeschränkt gültige<br />

Aktualität besitzt“ (Dieterle 1992: 50). Hieraus lässt sich als Aufgabe für eine empirische<br />

<strong>Bild</strong>wirkungsforschung die Rekonstruktion <strong>und</strong> Systematisierung dieser<br />

symbolischen Sinnformeln ableiten. Zu fragen ist also, welche (formoffenen) Basismotive<br />

es eigentlich gibt <strong>und</strong> wie diese jeweils kontextbezogen in eine Form<br />

gebracht werden. Zu fragen ist weiter, inwieweit es den <strong>Bild</strong>betrachtern eigentlich<br />

bewusst ist, dass sie nicht auf ein konkretes Motiv sondern auf eine typische Sinnformel<br />

reagieren.<br />

7 Zusammenfassung<br />

In diesem Beitrag wurden gr<strong>und</strong>legende Prämissen <strong>und</strong> Prinzipien einer empirischen<br />

<strong>Bild</strong>wirkungsforschung vorgestellt. Der Überlegenheitseffekt von <strong>Bild</strong>ern<br />

wurde anhand einer vergleichenden Darstellung von Theorien der Informationsverarbeitung<br />

visueller Reize näher erläutert. Auf dieser Basis konnten dann<br />

verschiedene Messmethoden vorgestellt werden, die versuchen, einzelne Dimensionen<br />

von <strong>Bild</strong>wirkung empirisch zu erfassen. Keine dieser Methoden kann als<br />

allgemeingültig eingeschätzt werden. Weiterhin stand der Aspekt der Unbewusstheit<br />

im Mittelpunkt der Diskussion. Hier zeigte sich eine gr<strong>und</strong>sätzliche <strong>und</strong><br />

auch mit den ausgefeiltesten Methoden kaum auflösbare Ambivalenz: Einerseits<br />

machen gerade die Anteile unbewusster Wahrnehmung <strong>und</strong> Verarbeitung den<br />

Reiz des Visuellen aus, andererseits ist genau dieser Anteil per definitionem nicht<br />

messbar. Daher ist abschließend festzustellen, dass lediglich ein sensibler Umgang<br />

mit dem Wissen um die prinzipielle Undarstellbarkeit für die Konzeption<br />

von Testinstrumenten hilfreich ist. Alles andere ist pure Illusion.<br />

29


STeFAN SelKe<br />

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32


STeFAN SelKe<br />

Rekonstruktive Sozialforschung online<br />

Qualitative <strong>Bild</strong>analyse-Chats mit der Open Source Software<br />

VeraICON<br />

1 Rekonstruktion kommunikativer <strong>Bild</strong>wirkungen durch Online-<br />

Gruppendiskussionen<br />

<strong>Bild</strong>er haben eine spezifische Anschaulichkeit bzw. Potenzialität im Deutungsprozess<br />

individueller <strong>und</strong> kollektiver Wirklichkeiten. Unter allen Kommunikationsmedien<br />

kommt ihnen eine herausragende Bedeutung zu, da sie extrem bedeutungsoffen<br />

<strong>und</strong> damit anfällig für Kontextualisierungen sind.<br />

Zuletzt hat der Streit um die massenmediale Veröffentlichung von Karikaturen<br />

des Propheten Mohammed deutlich gemacht, wie intensiv das evokationspotenzial<br />

von <strong>Bild</strong>ern ausgeprägt ist. Im Fall der Karikaturen kann sogar behauptet<br />

werden, dass diesen <strong>Bild</strong>ern eine unmittelbare handlungsleitende Funktion zukommt.<br />

Sie regen nicht nur die Kommunikation über die Inhalte der <strong>Bild</strong>er an,<br />

sie aktivieren auch Handlungen als Reaktion auf die <strong>Bild</strong>motive. Auch „alltäglichere“<br />

<strong>Bild</strong>sorten – private Fotos, Werbefotografien, Wahlplakate – sind von derartigen<br />

handlungsleitenden Wirkungen betroffen.<br />

Genau diese Kausalkette von Wahrnehmung, Selbstdeutung, Kommunikation<br />

über <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> daraus resultierenden Handlungen steht im Mittelpunkt des Kon-<br />

35


STeFAN SelKe<br />

zepts zu Online-Gruppendiskussionen mit visuellen Stimuli, kurz: VeraICON.<br />

Dabei geht es darum, die Wirksamkeit von <strong>Bild</strong>ern empirisch nachzuweisen, indem<br />

ein entsprechendes Testverfahren entwickelt, erprobt <strong>und</strong> angewandt wird.<br />

Der folgende Beitrag beschreibt daher skizzenhaft das Konzept der Open Source<br />

Software VeraICON, die es ermöglicht, Online-Gruppendiskussionen, sog. qualitative<br />

<strong>Bild</strong>analyse-Chats, durchzuführen <strong>und</strong> stellt gr<strong>und</strong>legende Überlegungen<br />

zu diesem Verfahren vor.<br />

2 Reden über <strong>Bild</strong>er als kommunikative Gattung<br />

Wir alle sind gewohnt, über <strong>Bild</strong>er zu kommunizieren. Dies betrifft sowohl <strong>Bild</strong>er<br />

im privaten <strong>Raum</strong> (Familienfotos etc.), <strong>Bild</strong>er im öffentlichen <strong>Raum</strong> (Werbefotos,<br />

Plakate) als auch <strong>Bild</strong>er, die in andere Medien eingebettet sind (Pressefotos,<br />

Anzeigenfotos, etc.). Alle Formen der Kommunikation über <strong>Bild</strong>er finden sozial<br />

eingebettet im Alltag statt. Jedoch können diese Alltagskontexte, in denen <strong>Bild</strong>bedeutungen<br />

kommunikativ hergestellt werden, können aufgr<strong>und</strong> ihrer Dislokalität<br />

<strong>und</strong> Komplexität unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten kaum je<br />

erforscht werden. Deshalb wird hier die Frage verfolgt, ob es möglich ist, online<br />

über <strong>Bild</strong>er zu kommunizieren <strong>und</strong> damit die diskursive Wirkung von <strong>Bild</strong>ern<br />

empirisch f<strong>und</strong>iert zu rekonstruieren.<br />

Die Wissenssoziologie bietet sich für ein deratiges Vorgehen als leitparadigma<br />

an, fragt sie doch im Kern, wie gesellschaftliche Wirklichkeit sozial, kommunikativ<br />

<strong>und</strong> interaktiv konstruiert wird (gr<strong>und</strong>legend dazu Berger/luckmann 1997).<br />

Individuelle Erkenntnisprozesse sind immer in soziale Kontexte <strong>und</strong> vorgängige<br />

Wissenshorizonte <strong>und</strong> erfahrungsbedingungen eingebettet. Die Wissenssoziologie<br />

bezeichnet diesen Umstand mit „Sozialität des Wissens“. Die Sozialität von<br />

Wissen <strong>und</strong> erkennen ist die zentrale These <strong>und</strong> das Kernthema der Wissenssoziologie:<br />

„Wissen […] ist eine Funktion des Sozialen. […] Die Gesellschaft ist<br />

nicht nur ein Gegenstand des Wissens, sie geht konstitutiv in das Wissen mit ein“<br />

(Knoblauch 2006: 17ff.). Dies bedeutet aber auch, dass Gruppenstrukturen als<br />

Konkretion der „Sozialität“ das typologisierende Denken <strong>und</strong> die konsenssuchende<br />

Meinungsbildung fördern. Dieser „Common Sense“ ist kein „Abfallprodukt“<br />

sozialer Prozesse sondern vielmehr als integrativ für die Sozialstruktur einer Gesellschaft<br />

anzusehen.<br />

Der wichtigste Mechanismus zur erzeugung von Konsens <strong>und</strong> Integration ist dabei<br />

die Sprache. Wirklichkeit, dies zeigen einschlägige Studien (Knoblauch 1995,<br />

1996) zur Konstitution unterschiedlichster Mileus <strong>und</strong> deren „Objektivität“, wird<br />

hauptsächlich kommuniktiv erzeugt. In Bereich der qualitativen Sozialforschung<br />

spricht man dann von sog. „Kommunikativen Gattungen“ (Knoblauch/Luckmann<br />

2000). In der gemeinsamen Kommunikation bildet sich eine intersubjektive<br />

Wirklichkeit aus. Diese kann, von außen betrachtet, komplett irrational wirken,<br />

36


Rekonstruktive Sozialforschung online<br />

ist jedoch für die Teilnehmer der Kommunikation verbindlich <strong>und</strong> selbstverständlich.<br />

Hier gilt in jedem Fall das Thomas-Theorem: „What man defines as real, is<br />

real in his consequences“.<br />

Wie lässt sich nun die Kommunikation über <strong>Bild</strong>er in diesen Kontext einordnen?<br />

Hierbei stellt sich die Frage, wie sich die <strong>Bild</strong>sprache mit der Sprache über <strong>Bild</strong>er<br />

verhält. Hierbei lautet die Forschungsfrage: Wie kann man die Wirkung von<br />

<strong>Bild</strong>ern rekonstruieren, indem man die Kommunikation über diese <strong>Bild</strong>er interpretiert?<br />

<strong>Bild</strong>er, so die Kernthese, sind immer mit kollektiven Sinnbildungsprozessen<br />

verb<strong>und</strong>en (vgl. auch Michel 2003), die methodisch rekonstruiert werden<br />

können.<br />

3 <strong>Bild</strong>bedeutung als ergebnis aktiver Sinngenerierungsprozesse<br />

epistemologischer Ausgangspunkt von VeraICON ist die einsicht, das bedeutungsvolle<br />

Aussagen über <strong>Bild</strong>er nur vor dem Hintergr<strong>und</strong> variabler <strong>und</strong> aktiver<br />

Sinngebungsprozesse real agierender Betrachter in sozialen <strong>und</strong> kommunikativen<br />

Kontexten entstehen. Diese genuin wissenssoziologische Perspektive auf <strong>Bild</strong>er<br />

grenzt sich explizit von solchen <strong>Bild</strong>inhaltsanalysen ab, die versuchen, allein von<br />

der manifesten Formstruktur eines <strong>Bild</strong>es auf dessen latenten Sinngehalt zu<br />

schließen (exemplarisch Beck 2003; Fuhs 2003; Pilarczyk/Mietzner 2003). Statt<br />

also die „Sprache der <strong>Bild</strong>er“ zu analysieren, sollte die Sprache analysiert werden,<br />

mit der über <strong>Bild</strong>er gesprochen wird. Jeder Betrachter erweitert „von sich aus“ je<br />

nach Erkenntnisinteresse oder kulturellen Kontext das Dargestellte über die bloße<br />

erscheinung hinaus. Diese Tatsache verlangt das eintreten des wissenschaftlichen<br />

Interpreten in einen erweiterten Kommunikationsprozess. Viele <strong>Bild</strong>interpretationsmethoden<br />

untersuchen z.B. die Relation von <strong>Bild</strong>ern zum abgebildeten Realitätsausschnitt<br />

(Objektivitätsproblematik). Eine <strong>Bild</strong>bedeutung wird – unabhängig<br />

vom Gebrauchskontext – als Entität/Konstante angenommen.<br />

<strong>Bild</strong>er sollen in diesem Untersuchungsansatz jedoch gerade nicht als entitäten<br />

behandelt werden, die einen festgelegten Inhalt oder Motiv aufweisen. Vielmehr<br />

wird der Versuch gemacht, die aktiven <strong>und</strong> variablen Sinngenerierungsprozesse,<br />

die mit bedeutungsoffenen Kommunikationsprozessen über <strong>Bild</strong>er verb<strong>und</strong>en<br />

sind, angemessen zu rekonstruieren. Dabei kann auf ein erprobtes Verfahren<br />

der rekonstruktiven Sozialforschung zurückgegriffen werden. In Gruppendiskussionen<br />

emergiert die Gruppenmeinung derart, dass die gemeinsam erzeugte<br />

Sinnkonstruktion sichtbar wird. Unter den verschiedenen Variationen, die im<br />

Methodenkanon der qualitativen Sozialforschung gehandelt werden, hat sich die<br />

dokumentarische Methode der Gruppendiskussion für diesen Ansatz als besonders<br />

fruchtbar erwiesen.<br />

37


STeFAN SelKe<br />

4 Die dokumentarische Methode als Verfahren zur Gewinnung typischer<br />

Argumentationsmuster<br />

Kommunikation über <strong>Bild</strong>inhalte findet immer vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines kulturspezifischen<br />

<strong>und</strong> damit kollektiven Erfahrungsraums statt. Die entscheidende<br />

Frage lautet also: Wie kann das Bedeutungsspektrum eines öffentlich zirkulierenden<br />

<strong>Bild</strong>es (z.B. eines Plakates) methodisch rekonstruiert werden? Um diese<br />

Frage zu beantworten, wird theoretisches Handwerkszeug benötigt. Aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer methodenimmanenten Zielsetzung eignet sich besonders die dokumentarische<br />

Methode zur Rekonstruktion von <strong>Bild</strong>wirkungen. Durch Adaption der<br />

Methode der dokumentarischen Gruppendiskussionen auf Basis der Wissenssoziologie<br />

Karl Mannheims <strong>und</strong> in Anlehnung an die Erkenntnisse der sog. „Rekonstruktiven<br />

Sozialforschung“ (Bohnsack 2003) ist es möglich, die Variabilität von<br />

Sinngebungsprozessen bei der Kommunikation über <strong>Bild</strong>er zu rekonstruieren.<br />

Diese Sichtweise auf <strong>Bild</strong>er grenzt sich explizit von solchen Analysen ab, die versuchen,<br />

allein von der manifesten Formstruktur eines <strong>Bild</strong>es auf dessen latenten<br />

Sinngehalt zu schließen (z.B. kunstgeschichtliche ikonografisch-ikonologische<br />

Verfahren oder das Verfahren der objektiven Hermeneutik).<br />

Dokumentarische Gruppendiskussionen stimulieren argumentationsreiche <strong>und</strong><br />

begründungsintensive sprachliche <strong>Interaktion</strong>en <strong>und</strong> ermöglichen in „Fokussierungsmetaphern“<br />

latent vorhandene Gruppenmeinungen auf den Punkt zu bringen.<br />

Dies kann insbesondere für Fragestellungen nutzbar gemacht werden, bei<br />

denen Gruppen hinsichtlich dominant vergemeinschaftender Kriterien (z.B. politische<br />

Meinung) verglichen werden. Der „Dokumentsinn“ (daher der Name der<br />

Methode) verweist darauf, wie typischerweise eine <strong>Bild</strong>bedeutung kommunikativ<br />

hergestellt wird <strong>und</strong> welcher allgemeingültige, kollektive Charakter dadurch repräsentiert<br />

wird. Dieser unterscheidet sich vom augenscheinlichen, immanenten<br />

Sinngehalt des Motivs radikal. jede <strong>Bild</strong>analyse nach der dokumentarischen Methode<br />

verweist daher auf den intersubjektiv geteilten Interpretationsrahmen einer<br />

Realgruppe, die eine „Weltanschauung“ teilt.<br />

es ist der Verdienst von Bohnsack (2001a), diese Methode auch für <strong>Bild</strong>analysen<br />

erprobt <strong>und</strong> somit erschlossen zu haben. Anhand der dokumentarischen Methode<br />

lassen sich Gruppendiskussionen so konzipieren, dass kollektiv gültige Bedeutungen<br />

(„Weltbilder“) rekonstruiert werden. Die dokumentarische Methode<br />

ist bisher sowohl für einzelbildanalysen (Bonsack 2001) nutzbar gemacht worden<br />

als auch exemplarisch in einer Gruppendiskussion (Michel 2001) zu <strong>Bild</strong>ern.<br />

38


Rekonstruktive Sozialforschung online<br />

5 Übertragung von Offline-Methoden in den Online-Bereich<br />

Die Forschungslücke, die mit dem vorliegenden Konzept geschlossen wird, liegt<br />

in der Übertragung dieser Methode in den Onlinebereich. Da die Organisation<br />

<strong>und</strong> Durchführung dokumentarischer face-to-face Gruppendiskussionen sehr<br />

aufwendig ist, wurde bei ISIC nach einem forschungspragmatischen Weg gesucht,<br />

mehrere Personen synchron <strong>und</strong> asynchron ohne großen Aufwand zu <strong>Bild</strong>ern<br />

<strong>und</strong> deren Wirkungen zu befragen <strong>und</strong> sie gemeinsam über <strong>Bild</strong>er kommunizieren<br />

zu lassen. Die lösung des Problems liegt in der Durchführung virtueller<br />

Gruppendiskussionen, die gleichwohl vom Gr<strong>und</strong>satz her der dokumentarischen<br />

Methode folgen. Die Software VeraICON erlaubt die Durchführung netzbasierter<br />

Gruppendiskussionen mit visuellen Stimuli. 1<br />

Mit VeraICON liegt nun eine bereits praxiserprobte <strong>Bild</strong>analysesoftware <strong>und</strong> ein<br />

Untersuchungsinstrumentarium vor, das für verschiedene Projekte adaptiert<br />

wurde. VeraICON ist ein Verfahren zur empirisch validen, reliablen <strong>und</strong> objektiven<br />

Rekonstruktion von <strong>Bild</strong>wirkungen. Die Online-Befragungsplattform liegt<br />

inzwischen in der Betaversion vor. Sie ermöglicht sowohl synchrone live-Chats<br />

als auch asynchrone Diskussionsforen zu beliebig vielen, frei wählbaren <strong>Bild</strong>ern,<br />

Filmen <strong>und</strong> (zukünftig auch) 3D-Darstellungen (vgl. Abb. 1). Diese können als<br />

visuelle Reize eingespielt <strong>und</strong> von Besuchern der Online-Befragungsplattform besprochen<br />

werden. Die dabei erzeugten <strong>und</strong> protokollierten Datenprotokolle (chatlogs)<br />

aus den bildbasierten Gruppendiskussionen werden in ein QDA (Qualitative<br />

Data Analysis)-Programm exportiert, dort kodiert <strong>und</strong> analysiert (vgl. Abb. 2). Aus<br />

der komparativen Analyse des Deutungshandelns mehrerer, je nach Ausgangsfrage<br />

definierter, Gruppen lassen sich schließlich Rückschlüsse über die Wirkung<br />

der untersuchten <strong>Bild</strong>er ziehen. Die Anwendung netzbasierter erhebungsmethoden<br />

bedeutet auch ein Überschreiten von Disziplingrenzen.<br />

1 Vgl. dazu auch den folgenden Beitrag „Entwicklung von Systemkomponenten für die Software Vera-<br />

ICON“ von Tobias Bolte in diesem Arbeitsbericht.<br />

39


STeFAN SelKe<br />

Abb. 1: Screenshot VeraICON (Frontend)<br />

Abb. 2: Software für computergestützte qualitative Datenanalyse<br />

40


6 Qualitative Verfahren als Heuristiken – quantitative als Letztbegründung?<br />

VeraICON ist ein innovatives Verfahren zur Analyse von <strong>Bild</strong>rezeptionsprozessen.<br />

es entstand aus pragmatischen Überlegungen heraus, die dazu führten, eine<br />

klassische Methode der qualitativen Sozialforschung in den Bereich des Online-<br />

Research zu übertragen. VeraICON bietet einen qualitativen Zugang zum Phänomen<br />

<strong>Bild</strong>. Damit ist das Verfahren natürlich angreifbar, denn es erzeugt weder Repräsentativität<br />

noch „harte“ Daten, wie sie etwa in der Werbewirkungsforschung<br />

gefordert werden. Messbarkeit im Sinne von letztbegründung, wie sie aus dem<br />

deduktiven, positivistischen Paradigma der quantitativen Sozialforschung hervorgeht,<br />

ist jedoch gar nicht das Ziel von VeraICON. Es geht viel mehr darum,<br />

tragfähige <strong>und</strong> plausible Heuristiken zu erzeugen, die sich forschungsleitend<br />

für weitere Untersuchungen auswirken. Im Ideallfall werden Schlüsselkonzepte<br />

hervorgebracht, die komplexe Zusammenhänge begrifflich auf den Punkt bringen<br />

<strong>und</strong> durch Hinzufügen empirisch „gesättigter“ Daten immer konkreter <strong>und</strong><br />

anschaulicher werden zu lassen. Diese Heuristiken sind dann Ausgangspunkt<br />

für die Suche nach weiteren Daten, Hypothesen, Denkansätzen oder begründete<br />

Vermutungen, die dazu dienen, neue erkenntnisse zu sammeln <strong>und</strong> bereits vorhandenen<br />

zuzuordnen. Im Alltag finden sich Heuristiken in unseren Ad-hoc-Systematisierungen<br />

<strong>und</strong> Typisierungen („Der erste Blick“ etc.). Sie können als „theoretisches<br />

Raster“ verwendet werden, welches durch empirische Beobachtungen<br />

immer weiter aufgefüllt wird. Das forschungsleitende Potenzial dieser Ansätze<br />

besteht darin, den Blick auf bestimmte Prozesse zu lenken (<strong>und</strong> dafür andere<br />

auszublenden). Deshalb besteht die Funktion von VeraICON auch darin, „Heuristiken<br />

der Sichtbarmachung“ zu erzeugen.<br />

literatur<br />

Rekonstruktive Sozialforschung online<br />

Beck, C. (2003): Fotos wie Texte lesen: Anleitung zu einer sozialwissenschaftlichen<br />

Fotoanalyse. In: ehrenspeck, Y./Schäffer, B. (Hg.), Film- <strong>und</strong> Fotoanalyse<br />

in der erziehungswissenschaft. Opladen, 55-71.<br />

Berger, P. l./luckmann, T. (1997): Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit.<br />

eine Theorie der Wissenssoziologie. München.<br />

Bohnsack, R. (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative<br />

Methoden. Opladen.<br />

Bonsack, R. (2001a): Die dokumentarische Methode in der <strong>Bild</strong>- <strong>und</strong> Fotointerpretation.<br />

In: Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./Nohl, A.-M. (Hg.), Die dokumentarische<br />

Methode <strong>und</strong> ihre Forschungspraxis. Gr<strong>und</strong>lagen qualitativer<br />

Sozialforschung. Opladen, 67-90.<br />

41


STeFAN SelKe<br />

Bonsack, R. (2001b): „Heidi“: Eine exemplarische <strong>Bild</strong>interpretation auf der Basis<br />

der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./<br />

Nohl, A.-M. (Hg.), Die dokumentarische Methode <strong>und</strong> ihre Forschungspraxis.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 323-338.<br />

Fuhs, B. (2003): Fotografie als Dokument qualitativer Forschung. In: Ehrenspeck,<br />

Y./Schäffer, B. (Hg.), Film- <strong>und</strong> Fotoanalyse in der erziehungswissenschaft.<br />

Opladen, 37-54.<br />

Knoblauch, H. (1995): Kommunikationskultur. Berlin.<br />

Knoblauch, H. (1996) (Hg.): Kommunikative Lebenswelten. Zur Ethnografie einer<br />

„geschwätzigen Gesellschaft“. Konstanz.<br />

Knoblauch, H. (2006): Wissenssoziologie. Konstanz.<br />

Knoblauch, H./luckmann,T. (2000): Gattungsanalyse. In: Flick, U./von Kardoff,<br />

e./Steinke, I. (Hg.), Qualitative Forschung. ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg,<br />

538-546.<br />

Michel, B. (2001): Fotografien <strong>und</strong> ihre Lesarten. Dokumentarische Interpretation<br />

von <strong>Bild</strong>rezeptionsprozessen. In: Bohnsack, R./Nentwig-Geseman, I./<br />

Nohl, A.-M. (Hg.), Die dokumentarische Methode <strong>und</strong> ihre Forschungspraxis.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen qualitativer Sozialforschung. Opladen, 91-120.<br />

Michel, B. (2003): Dimensionen der Offenheit. Kollektive Sinnbildungsprozesse<br />

bei der Rezeption von Fotografien. In: Ehrenspeck, Y./Schäffer, B. (Hg.), Film<strong>und</strong><br />

Fotoanalyse in der erziehungswissenschaft. Opladen, 227-249.<br />

Pilarczyk, U./Mietzner, U. (2003): Methoden der Fotografieanalyse. In: Ehrenspeck,<br />

Y./Schäffer, B. (Hg.), Film- <strong>und</strong> Fotoanalyse in der erziehungswissenschaft.<br />

Opladen, 19-36.<br />

42


TOBIAS BOlTe<br />

eintwicklung von Systemkomponenten für die Software<br />

VeraICON<br />

Seit dem Wintersemester 2005/06 wird an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University<br />

im Rahmen einer interdisziplinären Veranstaltung der Prototyp einer Kommunikationsplattform<br />

für Gruppendiskussionen entwickelt. Das Besondere am<br />

Inhalt dieser Gruppendiskussionen ist, dass es sich dabei ausschließlich um <strong>Bild</strong>analysen<br />

handelt. Die Gruppendiskussionen sind in Chats organisiert. ein Nutzer<br />

kann an einem Chat teilnehmen <strong>und</strong> mit anderen Teilnehmern über <strong>Bild</strong>er, die<br />

durch eine vorgegebene Fragestellung bestimmt sind, diskutieren. Dies geschieht<br />

online über einen Webbrowser. Der Teilnehmer muss also nicht wie üblich zu<br />

Diskussionsr<strong>und</strong>en eingeladen werden <strong>und</strong> persönlich erscheinen, sondern kann<br />

bequem von seinem Heim-PC aus teilnehmen. Die Diskussion wird durch einen<br />

Moderator geleitet <strong>und</strong> die Daten dieser Diskussion werden protokolliert <strong>und</strong> später<br />

ausgewertet. Als dieses Projekt im Oktober 2005 vorgestellt wurde, kristallisierte<br />

sich schnell heraus, dass der technische <strong>und</strong> konzeptionelle Aufwand sehr<br />

viel größer werden würde als erwartet. Ich werde in diesem Beitrag nur kurz auf<br />

die technischen Details der Implementation <strong>und</strong> der Plattform eingehen. Hier<br />

sollen eher das Konzept <strong>und</strong> die Funktionalitäten im Vordergr<strong>und</strong> stehen.<br />

45


TOBIAS BOlTe<br />

1 Gr<strong>und</strong>anforderungen an die Software<br />

Das System sollte primär eine Möglichkeit bieten, mit einer Anzahl registrierter<br />

Teilnehmer <strong>und</strong> einem Moderator eine Diskussion führen zu können. Hierfür<br />

mussten die typischen Chat-Funktionen implementiert werden. Des Weiteren<br />

sollte der Moderator die Möglichkeit besitzen, die Anzeige von <strong>Bild</strong>ern, Videos<br />

<strong>und</strong> Texten zeitgesteuert im Chat-Klienten des Nutzers anzeigen zu lassen. Diese<br />

Inhalte sollten nicht erst während des Chats zusammengetragen <strong>und</strong> gesucht<br />

werden, sondern als fertige Pakete dem Moderator zur Verfügung stehen. Um<br />

verschiedene Diskussionen vergleichen zu können, ist dies besonders wichtig.<br />

Das bedeutet, dass vor Beginn eines Chats ein solcher Inhalts-Ablauf geplant werden<br />

muss.<br />

Um eine soziodemografische Auswahl der registrierten Teilnehmer für einen<br />

Chat vornehmen zu können, musste die Möglichkeit bestehen, die soziodemografischen<br />

Daten zu erfassen, erweitern zu können <strong>und</strong> nach diesen zu filtern.<br />

Des Weiteren sollte es ermöglicht werden, Diskussionsgruppen in ihrer Größe<br />

zu beschränken <strong>und</strong> dieses im System zu speichern. ein Chat sollte frühzeitig<br />

bekannt gegeben werden, damit die Teilnehmer zu- bzw. absagen <strong>und</strong> sich darauf<br />

vorbereiten können. Das System musste also eine Mail-Methode besitzen. Aus<br />

diesen Hauptfunktionen <strong>und</strong> Wünschen leitete sich ein System ab, welches aus<br />

drei Komponenten besteht:<br />

46<br />

1. Dem Backend-System, das für die erstellung <strong>und</strong> Haltung der Daten zuständig<br />

ist, aber auch die Funktionalitäten der Auswahl von Teilnehmern, Chatinhalten<br />

<strong>und</strong> Terminplanung beinhaltet. Darüber hinaus ist das Backend für<br />

die Verteilung der e-Mails zuständig.<br />

2. Dem Kommunikations-Server, der die Synchronisation des Chats gewährleistet.<br />

es besteht keine direkte physikalische Verbindung zwischen den Computern<br />

der einzelnen Teilnehmer. eine weitere Aufgabe des Servers ist es,<br />

den Diskussionsverlauf zu protokollieren.<br />

3. Dem Chat-Klienten, der in eine Website eingeb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> dem Nutzer die<br />

Kommunikation mit anderen Teilnehmern ermöglicht.


entwicklung von Systemkomponenten für die Software VeraICON<br />

2 Die Einzelkomponenten – Frontend<br />

Das Backend-System ist ein den Funktionen angepasstes Content-Management-<br />

System, das in PHP implementiert wurde. Alle Daten, die hier erfasst werden<br />

(alle außer den Chat-Protokollen), sind in einer MySQl-Datenbank gespeichert.<br />

Der Kommunikations-Server ist in java implementiert. er beinhaltet die Funktionalitäten<br />

der Vermittlung der Daten, der Protokollierung <strong>und</strong> der Instantiierung<br />

der einzelnen Chat-Räume. er ist das Herzstück des gesamten Systems <strong>und</strong> kommuniziert<br />

sowohl mit dem Backend (Anmeldung <strong>und</strong> Chatinhalte) wie auch mit<br />

den Chat-Klienten während des Chats.<br />

Der Chat-Klient wurde in Flash geschrieben. Flash wurde vor allem wegen der<br />

vielfältigen Möglichkeiten zur Oberflächenentwicklung <strong>und</strong> Funktionalitätsimplementation<br />

genutzt. Des Weiteren hat Flash den Vorteil, dass es auf den meisten<br />

Heim-PCs installiert ist oder aber einfach einzurichten ist.<br />

Findet ein Chat statt, so meldet sich der Teilnehmer mit dem Chat-Klienten an.<br />

Dieser überprüft, ob die Anmeldung erfolgreich <strong>und</strong> ob der Teilnehmer zur Teilnahme<br />

berechtigt ist. Ist dies der Fall, wird er einem Chat-<strong>Raum</strong> zugeteilt. jede<br />

weitere Kommunikation wird dann über den Kommunikations-Server geregelt.<br />

Schreibt der Teilnehmer etwas im Chat, so sendet der Chat-Klient diesen Text<br />

zum Kommunikations-Server <strong>und</strong> dieser verteilt die Nachricht an alle teilnehmenden<br />

Chat-Klienten.<br />

Der Moderator des Chats kann Inhalte wie Texte <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>er den Teilnehmern<br />

zusenden. Das heißt, dass er in den Ablauf einer Diskussion eingreifen oder sie<br />

vorantreiben kann. Um dies zu realisieren, hat der Moderator eine andere Oberfläche<br />

als die Teilnehmer. Er sieht einerseits, wie die Darstellung im Teilnehmer-<br />

Chat aussieht <strong>und</strong> hat andererseits eine Oberfläche mit Funktionalitäten um den<br />

Chat zu leiten. Im Gegensatz zu den Teilnehmern stehen dem Moderator noch<br />

weitere Funktionalitäten zur Verfügung. er kann einem Teilnehmer eine private<br />

Nachricht schicken <strong>und</strong> ihn, wenn er es für nötig hält, von dem Chat ausschließen.<br />

Insgesamt soll der Moderator als leitende Person <strong>und</strong> nicht als Teilnehmer<br />

auftreten.<br />

Eine zukünftige Erweiterung soll die grafische Anzeige der Chataktivitäten der<br />

Teilnehmer werden. Dies soll auch protokolliert werden, um das Verhalten innerhalb<br />

einer solchen Online-Diskussion 1 zu untersuchen. Um genauer zu verstehen,<br />

welche Vorbereitungen ein solcher Chat benötigt, gehe ich im Folgenden<br />

Absatz auf das Backend-System ein.<br />

1 Vgl. dazu den Beitrag „ConVis - Ein visuelles Chatsystem für die Unterstützung von Online-Gruppendiskusionen“<br />

von Patrik Burst in diesem Arbeitsbericht.<br />

47


TOBIAS BOlTe<br />

3 Die Einzelkomponenten – Backend<br />

Das Backend-System ist für die erstellung <strong>und</strong> Haltung aller Daten zuständig.<br />

es ist die Verwaltungseinheit der Plattform, die von Administratoren (hier sind<br />

keine Personen mit einer informatischen oder netzwerktechnischen Ausbildung<br />

gemeint) geführt wird. Hier werden einerseits alle Teilnehmer, Moderatoren <strong>und</strong><br />

Administratoren verwaltet. jeder Teilnehmer ist mit seinem Pseudonym, seiner<br />

E-Mail-Adresse <strong>und</strong> seinem Passwort sowie seinen soziodemografischen Werten<br />

– wie beispielsweise „Geschlecht = männlich“ – gespeichert. Andererseits ist<br />

dieses System zuständig, für die Terminplanung sowie die Chatplanung <strong>und</strong> die<br />

Medienverwaltung.<br />

Um einen Chat zu planen, benötigt man zuerst ein Thema <strong>und</strong> die dazu gehörigen<br />

Daten wie <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Texte. Sind diese vorhanden, so können sie über das<br />

System eingegeben bzw. hochgeladen werden. Nun können diese Inhalte einem<br />

sogenannten Panel hinzugefügt werden. Panels bestimmen den Ablauf eines<br />

Chats <strong>und</strong> repräsentieren dessen Inhalt. Ist ein solches Panel erstellt, wird es in<br />

der Datenbank hinterlegt <strong>und</strong> kann von den Moderatoren während eines Chats<br />

geladen werden. Bevor ein Chat stattfinden kann, muss allerdings zuerst ein Termin<br />

angelegt werden. Diesem Termin wird ein Thema <strong>und</strong> ein Panel zugeordnet.<br />

Die Teilnehmer werden in Gruppen zusammengefasst. Dies erfolgt über eine Filterfunktion,<br />

die nach den gewünschten soziodemografischen Werten sucht. Ist<br />

dies geschehen, werden die Teilnehmer per e-Mail über den Termin informiert<br />

<strong>und</strong> eingeladen. Sie können daraufhin mitteilen, ob sie an diesem Termin teilnehmen<br />

möchten oder nicht. Möchten sie teilnehmen, werden sie vom System<br />

freigeschaltet <strong>und</strong> können sich zum angegebenen Termin einloggen.<br />

In der Regel haben nur die Administratoren Zugriff zu dem Backend. Die Moderatoren<br />

sind nicht in den Verwaltungsprozess eingeb<strong>und</strong>en. So wird eine klare<br />

Trennung der Aufgaben erreicht. Die erstellung der Inhalte ist nur den Betreibern<br />

des Portals zugänglich. So können auch andere Personen, die sich nicht mit<br />

der speziellen Materie der <strong>Bild</strong>analyse <strong>und</strong> der Auswahl der Materialien auskennen,<br />

als Moderatoren agieren. Allerdings ist es auch möglich einem Moderator<br />

Administrationsrechte zu erteilen.<br />

48


4 Anwendungspotenzial<br />

entwicklung von Systemkomponenten für die Software VeraICON<br />

Die Kommunikationsplattform befindet sich noch in der Entwicklung. Momentan<br />

ist nur ein Prototyp verfügbar, welcher noch Schwierigkeiten mit sich bringt.<br />

einerseits gibt es noch einige technische Probleme, andererseits sind noch nicht<br />

alle Funktionalitäten fehlerfrei implementiert. Sollte diese Plattform in Zukunft<br />

zum einsatz kommen, wird sie neue Möglichkeiten der <strong>Bild</strong>analyse <strong>und</strong> in anderen<br />

Bereichen eröffnen. Gleichzeitig muss man sich allerdings der Vor- <strong>und</strong><br />

Nachteile eines solchen Systems bewußt sein:<br />

• Die Teilnehmer verhalten sich, wenn sie anonym agieren können, anders, als<br />

wenn ihre Diskussionspartner sich im selben <strong>Raum</strong> befinden.<br />

• Mimik <strong>und</strong> Gestik sowie Auftreten spielen im virtuellen <strong>Raum</strong> keine Rolle.<br />

• Meinungen, Aussagen <strong>und</strong> Antworten können länger <strong>und</strong> genauer überlegt<br />

werden.<br />

• Die Rollenverteilung im virtuellen <strong>Raum</strong> kann sich anders gestalten, als im<br />

reellen <strong>Raum</strong>.<br />

Ich gehe davon aus, dass virtuell geführte Diskussionen eine andere Herangehensweise<br />

erfordern. Vorteile sind:<br />

• Durch ein solches System kann man schneller mehr Teilnehmer erreichen.<br />

• Die Erreichbarkeit der Teilnehmer steigt, vor allem da keine Anreise zum<br />

Diskussionsort nötig ist.<br />

• Die Verwaltung der Teilnehmer wird vereinfacht, da die Daten intern <strong>und</strong><br />

zentral gespeichert werden, ohne dass persönliche Kontaktdaten (Ausnahme:<br />

e-Mail-Adresse) erhoben werden. So ist die Anonymität der Teilnehmer gewahrt.<br />

Diese neuen Möglichkeiten der Gruppendiskussionen können nach meiner einschätzung<br />

die klassischen Gruppendiskussionen lediglich ergänzen, aber nicht<br />

ersetzen.<br />

49


II. <strong>Bild</strong>kampagnen <strong>und</strong> kollektive Identitäten aus Sicht der<br />

<strong>Bild</strong>wirkungsforschung


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

Das Auge entscheidet mit<br />

Exemplarische Ergebnisse aus Wahlplakatanalysen zur B<strong>und</strong>estagswahl<br />

2005<br />

1 Forschungsschwerpunkt „Wirkungsanalyse <strong>und</strong> Wirkungssteigerung<br />

politischer Ikonografie“<br />

Angewandte <strong>Bild</strong>wirkungsanalyse fragt nach der kommunikativen leistung von<br />

Plakaten <strong>und</strong> deren diskursiver Wirkung, sowie nach gr<strong>und</strong>legenden einsichten<br />

in typische Wahrnehmungsstrukturen von Wahlplakaten. Da sich visuelle Kommunikation<br />

immer mehr neuen Konsum- <strong>und</strong> Wahrnehmungsgewohnheiten anpasst,<br />

wird auch neues Gr<strong>und</strong>lagenwissen über die Struktur der Wahrnehmung<br />

von Wahlplakaten benötigt. Die im Folgenden vorgestellten exemplarischen<br />

ergebnisse zeigen, dass wir versucht haben, <strong>Bild</strong>wirkung empirisch auf zwei<br />

Analyseebenen zu erfassen: im direkten Fallvergleich <strong>und</strong> in Form einer typologisierenden<br />

Auswertung. Die Fallvergleiche zielten darauf ab, im Kontext einer<br />

konkreten Wahl (B<strong>und</strong>estagswahl 2005) zu begründbaren Aussagen über die<br />

Qualität der dabei je eingesetzten Plakate zu gelangen. Hauptziel war es jedoch,<br />

den <strong>Bild</strong>typus, bzw. die <strong>Bild</strong>sorte „Wahlplakat“ näher zu untersuchen <strong>und</strong> dabei<br />

die Besonderheiten des Gebrauchs der Plakate <strong>und</strong> der Kommunikation über die<br />

Plakate zu rekonstruieren. Die ergebnisse sollten nicht im Sinne einer Wertung<br />

der Qualität der jeweiligen Kampagne missverstanden werden. Von Interesse war<br />

53


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

lediglich, welche Art von Aussagen getroffen wird <strong>und</strong> welche Zusammenhänge<br />

zwischen Begründungen bestehen. Im Folgenden werden stichwortartig ausgewählte<br />

Thesen vorgestellt.<br />

2 Analyse der Wahlplakate anlässlich der B<strong>und</strong>estagswahl 2005<br />

Im Zeitraum vom 9. bis zum 12. September 2005 hatten die leser der Online-<br />

Ausgabe der Süddeutschen Zeitung die Gelegenheit, an einem Diskussionsforum<br />

zu Plakaten der B<strong>und</strong>estagswahl 2005 teilzunehmen. In diesem Zeitraum griffen<br />

gut 2.200 Personen auf unsere Webseite zu, auf der das Forum stattfand. Aus den<br />

insgesamt knapp 300 einträgen im Forum wurde eine Trendanalyse erstellt, die<br />

hier dokumentiert wird. Aufgr<strong>und</strong> der schmalen Datenbasis erhebt sie keinen<br />

Anspruch auf Repräsentativität. Ähnlich wie beim Projekt „selling politics“ werden<br />

vielmehr gr<strong>und</strong>legende Argumentationsmuster rekonstruiert, die über die<br />

Wahrnehmung des <strong>Bild</strong>motivs hinausgehen <strong>und</strong> zeigen, nach welchen strukturellen<br />

Prinzipien Politik visuell kommuniziert <strong>und</strong> rezipiert wird.<br />

Diskussionsgr<strong>und</strong>lage im SZ-Forum waren je ein ausgewähltes Wahlplakat der<br />

Parteien CDU, SPD, Die linke.PDS, Bündnis 90/Die Grünen sowie der FDP.<br />

Für die <strong>Bild</strong>diskussion wurden von VisualStudies die Kategorien „Spontaner Eindruck“,<br />

„Gestaltung des Plakats“, „Inhaltliche Aussage“, Assoziationen zum Plakat“<br />

sowie „Emotionen“ vorgegeben, um die Beiträge zu strukturieren. Da sich im<br />

Projekt „selling politics“ gezeigt hatte, dass viele Diskussionsteilnehmer kritische<br />

Beiträge zur Politik der Parteien in das Forum einstellen, wurde zusätzlich präventiv<br />

die Kategorie „Meinungen zur Partei“ eingeführt, um diese Beiträge zu kanalisieren<br />

<strong>und</strong> von den reinen <strong>Bild</strong>betrachtungen zu trennen. Selbstverständlich<br />

gab es auch eine offene Kategorie „Sonstige Kommentare“. Das Forum ließ es<br />

außerdem zu, dass jeder Diskussionsteilnehmer selbst eine inhaltliche Kategorie<br />

anlegte. Davon wurde jedoch bis auf wenige Ausnahmen kein Gebrauch gemacht,<br />

was zeigt, dass das Meinungsspektrum ausreichend durch die vorgegebenen Dimensionen<br />

aufgefangen wurde.<br />

Aus Platzgründen werden nur lediglich die Analysen von zwei Plakaten vorgestellt.<br />

1 Da sich die B<strong>und</strong>estagswahl knapp zwischen den beiden Spitzenparteien<br />

entschied, greifen wird die entsprechenden Plakate von CDU <strong>und</strong> SPD heraus.<br />

Die Darstellung folgt einem einheitlichen Muster: Nach einer Gesamteinschätzung<br />

werden nacheinander die Punkte „Gestaltung“, „personenbezogene Aussagen“<br />

sowie „inhaltliche Aussage“ behandelt. Natürlich gibt es hierbei auch<br />

Überschneidungen <strong>und</strong> Besonderheiten. Originalkommentare der Diskussionsteilnehmer<br />

werden kursiv <strong>und</strong> in Anführungszeichen wiedergegeben.<br />

1 Ausführliche Darstellungen der Ergebnisse finden sich auf www.isic-furtwangen.de<br />

54


„Mehr Wachstum. Mehr Arbeit.“ (CDU)<br />

Bei dem Plakat der CDU gibt es aus Sicht der Diskussionsteilnehmer im Vergleich<br />

aller vorgestellten Plakate die geringste Korrespondenz zwischen Gestaltungs-<br />

<strong>und</strong> Inhaltsebene: <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Text stimmen offensichtlich nicht überein <strong>und</strong><br />

erzeugen, jeweils für sich genommen, Irritationen <strong>und</strong> ablehnende Reaktionen.<br />

Dem <strong>Bild</strong>motiv wird zwar eine recht gelungene <strong>Raum</strong>aufteilung zugestanden,<br />

dennoch sieht man ihm eine eher liebelose Entstehungsgeschichte an: „Foto,<br />

Schrift drauf, fertig. Passt doch, oder?“ Daher sind sich die meisten Besucher des<br />

SZ-Forums darin einig, dass hier ein „08/15-Plakat ohne jede Aussage“ vorliegt,<br />

Allerdings zeigt auch kein anderes Plakat so deutlich die Wirkmechanismen politischer<br />

Ikonografien. Analogschlüsse <strong>und</strong> Assoziationen, die bei der Markenwerbung<br />

gewollt sind, bewusst inszeniert <strong>und</strong> im perfekten Zusammenspiel professionalisiert<br />

werden, haben für die kommunikative leistung von Wahlplakaten<br />

oft kontraproduktive Wirkungen. Die Auswertung des SZ-Forums ist daher in<br />

der Summe eine Dokumentation derartiger kontraproduktiver Wirkungen. Viele<br />

davon sind so klar zu erkennen, dass zu fragen ist, warum sie nicht hätten vermieden<br />

werden können.<br />

Abb. 1: Wahlplakat zur B<strong>und</strong>estagswahl (CDU)<br />

Das Auge entscheidet mit<br />

So werden beim Plakat der CDU die wenigen positiven Gestaltungselemente<br />

durch eine insgesamt dissonante Inszenierung in ihrer Wirksamkeit extrem eingeschränkt.<br />

Aus Sicht der Diskussionsteilnehmer beinhaltet das Plakat dabei zwei<br />

Irritationsfelder: erstens die Künstlichkeit des Ausdrucks der Kandidatin <strong>und</strong><br />

zweitens die Bedeutungsoffenheit der inhaltlichen Aussage. Beides zieht Glaubwürdigkeitsverluste<br />

<strong>und</strong> emotionale Reaktanzen nach sich.<br />

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STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

ein Gr<strong>und</strong> für die entstehung dieser dissonanten <strong>Bild</strong>wirkung ist erstens die<br />

Blickrichtung der Kandidatin: Sie sieht knapp am Betrachter vorbei. Für den Betrachter<br />

wirkt dies irritierend <strong>und</strong> sogar abweisend. ein Diskussionsteilnehmer:<br />

„Zu wem spricht sie? An wen wendet sie sich? Jedenfalls nicht zu mir!“ Zwar wird<br />

dem Blick eine unterschwellige Wirksamkeit zugestanden – ein Diskussionsteilenehmer<br />

sieht darin einen Blicktypus, „wie ihn Gurus aufsetzen, wenn sie ihre<br />

jünger hypnotisieren wollen“. Dennoch erzeugt er eher eine abweisende Reaktion<br />

durch mangelhafte Ansprache des Rezipienten.<br />

Zwischen Sender <strong>und</strong> Empfänger schieben sich jedoch zweitens noch weitere,<br />

akzeptanzmindernde Filter in der visuellen Kommunikation. So wird die Körperhaltung<br />

der Kandidatin als „unecht“, ja die gesamte Person als „künstlich“ – <strong>und</strong><br />

damit auf jeden Fall mehr, als nur inszeniert. empf<strong>und</strong>en. Dieser Avatareffekt<br />

wird durch die Feststellung auf den springenden Punkt gebracht, dass sie auf dem<br />

Plakat eine Pose einnimmt, „die nicht ihr gehört“. Dieses Motiv der Instrumentalisierung<br />

<strong>und</strong> Fremdbestimmtheit taucht in der Diskussion um das Merkel-Plakat<br />

immer wieder auf. einige <strong>Bild</strong>betrachter sehen darin die Abhängigkeit von<br />

Vorgaben des Medienberaters, die von der Kandidatin - „einer verunsicherte Frau<br />

Merkel“ - nur unzureichend umgesetzt werden. In diesem Arrangement „scheint<br />

sie sich nicht wirklich wohl zu fühlen“. Diese Aussagen dokumentieren jedoch<br />

weniger die Sorge um das Wohlergehen <strong>und</strong> die emotionale Ausgeglichenheit<br />

der fremdbestimmten Kandidatin, sondern sind Quelle eines Ärgernisses, das im<br />

Verlust von Glaubwürdigkeit gipfelt. Die Geste, die nicht zur Aussage passt, das<br />

zu glatte Erscheinungsbild einer „optisch modifizierten Frau“, die Fehlansprache<br />

des eigentlichen (Wahl-)Publikums – dies sind in der Summe Gründe für emotionale<br />

Gegenreaktionen – <strong>und</strong> gleichzeitig für eine verminderte Kompetenzzuschreibung.<br />

Diese Gegenreaktionen werden aber nicht nur aus der dissonanten Inszenierung,<br />

sondern auch aus einem Wahrnehmungsdetail gespeist, das zeigt, wie subtil die<br />

Wirkung von Plakaten auf den Betrachter eigentlich ist. Hierin besteht bei allen<br />

Diskussionsteilnehmern die größte einigkeit: die Geste der Bestätigung geht<br />

in eine Geste des Belehrens über. Die Geste soll wohl ein Ausdruck souveräner<br />

entschlossenheit <strong>und</strong> zugleich motivierende Ansprache sein <strong>und</strong> doch wirkt sie<br />

nur wie eine besserwisserische Lektion („Ja, hab ich’s denn nicht schon zehn Mal<br />

erklärt?“) oder ein Ausdruck von Hilflosigkeit. („Hab ich doch schon h<strong>und</strong>ertmal<br />

erklärt!“).<br />

Dieses Deutungsmuster zieht starke emotionale Abwehrreaktionen bei den Betrachtern<br />

nach sich, die sich abgewiesen fühlen. ein Teilnehmer bringt es auf<br />

den Punkt: „Alles in allem habe ich das Gefühl, außen vor zu stehen“. Damit ist<br />

die Geste insgesamt künstlich, missglückt <strong>und</strong> erzielt eine kontraproduktive Wirkung:<br />

„Sie scheint eher eine schlechte Roboterimitation darzustellen!“ In diesen<br />

Aussagen zeigt sich auch, welcher Kontexteffekt die öffentliche Diskussion um<br />

das erscheinungsbild der Kandidatin auf die Wahrnehmung des Plakats hat. Die<br />

56


Das Auge entscheidet mit<br />

(unterstellte) Hilflosigkeit wird zum <strong>Bild</strong> des „Politrobbi mit eingebauter Phrasendatenbank“<br />

komprimiert. Die optische Glättung wird durchaus auch im übertragenen<br />

Sinne als kritisch eingeschätzt. „Wie soll ich vertrauen, wenn nicht mal ihr<br />

Gesicht so gezeigt wird, wie es wirklich ist?“ Es ist allerdings falsch anzunehmen,<br />

diese Übertragung hätte primär mit dem Geschlecht der Kandidatin zu tun. Der<br />

Schluss von (gezeigten oder nicht gezeigten) Körpermerkmalen eines Kandidaten<br />

auf das leistungsspektrum der dahinter stehenden Partei gehört zum kleinen<br />

Einmaleins der Wahrnehmung <strong>und</strong> Wirkung von Wahlplakaten. Beispiele finden<br />

sich auch bei den meisten anderen, männlichen, Kandidaten. Verw<strong>und</strong>erlich nur,<br />

dass den Agenturen diese einfache Arithmetik bisher scheinbar verborgen blieb.<br />

Der künstlichen <strong>und</strong> abweisenden Wirkung des körperlichen Ausdrucks steht als<br />

weiteres dissonantes element die Bedeutungsoffenheit der Scheinaussage gegenüber,<br />

wobei hier noch einmal zwischen der Bedeutungsoffenheit unterschieden<br />

werden muss, die durch das <strong>Bild</strong>motiv selbst entsteht, <strong>und</strong> derjenigen, die durch<br />

die Textaussage erzeugt wird.<br />

Das gesamte <strong>Bild</strong>motiv potenziert nur noch einmal die Frage, die schon durch<br />

die gestische Ansprache gestellt wurde, die Frage, an wen die Kandidatin sich<br />

eigentlich wendet. Von den Personen im Hintergr<strong>und</strong> ist sie zu weit entfernt,<br />

um mit ihnen kommunizieren zu können, am Plakatbetrachter blickt sie knapp<br />

vorbei, alleine mit dieser optischen Verzerrung könnten die meisten Betrachter<br />

noch leben, wäre da nicht die aus der Sicht fast aller Diskussionsteilnehmer unverständliche<br />

Textaussage. Hierbei ist erstens unklar, was genau gemeint ist <strong>und</strong><br />

zweitens, wie das, was behauptet wird, erreicht werden soll.<br />

Die heftigste Irritation geht aber von der ungenügenden Unterscheidung zwischen<br />

„Arbeit“ <strong>und</strong> „Arbeitsplätzen“ aus. Hier wird nicht genügend differenziert,<br />

denn (wirtschaftliches) Wachstum zieht nicht automatisch mehr Arbeitsplätze<br />

nach sich. Fast alles bleibt im Unklaren: Für wen soll Wachstum <strong>und</strong> Arbeit<br />

zustande kommen? Was soll eigentlich wachsen? Die Phrase ist aus Sicht der<br />

Diskussionsteilnehmer also viel zu ungenau <strong>und</strong> grenzt sich zudem zu wenig<br />

von den Aussagen anderer Parteien ab. In der Summe ist es eher eine diffuse<br />

Forderung als eine inhaltlich verständliche Aussage. ein Premiumbeispiel für<br />

eine Null-Aussage: „eine identische Aussage wäre: Weniger Krankheit. Mehr Ges<strong>und</strong>heit“.<br />

Neben der Verständlichkeit der Aussage bleiben auch die Mittel der<br />

Zielereichung offen. Zwar gibt es eine Zielvorgabe, aber der „Weg aber dorthin<br />

wird nicht verraten“. Somit bleibt die Aussage insgesamt „völlig nebulös“. Diese<br />

Reaktionen decken sich mit den Ergebnissen aus dem Projekt „selling politics“ zu<br />

den Plakaten der Agenda 2010. ein Hauptkritikpunkt der Diskussionsteilnehmer<br />

war, dass mit den Plakaten zwar „utopische Fiktionen“ der Regierung entworfen<br />

wurden, aber durch die Offenheit der <strong>Bild</strong>-Text-Bezüge <strong>und</strong> der Absenz tiefergehender<br />

Informationen die Mittel zur Zielereichung völlig im Unklaren bleiben<br />

<strong>und</strong> eher latente Unsicherheiten beim Betrachter aktiviert werden als positive<br />

emotionen. Aufgr<strong>und</strong> der Bedeutungsoffenheit des CDU-Claims verw<strong>und</strong>ert es<br />

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STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

nicht, wenn bei den <strong>Bild</strong>betrachtern Assoziationen auftauchen, die noch einmal<br />

deutlich machen, wie schwierig es ist, auf der politischen Bühne ein inhaltliches<br />

Produkt, die „Wa(h)re Politik“ zu verkaufen. Die Ähnlichkeit des Plakats mit der<br />

„Titelseite des Geschäftsberichts einer Versicherungsgesellschaft“, so ein Diskussionsteilnehmer,<br />

zeigt zumindest, dass hier um Vertrauen geworben wird, wenn<br />

auch letztlich die Emotionalisierung nicht gelingt. Die Textzeile „Mehr Wachstum,<br />

mehr Arbeit“ verweist im Gegensatz zum Versuch der Poetisierung von Politik mit<br />

dem Versprechen „blühender Landschaften“ (H. Kohl) eher auf einen instrumentellrationalen<br />

oder fast schon technokratischen Charakter von Politikauffassung,<br />

einer Form der Ansprache, die von vielen ernsthaft besorgten, <strong>und</strong> damit emotionalisierten<br />

Bürgern, sicher nicht geteilt werden kann. eine Teilnehmerin der<br />

Diskussion brachte die Gesamtwirkung des Plakats in einer Fokussierungsmetapher<br />

stellvertretend auf den Punkt: „Das Plakat löst bei mir spontanes Befremden<br />

darüber aus, wie es möglich ist, dass offenbar komplett zynische Werbeprofis der<br />

CDU dieses Motiv verkaufen konnten. Außer der aufgehübschten Frau Merkel<br />

ist nichts Neues dabei, außerdem keinerlei Identifikationsmöglichkeit, keine Inhalte.<br />

es gibt keinen Versuch, mit diesem Motiv an meine Intelligenz, mein Herz<br />

oder mein Informationsbedürfnis zu appellieren“.<br />

„Wer Arbeit schaffen will, braucht Mut für Reformen.“ (SPD)<br />

Das für die Diskussion der B<strong>und</strong>estagswahlplakate ausgewählte SPD-Plakat zeichnet<br />

sich aus Sicht der Betrachter durch eine fast idealtypische Korrespondenz von<br />

<strong>Bild</strong>motiv <strong>und</strong> Textaussage aus. Insgesamt überwiegen zu beiden Dimensionen<br />

eindeutig die positiven Aussagen. Dennoch gibt es auch in dieser Diskussion eine<br />

deutliche Meinungsvarianz, die von Aussagen des Typs „ein Layout mit […] klaren<br />

Elementen, die eine positive Spannung […] aufbauen“ bis zur Feststellung reicht,<br />

dass das Plakat „nicht ansprechend“ sei. Die Kritik bezieht sich dabei auf die verwirrende<br />

Gestaltung des Plakats: „Alles scheint nicht dort zu sein, wo es eigentlich<br />

hingehört“. Die (unterstellte) chaotische Gestaltung des Plakats wird – wieder<br />

ein erkennbarer Effekt der öffentlichen Kontextdiskussion – symbolisch als Ausdruck<br />

eines vermeintlichen Chaos in der Partei gesehen. Wenig ansprechend sind<br />

explizit die Farben, die (mit negativen Vorzeichen versehen) als, „blass“, oder (mit<br />

positiven Vorzeichen versehen) als „dezent“ eingeordnet werden <strong>und</strong> bestenfalls<br />

an eine Werbung für Luxusautomarken erinnern. Mit dieser Farbkombination, so<br />

die Diskussionsteilnehmer, „sticht das Plakat nicht ins Auge“. So verkommt eine<br />

„passende, klare Aussage“ auf „kraftlosen Farben“. Ebenfalls wenig ansprechend<br />

oder gar irritierend wirkt für viele Diskutierende das „erpresserbrief-Image“, das<br />

dadurch entsteht, dass die weißen Schriftfelder „wie aus der Zeitung ausgeschnitten“,<br />

„zusammengeklebt“ <strong>und</strong> „angepappt“ wirken.<br />

Die Person Schröders selbst wird zwar vereinzelt auch als „Leitfigur“ einer<br />

„schwachen Mannschaft“ tituliert, die Aussagen beziehen sich jedoch mehrheitlich<br />

auf den körperlichen Zustand des Kanzlers. In den Augen der Betrachter<br />

58


wirkt dieser „angestrengt“, aber auch, „wie einer, der anpackt“: „er schwitzt, er<br />

schafft!“, so ein Diskussionsteilnehmer. Schröder hat also schon einmal besser<br />

ausgesehen, nun wirkt er wie ein „müder <strong>und</strong> abgekämpfter Kanzler“. Diese vom<br />

Körper ablesbare Anstrengung hat jedoch überraschenderweise einen akzeptanzförderlichen<br />

effekt. jemandem, der sich so anstrengt, vertraut man eher. Auf der<br />

Basis dieses Images erfolgt eine positive Kompetenzattribuierung: „Der kann‘s,<br />

dem vertrau‘ ich“, so ein Teilnehmer der Diskussion. Hierin zeigt sich dann vielleicht<br />

doch noch ein vorherrschendes Stereotyp der Zweigeschlechtlichkeit. Für<br />

die Inszenierung eines akzeptablen Politikers ist eine dominante Ausstrahlung<br />

notwendig. Bei einem Mann kann diese wie selbstverständlich gerade auch durch<br />

eine „raue Schale“ symbolisiert werden. Eine Politikerin tappt jedoch in die Falle<br />

ihrer doppelten Vergesellschaftung: Als Frau muss sie der Hübschungsnorm entsprechen,<br />

damit untergräbt sie aber gleichzeitig ihr Dominanzimage, das sie in<br />

ihrer Funktion haben sollte.<br />

Abb. 2: Wahlplakat zur B<strong>und</strong>estagswahl der SPD<br />

Das Auge entscheidet mit<br />

Bei der Darstellung Schröders wird das quasi inkorporierte Dominanzimage noch<br />

durch den Blick <strong>und</strong> die „Vertretergeste“ der Hand unterstützt. Der Blick wirkt<br />

auf die Betrachter „grimmig“, „wild“ aber auch „unreflektiert entschlossen“. Obwohl<br />

dies nicht gerade positive Kennzeichnungen sind, entsteht dabei eine selbstwertdienliche<br />

Konnotation: der Kanzler - ein Macher. Gleichwohl stellen einige<br />

Betrachter fest, dass auch Schröder (ähnlich wie Merkel), dem Wähler bei aller<br />

entschlossenheit nicht direkt in die Augen sehen kann. Diese Wahrnehmung verkehrt<br />

dann das positive Image ins Gegenteil: „Irgendwie ist dieser Blick total leer,<br />

<strong>und</strong> drückt überhaupt keinen Mut aus“.<br />

59


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

Eine weitere dissonante Stimmung wird durch die Abbildung der „unschön verkürzten<br />

Hand“ erzeugt, was als störend empf<strong>und</strong>en wird, die Gr<strong>und</strong>aussage der<br />

Geste aber nicht vollständig untergräbt sondern nur limitiert. Diese lautet aus<br />

Sicht der Betrachter: „Keine Selbstzweifel, Korrekturen sind nicht zu erwarten. […]<br />

Weiter so!“ Die Hand an sich ist für einige der Betrachter ein wirksames Symbol,<br />

wird doch damit der alte Wahlspruch von der ‚Politik der ruhigen (starken) Hand‘<br />

mitreflektiert <strong>und</strong> somit in homöopathischen Dosen ein Aha-Effekt erzeugt.<br />

Zwar wird die inhaltliche Aussage des Plakats stellenweise als „trivial“ tituliert,<br />

da die getroffenen Aussagen von niemandem bestritten werden, dennoch überwiegen<br />

hier (im Vergleich zu allen anderen Plakaten) eindeutig die Sympathiebek<strong>und</strong>ungen.<br />

Bei diesem Plakat gehen jedoch die Aussagen zur visuellen Gestaltung<br />

des Claims <strong>und</strong> diejenigen zur inhaltlichen Wirkung radikal auseinander.<br />

Obwohl der Satz „zusammengebastelt“ wirkt, ist es „immerhin ein vollständiger<br />

Satz, der vielleicht sogar stimmt“. Im Idealfall wird dem Text gar „Scharfsinn in<br />

Reinform“ zugestanden. Aus Sicht der Diskussionsteilnehmer ist die Aussage:<br />

„klar“, „deutlich“ <strong>und</strong> vor allem „ehrlich“. Dies resultiert daraus, dass nicht nur<br />

eine Behauptung aufgestellt wird, sondern eine klare Bedingung gestellt wird, die<br />

auch die Verteidigung des bisherigen Kurses <strong>und</strong> die Bitte um Geduld beinhaltet.<br />

Das ist auf jeden Fall ein Vorteil des SPD-Plakats: Jeder Betrachter kann seine eigenen<br />

erfahrungen mit der Realpolitik der letzten jahre mit der Behauptung, die<br />

durch das Plakat medial transportiert wird, vergleichen – allen anderen Parteien<br />

fehlt diese Vergleichsgr<strong>und</strong>lage. Mit diesem Hintergr<strong>und</strong>wissen über die bisherige<br />

Politik der SPD erscheint die Aussage nicht als reines Versprechen, wie dies<br />

notgedrungen bei den anderen Parteien der Fall sein muss.<br />

Dieser Vorteil wird durch <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Aussage des Plakats erfolgreich umgesetzt. es<br />

kommt zu einer insgesamt nüchtern positiven Aussage, die „im Prinzip okay <strong>und</strong><br />

zielführend“ ist, „wenn inhaltlich auch sehr einfach gehalten“. Die argumentative<br />

Kausalkette unterscheidet sich von den Basisgleichungen oder Mini-Imperativen<br />

der anderen Parteien. Der „Aufruf“ der SPD kommt an, weil der Ernst der Lage<br />

nicht rhetorisch nivelliert wird, sondern anerkannt wird. „Klare Ansage, nix beschönigt,<br />

offen <strong>und</strong> ehrlich“, wie dies von einem Teilnehmer zusammengefasst<br />

wird. Der Mut zum Reduktionismus der Aussage erlaubt, ohne damit gleich zu<br />

einer Null-Aussage zu gelangen, die emotionalisierung über die Attribute Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> Vertrauen, die für den erfolg politischer Kommunikation zentral<br />

sind. Mit anderen Worten: Die „Botschaft […] kommt rüber“.<br />

Gleichwohl lassen die Aussagen der Diskussionsteilnehmer die Grenze der Vermarktung<br />

der Ware Politik wieder einmal deutlich erkennen. Sie bestätigen hiermit<br />

die Bef<strong>und</strong>e zur Agenda 2010-Kampagne. In der Diskussion um das Reformprogramm<br />

brachte ein Teilnehmer die Komplexität der Vermarktung von Politik<br />

folgendermaßen auf den Punkt: „Die Agenda ist doch keine lucky Strike oder<br />

H&M“. Was in der Markenartikelwerbung für ein Produkt funktioniert, muss<br />

noch lange nicht auch im B<strong>und</strong>estagswahlkampf für politische Inhalte funktio-<br />

60


Das Auge entscheidet mit<br />

nieren. Auch wenn im Unklaren bleibt, welche Reformen auf dem SPD-Plakat<br />

damit gemeint sind, kommt für ein Politikplakat aus Sicht der Betrachter, „überraschend<br />

gut <strong>und</strong> ehrlich“ rüber, das Reformen erforderlich sind.<br />

Die emotionale Kapazität des Plakats ist also vorhanden, sie wirkt zielführend.<br />

Aber auch Schröder wirkt nicht nur über eine direkte Sympathiezuschreibung.<br />

Auch er muss sich dem Vorwurf der Selbstgefälligkeit aussetzen, die anders formuliert<br />

lautet: „Der Kanzler als Boss, der mit fast drohender Hand seine Politik<br />

verteidigt <strong>und</strong> mit harter Mimik klar macht, was wir alle noch nicht verstanden<br />

haben, er jedoch schon längst“.<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit dem Kandidaten Schröder zwar<br />

latent Persönlichkeitsmerkmale in den Vordergr<strong>und</strong> treten, dennoch nicht nur<br />

„auf Menschlichkeit gesetzt [wird] sondern […] auf Sachlichkeit“. Dies erzeugt insgesamt<br />

eine „nüchterne Aufbrauchstimmung“, die deutlich besser ankommt, als<br />

visionäre Versprechungen oder Abwertungen des politischen Gegners.<br />

3 Thesen zu Wahlplakaten – <strong>und</strong> deren Wirkungssteigerung<br />

Abschließend können in thesenartiger Form übergreifende erkenntnisse aus den<br />

beiden Pilotstudien formuliert werden, die den eingangs erhobenen Anspruch,<br />

gr<strong>und</strong>legende Wirkmechanismen von Plakaten zu rekonstruieren, gerecht werden.<br />

Sie sind als Heuristiken <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage für eine vertiefende Diskussion einzuordnen.<br />

• Plakativer Reduktionismus verträgt sich nicht mit Informationsbedarfen: Im<br />

Gegensatz zu Markenwaren erwarten die Konsumenten einer politischen<br />

Ware mehr Fakten <strong>und</strong> Informationen, vor allem solche, die sie unmittelbar<br />

selbst betreffen. Plakate können aufgr<strong>und</strong> ihrer medialen Inszenierung diesen<br />

Anforderungen nur sehr unzureichend gerecht werden. Die Mittel zur<br />

Zielerreichung können nicht kommuniziert werden. Vor allem für prozessorientierte<br />

Politik gilt, dass möglicherweise noch die Ziele, nicht aber die<br />

Mittel zur Zielerreichung so kommuniziert werden, dass sie nachvollziehbar<br />

<strong>und</strong> akzeptabel sind.<br />

• Körperlichkeit spielt in Wahlkämpfen wieder eine Rolle: Körperlichkeit ist<br />

in diesem Wahlkampf zu einem politischen Argument <strong>und</strong> zu einer Metapher<br />

geworden ist. In allen Diskussionen wurden Analogschlüsse von der<br />

visuellen Performanz der Kandidaten auf das leistungsvermögen oder die<br />

fachliche Kompetenz vorgenommen. Das Interesse an Politikerkörpern ist<br />

vielleicht der vorläufige Endpunkt der jahrelangen Personalisierung der Politik.<br />

Wenn es dem Wähler nun endgültig so erscheint, dass das land von einer<br />

einzigen Person regiert wird, dann ist es nur zu verständlich, dass er sich<br />

dann auch um den Ges<strong>und</strong>heitszustand <strong>und</strong> das Well-Being seines Regenten<br />

sorgt. Zwar spielt diese Beobachtungshaltung bei beiden Geschlechtern eine<br />

61


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

62<br />

Rolle, dennoch gibt es hier geschlechtsspezifische Unterschiede. Während<br />

sich die Diskussion um die Kandidatin Merkel eher um das Ästhetisierungsargument<br />

einpendelt, fokussiert sich die Aufmerksamkeit der Betrachter bei<br />

Schröder oder den anderen männlichen Kandidaten auf dessen vermeintlich<br />

erkennbaren körperlichen erschöpfungszustand. Die Rolle der Körperlichkeit<br />

kann in direktem Zusammenhang mit der Notwendigkeit gesehen werden,<br />

in politischen Kontexten nicht nur Kompetenz, sondern auch Dominanz auszudrücken.<br />

Für eine weibliche Kandidatin ergibt sich hier eine ambivalente<br />

Situation, denn sie muss gleichzeitig einem (männlich) normierten Schönheitsideal<br />

entsprechen, das aber im Resultat per definitionem nicht zu einer<br />

Dominanzattribuierung führen kann.<br />

• Inhaltliche Irritationen steuern die Plakatwahrnehmung dar: Kennzeichen<br />

der diskutierten Plakate sind übergreifend über alle Parteien die inhaltlichen<br />

Vakui, die sich aus der Verknappung von Aussagen ergeben. Während die<br />

linke noch mit dieser Inhaltsleere selbstironisch spielt, tappen die anderen<br />

Parteien in die Falle der Selbstgefälligkeit der herrschenden politischen Kaste,<br />

die an die eigenen Beschwörungsformeln glaubt. Bei den Betrachtern<br />

zeigt sich insgesamt eine intensive Nachfrage nach Themen, oder genauer:<br />

nach unterscheidbaren Themen. Die mangelnde Unterscheidbarkeit der<br />

politischen Programme spiegelt sich in den Aussagen zu den Wahlplakaten<br />

deutlich wider.<br />

• Die Aufmerksamkeit wird durch (scheinbar) irrelevante Motivdetails gesteigert:<br />

Die Diskussionen zu den Plakaten zeigen, dass trotz inhaltlicher Mängel<br />

Wahlplakate wirken können wenn sie Motivdetails enthalten, die im Sinne<br />

von Roland Barthes ein punctum enthalten, etwas, was eine unterschwellige<br />

Irritation auslöst, an dem der Blick hängen bleibt. Teilweise wurden solche<br />

Details bewusst integriert, teilweise sind sie wohl eher zufällig im Plakat enthalten.<br />

• Selbstreferentialität ist die größte Gefahr für die Akzeptanz eines Wahlplakats:<br />

Wie schon in der Studie zur Agenda 2010 zeigt sich auch bei den<br />

Plakaten zur B<strong>und</strong>estagswahl, dass Plakate fast immer eher dem Selbstbild<br />

eines Kandidaten oder einer Partei, moderiert von den professionellen Inszenierungsagenturen,<br />

entsprichen, als dem Wunschbild potenzieller Wähler.<br />

Diese lebensweltliche Ferne erzeugt Akzeptanzeinbußen, die leicht zu verhindern<br />

wären.<br />

Zusammenfassend lässt sich eine Diskrepanz zwischen dem quasi-selbstverständlichen<br />

einsatz von Wahlplakaten <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Zielerreichung<br />

feststellen. Es wird daher dringend notwendig, objektive, d.h. empirische,<br />

Wirkungsmessungen als Bestandteil von Kampagnenplanungen zu integrieren.


STeFAN SelKe<br />

Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten als<br />

Anwendungsfeld empirischer <strong>Bild</strong>wirkungsforschung<br />

1 Identitätsherstellung als Kernfunktionen von <strong>Bild</strong>ern<br />

Forschung zum <strong>Bild</strong> ist quasi automatisch interdisziplinär. Dennoch kann man<br />

<strong>Bild</strong>er auch unter primär mediensoziologischen Fragestellungen untersuchen,<br />

wobei dann schnell der opake Begriff „Identität“ in den Mittelpunkt rückt: Die<br />

identitätsstiftende Wirkung ist eine der Hauptformen des gesellschaftlichen Gebrauchs<br />

von <strong>Bild</strong>ern. Dies gilt gleichermaßen für eine gesamtgesellschaftliche<br />

Perspektive (z.B. Fre<strong>und</strong> 1993), wie für die Individualperspektive des privaten<br />

Knipsers (Chalfen 1991; Guschker 2002; Starl 1995; Musello 1980). <strong>Bild</strong>er werden<br />

in den beteiligten <strong>Bild</strong>wissenschaften als extrem bedeutungsoffene mediale<br />

Phänomene diskutiert. einige eigenschaften von <strong>Bild</strong>ern treten dennoch immer<br />

wieder in den Vordergr<strong>und</strong>. Bevor nun näher nach dem Potenzial von <strong>Bild</strong>ern zur<br />

Herstellung kollektiver Identität gefragt wird, sollen einleitend kurz wesentliche<br />

Funktionen von <strong>Bild</strong>ern skizziert werden.<br />

1. <strong>Bild</strong>er haben ein scheinobjektives Verhältnis zur Wirklichkeit: Sie sind nicht<br />

objektiv, aber sie gelten als objektiv. <strong>Bild</strong>er zwingen sich uns auf, sie erzeugen<br />

Welten, in die wir als Betrachter „immersiv“ eintauchen. Der „Sprung in die<br />

65


STeFAN SelKe<br />

66<br />

Imagination“, wie es der Kommunikationsphilosoph Vilèm Flusser nannte,<br />

ist für uns inzwischen zu einer mühelosen Kulturtechnik geworden. <strong>Bild</strong>er<br />

betrachten <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>er verstehen sind eine Selbstverständlichkeit.<br />

2. <strong>Bild</strong>er erzeugen Emotionen <strong>und</strong> lassen sich je nach Intention zu einem pragmatischen<br />

Gefühlsmanagement oder zur „Pflege der Gefühle“ einsetzen.<br />

Diese Qualität von <strong>Bild</strong>ern reicht von der Nostalgie (bei privaten Fotos) bis<br />

hin zur emotionalisierung durch Plakate, die in der Vorweihnachtszeit zu<br />

Spenden aufrufen oder im Kontext von pro bono-Kampagnen öffentlich zirkulieren.<br />

3. eng verb<strong>und</strong>en mit der Fähigkeit zur emotionalisierung ist die handlungsleitende<br />

Wirkung von <strong>Bild</strong>ern. Dies macht sich vor allem die Konsumwerbung<br />

zu Nutze, die versucht, eine affektuelle Handlungswahl am „Point of Sale“ zu<br />

erzeugen. Ähnliches gilt für Wahlplakate. Diese handlungsleitende Wirkung<br />

wird aber auch im Rahmen von Aufklärungskampagnen erwartet (vgl. Abb.<br />

1). eine noch offene Forschungsfrage ist dabei, ob sich diese unterstellte Wirkung<br />

auch empirisch messen lässt.<br />

4. <strong>Bild</strong>er tragen letztlich auch zur symbolischen Herstellung von Identität bei.<br />

Unsere privaten Fotos helfen uns, ein Selbstbild zu konstruieren <strong>und</strong> uns im<br />

Ablauf der Zeit als ein <strong>und</strong> dieselbe Person zu erleben (Guschker 2002). Aus<br />

soziologischer Perspektive ist die Frage, ob sich <strong>Bild</strong>er dazu eignen, kollektive<br />

Identitäten herzustellen, besonders interessant.<br />

Abb. 1: Aufklärungskampagne amnestiy international


Jede soziale Gruppe <strong>und</strong> jedes Kollektiv steht vor der Aufgabe, sich von ihrer Umwelt<br />

abzugrenzen <strong>und</strong> sich damit als Kollektiv nach innen zu stabilisieren. Dies<br />

geschieht u. a. durch Symbolisierung von Zugehörigkeit. Bei kleinen Gruppen ist<br />

dies noch relativ einfach, wie die Kulturgeschichte der Gruppenfotos zeigt (Fabian<br />

1982). eine äußerst spannende, bisher noch nicht einmal in Ansätzen untersuchte,<br />

bildhistorische Variante sind dabei Gruppenfotos, die die Mitglieder einer<br />

Gruppe so zeigen, dass diese ein Wappen, Emblem oder Abzeichen „bilden“.<br />

Der amerikanische Fotograf Goldbeck spezialisierte sich auf Aufnahmen großer<br />

Gruppen aus der Vogelperspektive. Zumeist zeigen seine Fotos Angehörige militärischer<br />

einheiten, die in schwarz-weiß-Kontrasten gekleidet sind <strong>und</strong> in der<br />

Form ihrer Aufstellung das Wappen „ihrer“ Einheit nachstellen (vgl. Abb. 2).<br />

Abb. 2: Gruppenfoto von Goldbeck aus der Vogelperspektive<br />

Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />

Derart wird kollektive Identität gleich doppelt symbolisiert: einmal in der Form<br />

der Aufstellung, in der jedes Element des <strong>Bild</strong>es sich als Teil des Ganzen repräsentiert,<br />

dann aber auch durch die Verteilung der Aufnahmen selbst <strong>und</strong> ihre<br />

Diffusion in den privaten Gebrauchskontext. Es ist klar, dass derartige Aufnahmen<br />

extrem aufwendig <strong>und</strong> planungsintensiv sind. Dies ist wohl auch ein Gr<strong>und</strong><br />

dafür, dass diese Form der Visualisierung kollektiver Identitäten nur in Ausnahmefällen<br />

(z.B. bei Olympiaden, beim Militär) zur Anwendung kommt. Zudem<br />

ist sie auf eine Gruppengröße begrenzt, die gerade noch abbildbar ist, ohne die<br />

Individualität des einzelnen komplett zu eliminieren.<br />

Wie aber kann man die Zugehörigkeit zu einer Gruppe symbolisieren, die so groß<br />

ist, dass sich die Mitglieder untereinander nicht mehr kennen, sich nicht mehr in<br />

unmittelbaren face-to-face-Kontakten begegnen – der Zugehörigkeit zu einer Nation<br />

etwa? Übergreifend ist also zu fragen, ob es möglich ist, durch die öffentliche<br />

67


STeFAN SelKe<br />

Distribution von <strong>Bild</strong>ern, z.B. von Plakaten, zu einer Synchronisation von einstellungen<br />

<strong>und</strong> möglicherweise sogar zu positiven Handlungen im öffentlichen<br />

<strong>Raum</strong> beizutragen.<br />

2 <strong>Bild</strong>er als sinnstiftende Wahrnehmungsmedien: Visuelle Identität<br />

An dieser Stelle interessiert vor allen die Herstellung politischer kollektiver Identität,<br />

da davon ausgegangen werden kann, dass es sich hierbei um die allgemeinste<br />

<strong>und</strong> abstrakteste Form des Zugehörigkeitsgefühls handelt. Inzwischen gibt es<br />

eine wissenschaftlich ausformulierte Theorie des politischen <strong>Bild</strong>es, die weiter<br />

reicht als die bisher vorgelegten Ansätze, die sich um den Begriff „Mediokratie“<br />

(Meyer 2001) drehen <strong>und</strong> die Verschiebung von der Herstellung zur Darstellung<br />

von Politik (Sarcinelli 1987, 1994, 2002) betonen, oder den Wandel von einer<br />

parlamentarischen zu einer „präsentativen“ Demokratie.<br />

Der am anschaulichsten ausgearbeitete Ansatz einer visuellen Politik, die weit<br />

über kulturkritisches jammern hinausgeht, stammt von Hofmann (1998, 2005a,<br />

2005b). er betont gr<strong>und</strong>sätzlich die vergesellschaftende <strong>und</strong> vergemeinschaftende<br />

Wirkung politischer <strong>Bild</strong>er in fragilen postmodernen Gesellschaften. <strong>Bild</strong>er<br />

wirken, so die Kernthese, sinnstiftend <strong>und</strong> integrativ. Damit wird im Folgenden<br />

begründet, was in der Praxis der Politik längst offensichtlich ist: Politik bedient<br />

sich neuer Formen der Kommunikation, indem politische Kommunikation sich<br />

von einer reinen logozentristischen Sprachpolitik zu einer (auch) ikonozentristischen<br />

<strong>Bild</strong>politik hin verschiebt. Visuelle Kommunikation bringt auch Vorteile<br />

oder handfeste Leistungen mit sich. „Denkbar wäre“, so Hofmann (2005b: 74)<br />

weiter, „dass postmoderne Gesellschaften mit <strong>Bild</strong>ern kommunizieren müssen,<br />

weil Sprache allein die nötigen Leistungen – etwa demokratische Inklusion<br />

– nicht erbringen kann“. Der handfeste Vorteil von <strong>Bild</strong>ern liegt darin begründet,<br />

dass sie intersubjektiv verständliche Bedeutungshorizonte eröffnen. Gegenüber<br />

der bilderfeindlichen Haltung von Habermas (der sprachliche Kommunikationen<br />

Form rationaler Argumentation privilegiert) findet Hofmann für seine Kernthese<br />

einen theoretischen Anschlusspunkt in der Theorie sozialer Systeme von luhmann.<br />

Dessen Definition von Sinn enthält zumindest potenziell die Möglichkeit,<br />

auch über <strong>Bild</strong>er Sinnhaftes zu transportieren, wie folgende Aussage illustriert:<br />

„Sinn präsentiert Komplexität unmittelbar durch Verweisungsreichtum <strong>und</strong> weitergegebenen<br />

Selektionszwang; Sprache steigert <strong>und</strong> reduziert Komplexität mit<br />

Hilfe einer Differenzierung von Struktur <strong>und</strong> Prozess. Sinn ist zwar intersubjektiv,<br />

aber nicht allein sprachlich konstituiert; vielmehr bezieht er Wahrnehmungsprozesse<br />

(unter einschluss der Wahrnehmungen der Wahrnehmungen anderer)<br />

ein, die sich nicht in sprachliche Prozesse auflösen lassen“ (Luhmann 1971: 303).<br />

Sinn kann also auch visuell hergestellt werden. Dabei verweisen Sprache <strong>und</strong> <strong>Bild</strong><br />

immer aufeinander: „Kommunikation mit Sprache bzw. mit <strong>Bild</strong>ern ist relational:<br />

Das Sichtbare ist begrenzt sagbar (berichtbar <strong>und</strong> den Bedingungen der Wahr-<br />

68


nehmung) <strong>und</strong> das Sagbare kann sichtbar (wahrnehmbar unter den Bedingungen<br />

von Kommunikation) sein“ (Hofmann 2005b: 77). Und noch einmal Hofmann<br />

(2005a: 12f.): „Man wird davon ausgehen können, dass visuelle Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> die darauf aufbauende visuelle Kommunikation, nicht losgelöst von sprachlichen<br />

Diskursen existieren <strong>und</strong> umgekehrt. <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Sätze sind ineinander<br />

verwoben, das Sichtbare wird sagbar <strong>und</strong> das Sagbare sichtbar. In diesem Sinne<br />

werden im Folgenden gr<strong>und</strong>legende Wirkmechanismen von <strong>Bild</strong>ern vorgestellt,<br />

die sie als symbolische Medien zur Herstellung kollektiver Identitäten auszeichnen.<br />

3 <strong>Bild</strong>er als bereits getestete Ordnungen<br />

Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />

<strong>Bild</strong>er sind durchaus eine Alternative zur sprachlichen Kommunikation wenn es<br />

um die Herstellung kollektiver Identität geht, da sie gerade nicht die typischen<br />

eigenschaften sprachlicher Kommunikation aufweisen. Wahrnehmungsmedien<br />

(also <strong>Bild</strong>er), so luhmann, eröffnen alternative Optionen sinnhafter Kommunikation.<br />

„So kann neben die sprachliche Vermittlung von Informationen, die visuelle<br />

Kommunikation treten, die alle Überzeugungsmittel der Alltagserfahrung<br />

im <strong>Bild</strong> an sich binden kann“ (Hofmann 2005b: 78). Weil sie den Konsenszwang<br />

reduzieren, werden zunehmend <strong>Bild</strong>er in post-modernen Gesellschaften genutzt:<br />

„Wer mit <strong>Bild</strong>ern kommuniziert, informiert auf diffuse Art synchron <strong>und</strong> ohne<br />

Konsenszwang“. Synchronistation von Einstellung wurde jedoch eingangs gerade<br />

als wesentliches element der Herstellung kollektiver Identität herausgehoben.<br />

<strong>Bild</strong>er reduzieren das Widerspruchsrisiko, worauf schon luhmann (1996: 79f.)<br />

hinwies:<br />

„Während aber die Sprache mehr <strong>und</strong> mehr darauf verzichten muss, Realität zu garantieren,<br />

weil allem, was gesagt wird, auch widersprochen werden kann, verlagert sich<br />

die Reproduktion von Realität auf die beweglichen, optisch/akustisch synchronisierten<br />

<strong>Bild</strong>er. […] Tempo <strong>und</strong> optisch/akustische Harmonie des <strong>Bild</strong>verlaufs entziehen sich<br />

dem punktuell zugreifenden Widerspruch <strong>und</strong> erwecken den eindruck einer bereits<br />

getesteten Ordnung. Es gibt jedenfalls nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch<br />

des Wortes gegen das Wort einen Widerspruch des <strong>Bild</strong>es gegen das <strong>Bild</strong>.“<br />

Damit nimmt visuelle Kommunikation in der Tat eine ungewöhnliche Stellung<br />

ein. Sie erlaubt Integration aufgr<strong>und</strong> ihres „subjektiv nicht mehr kontrollierbaren<br />

Anschauungswissens“ (Luhmann 1996: 149). Dies macht visuelle Kommunikation<br />

im Kontext post-moderner, d.h. hochgradig differenzierter, Gesellschaften<br />

unverzichtbar. Welche Funktionen übernehmen politische <strong>Bild</strong>er als sinnhafte<br />

Wahrnehmungsmeiden <strong>und</strong> visuelle Kommunikationsform in einer ikonozentrischen<br />

politischen Sphäre genau? Welches sind die Leistungen von <strong>Bild</strong>ern bzw.<br />

visueller Kommunikation im Prozess der politischen Identitätskonstruktion?<br />

69


STeFAN SelKe<br />

4 <strong>Bild</strong>er als ersatzsymbolisierungen<br />

Identität im sozialwissenschaftlichen Sinne bedeutet – ganz gleich ob sie sich<br />

auf Individuen oder Kollektive bezieht – vor allem Kontinutiät <strong>und</strong> Kohärenz.<br />

Identität ist immer das ergebnis sozialer Konstruktion, wobei auf der individuellen<br />

ebene die so konstruierte Identität etwas ist, das in interpretativen Akten<br />

sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft verlängert wird. Der private<br />

Knipser erlebt durch seine fotografische Lebenschronik „Permanenz trotz Wandel“<br />

(Guschker 2002: 360). Personelle Identität ist eine Konstruktionsleistung,<br />

die auf den damit verb<strong>und</strong>enen ständigen symbolischen Reproduktionen des<br />

eigenen Identitätskonzepts angewiesen ist, dass zudem immer auch anschlussfähig<br />

sein muss. Ohne Anschlussfähigkeit kommt es zu Identitätsbrüchen oder<br />

Identitätsverlust.<br />

Unter dem Stichwort „Visuelle Politik“ werden vor allem kollektive Identiätskonstruktionen<br />

verhandelt. Hierbei verkompliziert sich die Konstruktionslogik. Kollektive<br />

Identität – oder ein Wir-Gefühl – basiert auf einer intersubjektiv geteilten<br />

Vorstellung, einem Image, der Gruppe, zu dem sich alle (mehr oder weniger)<br />

bekennen (können). Kollektive Identitäten sind also abhängig von der Zu- bzw.<br />

Abstimmung ihrer Mitglieder, sie sind konstruierter als personelle Identitäten.<br />

Je komplexer nun die Kontexte für eine derartige Gruppenbildung bzw. kollektive<br />

Identitätskonstruktion sind, desto umfangreicher müssen die Symbolisierungsbestrebungen<br />

werden, die die kollektive Identität stabilisieren. Symbolisierungen<br />

sind notwendig, weil das vergemeinschaftende element, das zur kollektiven Identität<br />

führt bzw. führen soll, oft gar nicht wahrnehmbar ist. Dies gilt insbesondere,<br />

so Hofmann (2005a: 6), für politische Identitäten: „Weil man den Staat <strong>und</strong> die<br />

politische Gemeinschaft, der man angehört, nicht wirklich sehen <strong>und</strong> anfassen<br />

kann, weil man aber von ihm bzw. ihr zu vielerlei veranlasst wird <strong>und</strong> man sein<br />

land auch emotional akzeptieren können soll, wird die Nation <strong>und</strong> die Gemeinschaft<br />

vielfach sichtbar bzw. erfahrbar gemacht.“ An dieser Stelle der Argumentation<br />

treten die <strong>Bild</strong>er auf die Bühne. Politik ist abstrakt, kann aber mit Symbolisierungen<br />

sichtbar gemacht werden. „Die Art der Visibilisierung von Politik<br />

[…] entscheidet in der Wahrnehmung der Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger mit über die<br />

Qualität der Gemeinschaft <strong>und</strong> es ist von zentraler politischer Relevanz, was für<br />

Selbstbilder […] zu den dominierenden Projektionen werden“ (a.a.O.: 7). <strong>Bild</strong>er<br />

sind somit sowohl ersatzsymbolisierungen, die den Abstraktionsgrad von Politik<br />

reduzieren bzw. das Abstrakte an Politik scheinbar sichtbar machen. Sie ermöglichen<br />

aber auch die Schaffung intersubjektiv verständlicher <strong>und</strong> wirksamer Ideen,<br />

Images oder leitbilder, die im besten Fall handlungsleitend werden <strong>und</strong> sich gegen<br />

andere (Alltags-)Vorstellungen durchsetzen (dominierende Projektionen).<br />

70


5 Differenzunempfindliche Inklusion durch <strong>Bild</strong>er<br />

Personelle <strong>und</strong> kollektive Identitäten sind hochgradig empfindlich für Störungen<br />

<strong>und</strong> damit ständig wandelbar. Dies liegt u .a. daran, dass Identitätsherstellung<br />

immer in Diskurse eingeb<strong>und</strong>en ist. So stellt sich letztlich auch bei jedem noch so<br />

einfachen Wahlplakat die Frage nach der Beziehung (Interdependenz) zwischen<br />

<strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Diskurs. es geht also um das Verhältnis sprachlicher <strong>und</strong> visueller Identitätskonzepte.<br />

Mittlerweile haben sich die Bedingungen zur Herstellung sowohl personeller<br />

als auch kollektiver Identitäten drastisch verändert. Plurale lebensformen <strong>und</strong><br />

Indivudualisierung machen es auf den ersten Blick fast unwahrscheinlich, identitätsstiftende<br />

Gemeinsamkeiten zwischen Subjekten zu entdecken. Gesucht werden<br />

also verstärkt Möglichkeiten zu einer „differenzunempfindlichen Inklusion“<br />

(Hofmann 2005a: 11f.). Damit wird der Normalfall der „differenzemfindlichen<br />

Exklusion“ ausgehebelt bzw. umgekehrt. Es bleibt zu zeigen, dass <strong>Bild</strong>er in besonderem<br />

Maße dazu fähig sind, diese integrative Wirkung zu entfalten. Sie bieten<br />

den Mitgliedern einer Gruppe die Möglichkeit eine Selbstversicherung, die sich<br />

hinreichend vom sprachlichen Diskurs bzw. sprachbasierten Identitätskonstruktionsmechanismen<br />

unterscheidet.<br />

6 Visuelle Unschärfe<br />

Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />

Visuelle Kommunikation macht ein sinnüberschüssiges Informationsangebot.<br />

Gerade in der präkognitiven Aufnahme von <strong>Bild</strong>ern <strong>und</strong> deren Unschärfe/Polyvalenz<br />

liegt eine Chance für kollektive Identitätskonstruktionen oder „Integration<br />

ohne Aktion“ (Hofmann 2005b). Durch diese „visuelle Unschärfe“ kann das<br />

Dissensrisiko, dass ansonsten bei der rein sprachlichen Kommunikation besteht,<br />

minimiert werden. Die unscharfe hohe Informationsdichte tritt beim Vergleich<br />

mit sprachlicher Kommunikation besonders deutlich zu Tage. er sieht hierin den<br />

zentralen Vorteil von <strong>Bild</strong>ern politischen Inhalts. Sprache ist genauer als <strong>Bild</strong>inhalte.<br />

Da Verständigung vielfach auf den Austausch sprachlicher Argumente angewiesen<br />

ist, mithin in der Postmoderne also der Kommunikationsbedarf steigt,<br />

wächst auch das Dissensrisiko. Sprachliches Behaupten <strong>und</strong> Argumentieren – zumal<br />

im Kontext politischer Inhalte – wird also zunehmend zu einer riskanten<br />

Form der Kommunikation. <strong>Bild</strong>er minimieren hingegen das Dissensrisiko durch<br />

ihre visuelle Unschärfe: „Wer also mit <strong>Bild</strong>ern kommuniziert, riskiert weniger<br />

Widerspruch, weil diese <strong>Bild</strong>er weniger eindeutige Sinnfestlegungen vornehmen.<br />

[…] Wir akzeptieren kommunizierte Widersprüche ganz gegen alle Logik offensichtlich<br />

eher, wenn wir sie sehen, was wenn sie uns in Form von Argumenten<br />

dargeboten werden“ (Hofmann 2005a: 16). <strong>Bild</strong>er sind dann im Kontext von Identitätskonstruktionen<br />

deshalb so wirkungsvoll, weil sie einerseits diffuse identitätsstiftende<br />

Vorgaben machen, diese aber gerade dadurch überhaupt noch von<br />

71


STeFAN SelKe<br />

einer Viel- oder Mehrzahl von Betrachtern als solche akzeptiert werden können.<br />

je diffuser die Vorgabe, desto weit reichender die integrative Wirkung. Inwieweit<br />

diese Aussage (die Hofmann auf Pressebilder von Politikern bezieht) auch für<br />

Wahlplakate gilt, muss eingehend geprüft werden <strong>und</strong> könnte somit Gegenstand<br />

von Projekten im Bereich der politischen <strong>Bild</strong>ung werden.<br />

7 Zusammenfassung<br />

Die Unschärfe von <strong>Bild</strong>ern ermöglicht die Kreuzung von Diskurslinien, die<br />

sprachlich-argumentativ nicht so einfach überschritten werden können (Hofmann<br />

2005a: 18). Damit ist die Hauptfunktion politischer <strong>Bild</strong>er Integration.<br />

<strong>Bild</strong>er haben subsidiäre (=helfende, unterstützende) <strong>und</strong> alternative leistungen<br />

im Vergleich zu anderen Formen kommunikativer gesellschaftlicher Integration.<br />

Sie tragen somit schließlich zur Konstruktion kollektiver Identitäten bei. In der<br />

Mediengesellschaft im Allgemeinen <strong>und</strong> bei Wahlen im Speziellen werden dabei<br />

gerade solche <strong>Bild</strong>er angeboten, die aufgr<strong>und</strong> ihrer unscharfen Sinncodierungen<br />

Intergrationsfunktion(en) entfalten. Hofmann (2005a: 21) geht sogar soweit, zu<br />

behaupten, dass visuelle Identitätskonstruktion auch dann stattfindet, „wenn auf<br />

den ersten Blick keine identitätsstiftenden Inhalte angeboten werden“. Diese Aussage<br />

ist von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung von Wahlplakaten,<br />

bei denen auf den ersten Blick sicher nicht festgestellt werden kann, womit eine<br />

Identifikation mit dem Kandidaten oder der Partei bewerkstelligt werden soll.<br />

Dennoch werden Plakate bei Wahlkämpfen immer wieder gerne eingesetzt.<br />

literatur<br />

ANDeRSON, B. (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and<br />

Spread of Nationalism. london.<br />

FABIAN, R. (1982): Wir, damals. Gruppenaufnahmen in der frühen Fotografie.<br />

Dortm<strong>und</strong>.<br />

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GUSCHKeR, S. (2002): <strong>Bild</strong>erwelt <strong>und</strong> lebenswirklichkeit. eine soziologische<br />

Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen lebens.<br />

Frankfurt a. M.<br />

HOFMANN, W. (1998) (Hg.): Visuelle Politik. Filmpolitik <strong>und</strong> die visuelle Konstruktion<br />

des Politischen. Baden-Baden.<br />

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zur visuellen Konstruktion politischer Identität. In: Hofmann, W./lesske, F.<br />

(Hg.), Politische Identität - visuell. Münster, 3-26.<br />

72


Visuelle Symbolisierung kollektiver Identitäten<br />

HOFMANN, W. (2005b): <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Macht. Von der Theorie visueller Kommunikation<br />

zur Theorie postmoderner Politik. In: K. Sachs-Hombach (Hg.), <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />

zwischen Reflexion <strong>und</strong> Anwendung. Köln, 71-85.<br />

lUHMANN, N. (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen.<br />

MeYeR, T. (2001): Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien.<br />

Frankfurt a. M.<br />

MUSellO, C. (1980): Studying the Home Mode: An Exploration of Family Photography<br />

and Visual Communication. In: Studies in Visual Communication,<br />

6, 23-42.<br />

SARCINellI, U. (1987): Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns<br />

in der Wahlkampfkommunikation der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Opladen.<br />

SARCINellI, U. (1994): Mediale Politikdarstellung <strong>und</strong> politisches Handeln:<br />

Analytische Anmerkungen zu einer notwendigerweise spannungsreichen<br />

Beziehung. In: jaren, O. (Hg.), Politische Kommunikation in Hörfunk <strong>und</strong><br />

Fernsehen. elektronische Medien in der B<strong>und</strong>esrepunblik Deutschland. Opladen,<br />

35-50.<br />

SARCINellI, U./SCHATZ, H. (2002) (Hg.): Mediendemokratie im Medienland?<br />

Inszenierungen <strong>und</strong> Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld von Medien<br />

<strong>und</strong> Parteieliten am Beispiel der nordrhein-westfälischen landtagswahl<br />

2000. Opladen.<br />

Seel, M. (1995): Fotografien sind wie Namen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie,<br />

3, 465-478.<br />

STARl, T. (1995): Knipser. Die <strong>Bild</strong>geschichte der privaten Fotografie in Deutschland<br />

<strong>und</strong> österreich von 1850 bis 1980. München.<br />

WORTH, S. (1981): Studying Visual Communication. Philadelphia.<br />

73


MelTeM ACARTÜRK<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

im Kontext der Kampagne „Du bist Deutschland“<br />

Visuelle Kommunikation ist eine eigene, spezielle Kommunikationsform der<br />

Werbung, die unmittelbar <strong>und</strong> direkt mit dem Individuum in einen ‚Dialog’ tritt.<br />

Die visuelle Kommunikation unterliegt „ihrer spezifischen assoziativen Logik, die<br />

sich von der argumentativen Logik, wie sie meist in Textkommunikation anzutreffen<br />

ist, wesentlich unterscheidet“ (Müller 2003: 20). In seinem bereits 1873<br />

publizierten Werk „Psychologie der Massen“ schrieb der Franzose Gustave Le<br />

Bon <strong>Bild</strong>ern eine suggestive Kraft zu, die Menschenmassen beeinflussen, manipulieren<br />

<strong>und</strong> lenken können. „Die Massen können nur in <strong>Bild</strong>ern denken <strong>und</strong><br />

lassen sich nur durch <strong>Bild</strong>er beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie<br />

<strong>und</strong> werden zu Ursachen ihrer Taten“ (zit. nach Haubl 1992: 19). Kann durch visuelle<br />

Kommunikation in den Printmedien in Form von Plakaten, Anzeigen oder<br />

Postkarten individuelle sowie kollektive Identität konstruiert, geprägt, beeinflusst<br />

werden?<br />

75


MelTeM ACARTÜRK<br />

Der vorliegende Beitrag stellt an ausgewählten Motiven exemplarisch zentrale Ergebnisse<br />

der hermeneutisch f<strong>und</strong>ierten Analyse der 22 Anzeigenmotive der Kampagne<br />

„Du bist Deutschland“ 1 vor. Dabei liegt der Fokus auf der Rekonstruktion<br />

der dominierenden Kommunikationsprinzipien <strong>und</strong> Identitätsstiftenden Angebote<br />

auf visueller wie semantischer ebene. Was passiert, wenn man eine Anzeige,<br />

sei es flüchtig, sei es intensiver, betrachtet? Welche Informationen, Assoziationen<br />

werden wie vermittelt, welches (Vor-)Wissen wird durch welche Kommunikationsprinzipien<br />

aktiviert? Können Identitäten beeinflusst, aktuelle <strong>und</strong>/oder zukünftige<br />

Einstellungen <strong>und</strong> Handlungen verändert werden?<br />

1 ein <strong>Bild</strong> sagt mehr als tausend Worte...<br />

Der Alltag des Betrachters wird einen Moment unterbrochen, seine Aufmerksamkeit<br />

soll durch das für eine Werbeanzeige untypische, aus dem Alltagsbereich<br />

stammende <strong>Bild</strong>motiv geweckt werden. Das <strong>Bild</strong> des Tätowierers (stellvertretend<br />

für eine Subkultur) <strong>und</strong> das assoziative <strong>Bild</strong>, das man aufgr<strong>und</strong> des Slogans von<br />

Dürer vor Augen hat (Zugehörigkeit zur Hochkultur), erzeugen eine Irritation.<br />

Gesetzt den Fall, der Betrachter verfügt über kein Wissen um Albrecht Dürer,<br />

bliebe diese Irritation aus, da für den ‚Unwissenden’ auch der Tätowierer Albrecht<br />

Dürer heißen könnte. Für den ‚Wissenden’ sind allerdings Ähnlichkeiten<br />

zwischen dem Porträt des Tätowierers <strong>und</strong> Dürers Selbstbildnis klar auszumachen.<br />

In Dürers Selbstbildnis 2 von 1500 wird sein Gesicht von links in einem<br />

warmen licht beleuchtet, seine Haare sind ebenso braun, lang <strong>und</strong> gelockt. Selbst<br />

die in die Stirn fallende Haarlocke ist bei beiden <strong>Bild</strong>nissen kongruent <strong>und</strong> auch<br />

die Form der Oberlippenbärte gleichen einander ansatzweise. Durch die Ähnlichkeit<br />

auf der bildlichen Darstellung des Anzeigenmotivs werden der Tätowierer<br />

<strong>und</strong> der berühmte Maler einander gleich gestellt. Die Beleuchtung des Hauptes<br />

wirkt fast wie ein Heiligenschein um den Tätowierer. Stünde an seiner Stelle eine<br />

weibliche oder eine barhäuptige Person, wäre eine Assoziation mit Dürer selbst<br />

nicht möglich. Die äußerliche Ähnlichkeit mit Dürer wird als Gemeinsamkeit<br />

dargestellt.<br />

1 Die Kampagne „Du bist Deutschland“ lief in Deutschland im Zeitraum September 2005 bis April<br />

2006. Sie wird als „Aktion deutscher Medien im Rahmen der Initiative ‚Partner für Innovation’“ ausgeschrieben<br />

(vgl. www.du-bist-deutschland.de, (Zugriff am 7.4.2007). Neben den 22 verschiedenen<br />

Anzeigenmotiven, welche als großflächige 3m x 5m Plakate, großformatige Anzeigen in Zeitungen<br />

<strong>und</strong> Zeitschriften <strong>und</strong> im Postkartenformat geschalten wurden, gab es zusätzlich zwei TV-Spots <strong>und</strong><br />

eine eigene Internetpräsenz. Das <strong>Bild</strong>material für die Anzeigenmotive stammt aus dem Internetbilderpool<br />

www.bilderberg.de, welche die Motive ebenfalls unentgeltlich zur Verfügung stellte, wie<br />

alle anderen Leistungen der teilnehmenden Firmen, Unternehmen <strong>und</strong> Einzelpersonen sich „pro<br />

bono“ beteiligten (ebd.).<br />

2 Dürer ist der erste Künstler, der das frontale Selbstbildnis für sich in Anspruch nimmt, dieses Schema<br />

war bislang nur der Darstellung jesu Christi vorbehalten gewesen.<br />

76


Albrecht Dürer<br />

Abb. 1 Anzeigenmotiv „Du bist Albrecht<br />

Dürer“<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

Abb. 2 Albrecht Dürer. Selbstbildnis im<br />

Pelzrock. Gemälde auf Holz, 67 x 49 cm.<br />

1500. München. Alte Pinakothek.<br />

Das Anzeigenmotiv bietet ein elementares Symbol zur Identifikation: Die großflächige<br />

Tätowierung rechts im <strong>Bild</strong>. Sie impliziert nicht nur im beruflichen Metier<br />

eine weitere Gemeinsamkeit (‚Kunst’ beziehungsweise ‚Malerei’), sondern<br />

verweist durch ihre Dauerhaftigkeit auf ein eindeutiges Identifikationsmerkmal,<br />

dessen sich der Träger rechts im <strong>Bild</strong> bedient. Die Tätowierung als Identifikationsmerkmal<br />

des Individuums <strong>und</strong> als erkennungszeichen einer Zugehörigkeit<br />

zu einem Kollektiv, hat eine lange Tradition, wenn gleich sich ihre Bedeutung im<br />

laufe der Zeit gewandelt hat. Mit den zunehmenden sozialen Veränderungen,<br />

bedingt durch die industrielle Revolution, im europa des 19. jahrh<strong>und</strong>erts verbreiteten<br />

sich auch die Tätowierungen, vor allem im Proletariat. Gegen ende des<br />

19. jahrh<strong>und</strong>erts waren etwa 20 Prozent der deutschen Unterschicht tätowiert.<br />

Der Historiker Stephan Oettermann schreibt diese entwicklung den Problemen<br />

der „Pauperisierung <strong>und</strong> Verstädterung der Landbevölkerung, der Auflösung der<br />

Zünfte <strong>und</strong> der Proletarisierung des Handwerkers zum Fabrikarbeiter“ (Oettermann<br />

1979, zit. n. lobstädt 2005: 174) zu. Nach Oettermann ist dem Verlust<br />

von identitätsstiftenden Gesellschaftsordnungen der Versuch der Kompensation<br />

durch Selbsteinschreibung von Identitätszeichen zuzuschreiben (vgl. lobstädt<br />

2005: 174). Unter diesem Aspekt ist die in den letzten jahren stark zunehmende<br />

Bereitschaft junger Leute, sich zu tätowieren, ein eindeutiges Indiz für den Verlust<br />

identitätsstiftender Faktoren in der Gesellschaftsordnung. Unabhängig davon<br />

sind es in allen Fällen spezielle Zeichen, die Auskunft über eine Zugehörigkeit<br />

zu einem bestimmten Kollektiv geben können, sofern der Betrachter eingeweiht<br />

ist. Tätowierungen sind demnach Zeichen der eingrenzung, Ausgrenzung sowie<br />

Abgrenzung. Diese drei Aspekte der Grenzen sind wichtige Voraussetzungen für<br />

die <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Stärkung individueller <strong>und</strong> kollektiver Identitäten.<br />

Die für das Anzeigenmotiv gewählte Fotografie bekommt durch die Darstellung<br />

des Tätowierers, arbeitend an seinem ‚Werk’ in Verbindung mit dem Maler<br />

Albrecht Dürer einen weiteren Sinn. Die Kunst ist ein Assoziationsanker, der<br />

77


MelTeM ACARTÜRK<br />

zwischen den drei elementen, assoziativem <strong>und</strong> manifestem <strong>Bild</strong> sowie dem<br />

Fließtext eine Verbindung schafft. Der Fließtext, der in gängigen Werbeanzeigen<br />

nähere Informationen zum Produkt der Anzeige bietet, gibt hier dem Betrachter<br />

nur marginal Auskunft über die dargestellte Szene im Tätowierstudio. Das erste,<br />

womit der Leser im Fließtext konfrontiert wird, ist eine Frage: „Großfamilien sind<br />

asozial?“. Das Wort „asozial“ bildet den zweiten Assoziationsanker, das auch für<br />

einen ‚Unwissenden’ sinngebend ist. Denn dieses Wort benennt assoziativ das<br />

Gesehene, es bestätigt eine allgemeine Einstellung ‚Tätowierte sind doch asozial’.<br />

Gleichzeitig versetzt dieser Satz den leser in eine völlig andere Sinnebene: in die<br />

einer neuen sozialen Umgebung. Dürer, der Tätowierer <strong>und</strong> Großfamilie – eine<br />

weitere Irritation entsteht.<br />

Kleingedruckter Fließtextanteil „Du bist Albrecht Dürer“:<br />

Großfamilien sind asozial? Die Kinder bekommen zuwenig Aufmerksamkeit von ihren Eltern<br />

<strong>und</strong> werden nie was? Albrecht Dürer beweist das Gegenteil: Der Maler hatte achtzehn<br />

Geschwister. Trotzdem erkannten <strong>und</strong> förderten Mutter <strong>und</strong> Vater sein Talent. Widerstand<br />

<strong>und</strong> Chancen halten sich im leben fast immer die Waage. Doch welche Seite gewinnt,<br />

kannst du entscheiden. leidenschaften wiegen mehr als Widerstände. Und Träume sind<br />

schwerer als dumme Vorurteile. Wenn du alles in die Waagschale wirfst, dann kann dich<br />

niemand stoppen.<br />

Am Beispiel der im Text dargestellten ‚Biografie’ Albrecht Dürers wird dieser dem<br />

Rezipienten in zweierlei Hinsicht als Projektionsfläche angeboten: Zum einen,<br />

als eine Person, die sich in der Vergangenheit in derselben Situation befand, welche<br />

der gegenwärtigen Situation des Betrachters gleichgesetzt wird, zum anderen<br />

als Projektionsfläche für das zukünftige Handeln der Zielperson.<br />

Zusammenfassend lassen sich in Bezug auf das Kommunikationsprinzip zwei<br />

Punkte eindeutig hervorheben: es werden verschiedene Dissonanzen ausgelöst.<br />

Zum einen durch die direkte Ansprache im Slogan („Du“) <strong>und</strong> der direkten Zuweisung<br />

einer (dem Rezipienten bekannten oder fremden) Identität („bist Albrecht<br />

Dürer“), zum anderen durch die Wechselwirkung dreier Elemente, die Dissonanzen<br />

auslösen: durch das manifeste <strong>Bild</strong>, das ‚innere’ <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> das Wissen,<br />

das der Betrachter um Dürer besitzt. In der Textebene fallen dissonante Sprachbilder<br />

auf, wie zum Beispiel der direkte Wechsel von der ‚gerechten Waage des<br />

Lebens’ zum ‚Leben als Wettkampf’ mit Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern.<br />

es sind bestimmte Assoziationsanker in Text <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>, die in der Anzeige angeboten<br />

werden. In diesem Fall ist es das Wort „asozial“, das als ‚Brücke’ von der<br />

‚<strong>Bild</strong>welt’ in die ‚Textwelt’ dient. Als übergreifendes Thema wird ‚Malerei’ bzw.<br />

‚Kunst’ angeboten. Diese Assoziationsanker bilden eine gemeinsame Basis für<br />

die ‚Irritationspole’ <strong>und</strong> haben dadurch auf die zuvor ausgelöste Irritationsstärke<br />

eine mindernde Funktion.<br />

78


Die an diesem Anzeigenmotiv aufgezeigten elemente sind im gesamten Datenmaterial<br />

wieder zu finden <strong>und</strong> typisch für die Anzeigenserie. Im Folgenden sollen<br />

die Vermittlungsprinzipien der Anzeigenmotive, Dissonanz, Assonanz <strong>und</strong> Assoziationsanker,<br />

sowie im Anschluss konkrete Identitätsmodifizierende Prinzipien<br />

näher beleuchtet werden<br />

2 Vermittlungsprinzipien der Anzeigenmotive<br />

Dissonanzen<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

Dass von Werbenden Irritationen aktiv konstruiert werden, überrascht zunächst<br />

nicht, denn nach luhmann besteht die primäre Funktion der Massenmedien<br />

„in der ständigen Erzeugung <strong>und</strong> Bearbeitung von Irritation […] Als faktischer<br />

effekt dieser zirkulären Dauertätigkeit des erzeugens <strong>und</strong> Interpretierens von<br />

Irritation durch zeitpunktgeb<strong>und</strong>ene Information […] entstehen die Welt- <strong>und</strong><br />

Gesellschaftsbeschreibungen, an denen sich die moderne Gesellschaft orientiert“<br />

(luhmann 1996: 174). Wird dieser Ansatz auf die Mikroebene angewendet, so<br />

bieten die Anzeigen zu den angesprochenen Problemen (den ‚Barrieren’ <strong>und</strong> ‚Widerständen’<br />

des Betrachters am Beispiel der Erfolgsgeschichte der Vorbilder), entsprechende<br />

lösungs- <strong>und</strong> Handlungswege <strong>und</strong> somit eine Orientierungshilfe an.<br />

Die Irritationen führen dazu, dass sich der Betrachter, bewusst oder unbewusst,<br />

damit auseinandersetzen <strong>und</strong> diese verarbeiten muss.<br />

Irritationen dieser Art ist in der Sozialpsychologie die „Theorie der kognitiven<br />

Dissonanz“ (Festinger 1978) gewidmet. Diese Theorie geht davon aus, „daß der<br />

menschliche Organismus bestrebt ist, eine Harmonie, Konsistenz oder Kongruenz<br />

zwischen seinen Meinungen, Attitüden, Kenntnissen <strong>und</strong> Wertvorstellungen<br />

herzustellen“ (Festinger 1978: 253). Der Alltag eines Individuums ist von etlichen<br />

Dissonanzen geprägt, etwa das bei Festinger gegebene Beispiel eines Rauchers,<br />

der weiß, dass rauchen schädlich, sogar tödlich sein kann, aber trotzdem weiterhin<br />

raucht. eine Dissonanz entsteht, wenn zwei elemente nicht miteinander<br />

kongruent sind.<br />

Das bedeutet in diesem Fall: im Unterschied zu alltäglichen, zufälligen dissonanten<br />

erlebnissen sind diese hier vom Betrachter erlebten Dissonanzen von<br />

den Werbenden bewusst konstruiert <strong>und</strong> gewollt <strong>und</strong> übernehmen verschiedene<br />

Funktionen: Aufmerksamkeit für das Motiv wecken, langfristige einprägung beim<br />

Betrachter durch kognitive Beschäftigung mit der erfahrenen Dissonanz <strong>und</strong> die<br />

Einteilung der Betrachter in ‚Wissende’ <strong>und</strong> ‚Unwissende’ um die betitelte Identifikationsperson.<br />

Die Dissonanz wird dadurch erreicht, dass, das was man sieht<br />

<strong>und</strong> das, was man weiß, nicht zusammenpasst. Die Dissonanzstärke folgt aus der<br />

Wichtigkeit der miteinander verb<strong>und</strong>enen elemente (vgl. a.a.O. 1978: 28). Die<br />

Personen dienen als Vermittler gesellschaftlich verankerter, assoziativer <strong>Bild</strong>er<br />

<strong>und</strong> Werte. Eine Form der Dissonanzreduktion ist das „Hinzufügen neuer kogni-<br />

79


MelTeM ACARTÜRK<br />

tiver Elemente“, indem der Betroffene „aktiv neue Informationen sucht, die die<br />

Gesamtdissonanz reduzieren könnten“ (a.a.O: 33). So hängt es vom Betrachter ab,<br />

für welchen Weg er sich zur Dissonanzreduktion entscheidet: nach weiteren Informationen<br />

suchen oder diese meiden. Das Hinzufügen von neuem ‚Wissen’ aus<br />

dem angebotenen kleingedruckten Fließtext, das in diesem Fall ebenfalls ‚gefiltert’<br />

<strong>und</strong> bewusst konstruiert wurde, führt den Betrachter allerdings zu weiteren<br />

Dissonanzerlebnissen. So erhält er meist nur marginale Informationen über<br />

die Identifikationspersönlichkeit <strong>und</strong> das Foto selbst. Stattdessen werden neue<br />

(Sprach-) <strong>Bild</strong>er erzeugt, die den Betrachter in andere ‚Sinnwelten’ versetzen <strong>und</strong><br />

diesmal auf semantischen Dissonanzen aufbauen, wie zum Bespiel der Wechsel<br />

vom <strong>Bild</strong> der ‚gerechten Waage’ zum <strong>Bild</strong> des ‚harten Wettkampfes’ (Dürer). Im<br />

weiteren Textverlauf wird immer mehr <strong>und</strong> mehr von der Identifikationsfigur Abstand<br />

genommen <strong>und</strong> während der Leser im Text Informationen über die Anzeige<br />

zu finden erwartet wird er unmittelbar <strong>und</strong> unerwartet selbst zum Mittelpunkt<br />

der Anzeige. Die ursprüngliche Informationssuche wird zur ‚persönlichen Unterhaltung’.<br />

Der Leser wird in einen emotional behafteten, ‚persönlichen’ Dialog<br />

hineingezogen, in dem (seine) soziale Welt, äußere ‚Widerstände’ <strong>und</strong> ‚Vorurteile’<br />

Anderer angesprochen werden. Im Fließtext wird eine Polarisierung zwischen<br />

dem Betrachter (‚Du’) <strong>und</strong> den ‚Anderen’, denen mit den ‚dummen Vorurteilen’,<br />

hergestellt.<br />

Die Bandbreite der Dissonanzstärke ist im Datenmaterial unterschiedlich. Die<br />

spontane Reaktion des sich W<strong>und</strong>erns, sich Amüsierens, des irritiert seins, also<br />

das eigentliche Aufmerksamkeitsmoment, kann zwar bis zu einem gewissen<br />

Grad auch über ein einzelnes element (Slogan oder <strong>Bild</strong>) erreicht werden, doch<br />

ist das Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> Irritationsmoment wesentlich höher, wenn Wissen<br />

um die Identifikationsperson vorhanden ist. Es lassen sich also insgesamt drei<br />

Dissonanzebenen zusammenfassen: Der Slogan an sich, die Kombination Sloganist–<strong>Bild</strong><br />

<strong>und</strong> dissonante Sprachbilder im Fließtext des Motivs. Doch manifestiert<br />

sich der Dissonanzgrad nicht immer in der wie am Beispiel aufgezeigten Stärke.<br />

Es existieren verschiedene Abstufungen. Die Bandbreite ist von ‚das, was ich sehe<br />

<strong>und</strong> das, was ich weiß passen absolut nicht zusammen’ bis hin zu ‚sie passen irgendwie<br />

oder richtig zusammen’. Die Grenzen von Dissonanz zur Assonanz sind<br />

fließend <strong>und</strong> nicht klar abzustecken.<br />

Assonanzen <strong>und</strong> Assoziationsanker<br />

ebenso wie für die Herstellung einer Dissonanz-, wird auch für die der Assonanzwirkung<br />

auf innerlich verankerte <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Symbole zurückgegriffen. Assonante<br />

Motive wären auch ohne direkten Personenbezug anhand der gegebenen<br />

Assoziationsanker intersubjektiv verständlich. Diese Motive symbolisieren die<br />

Werte <strong>und</strong> Eigenschaften, die für die Identifikationspersonen stehen. Als besonderes<br />

Beispiel der Assonanzwirkung ist das Motiv ‚Du bist Albert Einstein’ zu<br />

nennen. Zu sehen ist ein Porträt von einem älteren Mann, der einsteins typischen<br />

80


Attribute vorweist: die grauen, leicht wirren Haare, einen Oberlippenbart, einen<br />

leicht verschmitzten M<strong>und</strong>, den Kopf leicht nach rechts geneigt, schaut er den<br />

Betrachter direkt an. er hat die Stirn in Falten gelegt, die Augenbrauen hochgezogen,<br />

sich mit seiner linken Hand an die Schläfe fassend: eine typische Denkerposition.<br />

Die Aufnahme ist aus einer leicht erhöhten Position aus erstellt, da der Alte<br />

Mann leicht nach oben in die Kamera blickt.<br />

Albert einstein<br />

Abb. 3 Anzeigenmotiv „Du bist Albert<br />

Einstein“<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

Abb. 4 Porträt Albert einstein<br />

Stellt man das Porträt einsteins zum Vergleich, so fällt die große Ähnlichkeit auf.<br />

Reduziert auf die wenigen genannten äußeren Attribute, ist er bekanntlich selbst<br />

als Karikatur eindeutig wieder zu erkennen. einstein hat sich zum Sinnbild <strong>und</strong><br />

Inbegriff der Intelligenz <strong>und</strong> des Genies entwickelt, ist zum Mythos geworden.<br />

Der Mythos spielt in den Anzeigenmotiven im Zuge der Identitätsstiftenden <strong>und</strong><br />

-vermittelnden Prinzipien eine tragende Rolle. es ist für die weiteren Ausführungen<br />

angebracht, die dem Mythos zugeschriebene Schaffung „euphorischer<br />

Sicherheit“ <strong>und</strong> die Tatsache, dass dem Mythos „Widersprüche gleichgültig sind“,<br />

im Auge zu behalten.<br />

Wie am Motiv Dürer aufgezeigt, werden in den Anzeigenmotiven verschiedene visuelle<br />

<strong>und</strong> assoziative Assoziationsanker angeboten (Dürer: ‚asozial’ <strong>und</strong> ‚Kunst’).<br />

Am Anzeigenmotiv Erhard lassen sich die assoziative Logik der <strong>Bild</strong>- <strong>und</strong> Textebene<br />

sehr klar verdeutlichen.<br />

81


MelTeM ACARTÜRK<br />

ludwig erhard<br />

82<br />

Abb. 5 Anzeigenmotiv „Du bist Ludwig<br />

Erhard“<br />

Abb. 6 Porträt ludwig erhard<br />

In Zentralperspektive aufgenommen (Abb. 5), wird ein ungewöhnlich großer<br />

Kohlkopf von einer älteren Frau (Bäuerin oder Gärtnerin) stolz in die Kamera<br />

gehalten. Der r<strong>und</strong>e Kohlkopf wird vom „Du“ überdeckt. Das rosige Gesicht der<br />

Frau ist ebenfalls r<strong>und</strong>, wettergegerbt <strong>und</strong> gezeichnet von tiefen Falten, die von<br />

einem harten leben zeugen. Das Geschlecht der Bäuerin spielt in diesem <strong>Bild</strong><br />

zunächst keine Rolle, sie könnte auch von einem älteren Bauer ersetzt werden.<br />

Es sind das Alter, die Gesichtsform, die ‚wirken’. Auch spielt der riesige Kohlkopf<br />

eine entscheidende Rolle. Es scheint ein ‚W<strong>und</strong>er der Natur’ zu sein, das diesem<br />

Kohlkopf zu derartiger Größe verhalf. Wenn auch die Bäuerin ihr Zutun geleistet<br />

haben sollte, so ist das Wachstum in diesem Fall ein naturgegebener Prozess.<br />

Dem gegenüber ist ludwig erhard der Inbegriff des Wirtschaftswachstums in den<br />

1960er Jahren, der ‚Erfinder’ der sozialen Marktwirtschaft. Er veröffentlichte 1957<br />

seine „programmatische Schrift“, mit dem Titel „Wohlstand für alle“, das auch zu<br />

seinem späteren politischen Slogan als B<strong>und</strong>eskanzler 3 wurde. Auf einem Werbeplakat<br />

für diesen Titel (Abb. 6) ist erhard ebenso wie die Bäuerin frontal abgebildet.<br />

Die gesamte Körperhaltung <strong>und</strong> Physiognomie der beiden Personen weisen<br />

erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Die beiden elemente, das Buch erhards <strong>und</strong> der<br />

Kohlkopf, beides als Symbol des ‚Wachstums’, dienen als Assoziationsanker <strong>und</strong><br />

verleihen dem Motiv in Kombination mit dem Slogan seine vielschichtigen Bedeutungen.<br />

An diesem Motiv wird deutlich, dass das visuell symbolisierte Wachstum<br />

der Natur (Kohlkopf) assoziativ mit dem Wirtschaftswachstum (ludwig erhard)<br />

in Verbindung gebracht <strong>und</strong> miteinander verknüpft wird. Der Slogan „Du<br />

bist Ludwig Erhard“ überträgt den mit dem Wirtschaftswachstum gekoppelten<br />

Wohlstand auf den Rezipienten, es vermittelt quasi ‚Du bist Wachstum <strong>und</strong> Wohlstand’.<br />

Diese visuell dargestellte assoziative Vermittlung findet sich auch auf der<br />

Ebene des Fließtextes wieder.<br />

3 Deutsches historisches Museum (2007): Biografie Ludwig Erhard http://www.dhm.de/lemo/html/<br />

biografien/ErhardLudwig/index.html (Zugriff am 20.1.2007)


3 Identitätsmodifizierende Prinzipien<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

Kollektive Identität kann „nicht unabhängig oder getrennt von individuellen<br />

Identitäten existieren“, das heißt, sie „existiert nur, soweit sie in individuellen<br />

Identitäten verankert ist“ (Bader 1991: 106). Die <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Festigung kollektiver<br />

Identitäten benötigt ein gewisses Mindestmaß an Bewusstsein <strong>und</strong> Selbstbewusstsein<br />

des Individuums <strong>und</strong> der Gruppe (vgl. Bader 1991: 108). Auch können<br />

kollektive Zugehörigkeiten „nicht wie das Hemd“ gewechselt werden (Keupp et<br />

al. 1999: 65), denn bestimmte Zugehörigkeiten sind von Geburt an gegeben (z.B.<br />

zum Kollektiv der Deutschen), wogegen sich die individuelle Identität erst durch<br />

verschiedene Sozialisationsprozesse entwickelt bzw. verändert. Individuelle Identität<br />

wird im Sinne des Sozialpsychologen Herbert Mead unter anderem durch<br />

folgende, wechselseitige Prozesse geprägt <strong>und</strong> gefördert: der entwicklung eines<br />

Selbstbildes sowie des Fremdbildes, der Abgrenzung zu Anderen, Identifizierung<br />

mit Vorbildern, Ich-Idealen <strong>und</strong> der Entwicklung eines reflexiven Selbstbewusstseins<br />

(vgl. Abels 2006: 32ff.). Zur entwicklung stabiler individueller Identität<br />

gehört auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in Bezug auf<br />

Vergangenheit, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft. Die Identifikation mit der eigenen Geschichte<br />

ist Teil der „narrativen Identitätsarbeit“ (Keupp et al. 1999: 208). Durch<br />

die Erzählung wird Identität konstruiert, „die einzelnen erzählen sich immer wieder<br />

um <strong>und</strong> neu <strong>und</strong> schreiben ‚sich’ damit fort“ (Keupp et al. 1999: 68f.). Das<br />

Bewusstsein <strong>und</strong> Handlungskonzepte kollektiver Identitäten gehen fließend über<br />

in die individuellen Identitäten, so können „sich in einem Subjekt viele verschiedene,<br />

einander widersprechende kollektive Identitäten durchkreuzen <strong>und</strong> überlagern“<br />

(Bader 1991: 109).<br />

Die aus dem Alltag stammenden Momentaufnahmen der Anzeigenmotive bieten<br />

dem Betrachter ‚Geschichten’ an, die an sein Alltagswissen anknüpfen. Dieser ‚gemeinsam<br />

geteilte’ Erfahrungsraum verdeutlicht dem Rezipienten auf diese Weise,<br />

dass die heute berühmten <strong>und</strong> erfolgreichen Personen doch ganz menschlich<br />

<strong>und</strong> erreichbar sind, was beim Rezipienten zu einer positionellen Distanzreduktion<br />

in Bezug auf die Identifikationsperson führen soll. Die Biografie der Identifikationspersonen<br />

erfährt eine parallele Narration zur Biografie des Rezipienten.<br />

Die Gegenwart des Betrachters wird zur Vergangenheit des Vorbildes. Der gegenwärtige<br />

Status des Vorbildes wird zum zukünftigen des Rezipienten. Damit wird<br />

dem Rezipienten eigene narrative Identitätsarbeit in Bezug auf seine erfolgsgeschichte<br />

quasi abgenommen. Der Betrachter versetzt sich in die Vorbildsperson<br />

<strong>und</strong> denkt sich in seiner Rolle weiter. Dabei verlaufen die Narrationen progressiv,<br />

das heißt, sie gehen stetig aufwärts, mit dem immer gleichen von der Vorbildperson<br />

erreichten <strong>und</strong> dem Betrachter als erreichbar suggerierten Ziel: erfolg. Die<br />

Erfolgsgeschichten aller Vorbilder sind mythischer Herkunft (‚Vom Tellerwäscher<br />

zum Millionär’ – Prinzip). Auch die für deren Aufstieg in der Gesellschaft voraussetzenden<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> benötigten ‚Werkzeuge’ sind mystifiziert <strong>und</strong> ideologisiert<br />

dargestellt (Mut <strong>und</strong> Wille, Fleiß <strong>und</strong> Leidenschaft). Durch Identifikation<br />

83


MelTeM ACARTÜRK<br />

mit dem Vorbild, das in dieselbe Ausgangsposition in seinem lebenslauf versetzt<br />

wird wie der Betrachter, soll letzterer seine Zukunft, seine einstellung zu seinen<br />

eigenen Chancen im Leben, zu gesellschaftlichen ‚Vorurteilen’, mit denen er konfrontiert<br />

wird, bedenken <strong>und</strong> möglichst, wie auch die Identifikationspersonen,<br />

zum positiven verändern.<br />

Die gemeinsamen Erfahrungsräume bereiten den ‚Boden’ zur Übernahme weiterer<br />

Werte <strong>und</strong> Handlungsmuster der Vorbildperson in das eigene Ich des Rezipienten.<br />

Durch emotionale Erfahrungsräume im Fließtext werden einerseits<br />

Menschen angesprochenen, die Träume, Wünsche, Talente <strong>und</strong> leidenschaften<br />

in sich ‚spüren’ <strong>und</strong> bereits eine positive Zukunftsvorstellung in sich tragen, andererseits<br />

aber auch Menschen mit negativen emotionalen erfahrungen <strong>und</strong> eigenschaften,<br />

welche unzufrieden mit sich selbst sind oder sich als talentlos bezeichnen<br />

würden. In allen Motiven spiegelt sich das latente lebensgefühl unserer Zeit:<br />

die Angst zu Versagen, seinen lebensentwurf ungenügend optimiert zu haben,<br />

die Angst, etwas zu verpassen, die Chancen nicht genutzt zu haben, nicht genug<br />

aus seinem leben gemacht zu haben. Aber auch der Wunsch nach Selbstverwirklichung<br />

<strong>und</strong> Anerkennung durch Andere wird angesprochen, geweckt, die erfüllung<br />

in Aussicht gestellt.<br />

Es lassen sich im Datenmaterial also mehrere Identifikationsdimensionen, zur<br />

<strong>Bild</strong>ung von Identität bestätigend zusammenfassen: Identifikation durch Narration,<br />

visuelle <strong>und</strong> emotionale erfahrungsräume, Positionierungen (Abgrenzung),<br />

biografische Projektion, Übernahme des angebotenen Wertehorizontes, (mystifizierte)<br />

erfolgsbilder <strong>und</strong> in Aussicht gestellte Anerkennung <strong>und</strong>/oder Selbstverwirklichung.<br />

4 Fazit der Analyseergebnisse<br />

Die Analyse macht die Gr<strong>und</strong>botschaft der Kampagne, die dem Betrachter zur<br />

Identifikation angeboten wird (‚Du bist deines Glückes Schmied’ ‚Ohne Fleiß<br />

kein Preis’ ‚Du bist ein Einzelkämpfer, erwarte nichts von den Anderen, wenn du<br />

erfolgreich sein willst’) deutlich. Losgelöst von seinem sozialen Umfeld gelangt<br />

der Rezipient als einzelkämpfer zum erfolg. ein bei ihm eventuell vorhandenes<br />

‚Wir-Gefühl’ wird durch Polarisierung zu den Anderen ausgeschlossen. Die Feststellung<br />

des Sozialpsychologen Heiner Keupp, jeder einzelne werde mehr <strong>und</strong><br />

mehr verpflichtet, zum Architekten seines Subjektgehäuses zu werden (vgl.<br />

Keupp et al. 1999: 55), bestätigt sich in den Aussagen der Anzeigenmotive. es<br />

werden verschiedene <strong>Bild</strong>er von einem gelungenen leben <strong>und</strong> einer gelungenen<br />

Identität gezeichnet, die für den Betrachter als Projektionsfläche für eine eigene<br />

erstrebenswerte <strong>und</strong> auch umsetzbare Identität dienen sollen. es wird suggeriert,<br />

jedem Einzelnen in der Gesellschaft stünden alle Chancen offen <strong>und</strong> er müsse sie<br />

nur nutzen beziehungsweise nur genügend hart <strong>und</strong> lange dafür arbeiten. Der<br />

84


Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

Mythos des Amerikanischen Traumes (‚vom Tellerwäscher zum Millionär’), allein<br />

durch eigene Kraft <strong>und</strong> eigenes Zutun zum erfolg gelangen zu können, bündelt<br />

diese ideologische Einstellung. Die angebotenen Identifikationsmuster <strong>und</strong> gezeichneten<br />

erfolgsbilder können in Anbetracht der gesellschaftlich-politischen<br />

entwicklung in Deutschland nur als Versuch gewertet werden, den Menschen in<br />

ein zukünftig anders gestaltetes Wertesystem zu geleiten.<br />

Die Zielgruppen der Kampagne, die sie zu motivieren (v)ersucht, sind hauptsächlich<br />

Menschen, die nicht über die nötigen Ressourcen zur aktiven Identitätsarbeit,<br />

zur erfolgreichen Konstruktion ihrer personellen (erwerbs-) Identität<br />

verfügen <strong>und</strong> unter dem Druck der konstruierten leitbilder stehend, unzufrieden<br />

mit ihrem lebensentwurf sind. es werden Angebote gemacht, wie man die<br />

angesprochenen ‚Barrieren’ überwinden könne, doch werden die persönlichen,<br />

politischen, strukturalen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine<br />

Überwindung der ‚Barrieren’ erschweren, in dieser Haltung ausgeblendet.<br />

„Die Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, hat ohne Zugang zu den<br />

erforderlichen [psychischen <strong>und</strong> sozialen] Ressourcen etwas Zynisches.“ (Keupp<br />

et al. 1999: 53). Das Problem der Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> steigender sozialer Ungleichheit<br />

in Deutschland wird in der Kampagne zu einem moralischen, individuellen<br />

Problem gewandelt. Moralische Probleme fallen jedoch nicht in den Verantwortungsbereich<br />

der Politik (vgl. Baringhorst 2004: 79) <strong>und</strong> somit wird jedes<br />

Individuum gefordert, da die ‚Widerstände’ <strong>und</strong> ‚Barrieren’ als sein individuelles,<br />

von politischen Strukturen abgekoppeltes Problem ausgewiesen werden, selbst<br />

für eine lösung einzustehen. Dem Rezipienten wird damit nicht nur die alleinige<br />

Verantwortung für das Gelingen, sondern vor allem auch das Misslingen seines<br />

lebens zugeschrieben. einerseits wird ihm suggeriert, er könne <strong>und</strong> dürfe, mehr<br />

noch, er solle <strong>und</strong> müsse seine ‚Erfolgsstory’ (Gropius) selbst schreiben, wenn er<br />

jedoch an den individuellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Rahmenbedingungen scheitert,<br />

sei es ‚sein Problem’. „Denn nach der konservativen Theorie des ‚selfpossesing<br />

individualism’ (Macpherson 1962) ist das Individuum der Eigentümer aller<br />

seiner Fähigkeiten, <strong>und</strong> sein erfolg im leben ist einzig <strong>und</strong> allein sein Verdienst,<br />

wie auch sein Missgeschick allein seine Schuld ist. Der Staat ist dem einzelnen<br />

nichts schuldig, <strong>und</strong> dieser ist dem Staat nichts schuldig“ (Israel 1996/1997: 80).<br />

Zudem wird erwerbsarbeit als Basis von Identität in industriell-kapitalistischen<br />

Gesellschaften immer brüchiger, da die vorhandene erwerbsarbeit weiter abnehmen<br />

wird. „Damit wird es auch immer mehr zu einer Illusion, alle Menschen in<br />

die erwerbsarbeit zu integrieren. Die psychologischen Folgen dieses Prozesses<br />

sind enorm, gerade in einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an der erwerbsarbeit<br />

über Ansehen, Zukunftssicherung <strong>und</strong> persönliche Identität entscheidet.“<br />

(Keupp et al. 1999: 47).<br />

ein Blick in die Mediengeschichte der B<strong>und</strong>esrepublik zeigt, dass die Kampagne<br />

‚Du bist Deutschland’ die Nachfolge bzw. Fortführung großer <strong>und</strong> langfristiger<br />

85


MelTeM ACARTÜRK<br />

Werbe- bzw. PR Kampagnen wie „Die Waage“ 4 (1952-1965) <strong>und</strong> „Initiative Neue<br />

Soziale Marktwirtschaft“ 5 (seit 2000) angetreten hat. Dies gilt, auch wenn es sich<br />

bei ‚Du bist Deutschland’ um eine einmalige Aktion, die ‚nur’ eine aktiv medienpräsente<br />

Dauer von 7 Monaten vorzuweisen hat, handelt, schon allein deshalb,<br />

weil die Initiatoren dieser Kampagne teilweise die gleichen geblieben sind, wie in<br />

vergangenen Kampagnen. In Fortschreibung der Ziele der Initiativen ‚Die Waage’<br />

<strong>und</strong> ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’, kann angezweifelt werden, ob die<br />

Kampagne ‚Du bist Deutschland’ tatsächlich nur einen ‚Bewusstseinswandel’ hin<br />

zu einem positiveren Selbstbewusstsein der Individuen in Deutschland transportieren<br />

will oder ob sie nicht vielmehr ein bereitwilliges Klima in der Gesellschaft<br />

herstellen will, unter dem konkrete politische Ziele umgesetzt werden können.<br />

literatur<br />

Abels, H. (2006): Identität. Fernuniversität Hagen.<br />

Bader, V. M. (1991): Kollektives handeln: Protheorie sozialer Ungleichheit <strong>und</strong><br />

kollektiven Handelns II. Opladen.<br />

Baringhorst, S. (2004): Strategic Framing. Deutungsstrategien zur Mobilisierung<br />

öffentlicher Unterstützung. In: Kreyher, V. j. (Hg): Handbuch Politisches<br />

Marketing. Baden-Baden, 75-88.<br />

Bongard, W./von Geyso, A./Mende, M. (1978): Dürer heute. Zweite - zum 450.<br />

Todestag 1978 - erweiterte Auflage. München.<br />

Brion, M. (1960): Albrecht Dürer. Der Mensch <strong>und</strong> sein Werk. Paris/Bremen.<br />

Deutsches historisches Museum (2007): Biografie Ludwig Erhard http://www.<br />

dhm.de/lemo/html/biografien/ErhardLudwig/index.html (Zugriff am<br />

20.1.2007).<br />

Festinger, l. (1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern/ Stuttgart/ Wien.<br />

Haubl, R. (1992): Früher oder später kriegen wir euch. In: Hartmann, H. A./<br />

Haubl, R. (Hg.): <strong>Bild</strong>erflut <strong>und</strong> Sprachmagie. Fallstudien zur Kultur der Werbung.<br />

Opladen, 9-32.<br />

4 Ziel der Kampagne war es „die gesamte Bevölkerung über Ziele <strong>und</strong> Vorteile der Sozialen Marktwirtschaft<br />

[aufzuklären] <strong>und</strong> damit für jene von Ludwig Erhard vertretene wirtschaftspolitische Konzeption<br />

[zu gewinnen]“ (Schweitzer 2004: 461f.).<br />

5 Das Ziel der ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft’ ist laut der Initiatoren, die mit „Ludwig Erhards<br />

Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft verb<strong>und</strong>enen Gr<strong>und</strong>werte wie eigeninitiative, leistungsbereitschaft<br />

<strong>und</strong> Wettbewerb“ wieder zu beleben <strong>und</strong> das „deutlich schwindende Vertrauen<br />

der Bevölkerung in die Soziale Marktwirtschaft erneut zu festigen“ (Schweitzer 2004: 464).<br />

86


Israel, j. (1996/1997): Neoliberaler Kapitalismus gegen soziale Marktwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Wohlfahrtsstaat. In: Hradil, S. (Hg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft<br />

für Soziologie): Differenz <strong>und</strong> Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften.<br />

Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft<br />

für Soziologie in Dresden. Frankfurt am Main/New York, 73-93.<br />

Keupp, H. et al. (1999): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten<br />

in der Spätmoderne. Hamburg.<br />

Kroeber- Riel, W./ esch, F.-R. (2004): Strategie <strong>und</strong> Technik der Werbung. Verhaltenswissenschaftliche<br />

Ansätze. Stuttgart.<br />

lobstädt, T. (2005): Tätowierung in der Nachmoderne. In: Breyvogel, W. (Hg.):<br />

eine einführung in jugendkulturen. Veganismus <strong>und</strong> Tattoos. Wiesbaden,<br />

165-236.<br />

luhmann, N. (1996): Die Realität der Massenmedien. Opladen.<br />

Müller, M. G. (2003): Gr<strong>und</strong>lagen der visuellen Kommunikation. Weinheim.<br />

Schweitzer, e. (2004): Kampagnen für die Soziale Marktwirtschaft. Politische<br />

Public Relations gestern <strong>und</strong> heute. In: Kreyher, V. j. (Hg.): Handbuch Politisches<br />

Marketing. Baden-Baden, 451-470.<br />

Speth, R. (2004): Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft,<br />

http://www.boeckler.de/pdf/fof_insm_studie_09_2004.pdf (Zugriff<br />

am 28.1.2007)<br />

Abbildungsverzeichnis<br />

Identitätskonstruktion durch visuelle Kommunikation<br />

Die hier abgebildeten Anzeigenmotive standen während des Kampagnenzeitraumes<br />

unter:<br />

http://www.du-bist-deutschland.de/opencms/opencms/Kampagne/TVSpotsAnzeigen.html?connection<br />

=dsl&system=win (Zugriff am 12.08.2006) zum freien<br />

Download bereit.<br />

Mittlerweile werden aktuell nur 18 der ursprünglich 22 Motive (ohne die Motive<br />

Walter Gropius, Faris Al-Sultan, Katarina Witt <strong>und</strong> Paul Kuhn) auf der Kampagnenseite<br />

unter http://www.dubistdeutschland.de/opencms/opencms/Presse-<br />

Meinungen/Pressematerial/Kampagnenmotive.html (Zugriff am 7.4.2007) zum<br />

Download bereitgestellt.<br />

Abb. 1 Anzeigenmotiv „Du bist Albrecht Dürer“<br />

Abb. 2 Albrecht Dürer. Selbstbildnis im Pelzrock. Gemälde auf Holz, 67 x 49 cm.<br />

1500. München. Alte Pinakothek. Quelle: Brion 1960: 69<br />

87


MelTeM ACARTÜRK<br />

Abb. 3 Anzeigenmotiv „Du bist Albert Einstein“<br />

Abb. 4 Porträt Albert einstein<br />

Quelle: http://www.j-net.com.au/monash/darsheini-20050830.html (Zugriff<br />

am 07.02.2007)<br />

Abb. 5 Anzeigenmotiv „Du bist Ludwig Erhard“<br />

Abb. 6 Porträt ludwig erhard<br />

Quelle:http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/JahreDesAufbausInOstUnd-<br />

West_photoErhardBuch/index.html (Zugriff am 26.1.2007)<br />

88


GUNNAR HANSeN<br />

Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong>:<br />

Bedeutung der Plakatkampagnen „Deutschland bewegt sich“<br />

<strong>und</strong> „Warum? Darum!“ im Rahmen der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />

1 einführung: Die Vermittlung der Agenda 2010<br />

„Deutschland bewegt sich“: Unter diesem Titel bewarb die rot-grüne B<strong>und</strong>esregierung<br />

im Sommer 2003 ihr Reformprogramm zur Sicherung der Sozialsysteme<br />

<strong>und</strong> zum Umbau des Arbeitsmarktes (Schröder 2003). Diesem Programm<br />

unter dem Titel „Agenda 2010“ maß die B<strong>und</strong>esregierung besondere Bedeutung<br />

bei. Der damalige B<strong>und</strong>eskanzler Gerhard Schröder bezeichnete sie gar als „Testfall<br />

für die Regierungsfähigkeit“ der rot-grünen Koalition (zit. n. Korte/Fröhlich<br />

2004: 304).<br />

Angesichts deutlich gespaltener Bevölkerungsmeinungen gegenüber der „Agenda<br />

2010“ (Infratest-Dimap Deutschlandtrend 05/2003: 11) stand das Presse- <strong>und</strong><br />

Informationsamt der B<strong>und</strong>esregierung (BPA) „vor neuen <strong>und</strong> ganz besonderen<br />

Herausforderungen bei der Politikvermittlung“ (B<strong>und</strong>estag Drucksache 15/2912:<br />

3). es hatte über die Maßnahmen <strong>und</strong> Gesetze zur informieren <strong>und</strong> versuchte, die<br />

„Agenda 2010“ als „Synonym für Reformpolitik“ (Zypries 2005) zu etablieren.<br />

91


GUNNAR HANSeN<br />

Fragestellung: <strong>Bild</strong>kampagnen im Rahmen der „Agenda 2010“<br />

Besondere Bedeutung kam dabei den b<strong>und</strong>esweiten <strong>Bild</strong>kampagnen „Deutschland<br />

bewegt sich“ <strong>und</strong> „Warum? Darum!“ zu. Daher wird der Fokus dieses Beitrages<br />

auf folgenden Fragen liegen: Welchen Beitrag leisteten die <strong>Bild</strong>kampagnen<br />

im Rahmen der „Agenda 2010“-Vermittlung? Welches <strong>Bild</strong> der Reformpolitik<br />

wurde durch sie vermittelt?<br />

Die akteursbezogene Analyse der <strong>Bild</strong>kampagnen soll klären, wie die Vermittlung<br />

der „Agenda 2010“ im Spannungsverhältnis von Darstellungs- <strong>und</strong> Entscheidungspolitik<br />

zu beurteilen ist. Deren Verhältnis spielt eine wichtige Rolle beim<br />

Verständnis von Politikvermittlung <strong>und</strong> daher auch für die Analyse der „Agenda<br />

2010“-Vermittlung. Angesichts der vielfachen Kritik an der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />

(vgl. u.a. Haubner 2005: 313) soll die Frage geklärt werden, inwieweit es<br />

sinnvoll ist, politische Reformen, die womöglich mit leistungskürzungen oder<br />

auch nur mit entsprechenden Befürchtungen der Bürger verb<strong>und</strong>en sind, mittels<br />

Politischer Werbung zu vermitteln. Die These des Beitrages ist, dass die <strong>Bild</strong>kampagnen<br />

die Zusammenhänge der unterschiedlichen reformpolitischen Maßnahmen<br />

nur unzureichend vermitteln konnten.<br />

2 <strong>Bild</strong>kampagnen <strong>und</strong> öffentliche Kommunikation<br />

Politische Kommunikation <strong>und</strong> öffentliche Aufmerksamkeit<br />

<strong>Bild</strong>kampagnen sind ein Teil der politischen Kommunikation. Da sich politische<br />

Akteure in demokratischen Systemen gegenüber Wählerinnen <strong>und</strong> Wählern ständig<br />

neu legitimieren müssen (Gerhards 2002: 269 <strong>und</strong> Sarcinelli 1998a: 11 <strong>und</strong><br />

547), ist „Kommunikation nicht nur Mittel, sondern untrennbarer Bestandteil<br />

jeder Politik“ (Bergsdorf 2002: 531 <strong>und</strong> vgl. Korte/Fröhlich 2004: 259). „Politikvermittlung“<br />

bezeichnet demnach „alle Prozesse, der i.d.R. medienvermittelten<br />

Darstellung <strong>und</strong> Wahrnehmung von Politik“ (Sarcinelli 1998b: 702).<br />

Bei der legitimierung ihrer Politik gehe es für die B<strong>und</strong>esregierung dabei um<br />

die Beeinflussung der „öffentlichen Meinung“, die als Resultat der medienvermittelten<br />

öffentlichen Kommunikation zu sehen ist (Schulz 1997: 91). Da in der<br />

Medienöffentlichkeit „nahezu alle öffentlichen Angelegenheiten über die Medien<br />

verhandelt werden“ (Pfetsch 1998: 233), brauchen politische Akteure professionelle<br />

Kommunikationsmittel, um „die Aufmerksamkeit des Publikums für ihre<br />

Themen zu gewinnen“ (Gerhards 2002: 271) <strong>und</strong> Unterstützung zu generieren.<br />

92


entscheidungspolitik <strong>und</strong> Darstellungspolitik<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit erfolge die Verwendung<br />

von Formen symbolischer Politik <strong>und</strong> von Inszenierungen zunehmend strategisch<br />

(Jarren/Donges 2002: 115). „Sozialer Wandel <strong>und</strong> Medienwandel setzen<br />

gewissermaßen den Takt für die Professionalisierung moderner Politikvermittlung“<br />

(Kamps 2002: 107). Damit treten Prozesse der Politikdarstellung in den<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Politik spielt sich auf den ebenen der entscheidungspolitik <strong>und</strong><br />

Darstellungspolitik ab. Entscheidungspolitik findet in einem Netz von kommunikativen<br />

Prozessen, Aushandlungssystemen <strong>und</strong> informellen Strukturen statt<br />

(Korte/Fröhlich 2004: 173ff.). entscheidungen laufen in längeren Zeitrahmen ab,<br />

die durch institutionelle Vorgaben bestimmt sind (Sarcinelli 2005: 115ff.). Darstellungspolitik<br />

hingegen erfolgt medienvermittelt, bzw. durch symbolisches <strong>und</strong><br />

inszeniertes Handeln (Korte 2004: 201). Hierbei stehen kurzfristige Konfliktthemen,<br />

Personen, sowie Darstellungs- <strong>und</strong> Vermittlungskompetenz der politischen<br />

Akteure im Fokus (Sarcinelli 2005: 119 <strong>und</strong> Sarcinelli 1998a: 19).<br />

Weder bleibt Entscheidungspolitik gänzlich unbeeinflusst von den Aufmerksamkeitsregeln<br />

der Medien (vgl. Korte 2004: 201), noch gibt es Darstellungspolitik<br />

ohne politische Entscheidungen. Sie stehen vielmehr in einem „kritischen Wechselverhältnis<br />

zueinander“ (Haubner 2005: 311) bzw. einem „Spannungsverhältnis,<br />

das es immer wieder auszubalancieren“ gilt (Sarcinelli 2005: 123). Dabei ersetze<br />

Darstellungspolitik zunehmend entscheidungspolitik (vgl. Korte/Fröhlich 2004:<br />

20).<br />

Politische Werbung <strong>und</strong> Politik als Marke<br />

Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />

Politische Werbung soll Zustimmung in der Bevölkerung über die emotionalisierung<br />

<strong>und</strong> Vereinfachung politischer Inhalte herstellen (Bentele 1998: 131f.). Da<br />

in den letzten jahren die Professionalisierung der Politischen Kommunikation<br />

zugenommen hat (Schulz 2003: 463), werde politische Werbung für die öffentlichkeitsarbeit<br />

der Regierung immer wichtiger (Bentele 1998: 131).<br />

Die Professionalisierung von öffentlichkeitsarbeit umfasst die markenförmige<br />

Positionierung von Politik oder politische Akteure. Politische Marken sollten einerseits<br />

Präsenz erzeugen, indem sie Sachfragen fokussieren <strong>und</strong> positiv darstellen<br />

(Karp/Zolleis 2005: 102f.). Anderseits biete eine Marke in einer von vielfältigen<br />

Informationen bestimmten Umgebung Orientierung <strong>und</strong> entlastung<br />

(Meckel 2003: 72). Politische Marken beschreiben komplexe Sachinhalte <strong>und</strong><br />

haben im Idealfall einen hohen Wiedererkennungswert. Das Fokussieren eines<br />

Themas, die Herausstellung von Stärken einer konkreten Politik helfe, „den roten<br />

Faden des jeweiligen Politikansatzes [...] besser erkennen zu können“ (Zolleis/<br />

Weilmann 2004: 37).<br />

93


GUNNAR HANSeN<br />

Kampagnenkommunikation <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>kampagnen<br />

Angesichts der gestiegenen Zahl von Kommunikationsangeboten ist „Politische<br />

Öffentlichkeit für die Medien nur eine Öffentlichkeit neben vielen.“ (Jarren 1998:<br />

93) Es reiche daher nicht mehr aus, „punktuell Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben“<br />

(Dorer 2002: 55). Aus diesem Gr<strong>und</strong> werden Kampagnen auch für die B<strong>und</strong>esregierung<br />

immer wichtiger (Hill 2004: 9).<br />

Kampagnen sind „dramaturgisch angelegte, thematisch begrenzte, zeitlich befristete<br />

kommunikative Strategien zur erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit,<br />

die auf ein Set unterschiedlicher kommunikativer Instrumente <strong>und</strong> Techniken<br />

– werbliche <strong>und</strong> marketingspezifische Mittel <strong>und</strong> klassische PR-Maßnahmen zurückgreifen“<br />

(Röttger 1998: 667). Als Kampagne kann somit der „geplante Einsatz<br />

vielfältiger Kommunikationsaktivitäten“ (Schulz 1997: 220) bezeichnet werden,<br />

der auf ein bestimmtes Publikum ausgerichtet ist. Ziel von Kampagnen ist es,<br />

Aufmerksamkeit zu erzeugen, Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des auftragsgebenden<br />

Akteurs zu schaffen <strong>und</strong> Zustimmung für entscheidungen <strong>und</strong>/oder Anschlusshandeln<br />

zu erzeugen (Röttger 1998: 667 <strong>und</strong> jarren/Donges 2002: 119).<br />

<strong>Bild</strong>kampagnen sind der unmittelbaren, strategischen Kommunikation zuzuordnen.<br />

Unmittelbar sind Maßnahmen wie öffentliche Reden <strong>und</strong> Anlässe, Vorträge<br />

sowie Staatsbesuche, Gedenktage <strong>und</strong> Feierlichkeiten (jarren/Donges 2002: 100f.)<br />

sowie Plakate, Flyer, Broschüren, Anzeigen, Kinospots <strong>und</strong> das Internetangebot<br />

der B<strong>und</strong>esregierung. Der strategische einsatz von PR-Instrumenten bezeichnet<br />

die langfristige Vorbereitung von PR-Instrumenten, wie Informationskampagnen<br />

der B<strong>und</strong>esregierung (Bentele 1998: 140 <strong>und</strong> jarren/Donges 2002: 102).<br />

3 Die „Agenda 2010“<br />

Anfang 2003 war die Regierung mit einer Situation konfrontiert, die ihren einschätzungen<br />

nach mit vorsichtigen Reformen nicht zu lösen war (Zohlnhöfer<br />

2005: 68). Unter anderem angesichts steigender Arbeitslosenzahlen formulierte<br />

die Regierung die sozialpolitischen Vereinbarungen im Regierungsprogramm<br />

Anfang 2003 neu (Kropp 2003a: 29). Die „Agenda 2010“ war somit eine Art „Befreiungsschlag“<br />

(a.a.O.: 73).<br />

Die Bevölkerungsmeinungen zur Reformpolitik<br />

Die Bevölkerungsmeinung zur „Agenda 2010“ war gespalten“. Im April 2003 gaben<br />

45 Prozent der befragten B<strong>und</strong>esbürger an, die Reformen würden in die richtige<br />

Richtung gehen. Weitere 45 Prozent gaben an, die Reformen gingen nicht<br />

in die richtige Richtung (Infratest Dimap Deutschlandtrend 05/2003: 11). eine<br />

andere Umfrage zeigte, dass 59 Prozent der Befragten die „derzeitigen Reformmaßnahmen“<br />

als Abbau wahrnahmen, nur 29 Prozent als Umbau (Köcher 2003:<br />

94


Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />

Tabelle A2). Prinzipiell herrscht Reformbereitschaft in der Bevölkerung. Diese<br />

scheint nicht mehr gegeben, wenn Reformen mit spürbaren einbußen für die<br />

Bürger einher gehen (Krafft/Ulrich 2004: 5): Insgesamt 56 Prozent der Befragten<br />

einer Studie gaben an, sie würden sehr stark oder stark von Reformen betroffen<br />

sein. 88 Prozent sehen sich von kommenden Reformen betroffen (Köcher 2003:<br />

Tabelle A6).<br />

Angesichts dieses gespaltenen Meinungsbildes musste das kommunikative Ziel<br />

der Kampagne sein, das Vertrauen in die Politik (Mast 2005: 48), bzw. „Vertrauen<br />

in das Handeln, aber auch in die Worte der Regierenden“ (Bellstedt 2003: 21)<br />

wieder herzustellen. Schröder nannte als Ziele der Reformpolitik, Vertrauen zu<br />

schaffen, die wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern <strong>und</strong> Chancengerechtigkeit<br />

herzustellen (Schröder 2003: 23).<br />

Die Bedeutung von Regierungskommunikation für Reformpolitik<br />

Bei der Formulierung von politischen Programmen wie der „Agenda 2010“ profitiert<br />

die B<strong>und</strong>esregierung von ihrem Status, „der ihren Mitteilungen die Vermutung<br />

des Wichtigen zukommen lässt“ (Bergsdorf 2002: 534). Ziele von Regierungskommunikation<br />

sind die Vermittlung von Informationen, Selbstdarstellung<br />

sowie Persuasion, also Überzeugung vor allem durch sprachliche Mittel (Bentele<br />

1998: 141). Weitere Ziele sind die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, bzw.<br />

die erneute legitimation der Regierung bei den nächsten Wahlen (Pfetsch 1998:<br />

239).<br />

Regierungs-PR umfasst die Darstellung von Zielen, politischen Wegen <strong>und</strong> Situationen<br />

(Bergsdorf 2002: 532) sowie entscheidungsrechtfertigung (Gebauer 2002:<br />

464). Zentrale Aufgabe der Regierung ist es, zum „richtigen Zeitpunkt politisch,<br />

fachlich <strong>und</strong> rechtlich tragfähige entscheidungen zu treffen <strong>und</strong> diese der öffentlichkeit<br />

zu vermitteln.“ (Gebauer 2002: 468) Sie müsse sich um Zustimmung<br />

für ihre Politik <strong>und</strong> Entscheidungen bemühen, „die allein durch Kommunikation<br />

hergestellt <strong>und</strong> fortwährend geprüft werden kann“ (Bergsdorf 2002: 531), da<br />

sie auch bei unpopulären Maßnahmen die Aufgabe habe, „die Zusammenhänge<br />

offen zu legen, Verständnis für erforderliche Maßnahmen zu wecken oder um<br />

ein konjunkturgerechtes Verhalten zu werben” (zit. n. B<strong>und</strong>estag Drucksache<br />

15/2912: 15).<br />

95


GUNNAR HANSeN<br />

Politische Sprache <strong>und</strong> „Agenda 2010“<br />

Ziel politischer Sprache ist es, die „politische Definitions- <strong>und</strong> Deutungsmacht“<br />

zu erlangen, um sich so mit seinem Thema in der öffentlichkeit durchsetzen zu<br />

können (Kreyer 2004: 27). Dabei geht es um die Reduzierung von Komplexität<br />

<strong>und</strong> die „Etikettierung“ (Kreyer 2004: 27) von Politik. Die B<strong>und</strong>esregierung stellte<br />

die „Agenda 2010“ als einen „der weitreichendsten Reformansätze“ dar, „die in<br />

der deutschen Politik je entwickelt wurden“ (Bellstedt 2003: 20). Die gewählten<br />

sprachlichen Mittel sollten auf diese Alternativlosigkeit der Reformpolitik hinweisen.<br />

Mit Schröders Rede „Mut zum Frieden <strong>und</strong> Mut zur Veränderung“ am<br />

14.03.2003 vor dem deutschen B<strong>und</strong>estag wurde der Begriff „Agenda 2010“ inhaltlich<br />

besetzt. Dem Titel komme eine besondere Rolle zu, da es im Wettbewerb<br />

um öffentliche Aufmerksamkeit um die Besetzung von Themen mit einschlägigen<br />

Begriffen gehe (Korte/Fröhlich 2004: 271).<br />

Die jahreszahl 2010 unterstrich die Zukunftskompetenz der B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>und</strong> zeigte die Perspektive auf, „Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei<br />

Wohlstand <strong>und</strong> Arbeit wieder an die Spitze bringen“ (Schröder 2003: 28). Der<br />

Begriff mache deutlich: „So soll Deutschland im Jahre 2010 aussehen“ (Werner<br />

Kohlhoff zitiert nach Wübben 2004: 56). Das Fremdwort „Agenda“ stieß hingegen<br />

zunächst auf Skepsis. Letztlich blieb der Begriff „Agenda 2010“, da die Bürger<br />

es sich womöglich gerade deshalb merken könnten, weil es ein Fremdwort<br />

sei (Der Spiegel 30/2004: 37). Zugleich wurde durch „Agenda 2010“ ein „roter<br />

Faden“ (Sell 2005: 302) gelegt, der zwischen den einzelnen Themenfeldern nicht<br />

von vornherein gegeben ist.<br />

Die Öffentlichkeitsarbeit zur Vermittlung der „Agenda 2010“<br />

Die Kommunikation der „Agenda 2010“ verfolgte mehrere Ziele: Die langfristige<br />

Information der Bürger über Inhalte, also die „öffentliche (auch: parteiübergreifende)<br />

Kommunikation eines Reformwerkes [!]“ (Selke 2005: 153). Zu nennen<br />

sind hier Maßnahmen wie Online-Kommunikation <strong>und</strong> Broschüren. Diese ergänzten<br />

die Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenkampagnen, deren Ziel es war, Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> Zustimmung zu erzeugen.<br />

Die „Agenda 2010“-Vermittlung lässt sich beschreiben als, „ein auf Dauer angelegtes<br />

visuell unterstütztes Kommunikationsgeschehen mit dem Ziel, die für die<br />

Umsetzung der gewollten Reformen notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung<br />

zu erzielen.“ (a.a.O.: 131) Zwar sind die einzelnen Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenkampagnen<br />

als visuelle Kommunikationstypen kampagnentypisch zeitlich eingegrenzt,<br />

(a.a.O.: 134), allerdings fehlt der „Agenda 2010“-Kommunikation gerade diese<br />

zeitliche Abgeschlossenheit (a.a.O.: 133).<br />

96


4 Die <strong>Bild</strong>kampagnen im Rahmen der „Agenda 2010“<br />

Charakteristika von Plakaten<br />

Anzeigen <strong>und</strong> Plakate waren innerhalb der „Agenda 2010“-Vermittlung „eine<br />

notwendige Information der Bürger über die anstehenden Reformen“ (Werner<br />

Kohlhoff zit. n. Wübben 2004: 56). Plakaten kommt innerhalb einer Kampagne<br />

eine Verstärkerfunktion zu. Sie unterstreichen deren zentralen Botschaften durch<br />

Slogans, Signets <strong>und</strong> Farben (Wangen 1983: 242). Sie haben eine breite Wirkung<br />

in der öffentlichkeit <strong>und</strong> sind daher auch für die Bekanntmachung von öffentlichen,<br />

politischen <strong>und</strong> gesellschaftlich relevanten Themen interessant (Selke<br />

2005: 136). Sie sind prinzipiell für alle zugänglich <strong>und</strong> weisen darüber hinaus<br />

keine Zielgruppenbeschränkung auf (Schierl 2001: 63). Plakate sind unabhängig<br />

von Auflage oder Einschaltquoten. Sie können nicht einfach überblättert oder abgeschaltet<br />

werden, sind über einen festen Zeitraum konstant präsent <strong>und</strong> bieten<br />

somit eine hohe Zahl von Wiederholungskontakten (a.a.O.). Durch den flüchtigen<br />

Kontakt bleiben nur wenige Momente, die Botschaft zu vermitteln (a.a.O.). Die<br />

Vermittlung soll durch eine zielgerichtete <strong>und</strong> durchdachte Gestaltung <strong>und</strong> die<br />

Reduktion der Botschaft auf wenige Symbole, Schlagwörter <strong>und</strong> logos erreicht<br />

werden (Selke 2005: 138). Plakate eignen sich somit aufgr<strong>und</strong> ihrer medialen<br />

eigenschaften hervorragend für die markenförmige Positionierung von Politik<br />

(a.a.O.: 142).<br />

„Deutschland bewegt sich“ / August – Oktober 2003<br />

Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />

Nach der „Konkretisierung der Reforminhalte“ (Anda: BPK vom 18.08.2003),<br />

stellte die B<strong>und</strong>esregierung im August 2003 die Anzeigen- <strong>und</strong> Plakatkampagne<br />

„Deutschland bewegt sich“ vor (B<strong>und</strong>estag Drucksache 15/2912: 3). Die Kampagne<br />

startete zu einem Zeitpunkt, als die ersten Maßnahmen des Reformpaketes<br />

„Agenda 2010“ im Kabinett verabschiedet waren, die endgültigen Abstimmungen<br />

in B<strong>und</strong>estag <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esrat aber noch ausstanden.<br />

Vorgestellt wurden sieben verschiedene Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenmotive (vgl.<br />

Anda: BPK vom 18.08.2003). Diese waren: „(Nie) wieder Arbeit(?)!“, „<strong>Bild</strong>ung<br />

fo(ö)rdern“, „Chancen (ver)geben(!)“, „Familie <strong>und</strong> (oder) Beruf“, „Mehr Jobs“,<br />

„Später (k)eine Rente (?)“ <strong>und</strong> „Steuern senken“. Die Plakate wurden vom 22.08.<br />

bis 18.09.2003 auf insgesamt 17.435 Großflächenplakaten, 642 Mega-Light-Plakaten<br />

<strong>und</strong> 82 Busplakatierungen im gesamten B<strong>und</strong>esgebiet geschaltet (B<strong>und</strong>estag<br />

Drucksache 15/2912: 39). Zusätzlich gab es Anzeigen in etwa 40 verschiedenen<br />

Tageszeitungen, Wochenzeitungen <strong>und</strong> Magazinen.<br />

97


GUNNAR HANSeN<br />

Das gr<strong>und</strong>legende Kampagnen-Design wird bestimmt durch den <strong>Bild</strong>rahmen des<br />

Plakates. Dieser bedeckt etwa 1/8 der Plakatfläche <strong>und</strong> ist Hintergr<strong>und</strong> für die<br />

Wiedererkennungsmerkmale der Kampagne. Das Logo der B<strong>und</strong>esregierung findet<br />

sich in der linken unteren Ecke, der Schriftzug „Deutschland bewegt sich“ in<br />

schwarz <strong>und</strong> „agenda 2010“ in rot sind in der rechten unteren Ecke. (Selke 2005:<br />

50) Hinzu kommt in der rechten oberen ecke der Schriftzug www.b<strong>und</strong>esregierung.de.<br />

Durch diese Gestaltungsmerkmale war die B<strong>und</strong>esregierung als Absender<br />

der Botschaft erkennbar.<br />

Ziele der Kampagne „Deutschland bewegt sich“<br />

Die Kampagne sollte die Politikfelder der „Agenda 2010“ der Öffentlichkeit nahe<br />

bringen <strong>und</strong> die positiven Veränderungen in diesen Politikfeldern für die einzelnen<br />

Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger sichtbar machen. Eine „frische <strong>Bild</strong>sprache, die sich<br />

nicht verbraucht“ (vgl. Tagesspiegel 14.09.2003: 2) sollte die Dynamik des Reformprozesses<br />

herausstellen. (Anda 2003: BPK vom 18.08.2003) Die Kampagne<br />

war auch dazu gedacht, ein „Wir-Gefühl“ in der Bevölkerung zu erzeugen <strong>und</strong><br />

die Wichtigkeit der Reformen für alle Bürger herauszustellen. Daneben wies die<br />

Kampagne auf die Informationsangebote der B<strong>und</strong>esregierung im Internet hin<br />

(vgl. B<strong>und</strong>estag Drucksache 15/2912: 3).<br />

Titel: „Deutschland bewegt sich“<br />

Der Titel „Deutschland bewegt sich“ drückt Bewegung aus. Obwohl die Regierung<br />

durch Gesetze zunächst den Anstoß für Bewegung geben muss, weist der Titel<br />

darauf hin, dass Deutschland in lage sei, sich von alleine zu bewegen. Unterstützt<br />

wird der Ausdruck von Bewegung durch die kursive Stellung der Buchstaben.<br />

Der Titel der Kampagne rückt so die beabsichtigte „Dynamik des Reformprozesses“<br />

(Anda 2003: BKP vom 18.08.2003) sowie die Überwindung von Stillstand<br />

<strong>und</strong> die Erneuerung des Landes als „durchgreifende Veränderungen“ (Schröder<br />

2003: 23) aus. Laut Schröder hätte die B<strong>und</strong>esregierung „die Pflicht, den nachfolgenden<br />

Generationen die Chancen auf ein gutes leben in einer friedlichen <strong>und</strong><br />

gerechten Welt nicht durch Unbeweglichkeit zu verbauen.“ (a.a.O.: 55) Mit den<br />

„Bewegungen“ sind demnach gesellschaftspolitische Reformen (Selke 2005: 50)<br />

gemeint.<br />

Die <strong>Bild</strong>motive – Zukunftsvision für 2010?<br />

Politik wird zunehmend durch <strong>Bild</strong>er bestimmt (vgl. u.a. Meyer 2003). So spielen<br />

Symbole, <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> logos eine wichtige Rolle in der medialen Berichterstattung<br />

<strong>und</strong> der öffentlichkeitsarbeit politischer Akteure. Im Fokus der Plakate<br />

stehen Menschen, die den Betrachter in den meisten Motiven direkt anblicken.<br />

„Deutschland bewegt sich“ sollte die Gesamtheit der Gesellschaft abbilden. Die<br />

Plakate stellen Momentaufnahmen gesellschaftlichen lebens dar. ein Paar sitzt<br />

an einem Tisch <strong>und</strong> blickt auf einen See hinaus („Später (k)eine Rente (?)“), eine<br />

98


Frau trägt einkaufstüten, ein Mann hebt ein Baby hoch, eine Frau in Arbeitskleidung<br />

lehnt an einer Werkstattbank.<br />

Insgesamt wirken die dargestellten Szenen positiv, aber auch inszeniert <strong>und</strong> „sehr<br />

klinisch“ (Selke 2005: 155). Die Wirklichkeit stellt sich auf den Plakaten stark vereinfacht<br />

dar (a.a.O.: 160). Die Statik der <strong>Bild</strong>er kann auch als Widerspruch zum<br />

beabsichtigten Ziel der Plakate, nämlich den Reformprozess als dynamisch darzustellen,<br />

aufgefasst werden (vgl. Selke 2005: 160). Visuelle Kommunikation stellt<br />

„im Kontext der politischen Ikonografie einen Versuch dar, die soziale Stellung<br />

von Mitgliedern der Gesellschaft zu nivellieren, d.h. der Versuch der Herstellung<br />

eines ,Wir-Gefühls’“ (Selke 2005: 161). Dadurch, dass jedes Plakat gleichzeitig ein<br />

gesellschaftspolitisches Thema fokussiert (a.a.O.: 143), werden unterschiedliche<br />

Zielgruppen angesprochen: So sollte klar werden, dass der Prozess der „Agenda<br />

2010“ sich auf „alle Kräfte der Gesellschaft“ (Schröder 2003: 24) beziehe. Aufgr<strong>und</strong><br />

der unterschiedlichen Themen könne aber nicht davon ausgegangen werden,<br />

dass darüber auch Gemeinsamkeiten herausgestellt wurden (Selke 2005:<br />

162).<br />

Die Slogans – Rotstift als Zeichen für Veränderung?<br />

Durch scheinbar nachträglich durchgeführten Streichungen oder ergänzungen<br />

werden die Veränderungen durch die „Agenda 2010“ symbolisch dargestellt. Der<br />

Bürger wird auf der persönlichen ebene angesprochen <strong>und</strong> sieht, welche Perspektive<br />

sich für ihn im jahr 2010 eröffnen könnte. Die roten Schriftzüge kennzeichnen<br />

stehen für Dynamik <strong>und</strong> Veränderungswillen. Das Plakat wird verändert, so<br />

wie durch die Reformen Deutschland verändert werden soll. Durch Streichungen<br />

kann somit auch Neues gewonnen werden (Wübben 2004: 58). Allerdings bieten<br />

die Slogans keine inhaltlichen Informationen über die Reformpolitik. (Selke<br />

2005: 163) Stattdessen stellen sie die Ziele der „Agenda 2010“ dar. Aus der Verneinung<br />

wird eine Bejahung: „Nie wieder Arbeit? – Wieder Arbeit!“ <strong>und</strong> „Chancen<br />

vergeben – Chancen geben!“ Sie lösen aber auch mögliche Wiedersprüche auf wie<br />

bei „Familie oder Beruf – Familie <strong>und</strong> Beruf“.<br />

„Warum? Darum!“ / Juni – August 2004<br />

Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />

Im Juni 2004 wurde „Agenda 2010 – Warum? Darum!“ als zweite b<strong>und</strong>esweite<br />

Kampagne zur „Agenda 2010“ vorgestellt. Sechs Plakatmotive wurden zwischen<br />

Juni <strong>und</strong> August 2004 veröffentlicht. Die Motiven waren „Erstmals über 2 Millionen<br />

Studierende – <strong>Bild</strong>ung sichert Zukunft“, „Mehr Unabhängigkeit vom Öl<br />

– 560 Millionen € für neue Energien“, „Exportweltmeister Deutschland – der<br />

Konjunkturmotor läuft an“, „1000 neue Ganztagsschulen – PISA-Test kapiert“,<br />

„Zukunft nachhaltig sichern – Generationen für Generationen“ <strong>und</strong> „Krankenkassenbeiträge<br />

sinken – die Ges<strong>und</strong>heitsreform wirkt“.<br />

99


GUNNAR HANSeN<br />

Die Plakate der „Warum? Darum!“-Kampagne unterscheiden sich optisch von denen<br />

der „Deutschland bewegt sich“-Kampagne. Sie haben ein anderes <strong>Bild</strong>format<br />

<strong>und</strong> weisen unterschiedliche Farbgebungen sowie einen höheren Text-Anteil auf.<br />

Das logo der B<strong>und</strong>esregierung ist auf einem Balken am oberen <strong>Bild</strong>rand platziert.<br />

Den Großteil der Plakate bedeckt das <strong>Bild</strong>motiv, auf dem der Schriftzug „Darum!“<br />

mit der Kernaussage des Plakates platziert ist. Das „Darum!“ weist gestalterische<br />

Ähnlichkeit zu den roten Ergänzungen der „Deutschland-bewegt-sich“-Kampagne<br />

auf. Verb<strong>und</strong>en werden beide elemente durch einen roten Balken, der die<br />

Frage „Warum?“ <strong>und</strong> „machen wir die agenda 2010“ enthält. Die Aussagen der<br />

Motive bilden sich aus dem Wechselspiel zwischen Frage <strong>und</strong> Antwort.<br />

Aussagen der Kampagne „Warum? Darum!“<br />

Die Plakate heben den übergreifenden Sinn der „Agenda 2010“ hervor (Staud<br />

2004) <strong>und</strong> stellen beschlossenen Reformmaßnahmen sowie erste erfolge <strong>und</strong><br />

besondere Investitionen vor. Neu sind die Themenbereiche energie, Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Konjunktur. Bei den Themen Erneuerbare Energien, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

bringt die Kampagne konkrete reformpolitische Maßnahmen der Regierung<br />

zur Sprache. Die Plakate zu den Themen <strong>Hochschule</strong> <strong>und</strong> Konjunktur nennen<br />

aktuelle wirtschaftliche <strong>und</strong> sozialpolitische entwicklungen. Diese werden allerdings<br />

nicht mit konkreten Maßnahmen der B<strong>und</strong>esregierung verb<strong>und</strong>en. Abstrakt<br />

bleibt das Plakatthema Rente <strong>und</strong> Chancengerechtigkeit.<br />

Übergreifend weisen die Plakate zwei Merkmale auf: erstens stellte man Themen<br />

heraus, bei denen man erfolge vorzuweisen hatte, die aber nicht von vornherein<br />

unter die „Agenda 2010“ fielen. Dafür fehlten andere Themen wie die Arbeitsmarktreform,<br />

die zwar in der entsprechenden Broschüre ausführlich thematisiert<br />

wurde, aber nicht als Plakatmotiv aufgenommen wurde. Zweitens können die<br />

Plakate keinen Zusammenhang zwischen den reformpolitischen entscheidungen<br />

<strong>und</strong> den dargestellten politischen erfolgen herstellen. Der Zusammenhang bleibt<br />

wie bei „Deutschland bewegt sich“ offen.<br />

Die Kampagne „Warum? Darum!“ stellt vergleichbar mit der ersten Kampagne<br />

die positiven entwicklungen der Regierungsarbeit heraus. Sie wirbt für positive<br />

Effekte der Reformpolitik <strong>und</strong> bezieht sich auf die „erste Bilanz“ des B<strong>und</strong>eskanzlers<br />

am 25. März 2004 in einer Rede vor dem deutschen B<strong>und</strong>estag (Schröder<br />

2004).<br />

100


5 Die Kampagnen im Kontext der „Agenda 2010“-Vermittlung<br />

Positionierung zwischen Information <strong>und</strong> emotion<br />

Die Kampagnen im Kontext der „Agenda 2010“-Vermittlung weisen Unterschiede<br />

<strong>und</strong> Gemeinsamkeiten auf. Mit der zweiten Kampagne reagierte die B<strong>und</strong>esregierung<br />

auf die erste Kampagne. Diese hatte die Reformpolitik positiv besetzt <strong>und</strong><br />

emotional deren Notwendigkeit beworben. In Anbetracht des noch nicht abgeschlossenen<br />

entscheidungsprozesses zu den weitgehenden Reformen auf dem<br />

Arbeitsmarkt, der Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> der Rente sollte sie Zustimmung für die Reformpolitik<br />

erzeugen <strong>und</strong> die Themen der „Agenda 2010“ in der Öffentlichkeit<br />

präsent machen. Die Darstellung der Reformpolitik <strong>und</strong> ihrer Ziele blieb dabei<br />

abstrakt. Die dargestellte Dynamik des Reformprozesses wiedersprach dem langfristigen<br />

entscheidungsprozess (Krafft/Müller 2004: 5).<br />

Durch die <strong>Bild</strong>kampagnen versuchte die B<strong>und</strong>esregierung die Deutungsmacht<br />

über die zu ergreifenden Maßnahmen <strong>und</strong> die wichtigen Themen der „Reformdebatte“<br />

(Müller 2003: 3ff.) zu übernehmen. Bewerbende Sprache sollte die<br />

Überzeugungskraft der formulierten Inhalte erhöhen (Fröhlich 2004: 62). Die<br />

Plakate allein können jedoch keine Zusammenhänge darstellen. Besonders die<br />

Kampagne „Deutschland bewegt sich“ sollte sowohl emotional für Reformpolitik<br />

mobilisieren, als auch darüber informieren, dass Veränderungen stattfinden.<br />

Dabei blieben die konkreten Zusammenhänge zwischen Maßnahmen <strong>und</strong> den<br />

Zielen offen.<br />

Die <strong>Bild</strong>kampagnen als Formen symbolischer Politik<br />

Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />

Die Plakat- <strong>und</strong> Anzeigenkampagnen können als Form „Symbolischer Politik“<br />

(vgl. edelman 1990) verstanden werden. Mit Symbolen in Schrift <strong>und</strong> <strong>Bild</strong> wird<br />

erstens Aufmerksamkeit auf die angenommene Notwendigkeit von Reformpolitik<br />

gelenkt. Die Plakate selbst sind öffentlich präsent <strong>und</strong> symbolisieren Handlungsfähigkeit<br />

der Regierung in reformpolitischen Fragen (Sarcinelli 2005: 132): Ihnen<br />

komme damit eine „Signalfunktion“ zu (a.a.O.: 124). Zweitens vereinfachen sie<br />

die komplexen Entscheidungen <strong>und</strong> zum Verständnis notwendigen Information<br />

durch „plakative“ Darstellung der Reformpolitik, etwa durch Schlagwörter wie<br />

„Chancen“ (Schenk/Tenscher 1998: 351). Drittens emotionalisieren sie die Sicht<br />

auf Reformen durch das Aufzeigen positiver Zukunftsperspektiven („Deutschland<br />

bewegt sich“) <strong>und</strong> politischer Erfolge, die durch die „Agenda 2010“ erzielt<br />

wurden („Warum? Darum!“).<br />

Beide Kampagnen stellen Zusammenhänge vereinfacht dar <strong>und</strong> reduzieren so<br />

Komplexität. Die Plakate zeigen somit auch, „wie problematisch es ist, weitgehend<br />

abstrakte Inhalte zu vermitteln. Der umfangreiche <strong>und</strong> komplex angelegte<br />

Reformprozess kann kaum in einigen statischen Motiven glaubhaft visualisiert<br />

werden“ (Selke 2005: 166). Allein durch die <strong>Bild</strong>kampagnen kann der komplexe<br />

101


GUNNAR HANSeN<br />

politische Prozess nicht vermittelt werden. „Während sich die Ziele der agenda<br />

2010 noch in Ansätzen visuell kommunizieren lassen, sind die Mittel zur Zielereichung<br />

nur durch einen erhöhten Kommunikationsaufwand transparent zu<br />

machen“ (a.a.O.: 168).<br />

Die Plakate der „Agenda 2010“ sind eine Bekanntmachung <strong>und</strong> permanente Namenserinnerung<br />

im öffentlichen <strong>Raum</strong> (a.a.O.: 143). Sie sollten die Präsenz der<br />

dargestellten Themen steigern (a.a.O.: 127). Das wiederum ist notwendig, um einen<br />

Namen bzw. eine Marke in der öffentlichkeit bekannt zu machen. Reformpolitik<br />

sollte durch die zukunftsweisende Darstellung langfristiger positiver Folgen<br />

<strong>und</strong> die gegenwartsbezogenen Darstellung von politischen erfolgen positiv<br />

besetzt werden.<br />

Die „Agenda 2010“ im Spannungsverhältnis von Entscheidungs- <strong>und</strong> Darstellungspolitik<br />

Für beide Kampagnen gilt das Prinzip der Positionierung von Politik im Spannungsverhältnis<br />

von Darstellungs- <strong>und</strong> Entscheidungspolitik: „Positionierung<br />

durch Emotionen“ <strong>und</strong> „Positionierung durch Information“ (Schenk/Tenscher<br />

1998: 348). Bei der kommunikativen Begründung von Politik treffen die „Funktionslogik<br />

des politischen Systems <strong>und</strong> die Funktionslogik des durch Massenmedien<br />

fixierten Öffentlichkeitssystems aufeinander“ (Pfetsch 2003: 174). Die Darstellung<br />

von politischen Inhalten folgt der „Präsentationslogik“ des Mediensystems<br />

(Meyer 2003: 15).<br />

Die <strong>Bild</strong>kampagnen waren auch dadurch bestimmt, dass die „Agenda 2010“ einerseits<br />

„ein politischer Prozess mit einer extrem langen Prozessdauer [ist]. [...]<br />

Sie ist andererseits auch in ihrer konkreten Ausführung in kurzfristige, oft tagesaktuelle<br />

Medienberichterstattungen <strong>und</strong> deren knappe Produktionszeit eingeb<strong>und</strong>en“<br />

(Selke 2005: 133). Die „Agenda 2010-Kommunikation war langfristig<br />

angelegt. Sie hatte die „langsame Prozesslogik der Reformbemühungen“ zu berücksichtigen,<br />

wurde aber ebenso „von medialen Berichterstattung [...] gerahmt,<br />

unterlaufen oder je nach intentionaler Perspektive auch gestört“ (a.a.O.).<br />

102


Regierungskommunikation im <strong>Bild</strong><br />

6 Zusammenfassung: Die Vermittlung der „Agenda 2010“<br />

Durch die Kampagne „Deutschland bewegt sich“ wurde die Reformdebatte emotional<br />

besetzt <strong>und</strong> die Ziele der „Agenda 2010“ abstrakt dargestellt. Die <strong>Bild</strong>kampagne<br />

erschien vor allem als eine fiktive Scheinwelt von Politik (a.a.O.: 170). Sie<br />

implizierte beide Sichtweisen der Reformpolitik: einerseits die Bewegung als<br />

Chance für die Zukunft, andererseits den aktiven Zwang zur Veränderung (a.a.O.:<br />

50).<br />

Die Kampagne „Warum? Darum!“ versuchte über die Darstellung von Erfolgen<br />

der Reformpolitik zu mobilisieren. Die konkreten Maßnahmen sowie die kausalen<br />

Zusammenhänge zu den Plakatmotiven konnten beide Kampagnen nicht<br />

vermitteln. „Die großen Visionen sind visuell vermittelbar, die kleinen Schritte<br />

dorthin nicht.“ (a.a.O.: 166) Die Plakatkampagnen konnten vor allem folgende<br />

Maßgaben erfüllen: Die Bevölkerung informieren, dass es Veränderungen gibt,<br />

Aufmerksamkeit für Reformpolitik schaffen, die Themen in der öffentlichkeit<br />

bekannt machen <strong>und</strong> Reformpolitik positiv besetzen. Ob die Kampagne darüber<br />

hinaus Zustimmung zugunsten der B<strong>und</strong>esregierung generieren konnte, kann<br />

nicht eindeutig geklärt werden. ebenso ist eine genaue Untersuchung von Veränderungen<br />

der Themenpräferenzen bezüglich der konkreten Reformpolitik offen.<br />

Die Kommunikation der „Agenda 2010“ zeigt: Bei der Konzentration auf Darstellungspolitik<br />

stößt Politik an Grenzen, die durch die Diskrepanz von Darstellungs-<br />

<strong>und</strong> Entscheidungspolitik gegeben sind. „Diese Grenzen zeigen, dass es eine<br />

Schere zwischen Form <strong>und</strong> Inhalt gibt, die sich besonders im Kontext der Agenda<br />

2010 als problematisch erweist“ (a.a.O.: 167). Das Ziel von Kampagnen müsse<br />

sein, dass angesichts von Skepsis <strong>und</strong> Ängsten in der Bevölkerung „zwischen<br />

Reformmaßnahmen <strong>und</strong> Zielen der Reform ein klar erkennbarer Kausalzusammenhang<br />

hergestellt wird“ (Krafft/Ulrich 2004: 4 <strong>und</strong> Haubner 2005: 316f.). Da<br />

politische Akteure damit rechnen müssen, „dass ihre Entscheidungen durch die<br />

Kritik der Medien in Frage gestellt werden“ (Pfetsch 2005: 34) müssen sie durch<br />

ihre kommunikativen Maßnahmen Zusammenhänge offen legen, mögliche Probleme<br />

ansprechen <strong>und</strong> Politikfelder mit konkreten Zielsetzungen verbinden.<br />

103


GUNNAR HANSeN<br />

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GUNNAR HANSeN<br />

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(Zugriff am 25.10.2005)<br />

107


III. Projektentwürfe, Dokumentation, studentische Abschlussarbeiten


STeFAN SelKe<br />

Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

einübung von Wahrnehmungskompetenz am medienpädagogischen<br />

lernort Schule<br />

1 Online-Chats über <strong>Bild</strong>er statt politischer Ikonografie<br />

Die netzbasierte <strong>Bild</strong>analysesoftware VeraICON wurde am Zentrum für <strong>Bild</strong>,<br />

<strong>Raum</strong> <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong> der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> mit den Ziel entwickelt, ein<br />

frei verfügbares Untersuchungsinstrument für Schulprojekte im Bereich politischer<br />

<strong>Bild</strong>ung zur Verfügung zu stellen. Netzbasierte Schulprojekte finden bei<br />

jugendlichen Schülern, bei denen eine hohe Internetaffinität vorausgesetzt werden<br />

kann, hohe Akzeptanz. Mit VeraICON können im Rahmen schulischer Projekte<br />

verschiedenste Formen politischer <strong>Bild</strong>kommunikation untersucht werden.<br />

Die medienpädagogischen <strong>und</strong> methodologischen Rahmenbedingungen dieser<br />

Projektentwürfe sind Gegenstand dieses Beitrags.<br />

VeraICON ermöglicht einen neuen Zugang zum Phänomen <strong>Bild</strong>. Obwohl mit<br />

VeraICON prinzipiell alle Arten von <strong>Bild</strong>ern untersucht werden können, stehen in<br />

diesem Beitrag <strong>Bild</strong>er mit politischem Inhalt im Mittelpunkt. entgegen üblicher<br />

Bezeichnungsweisen sollen diese nicht politische Ikonografien, sondern <strong>Bild</strong>er<br />

mit politischem Inhalt, politische <strong>Bild</strong>kommunikation oder kurz: politische <strong>Bild</strong>er<br />

genannt werden. Der Begriff Ikonografie legt nahe, dass es sich um weithin<br />

111


STeFAN SelKe<br />

bekannte <strong>und</strong> berühmte einzelbilder handelt. Der Begriff impliziert weiterhin<br />

eine Methode der <strong>Bild</strong>untersuchung, wie sie im Rahmen der Kunstgeschichte<br />

unter dem Etikett ikonografisch-ikonologische <strong>Bild</strong>interpretation vorgelegt wurde.<br />

Im Gegensatz hierzu soll erstens betont werden, dass das Untersuchungsinstrument<br />

VeraICON offen für jegliche Form politischer <strong>Bild</strong>kommunikation<br />

ist, <strong>und</strong> dass es sich zweitens bei einer <strong>Bild</strong>analyse mit VeraICON nicht um den<br />

(bildungsbürgerlich motivierten) Versuch handelt, einen Kanon wichtiger <strong>Bild</strong>er<br />

zu repräsentieren <strong>und</strong> die darin verborgenen (vermeintlich) „richtigen“ Bedeutungsinhalte<br />

zu entschlüsseln. Der vorgelegte Ansatz lässt sich in den Kontext der<br />

rekonstruktiven qualitativen Sozialforschung einordnen. 1 Mit Theunert (1996:<br />

67f.) lässt sich VeraICON als eine qualitative Rezeptionsstudie einordnen. <strong>Bild</strong>er<br />

werden zudem imSinne der Cultural Studies als Alltagsphänomene verstanden,<br />

die in der Praxis der Aneignung <strong>und</strong> Auslegung eben diesen Alltag (mit) strukturieren.<br />

Als Gegenentwurf zu kunstgeschichtlich inspirierten oder sich an der<br />

Ästhetik des <strong>Bild</strong>es oder zumindest seiner Formstruktur orientierenden Ansätzen<br />

(wie z.B. der objektiven Hermeneutik) bedeutet der hier vertretende Ansatz im<br />

Kern, nicht die vermeintliche Sprache der <strong>Bild</strong>er zu analysieren, sondern stattdessen<br />

das Sprechen über <strong>Bild</strong>er. Diese Kommunikation über <strong>Bild</strong>er kann – so<br />

die gr<strong>und</strong>legende These – im Gegensatz zur <strong>Bild</strong>kommunikation als eine Form<br />

kommunikativer Gattungen angesehen <strong>und</strong> mit bekannten (textbasierten) Methoden<br />

der qualitativen Sozialforschung untersucht werden. Dies kann auch als<br />

eine wissenssoziologische Annäherung an <strong>Bild</strong>er verstanden werden: es ist unmöglich,<br />

<strong>Bild</strong>wahrnehmungen <strong>und</strong> damit evozierte Empfindungen kongruent in<br />

Sprache umzusetzen. Aber man muss über <strong>Bild</strong>er sprechen, um herauszufinden,<br />

was sich (nicht) über die sagen lässt. Statt also die Sprache der <strong>Bild</strong>er zu analysieren,<br />

sollte die Sprache analysiert werden, mit der über die <strong>Bild</strong>er gesprochen wird<br />

(Selke 2005: 28ff.). Die <strong>Bild</strong>analysesoftware VeraICON ermöglicht begründungsintensive<br />

Aussagen über <strong>Bild</strong>er. Es geht jeweils darum, die diskursgenerierende<br />

Wirkung sowie die kommunikative Leistung der <strong>Bild</strong>er kritisch <strong>und</strong> selbstreflexiv<br />

zu beurteilen. Hierbei wird im weitesten Sinne Kontext mit einbezogen, weshalb<br />

sich VeraICON ideal für einen einsatz im Bereich politischer <strong>Bild</strong>ung eignet. Die<br />

Vorstellung dieser Software in diesem Beitrag ist eingebettet in allgemeine Überlegungen<br />

zu Zielen politischer <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Formen von Medienkompetenz. Ziel<br />

ist es letztlich, das mögliche einsatzspektrum von VeraICON anhand von Projektentwürfen<br />

zu demonstrieren, die auf die Verbesserung der Wahrnehmungsfähig<br />

von <strong>Bild</strong>ern mit politischen Inhalten abzielen.<br />

1 Vgl. den Beitrag „Rekonstruktive Sozialforschung online. Qualitative <strong>Bild</strong>analyse-Chats mit der<br />

Open Source Software VeraICON“ von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />

112


2 Medien- <strong>und</strong> Wahrnehmungskompetenz in der Medienpädagogik<br />

Im Rahmen politischer <strong>Bild</strong>ung wird stets nach neuen Möglichkeiten zur einübung<br />

von Wahrnehmungskompetenz gefahndet. Diese Kompetenz kann auch<br />

visuelle Kompetenz oder Kompetenz im Umgang mit <strong>Bild</strong>ern genannt werden.<br />

Zur Verbesserung der visuellen Kompetenz können, unter zu Hilfenahme von<br />

Onlinemedien, neue Wege gegangen werden. Neben den rein technischen Funktionalitäten,<br />

die weiter unten erläutert werden, ist es notwendig, den Diskurs über<br />

Medienkompetenz kritisch nach Anschlussstellen für das hier vorgeschlagene<br />

Verfahren zu durchforsten. Bei dieser Suche wird übergreifend deutlich, dass es<br />

sich bei Medienkompetenz um einen sehr opaken <strong>und</strong> bedeutungsoffenen Begriff<br />

handelt, der mittlerweile von einigen, mehr oder weniger angrenzenden Disziplinen<br />

vereinnahmt <strong>und</strong> unterschiedlich ausgelegt wurde.<br />

Was versteht man unter Medienkompetenz?<br />

Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

Der Begriff Medienkompetenz wird gleichermaßen naiv, zu bedeutungsoffen<br />

oder zu eingeschränkt benutzt. eine vernünftige, d.h. nicht übermäßig ausdifferenzierte<br />

Begriffsdefinition, liefert Baake (1997: 27), der von Medienkompetenz<br />

in vier erscheinungsformen spricht. Diese vier ebenen sind 1. Medienkritik, 2.<br />

Mediennutzungskompetenz, 3. Medienk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> 4. Mediengestaltung. Für die<br />

weitere erörterung spielt nur der erste Punkt eine Rolle.<br />

Die Kompetenz zu Medienkritik umfasst dabei die Fähigkeit, analytisch gesellschaftliche<br />

Prozesse zu erfassen <strong>und</strong> zu problematisieren. Die hier vorgeschlagenen<br />

Projekte zur Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit von <strong>Bild</strong>ern mit<br />

politischen Inhalten können ebenfalls auf dieser ebene angesiedelt werden, geht<br />

es doch nicht so sehr um die Analyse einzelner <strong>Bild</strong>er oder Wahlplakate, sondern<br />

vielmehr um die Prozesshaftigkeit <strong>und</strong> Kontexteingeb<strong>und</strong>enheit politischer<br />

Kommunikation. Dies kann (idealerweise) eine Untersuchung von Plakaten zu<br />

Wahlkampfzeiten beispielhaft vorführen. Vom diesem Begriff der Medienkompetenz,<br />

der zumindest einen ersten Überblick <strong>und</strong> Zugang zur Thematik ermöglicht,<br />

sind weitere Begriffe abzugrenzen, die stets im Zusammenhang mit politischer<br />

<strong>Bild</strong>ung auftauchen, die hier jedoch nicht weiter vertieft werden können<br />

(vgl. Groebel 1997). Unter Mediendidaktik versteht man übergreifend den einsatz<br />

von Kommunikationstechnologien als lehr- <strong>und</strong> lernmittel. Damit sind unausgesprochen<br />

gerade auch <strong>Bild</strong>er gemeint. Projekte, die die sozialwissenschaftlich<br />

f<strong>und</strong>ierte Analyse von Wahlplakaten zum Gegenstand haben, können also diesem<br />

Bereich zugerechnet werden. Dieser ist wiederum vom Begriff der Medienerziehung<br />

abzugrenzen. Medienerziehung thematisiert das Prozesswissen, dass<br />

hinter der medialen Infrastruktur eine Rolle spielt. Im Bereich der Kommunikationsbildung<br />

wird abschließend das Strukturwissen über die Zusammenhänge von<br />

digitaler <strong>und</strong> nicht-digitaler Welt thematisiert, was auch die ständigen Verknüpfungen<br />

zwischen medialen <strong>und</strong> nicht-medialen erfahrungen beinhaltet. Dieser<br />

113


STeFAN SelKe<br />

Bereich spielt bei Plakatwirkungsanalysen insofern eine Rolle, da die Wahrnehmung<br />

von <strong>Bild</strong>ern mit politischen Inhalten immer schon in vorgängige erfahrungen<br />

von Realpolitik eingeb<strong>und</strong>en ist.<br />

Medienpädagogik <strong>und</strong> Medienkompetenz<br />

Die Forderung nach mehr Medienkompetenz setzt überhaupt einmal mehr Mediennutzung<br />

voraus. Dabei ist die Medienpädagogik die Disziplin, die sich am<br />

deutlichsten um eine definitorische Bestimmung, empirische Untersuchung<br />

<strong>und</strong> didaktische Herstellung von Medienkompetenz kümmert. Medienpädagogik<br />

kann mit Schorb (1997: 72) als eine empirische <strong>und</strong> eine praktische Disziplin<br />

verstanden werden, die auf diesen beiden Ebenen das Verhältnis von Subjekten<br />

zu den sie umgebenden Medien untersucht. Medienpädagogik ist auf einer<br />

Vermittlungsebene zwischen Medienalltag <strong>und</strong> Medienhandeln als intermediäre<br />

Vermittlungsinstanz anzusiedeln. Medienpädagogik hat sich inzwischen als<br />

eine ernstzunehmende Teildisziplin innerhalb der erziehungswissenschaften<br />

etabliert. Gr<strong>und</strong>lage dieser entwicklung waren/sind eine Vielzahl von Anfragen<br />

aus der Praxis zur Verwendung von Medien in pädagogischen Kontexten. Mit<br />

dieser Ausrichtung wendet sich (so im Folgenden Aufenanger 1997: 16ff.) die<br />

Medienpädagogik vermehrt auch den Chancen neuer Medientechnologien zu.<br />

Dies wird disziplinär durch einem Wandel von der „bewahrpädagogischen Position“<br />

zur „sozialwissenschaftlichen Position“ gekennzeichnet. Jugendliche werden<br />

als „Objekte der Erziehung“ ernst genommen - ihre Form der Mediennutzung<br />

ebenfalls. Mediennutzung von jugendlichen bedeutet in dieser Perspektive: Alltagsbewältigung,<br />

Identitätsbildung, symbolische Repräsentation generationsspezifischer<br />

Probleme, Steuerung sozialer Prozesse. Hiermit sind die Erschließung<br />

neuer Themenfelder <strong>und</strong> die Integration neuer Methoden verb<strong>und</strong>en. Besonders<br />

hervorgehoben wird die Konvergenz traditionell „medienerzieherischer Schwerpunkte“<br />

mit Ansätzen der informationstechnischen <strong>Bild</strong>ung, die den Einsatz<br />

neuer Medien unter (medien-)pädagogischen Gesichtspunkten fokussiert. Wenn<br />

sich aber die Medienpädagogik vermehrt den Chancen neuer Medientechnologien<br />

zuwendet, dann passt die hier vorgestellte internetbasierte Befragungs- <strong>und</strong><br />

Untersuchungsplattform VeraICON hervorragend in dieses „mission statement“.<br />

Die Ziele <strong>und</strong> Dimensionen medienpädagogischen Handelns sollen nun kurz näher<br />

erläutert werden, um zu sehen, welche davon mit VeraICON erreicht werden<br />

können.<br />

Meta-Ziele medienpädagogischen Handelns zur erreichung von Medienkompetenz<br />

In der hier vertretenen Position bedeutet Medienkompetenz nicht Kompetenz im<br />

Umgang mit Medien (Mediennutzungskompetenz) sondern die Kompetenz zur<br />

hermeneutischen, sinnverstehenden Fähigkeit der Codierung <strong>und</strong> Decodierung<br />

von Symbolen im Zeitalter der Visualisierung. es geht in anderen Worten da-<br />

114


Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

rum, sich methodisch im Spannungsfeld zwischen der Medienkompetenz der<br />

Rezipienten <strong>und</strong> der Verantwortung der Medienproduzenten zu bewegen. Quer<br />

zu den verschiedenen, in der Literatur vorliegenden Klassifikationsschemata können<br />

vier gr<strong>und</strong>legende Kompetenzformen als konstitutiv für Medienkompetenz<br />

angenommen werden.<br />

• Übergreifend soll erstens Orientierungs- <strong>und</strong> Strukturwissen in einer von<br />

Mediatisierungsprozessen durchdrungenen lebenswelt erworben werden.<br />

Das Durchschauen der Strukturen dieser Verweisungszusammenhänge ist<br />

die vornehmliche Aufgabe medien-pädagogischen Handelns. Dieses Strukturwissen<br />

zielt auf die Fähigkeit ab, den Bezug von Informationen untereinander<br />

herzustellen. Dies bedeutet, dass Informationen crossmedial zugeordnet<br />

werden können. es bedeutet im engeren Sinne aber auch, dass<br />

sich Informationen immer schon auf andere Informationen, Wissen immer<br />

schon auf anderes Wissen <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>er sich immer schon auf andere <strong>Bild</strong>er<br />

beziehen.<br />

• Die Fähigkeit, Wissensbestände nach Wertungskriterien zu gliedern <strong>und</strong> in<br />

neue Zusammenhänge zu bringen, kann zweitens als kritische Reflexivität<br />

bezeichnet werden. Sie ist die Gr<strong>und</strong>lage dafür, aus der Rolle des passiven<br />

Konsumenten heraus zu fallen <strong>und</strong> in die Rolle des Produzenten bzw. des gestaltenden<br />

Subjekts zu schlüpfen, mit anderen Worten, um politische Mündigkeit<br />

zu erreichen. Kritische Reflexivität bedeutet verstehendes Begleiten<br />

der Medienentwicklung <strong>und</strong> ihrer Produkte. „Medienverstehen“ beinhaltet<br />

analytische, ethische <strong>und</strong> ästhetische Dimensionen. So ist z.B. die Unüberschaubarkeit<br />

<strong>und</strong> Beliebigkeit der medial transportierten Inhalte zu hinterfragen,<br />

das Fehlens normativer Regularien (Wahrheit, Glaubwürdigkeit) zu<br />

diskutieren oder das Problem des Fehlens einer handlungsleitenden ethik<br />

der Medienproduzenten zu berücksichtigen. Zu dieser Kompetenz gehört<br />

unter anderem die Fähigkeit, „Medienbotschaften wahrnehmen, lesen, verstehen<br />

<strong>und</strong> bewerten“ zu können (Schulz-Zander 1997: 104). In der Wissensgesellschaft<br />

müssen neue lesearten erworben werden, die nicht allein<br />

auf der Sprachfähigkeit bzw. Sprachkompetenz beruhen. Hier ist an erster<br />

Stelle die Fähigkeit zur Wahrnehmung, Deutung <strong>und</strong> kontextbezogenen Interpretation<br />

von <strong>Bild</strong>ern zu nennen. „Schüler benötigen die Kompetenz der<br />

entschlüsselung von Botschaften <strong>und</strong> ihrer Bewertung: Informationen <strong>und</strong><br />

Medienbotschaften sind in Situationen <strong>und</strong> in bestimmten soziokulturellen<br />

Zusammenhängen entstanden. Mediale Repräsentationen sind immer interessensgeleitete,<br />

subjektive Konstruktionen“ (a.a.O.).<br />

• Instrumentelle Kompetenzen lassen sich drittens unter den Begriffen „Medienhandeln“<br />

oder (technischer) „Mediennutzungskompetenz“ zusammenfassen.<br />

Sie sind Gegenstand vieler Qualifizierungsmaßnahmen. Über die<br />

befriedigende Benutzung von Interfaces hinaus geht es darum, spezifische<br />

Gegenstandsbereiche sozialer Realität mit Hilfe von Medien <strong>und</strong> dem selbst-<br />

115


STeFAN SelKe<br />

116<br />

ständigen Umgang mit Medien zu reflexiv-praktisch zu rekonstruieren. Im<br />

kommunikativen Austausch mit anderen, wird hier die Fähigkeit der handelnden<br />

Subjekte in den Mittelpunkt gestellt, menschliche Kommunikation<br />

<strong>und</strong> den Nutzungsprozess von Medien einem Ziel unterzuordnen <strong>und</strong> damit<br />

soziale Realität gestaltend zu untersuchen.<br />

• Eng damit verb<strong>und</strong>en ist viertens die Herausbildung von Handlungskompetenz:<br />

„Mit Medien gestalten, sich ausdrücken, informieren oder auch nur experimentieren“<br />

(Aufenanger 1997: 20). Medien sollen nicht nur passiv konsumiert,<br />

sondern auch aktiv gestaltet werden. Medien werden als Ausdruck<br />

der eigenen Persönlichkeit verstanden, mit denen sich eigene Interessen etc.<br />

aktiv ausdrücken lassen.<br />

Medienkompetenz bezieht sich also insgesamt nicht nur darauf, Kommunikate<br />

zu übertragen (instrumentelle Nutzungskompetenz), sondern umschreibt die<br />

Fähigkeit, „an gesellschaftlicher Kommunikation als politisch konstitutivem Element<br />

aktiv teilzuhaben“ (Schorb 1997: 63). Medienkompetenz ist so etwas wie ein<br />

Gegengewicht oder eine Gegenstrategie. Sie richtet sich gegen die Blockade des<br />

Bewusstseins, gegen die (mehr oder weniger unterschwellige) mediale Vorgabe<br />

von Relevanz- <strong>und</strong> Bewertungskriterien, gegen die Monopolisierung asymmetrischer<br />

Kommunikationsstrukturen. Im Rahmen von Projekten zur politischen<br />

<strong>Bild</strong>ung geht es gerade darum, die Relevanz- <strong>und</strong> Bewertungsstrukturen selbst<br />

zu rekonstruieren, zu typisieren <strong>und</strong> kritisch zu reflektieren. Gerade das Thema<br />

Wahl, Wahlwerbung <strong>und</strong> politische Partizipation zeigt, wie Massenmedien nicht<br />

nur das Bewusstsein regulieren, sondern wie letztlich alle lebensbereiche durch<br />

Mediatisierungsprozesse betroffen sind. Um die Fähigkeit, zur „gleichberechtigten<br />

<strong>und</strong> aktiven sozialen wie gesellschaftlichen Partizipation“ (Schorb 1997:<br />

64) zurück zu gewinnen, braucht es daher kommunikative Kompetenz, im engeren<br />

Sinne Medienkompetenz.<br />

Medienpädagogische Praxis - Anforderungen für schulisches Lernen<br />

Medienpädagogisches Handeln könnte prinzipiell an vielen gesellschaftlichen<br />

Orten stattfinden. Wesentlich erscheint aber, dass Medienkompetenz sich nicht<br />

nur auf die Medienlandschaft selbst bezieht, sondern auf alle sozialen Umgebungen,<br />

die mit ihr vernetzt sind – also z.B. auch der Schule. Die Bedeutung des<br />

Begriffes Medienkompetenz wird erst aus dem kontextuellen Inhalt verständlich.<br />

Die Enquete-Kommision „Zukunft der Medien in Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />

Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ des Deutschen B<strong>und</strong>estags<br />

plädiert explizit dafür, den Ort des medienpädagogischen Handelns in die Schule<br />

rückzuverlegen, um vor dem Hintergr<strong>und</strong> umfassender Mediatisierungsprozesse<br />

im Zeitalter der symbolischen Visualisierung dem Trend entgegenzuwirken, dass<br />

Mitsprachemöglichkeiten immer weiter eingeschränkt werden. Am „medienpädagogischen<br />

Handlungsort Schule“, so Schorb (1997: 74), kommt es weniger darauf<br />

an, instrumentelle Fähigkeiten zu entwickeln, sondern handelndes, exempla-


Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

risches lernen durch den unmittelbaren <strong>und</strong> themenbezogenen Gebrauch von<br />

Medien zu ermöglichen. Genau hierauf zielt eine netzbasierte <strong>Bild</strong>analyse mit<br />

VeraICON. Mit ihrem einsatz wird ein Ort der Kommunikation, also ein Ort der<br />

Mitsprache, geschaffen, der die Stimmlosigkeit der politischen Akteure aufhebt.<br />

Ziele politische <strong>Bild</strong>ung als Metaebene für den einsatz von VeraICON<br />

Spitzt man die oben getroffenen Aussagen über Medienkompetenz noch weiter<br />

zu, sind sie mit den Zielen politischer <strong>Bild</strong>ung verknüpfbar. Diese sind nach<br />

Rogg-Pietz (2004): 1. Mündigkeit, 2. politisches Bewusstsein sowie 3. engagement.<br />

Was bedeuten diese Stichworte für die einordnung der hier vorgeschlagenen<br />

Methode? Anhand welcher Elemente lässt sich aufzeigen, dass mittels Plakatwirkungsanalysen<br />

mit der netzbasierten <strong>Bild</strong>analysesoftware VeraICON Ziele<br />

politischer <strong>Bild</strong>ung verfolgt werden?<br />

Mündigkeit, d.h. die selbstbestimmte Wahrnehmung des politischen Geschehens,<br />

erfordert einen offenen Zugang zu Informationen. Informationen bedeutet<br />

aber immer auch Gegen-Informationen, die nicht dem Mainstream entsprechen.<br />

Notwendig hierzu sind Recherchetechniken, die sich in den Bereich der instrumentellen<br />

Mediennutzungkompetenz einordnen lassen. Im Bereich politischer<br />

<strong>Bild</strong>er kann dies bedeuten, die offiziellen Wahlkampfplakate mit ihren inoffiziellen<br />

Gegenentwürfen zu konstrastieren, die im Netz kursieren. Über die Analyse<br />

der Bedeutungsdifferenz entsteht politisches Bewusstsein. Dieses politische<br />

Bewusstsein entsteht aus der reflexiven <strong>und</strong> konstratierenden Aneignung von<br />

Informationen, der Kenntnis von Vergleichshorizonten <strong>und</strong> der Fähigkeit die jeweiligen<br />

Informationen zu gewichten. eine Gr<strong>und</strong>einsicht in die Funktionslogik<br />

des Mediensystems ist die, dass die Breite von Informationen ständig zunimmt,<br />

wohingegen deren Tiefe abnimmt. Politische <strong>Bild</strong>ung muss sich diesem Trend<br />

entgegen stellen <strong>und</strong> Informationen über Informationen, also Meta-Informationen<br />

zur Verfügung stellen. Politisches engagement schließlich entsteht in der<br />

Aufbereitung dieser Meta-Informationen in kommunikativen Akten, d.h. im Abgleich<br />

der eigenen Weltanschauung in Diskursen <strong>und</strong> letztlich in der <strong>Bild</strong>ung<br />

einer eigenen Meinung. Die Verarbeitung von handlungsleitenden einstellungen<br />

<strong>und</strong> Meinungen führt dann z.B. zu einer Wahlentscheidung für oder gegen eine<br />

Partei. Ausreichende Medienkompetenz wird nicht nur als individuelle Bereichung<br />

des vermeintlich politischen Subjekts verstanden, sondern in ihrer gesamtgesellschaftlichen<br />

Bedeutung als Voraussetzung für neue Demokratieformen.<br />

Medienkompetenz gilt inzwischen als integraler Bestandteil politischer Mündigkeit<br />

in der Informations- <strong>und</strong> Wissensgesellschaft. Dies bedeutet im Kern, dass<br />

es bei Projekten zur Erhöhung der Medienkompetenz um die Fähigkeit zur Abschätzung<br />

des Wirklichkeitswertes von Informationen, d.h. auch des Wirklichkeitswertes<br />

von <strong>Bild</strong>ern bzw. Plakaten gehen muss.<br />

117


STeFAN SelKe<br />

VeraICON kann vor diesem Hintergr<strong>und</strong> als ein lernmittel <strong>und</strong> Untersuchungstool<br />

zum einsatz im mediendidaktischen Umfeld mit dem Ziel politischer <strong>Bild</strong>ung<br />

klassifiziert werden. Es entspricht dem Trend zur Konvergenz medienerzieherischer<br />

Schwerpunkte (methodische <strong>Bild</strong>analyse) mit Mitteln der informationstechnischen<br />

<strong>Bild</strong>ung (Online-Untersuchungsplattform) <strong>und</strong> übt in Form einer<br />

Analyse gesellschaftlich relevante Prozesse Medienkompetenz auf der ebene von<br />

Medienkritik ein. VeraICON ist aber noch mehr. Man kann darunter einen Ort<br />

der Mitsprache verstehen, ein konkretes Beispiel für die Zurückverlegung des<br />

Ort medienpädagogischen Handeln in die Schule, ein Mittel zur eröffnung neuer<br />

Mitsprachemöglichkeiten <strong>und</strong> Einübungskontexten demokratischer Aushandlungsprozesse.<br />

Auf jeden Fall stellt VeraICON eine Übungsplattform für medienpädagogisches<br />

Handeln dar. eine erhöhung der Medienkompetenz von Schülern<br />

basiert dabei auf der exemplarischen Erhöhung der Selbstreflexionsfähigkeit. Ein<br />

Online-<strong>Bild</strong>chat zu Wahlplakaten generiert medienkritisches Strukturwissens<br />

über die Kontextgeb<strong>und</strong>enheit der <strong>Bild</strong>produktion <strong>und</strong> die prinzipielle Diskursivität<br />

von <strong>Bild</strong>bedeutungen. Der einsatz von VeraICON ist damit Ausdruck des<br />

Wandels von der bewahrpädagogischen zur sozialwissenschaftlichen Position.<br />

3 Der (Wirklichkeits-)Wert politischer <strong>Bild</strong>kommunikation<br />

Der im Begriff „Visuelle Politik“ dem Wort „Politik“ vorangestellte Ausdruck<br />

„visuell“ meint nicht anderes, als die Macht der <strong>Bild</strong>er anzuerkennen <strong>und</strong> diese<br />

innerhalb gegebener Fachdisziplinen, z.B. der Politikwissenschaft, näher zu untersuchen.<br />

So kommt es auch innerhalb der Politikwissenschaft zu einer Trendwende<br />

zum <strong>Bild</strong>, die jedoch nur auf den Wandel der Politik von einem logo- zu<br />

einem ikonozentrischen Phänomen reagiert: „Auch der Politikwissenschaft bzw.<br />

den Sozialwissenschaften ist nicht entgangen, dass sich die Kommunikation in<br />

den Gesellschaften der Gegenwart von einer vor allem sprachlich codierten zu<br />

einer immer mehr visuell bestimmten wandelt“ (Hofmann 2005b: 71). Auf diesen<br />

paradigmatischen Wandel reagiert die Visuelle Politik, auf diesen Wandel sollte<br />

auch politische <strong>Bild</strong>ung reagieren, denn dahinter verbirgt sich eine bedeutsame<br />

Verschiebung des Verhältnisses von Sprach- <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>politik. So fragt auch Hofmann<br />

(1998) nach den Folgen für das politische System, das politische Bewusstsein<br />

<strong>und</strong> letztlich für die Zukunft der Demokratie. Politisches Bewusstsein ist<br />

aber eine der Kernvariablen bzw. Einflussgrößen, die es im Prozess politischer<br />

<strong>Bild</strong>ung zu stärken gilt.<br />

Analyse von <strong>Bild</strong>ern im Rahmen der institutionalisierten Politikwissenschaft<br />

Auch im Rahmen der institutionalisierten <strong>Bild</strong>wissenschaft findet vermehrt eine<br />

Auseinandersetzung mit der „Wirkungsmacht von <strong>Bild</strong>kommunikation“ (Lesske<br />

2005: 236) statt. In einem Sammelband zu Anwendungen der <strong>Bild</strong>wissenschaft<br />

(Sachs-Hombach 2005) beschäftigt sich lesske mit der methodischen Aufar-<br />

118


Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

beitung von <strong>Bild</strong>ern im Rahmen der Politikwissenschaft. Gerade hierbei stehen<br />

letztlich Kriterien der <strong>Bild</strong>wirkungsforschung im Mittelpunkt, weshalb seine<br />

Überlegungen im Kontext von VeraICON von anschlussfähigem Interesse sind.<br />

Trotz der sehr unterschiedlichen <strong>Bild</strong>formen, die im Rahmen der visuelle Politikwissenschaft<br />

zum Untersuchungsgegenstand avanciert sind, konstatiert lesske<br />

(2005: 236) ein übergreifendes erkenntnisinteresse in Form der Frage nach den<br />

Wirkungen der politischen <strong>Bild</strong>er, auch wenn eine „Differenzierung zwischen<br />

verschiedenen Wirkungen unterschiedlicher <strong>Bild</strong>formen […] bisher noch wenig<br />

ausgeprägt [ist]“. Welche Themen kennzeichnen die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung<br />

mit <strong>Bild</strong>ern?<br />

Im Kern geht es um die Frage, wie <strong>Bild</strong>er die politische Meinungsbildung <strong>und</strong><br />

damit das politische Bewusstsein beeinflussen können. <strong>Bild</strong>wirkung wird also im<br />

Rahmen der Politikwissenschaften als Wirkung auf das Bewusstsein oder in den<br />

Worten der Markt- <strong>und</strong> Medienforschung, als einstellungsänderung, verstanden.<br />

Wenn nach einstellungsänderungen gefragt wird, so rückt in methodischer Hinsicht<br />

die Frage nach der Affektorientierung in den Mittelpunkt. Hierbei geht es<br />

darum zu ergründen, welchen Beitrag <strong>Bild</strong>er zum nicht-rationalen Verständnis<br />

von Politik leisten. Werden politische <strong>Bild</strong>er gar nur durch ihr evokatives Potenzial,<br />

ihre Fähigkeit zur Affektstimulierung handlungswirksam? Lesske (2005:<br />

238ff.) zumindest betont diesen Wirkstoff: „Denn so untauglich <strong>Bild</strong>er möglicherweise<br />

zur Darstellung rationaler Politik auch immer sind: Sie haben eine suggestive<br />

Kraft <strong>und</strong> damit eine prägende Wirkung auf den ‚nicht-rationalen Anteil<br />

des politischen Bewusstseins’. […] Denn dass <strong>Bild</strong>er das politische Bewusstsein<br />

beeinflussen, ist offensichtlich“. Er tritt damit der oft unscharf geäußerten landläufigen<br />

Meinung entgegen, Politik ließe sich durch ihren Abstraktionsgrad überhaupt<br />

nicht verbildlichen, hebt den affektiven Anteil des Politischen hervor, der<br />

erstens von Intellektuellen tendenziell unterschätzt wird <strong>und</strong> der sich zweitens<br />

gleichwohl, z.B. bei Wahlen, als präsent erweisen kann. So kommt lesske (2005:<br />

243) auch zu einer Kritik an bekannten Schlagworten: „Wer allerdings die <strong>Bild</strong>betonung<br />

bei der Vermittlung politischer Inhalte leicht despektierlich als einen Teil<br />

des allgemeinen Trends zum Infotainment ansieht […] blendet unter Umständen<br />

aus, dass die <strong>Bild</strong>darstellung nur andere Aspekte von Politik anspricht <strong>und</strong><br />

hervorhebt, die eben affektiv, emotional <strong>und</strong> weniger rational sind, aber dadurch<br />

nicht weniger wichtig für politische Meinungsbildung <strong>und</strong> Entscheidung“.<br />

Die Politikwissenschaft fragt weiter nach der Darstellbarkeit des Politischen in<br />

<strong>Bild</strong>ern. Unter der Darstellbarkeit verbergen sich methodisch gesprochen die Dimensionen<br />

Authentizität <strong>und</strong> Adäquanz. Authentizität bezieht sich auf die Frage,<br />

was überhaupt abgebildet wird <strong>und</strong> versucht zu ergründen, ob der <strong>Bild</strong>inhalt<br />

überhaupt zu dem politischen Kontext gehört, der behauptet wird? Adäquanz<br />

meint im eigentlichen Sinne die Fragen, ob sich Politik mit <strong>Bild</strong>ern überhaupt<br />

sinnvoll darstellen lässt, welche Aspekte von Politik in <strong>Bild</strong>ern vermittelt werden<br />

können <strong>und</strong> welche nicht. Fragt man also nach der Bedeutung von <strong>Bild</strong>ern im<br />

119


STeFAN SelKe<br />

Rahmen der Politikwissenschaft, so steht die Abbildqualität ganz im Zentrum der<br />

Diskussion. Diese Frage nach der Beziehung zwischen <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> abgebildetem<br />

Gegenstand gewinnt auch im Rahmen politischer <strong>Bild</strong>ungsprozesse eine ganz besondere<br />

Relevanz. <strong>Bild</strong>er helfen beim Transport politischer Mitteilungen – dazu<br />

werden sie gegebenenfalls zielgerichtet eingesetzt. lesske (2005: 238) geht dann<br />

davon aus, dass <strong>Bild</strong>er immer auch zu einer Beeinflussung führen, denn sie „behaupten<br />

politische Zusammenhänge, implizieren politisches Handeln <strong>und</strong> verändern<br />

an sich schon die politische Realität“. Eine andere Form der Verzerrung ist<br />

die Vereinfachung von Politik durch <strong>Bild</strong>er. <strong>Bild</strong>er vereinfachen Politik aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer medialen eigenschaften. Gleichwohl herrscht in der Mediengesellschaft<br />

eine steigende Nachfrage nach <strong>Bild</strong>ern.<br />

(Neue) Methoden der <strong>Bild</strong>analyse in den Politikwissenschaften<br />

lesske (2005: 243ff.) betont, dass die Verfahren zur <strong>Bild</strong>analyse in den Politikwissenschaften<br />

im Wesentlichen hermeneutische sind. Konkrete <strong>Bild</strong>er werden mit<br />

a) realen Gegenständen, b) historischen Vorbildern oder c) anderen Darstellungsformen<br />

desselben Inhalts (Gegenüberstellung von <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Sprache) verglichen.<br />

Er gibt weiterhin freimütig zu, dass die Politikwissenschaften „in Ermangelung<br />

eines ureigenen Instrumentariums“ hauptsächlich auf Methoden der Kunstwissenschaft<br />

zurückgreifen müssen. Diese methodische lücke kann mit neuen<br />

Verfahren, die nicht nur hermeneutisch, sondern empirisch sind, geschlossen<br />

werden, auch wenn diese damit nicht zum alleinigen Instrumentarium der Politikwissenschaften<br />

gemacht werden sollen. VeraICON ist eine solche Option.<br />

Die Analyse politischer Ikonografien hat sich als Sackgasse erwiesen, bei dem<br />

der Anspruch, mehr Demokratiefähigkeit zu erzeugen bzw. ein demokratisches<br />

politisches Bewusstsein gr<strong>und</strong>zulegen in geradezu zynischer Weise konterkariert<br />

wird. VeraICON zielt vielmehr auf die Rekonstruktion des Deutungshandelns<br />

über <strong>Bild</strong>er ab, die in den Alltag eingeb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> nicht nur Gegenstand<br />

hochkultureller Deutungsakte sind. Die wissenssoziologische leitformel, dass<br />

Expertenwissen <strong>und</strong> Laienwissen sich nicht prinzipiell unterscheiden, sondern<br />

nur strukturell verschieden sind, lässt sich im Rahmen von <strong>Bild</strong>analysen auch<br />

so reformulieren: Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Deutungskompetenz sind Alltagskompetenzen,<br />

über die wir alle verfügen. Sie können zum Ausgangspunkt wissenssoziologischer<br />

<strong>Bild</strong>interpretationen gemacht werden, deren Ziel die Überführung<br />

von Beobachtungen 1. Ordnung in eine Beobachtung 2. Ordnung ist. Mit anderen<br />

Worten: es geht um die Deutung von Selbstdeutungen (Selke 2004: 53ff.).<br />

120


4 Visuelle Kompetenz durch <strong>Bild</strong>chats im Rahmen des Schulunterrichts<br />

Visuelle Kompetenz avancierte vor einigen jahren fast schon zu einem Modebegriff<br />

im Kontext der Diskussion um die Mediengesellschaft (vgl. dazu den Sammelband<br />

von Huber 2002). Was bedeutet aber „Visuelle Kompetenz“ im Umgang<br />

mit politischen <strong>Bild</strong>ern? Visuelle Kompetenz soll die Kompetenz im Umgang mit<br />

<strong>Bild</strong>ern sein. Visuelle Kompetenz kann auch als Form von Medienkompetenz verstanden<br />

werden. Die Gr<strong>und</strong>frage hierbei ist, wie man mit <strong>Bild</strong>ern lernen kann.<br />

In einem aktuellen Beitrag zur Bedeutung von <strong>Bild</strong>ern in lernprozessen im Rahmen<br />

politischer <strong>Bild</strong>ung (Schelle 2006), wird die strukturgebende Funktion von<br />

<strong>Bild</strong>ern betont: <strong>Bild</strong>er sind omnipräsent, haben verschiedene Formen, strukturieren<br />

Wahrnehmungsprozesse, stehen in intentionalen Kontexten, <strong>Bild</strong>er werden<br />

meist unbewusst kognitiv verarbeitet. <strong>Bild</strong>er wirken auf das Selbstbild, sie sind<br />

für die Subjektbildung konstitutiv.<br />

Visuelle Kompetenz als De-Kontextualisierung<br />

Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

Da wir <strong>Bild</strong>er im Alltag unter die Normalitätsvorstellung subsumieren, bedeutet<br />

visuelle Kompetenz zuerst einmal, die scheinbare Selbstverständlichkeit der<br />

<strong>Bild</strong>er wieder zu hinterfragen. Damit ist jedoch nicht gemeint, sie aus ihrem Verwendungskontext<br />

zu entfernen, sondern vielmehr, sich Gedanken zum Einfluss<br />

dieses Verwendungskontextes auf die <strong>Bild</strong>bedeutung zu machen. Diese primäre<br />

Aufgabe sieht auch Schelle (2006: 523), wenn sie schreibt: „In zunehmendem<br />

Maße müssen einzelne in der Lage sein, visuelle Botschaften kontextangemessen<br />

zu entschlüsseln“. Dies bedeutet auch, dass im Rahmen der politischen <strong>Bild</strong>er<br />

Deutungshoheiten, gleich welcher Art, nicht akzeptiert werden können. Visuelle<br />

Kompetenz, als Teil einer umfassenden Medienkompetenz, verfolgt sehr spezifische<br />

Ziele. Diese können mit dem Begriff „Sensibilisierung“ überschrieben<br />

werden. Krüger/Röll (1993) sprechen gar von einer „Alphabetisierung visueller<br />

Kommunikationsformen“, worin sich die Unterstellung ausdrückt, das wohl die<br />

meisten naiven Betrachter nicht fähig sind, ein <strong>Bild</strong> zu lesen wie einen Text. Fest<br />

steht, dass es im Vergleich zu textuellen Alphabetisierung im Schulunterricht<br />

nicht im geringsten vergleichbare Bemühungen zu einer visuellen Alphabetisierung<br />

gibt. Für Schelle (2006: 523) bedeutet diese Sensibilisierung eine „systematische<br />

Erschließung von <strong>Bild</strong>botschaften“ <strong>und</strong> die Befähigung zum „<strong>Bild</strong>denken“.<br />

Ist aber Sensibilisierung das einzige Ziel der Vermittlung visueller Kompetenz?<br />

Neben einer allgemeinen Sensibilisierung <strong>und</strong> der Fähigkeit, die vielfältigen <strong>und</strong><br />

oft genug manipulativen Produktionskontexte von <strong>Bild</strong>ern zu hinterfragen, sollte<br />

jedoch die methodische Kompetenz treten. Damit ist gemeint, dass es nicht ausreicht,<br />

für <strong>Bild</strong>er zu sensibilisieren <strong>und</strong> dann dennoch in einen Subjektivismus<br />

der Deutung zu verfallen. Der methodisch versierte Umgang mit <strong>Bild</strong>ern befähigt<br />

Schüler <strong>und</strong> Jugendliche, sich dem <strong>Bild</strong> auf einer objektiven Ebene zu nähern,<br />

seine Bedeutungsgehalte (gemeinsam) zu rekonstruieren <strong>und</strong> so verallgemeine-<br />

121


STeFAN SelKe<br />

rungsfähiges Wissen über <strong>Bild</strong>typen <strong>und</strong> -sorten zu sammeln anstatt nur einzelbildanalyen<br />

zu betreiben. Man kann <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> deren Ästhetik derart hinterfragen,<br />

dass die in ihnen enthaltenen Machtstrukturen sichtbar werden. Politische<br />

<strong>Bild</strong>er haben immer eine Funktion im öffentlichen <strong>Raum</strong>, die es gilt zu hinterfragen.<br />

Die von Schelle (2006: 524ff.) vorgeschlagene „didaktisch-methodische Möglichkeit<br />

ästhetisch-politischer lernprozesse soll hier kurz skizziert <strong>und</strong> mit dem eigenen<br />

Ansatz in Verbindung gebracht werden: Ausgehend von der (unterstellten)<br />

Alltagskompetenz im Umgang mit <strong>Bild</strong>ern, behauptet die Autorin, dass <strong>Bild</strong>analysen<br />

den erwartungen der Schüler (immer mehr) entgegenkommen. Diese Behauptung<br />

muss im Zusammenhang mit der Zunahme von bildsozialisatorischen<br />

Effekten gesehen werden. <strong>Bild</strong>er seien „reizvolle Anknüpfungspunkte […] für die<br />

<strong>Bild</strong>ung eines reflexiven Selbst- <strong>und</strong> Weltverhältnisses“ <strong>und</strong> für die <strong>Bild</strong>ung einer<br />

Vorstellung von Gesellschaft <strong>und</strong> Politik (vgl. George 1998; Schelle 2003). Mit<br />

politischen <strong>Bild</strong>ern lassen sich Lernsituationen initiieren, „in denen [<strong>Bild</strong>er] nicht<br />

bloß als bunte Aufhänger fungieren, sondern systematisch <strong>und</strong> methodisch angeleitet<br />

politisch gedeutet, interpretiert <strong>und</strong> beurteilt werden. […] <strong>Bild</strong>er erzeugen<br />

Gegenbilder, Gegenaufmerksamkeit, können irritieren <strong>und</strong> rätselhaft sein […].<br />

Um sie enträtseln zu können, bedarf es hermeneutischer Kompetenzen […]. Diese<br />

sind gleichsam Kompetenzen, die jede/jeder benötigt, um sich schließlich auch<br />

selber zu positionieren“ (Schelle 2006: 534). Das „Lernen an <strong>Bild</strong>ern“ (Schelle<br />

2006: 526) erfolgt phasenweise <strong>und</strong> (tiefen-)hermeneutisch. Dies bedeutet im<br />

Einzelnen die Möglichkeit zur Entwicklung unterschiedlicher („oppositioneller“)<br />

lesarten aus verschiedenen Blickwinkeln, das ergründen der manifesten <strong>und</strong><br />

latenten Sinngehalte des <strong>Bild</strong>es, die thesengeneriernde Weiterbearbeitung des<br />

<strong>Bild</strong>es <strong>und</strong> letztlich die Ableitung eines eigenen Urteils. Übergreifend geht es darum,<br />

„innere <strong>Bild</strong>er als Sinnstrukturen lesen zu lernen (vgl. auch Schelle 2003).<br />

Die eigene Vorstellungskraft soll die lernsituation strukturieren. Diesen Zugang<br />

zum <strong>Bild</strong> nennt Schelle „szenisch-verstehend“ <strong>und</strong> grenzt ihn von einer „analytisch-formalen“<br />

Betrachtungsweise ab. Ein Hinweis, der im Zusammenhang mit<br />

der hier vertretenden Methode wichtig ist, ist der, dass die Fragen, die an ein<br />

<strong>Bild</strong> gestellt werden, die Notwendigkeit zu Recherchen nach sich ziehen können.<br />

Damit ist der Schnittpunkt der speziellen visuellen Kompetenz zur allgemeinen<br />

Methodenkompetenz benannt.<br />

Für das konkrete Vorgehen schlägt Schelle Gruppenarbeitsphasen vor, „in denen<br />

möglichst variantenreich <strong>und</strong> extensiv Deutungen <strong>und</strong> Interpretationen ausgetauscht<br />

<strong>und</strong> verschriftlicht werden, um dass kontrastierend im Plenum erörtert<br />

zu werden“ (Schelle 2006: 527). Explizit benennt sie auch die Möglichkeit, eigene<br />

ästhetische Praxis, also „Arbeit am <strong>Bild</strong>“ durch Verfremdungen etc. mit in die<br />

<strong>Bild</strong>analyse einzubeziehen. Dies kann als Kristallisationspunkt für eine fächerübergreifende<br />

<strong>Bild</strong>analyse verstanden werden. Diese Ziele politischen lernens mit<br />

<strong>Bild</strong>ern erfüllt die <strong>Bild</strong>analyse mit VeraICON in idealtypischer Weise, denn die<br />

Schüler lernen…<br />

122


• <strong>Bild</strong>er als Konstruktionen <strong>und</strong> Interpretationen anzuerkennen – <strong>Bild</strong>er verweisen<br />

immer schon auf andere, vorgängige <strong>Bild</strong>er;<br />

• <strong>Bild</strong>interpretation als narrative Produktion aus der Position des betrachtenden<br />

Subjekts einzuordnen;<br />

• die konkurrierenden Lesarten <strong>und</strong> Interpretationsweisen anderer Personen<br />

zu akzeptieren;<br />

• Einsicht in die Unabgeschlossenheit von Interpretationen zu gewinnen;<br />

• sich über die Wirkungsmechanismen von <strong>Bild</strong>ern (hier: Plakaten) bewusst<br />

zu werden.<br />

5 Lernen mit Neuen Medien durch themenbezogene Projekten im<br />

Schulunterricht – Diskussion alternativer Projektentwürfe<br />

Medienkompetenz durch eigene Wahlplakatanalysen – damit ist das Potenzial<br />

von VeraICON auf den Punkt gebracht. Die Voraussetzung für die oben beschriebenen<br />

gruppendynamischen Prozesse, bei denen „oppositionelle Lesarten“ von<br />

<strong>Bild</strong>ern entstehen, Thesen generiert <strong>und</strong> eigene Meinungen ausgebildet werden,<br />

ist das Internet als Kommunikationsplattform. Zum einsatz im Rahmen von<br />

Schulprojekten wird die Open Source Software VeraICON kostenlos vom Zentrum<br />

für <strong>Bild</strong>-, <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sforschung ISIC zur Verfügung gestellt.<br />

Serviceleistungen zur Erstellung eines Projektdesigns <strong>und</strong> zur Handhabung der<br />

Chat- sowie der Auswertungssoftware gehören zum Angebotsumfang. Im Folgenden<br />

werden drei Projektideen skizziert, für die sich der Einsatz des <strong>Bild</strong>analysetools<br />

eignet.<br />

Projektvorschlag 1: <strong>Bild</strong> in Kunst <strong>und</strong> Politikunterricht<br />

Die Gr<strong>und</strong>idee besteht darin, dass Plakate im Kunstunterricht entworfen <strong>und</strong> im<br />

Politikunterricht getestet werden. Die Konzeption <strong>und</strong> das Design von Wahlplakaten<br />

erfolgt dabei für einen fiktiven Wahlkontext im Kunstunterricht oder möglicherweise<br />

für reale innerschulische Wahlen (z.B. für einen Schülersprecher). Der<br />

einsatz von VeraICON im Politikunterricht dient dann der Wirkungsmessung<br />

der schulintern entworfenen Plakate. Im Rahmen des Projekts entsteht dann eine<br />

Art Wettbewerbsituation zwischen den „Gestaltern“ auf der Basis der Evaluation<br />

durch die „Wirkungsforscher“.<br />

Projektvorschlag 2: Rekonstruktion der eigenen Lebenswelt<br />

Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

Hierbei geht es um die Rekonstruktion der Images von real existierenden Wahlplakaten<br />

in der Zielgruppe, der Schüler selbst angehören (also junge Erstwähler).<br />

Der Einsatz von VeraICON dient konkret der Wirkungsmessung von extern<br />

123


STeFAN SelKe<br />

entworfenen Plakaten, wie sie z.B. anlässlich einer Bürgermeister-, Kreis- oder<br />

Landtagswahl im öffentlichen <strong>Raum</strong> vorzufinden sind. Ziel dieses Projekts ist die<br />

Aufarbeitung der zielgruppenspezifischen Wahrnehmung von <strong>Bild</strong>ern mit politischem<br />

Inhalt bei Anerkennung ihrer aktuellen Kontexteingeb<strong>und</strong>enheit.<br />

Projektvorschlag 3: Mini-Wahlforschung mit lokalen Content-Partnern<br />

Bei diesem Projekt wird das Sampling ausgeweitet: Um die Images von real existierenden<br />

Wahlplakaten in der (lokalen/regionalen) Wahlbevölkerung zu rekonstruieren,<br />

wird mit Hilfe lokaler Contentpartner (z.B. einer Tageszeitung) Vera-<br />

ICON zur Wirkungsmessung eingesetzt. Ziel des Projekts ist die Erstellung einer<br />

begründbaren Prognose des Erfolgs der Wahlkampagnen – <strong>und</strong> die selbstkritische<br />

Abschätzung der Aussagequalität der erhobenen Daten.<br />

6 Vom Info-Bit zum Sinnzusammenhang – Visuelle Kompetenz <strong>und</strong><br />

politische <strong>Bild</strong>ung im Informationszeitalter<br />

Beim Thema Medienkompetenz geht es um mehr als „technisches Können zur<br />

Nutzung der Neuen Medien“ <strong>und</strong> damit insgesamt um „umfassendere Fähigkeiten“<br />

<strong>und</strong> gerade keine „isolierte Kompetenz“ (Mandl/Reinmann-Rothmeiner<br />

1997: 77). Diese umfassenden Fähigkeiten können – wie oben gezeigt – in Rahmen<br />

themenbezogener Projekte im Schulunterricht mit dem Einsatz von VeraI-<br />

CON trainiert werden.<br />

Wolfgang Frühwald, der Präsident der DFG, machte frühzeitig auf die Risiken <strong>und</strong><br />

Gefahren des Informationszeitalters aufmerksam <strong>und</strong> mahnte, dass es neben der<br />

technischen Verbesserung der Kommunikationsinstrumente auch auf die Inhalte<br />

der „uns umspülenden Informationswellen“ ankomme (zit. n. Mandl/Reinmann-<br />

Rothmeiner 1997: 78). In diesem Sinne trägt die pädagogische Arbeit mit VeraI-<br />

CON eben gerade dazu bei, sich nicht mit der Sinnfigur des Surfers abzugeben,<br />

der (im besten Fall) auf den Informationswellen reitet oder (im schlimmsten Fall)<br />

darin ertrinkt. es geht vielmehr darum, Information <strong>und</strong> Bedeutung zu unterscheiden<br />

<strong>und</strong> die Info-Bits in einen (neuen) Sinnzusammenhang zu stellen. eine<br />

Wissensgesellschaft zeichnet sich, wieder nach Frühwald, dadurch aus, dass sie<br />

ihre Lebensgr<strong>und</strong>lagen aus reflektiertem <strong>und</strong> bewertetem Wissen gewinnt. Das<br />

Kompetenzbündel, dass uns alle, besonders aber die nächste Generation auf die<br />

Wissensgesellschaft, oder das was nach ihr kommt, vorbereitet enthält neben den<br />

Attributen „technische Kompetenz“, „soziale Kompetenz“ <strong>und</strong> „Kompetenz zur<br />

persönlichen Entscheidungsfindung“ auch die Idee einer „demokratischen Kompetenz“.<br />

Für die Schulen <strong>und</strong> <strong>Hochschule</strong>n werden sich neue Aufgabenfelder öffnen.<br />

Sie müssen dazu beitragen, dass neben Fachwissen auch die für die Zukunft<br />

so wichtigen Kompetenzen gefördert werden. Statt enzyklopädisches Wissen zu<br />

vermitteln, muss das Verstehen gr<strong>und</strong>legender Prinzipien des Faches gefördert<br />

124


werden. Notwendig ist zudem die Herstellung von Querverbindungen zwischen<br />

verschiedenen Wissensdomänen. Hier zeichnen sich die Gr<strong>und</strong>risse einer neuen<br />

lernkultur ab, in die ein Instrument wie VeraICON ideal hineinpasst.<br />

Die Autoren Mandl/Reinmann-Rothmeiner (1997: 83ff.) plädieren für eine „konstruktivistisch“<br />

geprägte Lernkultur, die aktiv, selbstgesteuert, situativ <strong>und</strong> sozial<br />

ist. lernen ist nur über die aktive Beteiligung der lernenden möglich. Ohne eigenen<br />

erfahrungs- <strong>und</strong> Wissenshintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> wichtiger noch, ohne eine Interpretationsfähigkeit,<br />

finden im Prinzip keine kognitiven Prozesse statt. Dieser<br />

Erfahrungshintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> der eigenen lebensweltliche Kontext werden aber im<br />

Wesentlichen durch VeraICON abgefragt <strong>und</strong> in die Analyse politischer <strong>Bild</strong>er<br />

einbezogen. Lernen erfolgt stets in spezifischen Kontexten, in denen Schüler situiert<br />

<strong>und</strong> anhand authentischer Probleme lernen. Der Ausgangspunkt für lernprozesse<br />

ist idealerweise eine authentische Problemsituation, die aufgr<strong>und</strong> ihres Realitätsgehalts<br />

<strong>und</strong> ihrer Relevanz zum lernen motiviert. Wahlplakate sind ein reales<br />

<strong>und</strong> relevantes Problem, das sich in regelmäßigen Abständen immer neu stellt.<br />

Lernen ist kein individueller Prozess, sondern immer in einen sozialen Kontext<br />

eingeb<strong>und</strong>en. Dieses gemeinsame Aushandeln der <strong>Bild</strong>interpretation steht im<br />

Mittelpunkt von VeraICON. Demokratische Kompentenz entsteht so nicht „top<br />

down“ sondern „bottom up“. Mandl/Reinmann-Rothmeiner (1997: 85) behaupten<br />

außerdem: „Die Nutzung Neuer Medien ohne theoretisch f<strong>und</strong>ierte Ideen ist<br />

dysfunktional. Notwendig sind daher durchdachte Konzepte zum Medieneinsatz,<br />

die die spezifischen Potenziale der Neuen Medien zielgerecht nutzen“. VeraICON<br />

kann als Beispiel für eine computerunterstützte lernumgebungen angesehen<br />

werden, die diesen Anforderungen gerecht wird.<br />

literatur<br />

Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

AGOF (2005): Internet facts. AGOF legt die erste Regelstudie zur Internetnutzung<br />

vor. http://www.golem.de/0509/40696.html (Zugriff am 07.05.2005)<br />

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In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter.<br />

Bonn, 15-22.<br />

BAAKe, D. (1996): Medienkompetenz – Begrifflichkeit <strong>und</strong> sozialer Wandel. In:<br />

Rein, A. von (Hg.), Medienkompetenz als Schlüsselbegriff. Bad Heilbrunn,<br />

112-124.<br />

BAAKe, D. (1997): Diskurs in der Informationsgesellschaft. In: Deutscher B<strong>und</strong>estag<br />

(Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter. Bonn, 23-27.<br />

DeUTSCHeR BUNDeSTAG Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“<br />

(1997) (Hg.): Medienkompetenz im Informationszeitalter. Bonn.<br />

125


STeFAN SelKe<br />

GeORGe, S. (1998): Ästhetisches Arbeiten im Politikunterricht. In: kursiv – Journal<br />

für politische <strong>Bild</strong>ung, 2, 36-41.<br />

GROeBel, j. (1997): Medienentwicklung <strong>und</strong> Medienkompetenz – Welche Themen<br />

für wen? In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter.<br />

Bonn, 111-119.<br />

HANSeN, G. (2006): Politisches Marketing <strong>und</strong> Regierungskommunikation. Die<br />

öffentlichkeitsarbeit der B<strong>und</strong>esregierung zur Vermittlung der Agenda 2010.<br />

Unveröffentlichte Magisterarbeit. Universität Hannover.<br />

HOFMANN, W. (1998) (Hg.): Visuelle Politik. Filmpolitik <strong>und</strong> die visuelle Konstruktion<br />

des Politischen. Baden-Baden.<br />

HUBeR, H. D./lOCKeMANN, B./SCHeIBel, M. (2002) (Hg.): <strong>Bild</strong>, Medien,<br />

Wissen. Visuelle Kompetenz im Medienzeitalter. München.<br />

KRÜGeR, K./F.-j. Röll (1993): Von der Wort- zur <strong>Bild</strong>(er)kultur. Video in der<br />

jugendbildung. In: Brenner, G./H. Niesyto (Hg.), Handlungsorientierte Medienarbeit.<br />

Video, Film, Foto. Weinheim, 43-47.<br />

leSSKe, F. (2005): Politikwissenschaft. In: Sachs-Hombach, K. (Hg.), <strong>Bild</strong>wissenschaft.<br />

Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M., 236-246.<br />

MANDl, H./ReINMANN-ROTHMeIeR, G. (1997): Medienpädagogik <strong>und</strong> -<br />

komptenz: Was bedeutet das in einer Wissensgesellschaft <strong>und</strong> welche lernkultur<br />

brauchen wir dafür? In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz<br />

im Informationszeitalter. Bonn, 77-89.<br />

MeDIeNPÄDAGOGISCHeR FORSCHUNGSVeRBUND SÜDWeST (2006):<br />

jIM-Studie: jugend, Informationen, (Multi-)Media. Vorabauswertung zu den<br />

Themengebieten “Mobiltelefon” <strong>und</strong> “Chat”.<br />

PöTTINGeR, I. (1997): lernziel Medienkompetenz. Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>und</strong> praktische Evaluation anhand eines Hörspielprojekts. München.<br />

ROGG-PIeTZ, A. (2004): Politische <strong>Bild</strong>ung in der Informationsgesellschaft.<br />

Chancen <strong>und</strong> Grenzen unter veränderten Bedingungen. In: Kübler, H.-D./<br />

E. Elling (Hg.), Wissensgesellschaft. Neue Medien <strong>und</strong> ihre Konsequenzen.<br />

Bonn, Pdf-Dokument auf CD-Rom (Beigabe zum Sammelband).<br />

SACHS-HOMBACH, K. (2005) (Hg.): <strong>Bild</strong>wissenschaft. Disziplinen, Themen,<br />

Methoden. Frankfurt a. M.<br />

SCHelle, C. (2003): Politisch-historischer Unterricht hermeneutisch rekonstruiert.<br />

Von den Ansprüchen jugendlicher, sich selbst <strong>und</strong> die Welt zu verstehen.<br />

Bad Heilbronn.<br />

SCHelle, C. (2005): Mit <strong>Bild</strong>ern lernen: Foto, Karikatur, Grafik, Gemälde. In:<br />

Sander, W. (Hg.), Handbuch politische <strong>Bild</strong>ung. Schwalbach/Ts., 523-536.<br />

126


Visuelle Kompetenz für junge Bürger<br />

SCHelSKe, A. (2005): Soziologie. In: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.), <strong>Bild</strong>wissenschaft.<br />

Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M., 257-267.<br />

SCHORB, B. (1997): Vermittlung von Medienkompetenz als Aufgabe der Medienpädagogik.<br />

In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter.<br />

Bonn, 63-75.<br />

SCHUlZ-ZANDeR, R. (1997): Medienkompetenz – Anforderungen für schulisches<br />

lernen. In: Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.), Medienkompetenz im Informationszeitalter.<br />

Bonn, 99-109.<br />

STeNGeR, U./FRÜHlICH, V. (2003): einführung. In: Frühlich, V./U. Stenger<br />

(Hg.), Das Unsichtbare sichtbar machen. <strong>Bild</strong>ungsprozesse <strong>und</strong> Subjektgenese<br />

durch <strong>Bild</strong>er <strong>und</strong> Geschichten. Weinheim, 7-20.<br />

THeUNeRT, H. (1996): Perspektiven der Medienpädagogik in der Multimedia-<br />

Welt. In: Rein, A. von (Hg.), Medienkompetenz als Schlüsselbegriff. Bad Heilbrunn,<br />

60-69.<br />

VON eIMeReN, B./FReeS, B. (2005): ARD/ZDF-Online Studie 2005. Nach dem<br />

Boom – Größter Zuwachs in internetfernen Gruppen. In: Media Perspektiven,<br />

8, 362-379.<br />

127


PATRICK BURST<br />

ConVis<br />

ein visuelles Chatsystem für die Unterstützung von Online-<br />

Gruppendiskussionen<br />

1 Überblick<br />

VeraICON ist eine Webapplikation für die Durchführung von Online-Gruppendiskussionen.<br />

Konzipiert <strong>und</strong> entwickelt wurde die Anwendung in Hochschulveranstaltungen<br />

des Image, Space and Interaction Center (ISIC) an der Fakultät<br />

Digitale Medien der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>. Der Forschungsschwerpunkt von<br />

VeraICON liegt auf der Analyse von Stand- als auch auf zeitbasierten <strong>Bild</strong>ern (z.B.<br />

Videodateien). Die ergebnisse solcher Wirkungsmessungen können somit z.B.<br />

„für die Optimierung der visuellen Kommunikation z.B. von Plakatkampagnen<br />

genutzt werden.“ (Selke 2005: 171).<br />

Gruppendiskussionen werden schon seit ende der 1990er jahre im Internet<br />

durchgeführt. Vorhandene Anwendungen für Online-Gruppendiskussionen1 bieten einige spezielle Funktionalitäten wie z.B. die einblendung eines leitfra-<br />

1 Quasimeto: www.quasimeto.de<br />

Zoomerang Online Focus: http://info.zoomerang.com/prodserv/onlinefocus.htm<br />

acquire©: http://b2b.mediatransfer.de/Methoden,Gruppendiskussionen.html<br />

GfK Online Gruppendiskussion: http://labor.sing-lung.at/<br />

129


PATRICK BURST<br />

genkatalogs oder eine einspielmöglichkeit multimedialer Stimuli-Medien. 2 Trotz<br />

technischer Fortschritte leidet das Verfahren der Online-Gruppendiskussion bis<br />

heute an methodenspezifischen Problemen. Häufig wird der Online-Befragungsmethode<br />

mangelnde Ergebnisqualität gegenüber der klassischen face-to-face Variante<br />

attestiert. Hintergründe dieser Kritik sind die chaotischen Gesprächsverläufe<br />

wie sie bei Chats auftreten (Vgl. Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003; erdogan 2001;<br />

epple/Hahn 2001) sowie die Künstlichkeit der Kommunikationssituation (Vgl.<br />

Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003; Görts 2001; Prickarz/Urbahn 2002).<br />

Chat-Gespräche finden zwar synchron zwischen mehreren Teilnehmern statt,<br />

jedoch geht im Diskursverlauf die typische sequenzielle Abfolge realer Unterhaltungen<br />

verloren. Die Chat-Teilnehmer können parallel <strong>und</strong> unabhängig voneinander<br />

Nachrichten verfassen, editieren <strong>und</strong> verschicken. Dadurch entstehen nicht<br />

nur zeitliche Verzögerungen von der erstellung über das Absenden der Nachricht<br />

bis hin zur Darstellung der Beiträge in den Chat-Programmen der Teilnehmer,<br />

sondern auch die inhaltlich korrekte Reihenfolge wird durcheinander gebracht<br />

(Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003: 209).<br />

ein weiteres Phänomen der Chat-Kommunikation stellt die künstliche Art <strong>und</strong><br />

Weise der Unterhaltung dar. Der fehlende persönliche Kontakt zu der Gruppe erlaubt<br />

dem Moderator nur eine sehr eingeschränkte einschätzung des Gesprächsverlaufs:<br />

zurückhaltende Teilnehmer als auch inhaltliche Wendungen der Diskussion<br />

sind schwerer zu erkennen als bei realen Gesprächen.<br />

Die in diesem Arbeitsbericht dokumentierte Diplomarbeit verfolgt hinsichtlich<br />

der zuvor geschilderten Defizite bisheriger Online-Gruppendiskussionsapplikationen<br />

folgende Hauptziele:<br />

1. Die Arbeit untersucht lösungsansätze wie das Konversationschaos von Chat-<br />

Unterhaltungen vermindert werden kann.<br />

2. es werden außerdem lösungsansätze analysiert, wie die Moderation bei Online-Gruppendiskussionen<br />

unterstützt werden kann<br />

es wird davon ausgegangen, dass die Wiederherstellung eines kohärenten Gesprächsverlaufs<br />

<strong>und</strong> die Unterstützung der Diskussionsleitung durch geeignete<br />

Werkzeuge die Datenqualität einer Online-Gruppendiskussion erhöhen kann.<br />

Mit dem ConVis-Modul – dem prototypisch umgesetzten Ergebnis der hier zusammengefassten<br />

Abschlussarbeit – wurde die VeraICON Software konzeptionell<br />

<strong>und</strong> technisch weiterentwickelt. Die Arbeit verdeutlicht die Potentiale dynamischer<br />

Visualisierungen von Gesprächsverläufen für die Optimierung von<br />

Online-Gruppendiskussionen. Die lösungsansätze stützen sich auf der Analyse<br />

visueller Chat-Systeme <strong>und</strong> die Untersuchung der speziellen Anforderungen von<br />

Online-Gruppendiskussionen.<br />

2 Materialien die der Anregung bzw. Provokation dienen um eine Diskussion anzustoßen<br />

130


2 Fragestellungen<br />

Im Kontext der im vorigen Kapitel dargelegten Ziele, untersucht die Arbeit nachfolgende<br />

Fragestellungen:<br />

1. Was sind die konkreten Ursachen für das Konversationschaos bei der chatbasierten<br />

Kommunikation?<br />

2. Welche Vor- <strong>und</strong> Nachteile besitzt die Online-Gruppendiskussion im Vergleich<br />

zur klassischen face-to-face Variante? Wie ist der Funktionsumfang<br />

von VeraICON im Vergleich mit bisherigen Applikationen einzuschätzen?<br />

3. Forschungsprojekte aus dem Bereich der Informationsvisualisierung wie<br />

z.B. Chat Circles (Viegas/Donath 1999), factchat (Harnoncourt/Holzhauser/<br />

Seethaler/Meinl 2005) oder ConcertChat (Mühlpfordt/Wessner 2005) etc.<br />

haben in den letzten jahren Ansätze aufgezeigt wie einige der chattypischen<br />

Konversationsprobleme gelöst werden können. Andere visuelle Ansätze wie<br />

Babble (erickson 1999) oder Coterie (Spiegel 2001) haben Möglichkeiten demonstriert,<br />

wie aus Gesprächsverläufen soziale Muster <strong>und</strong> Strukturen in<br />

Chat-Unterhaltungen extrahiert werden können. Wie ist das Potential dieser<br />

Visualisierungsansätze für das Szenario der Online-Gruppendiskussion zu<br />

bewerten?<br />

3 Vorgehen<br />

ConVis<br />

Die Arbeit erläutert zunächst Gr<strong>und</strong>lagen zur qualitativen Datenerhebungsmethode<br />

der Gruppendiskussion. Anschließend werden die Charakteristika der<br />

Chat-Technologie beleuchtet. Serielle, textbasierte Chats stellen die Kommunikationsgr<strong>und</strong>lage<br />

von Online-Gruppendiskussionen dar. Daher werden detailliert<br />

die Ursachen des Konversationschaos’ serieller Chats untersucht.<br />

Anschließend geht die Arbeit auf die spezifischen Merkmale der Online-Gruppendiskussion<br />

ein. Die ergebnisse einer literaturanalyse <strong>und</strong> einer Marktübersicht,<br />

in der existierende Anwendungen für Online-Gruppendiskussionen mit<br />

VeraICON verglichen werden, bilden die Basis für die Formulierung von Anforderungen,<br />

auf welchen ebenen Online-Gruppendiskussionen optimiert werden<br />

können.<br />

Anhand der aufgestellten Anforderungen <strong>und</strong> Gestaltungsziele werden anschließend<br />

ausgewählte, visuelle Chat-Systeme analysiert. Die grafischen Chat-Systeme<br />

werden hinsichtlich der Fragestellung untersucht <strong>und</strong> diskutiert, inwiefern deren<br />

Einsatz im Kontext einer Online-Gruppendiskussion einen Nutzen bieten kann.<br />

Auf der Basis der gewonnenen erkenntnisse über visuelle Chat-Systeme wird<br />

abschließend ein eigenes visuelles Konzept entworfen. Das prototypische Visualisierungsmodul<br />

ConVis demonstriert die praktische Umsetzbarkeit der vorgeschlagenen<br />

lösungsansätze.<br />

131


PATRICK BURST<br />

4 Wiederherstellung der Kohärenz<br />

Dieser Abschnitt beschreibt stichwortartig lösungsansätze, wie das Problem der<br />

inkohärenten Gesprächsverläufe 3 bei Online-Gruppendiskussionen vermindert<br />

werden kann:<br />

1. Visualisierung des zeitlichen Verlaufs: Die abstrakte Darstellung des zeitlichen<br />

Verlaufs macht <strong>Interaktion</strong>sprozesse direkt sichtbar <strong>und</strong> lässt ruhige<br />

sowie stürmische Phasen während des Gesprächs sofort erkennen (rechts in<br />

Abb. 1).<br />

2. Visualisierung von Adressierungen: Autor <strong>und</strong> Adressat eines Beitrags sind<br />

durch eine animierte Pfeildarstellung leicht erkennbar. Dadurch wird eindeutig,<br />

wer welche Aussage zu welchem Zeitpunkt an welchen Mitdiskutanten<br />

gerichtet hat (1 in Abb. 1).<br />

3. Visualisierung von Referenzierungen: Inhaltliche Bezüge auf die Vorkommunikation<br />

ermöglichen es, Meinungsbildungsprozesse nachzuvollziehen.<br />

Dies vermeidet unnötige Nachfragen, wie eine Aussage gemeint sei bzw. auf<br />

welche vorherige Aussage sich ein Beitrag bezieht (2 in Abb. 1).<br />

4. Referenzierung von <strong>Bild</strong>bereichen: ConVis ermöglicht es, Bereiche auf den<br />

besprochenen <strong>Bild</strong>ern zu markieren. Auf diese Weise können umständliche<br />

Umschreibungen von <strong>Bild</strong>inhalten erleichtert bzw. reduziert werden.<br />

132<br />

Abb. 1: VeraICON Moderatoransicht mit ConVis<br />

3 ein inkohärenter Gesprächsverlauf, wie er bei seriellen Chats auftritt, ist gekennzeichnet durch den<br />

Verlust der linearen Abfolge der Beiträge in Kombination mit sich überlappenden Konversationssträngen<br />

<strong>und</strong> Paralleldiskussionen; der inhaltlich-logische Zusammenhang geht für den Chat-Teilnehmer<br />

verloren. Allgemein wird von einem „Konversationschaos“ gesprochen.


5 Ausblick<br />

Der in der Arbeit vorgestellte Prototyp zeigt durch die Kombination verschiedener<br />

visueller Konzepte, wie bei Online-Gruppendiskussionen die Kohärenz des Gesprächsverlaufs<br />

<strong>und</strong> die Kontrolle der Diskussion verbessert werden kann. Die<br />

Arbeit zeigt außerdem Anknüpfungspunkte für nachfolgende Projekte auf. Das<br />

Visualisierungskonzept könnte zukünftig bspw. leicht für eine Ex-Post Darstellung<br />

modifiziert werden. Eine Gegenüberstellung von Gesprächsverläufen könnte<br />

in diesem Kontext für den Zweck der Moderatorenschulung evaluiert werden.<br />

ebenfalls interessant wäre die Untersuchung der Akzeptanz <strong>und</strong> Bedienbarkeit<br />

des grafischen Chat-Systems. Diesbezüglich könnten auch akzeptanzsteigernde<br />

Maßnahmen wie der einsatz von Trainingsmaterial praktisch getestet werden<br />

(Vgl. hierzu Yom/Wilhelm/Holzmüller 2003: 211). Die Arbeit liefert außerdem<br />

Ansatzpunkte, wie leistungsfähigere Werkzeuge zur Analyse des Partizipationsverhaltens<br />

der Teilnehmer zukünftig integriert werden können. Interessant wäre<br />

auch die Frage, wie sich Beiträge in Zukunft sinnvoll auf Videomaterial referenzieren<br />

lassen.<br />

literatur<br />

ConVis<br />

ePPle, M./HAHN, G. (2001): Dialog im virtuellen <strong>Raum</strong> - Die Online-Focusgroup<br />

in der Praxis der Marktforschung. In: Theobald, A./Dreyer, M./Starsetzki,<br />

T.: Online-Marktforschung. Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> praktische<br />

erfahrungen. Wiesbaden, Gabler, 297-307.<br />

eRDOGAN, G. (2001): Die Gruppendiskussion als qualitative Datenerhebung im<br />

Internet. Ein Online-Offline-Vergleich. Verfügbar unter: http://www.soz.unifrankfurt.de/K.G/B5_2001_erdogan.pdf.<br />

Zugriff am 15.11.2006<br />

SelKe, S. (2005): Symbolische Politik oder Politik als Ware? Netzbasierte <strong>Bild</strong>wirkungsanalyse<br />

der Agenda 2010-Plakatkampagne durch virtuelle Gruppendiskussionen.<br />

In: Fetzner/Selke (Hg.): selling politics. <strong>Bild</strong>inhalt <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wirkung.<br />

Ergebnisse des Forschungsprojektes selling politics zu Plakatmotiven<br />

der Agenda 2010. Schriftenreihe Fakultät Digitale Medien, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>,<br />

125-174.<br />

GöRTS, T. (2001): Gruppendiskussion – Ein Vergleich von Online- <strong>und</strong> Offline-<br />

Focus-Groups. In: Axel Theobald/Marcus Dreyer/Thomas Starsetzki: Online-Marktforschung.<br />

Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> praktische erfahrungen.<br />

Wiesbaden, Gabler, 149-164.<br />

PRICKARZ, H./URBAHN, j. (2002): Qualitative Datenerhebung mit Online-Fokusgruppen.<br />

In: Planung & Analyse. Deutscher Fachverlag GmbH.<br />

133


PATRICK BURST<br />

YOM, M./WIlHelM, T./HOlZMÜlleR, H.(2003): Online-Fokusgrupppen als<br />

innovative Methode zur nutzerbasierten Beurteilung der Web Usability. In:<br />

Mensch & Compurter 2003: <strong>Interaktion</strong> in Bewegung. B.G. Teubner, 207-<br />

218.<br />

SPIeGel, D. S. (2001): Coterie: A Visualization of the Conversational Dynamics<br />

within IRC. Massachusetts Institute of Technology, Master Thesis.<br />

BeISSWeNGeR, M./STORReR, A. (2005): Chat-Szenarien für Beruf, <strong>Bild</strong>ung<br />

<strong>und</strong> Medien. In: Beißwenger, M.(Hg.), Chat-Kommunikation in Beruf, <strong>Bild</strong>ung<br />

<strong>und</strong> Medien: Konzepte, Werkzeuge, Anwendungsfelder. Stuttgart, 9-<br />

25.<br />

BeISSWeNGeR, M. (2005): <strong>Interaktion</strong>smanagement in Chat <strong>und</strong> Diskurs.<br />

Technologiebedingte Besonderheiten bei der Aushandlung <strong>und</strong> Realisierung<br />

kommunikativer Züge in Chat-Umgebungen“. In: Michael Beißwenger(Hg.),<br />

Chat-Kommunikation in Beruf, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Medien : Konzepte, Werkzeuge,<br />

Anwendungsfelder. ibidem-Verlag, Stuttgart, 63-87.<br />

HARNONCOURT, M./HOlZHAUSeR, A./SeeTHAleR, U./MeINl, P.<br />

(2005): Referenzierbarkeit als Schlüssel zum effizienten Chat. In: Michael<br />

Beißwenger(Hg.), Chat-Kommunikation in Beruf, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Medien : Konzepte,<br />

Werkzeuge, Anwendungsfelder. Stuttgart, 159-179.<br />

HOlMeR, T./WeSSNeR, M. (2005): Gestaltung von Chat-Werkzeugen zur Verringerung<br />

der Inkohärenz. In: Michael Beißwenger(Hg.), Chat-Kommunikation<br />

in Beruf, <strong>Bild</strong>ung <strong>und</strong> Medien : Konzepte, Werkzeuge, Anwendungsfelder.<br />

Stuttgart, 181-199.<br />

MÜHlPFORDT, M./WeSSNeR, M. (2005): Explicit referencing in chat supports<br />

collaborative learning. In: Proceedings of the 2005 conference on Computer<br />

support for collaborative learning. Taipei, Taiwan, 460 – 469.<br />

VIeGAS, F. B./DONATH, j. S. (1999): Chat Circles. In: CHI’99: Proceedings of<br />

the Conference on Human Factors in Computing Systems. ACM, New York,<br />

9-16.<br />

134


ARBeITSBeReICH RAUM


I. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Methode – Virtuelle Testräume


STeFAN SelKe<br />

Techniken der Sichtbarmachung<br />

Nutzungsbedingungen virtueller Testräume<br />

1 Begriffsfestlegungen <strong>und</strong> Kategorien virtueller Realität<br />

In jedem Wissensgebiet gibt es konkurrierende Begriffe <strong>und</strong> semantische Netzwerke,<br />

deren Kenntnis für die Anschlussfähigkeit eigener Arbeiten elementar ist.<br />

einige wichtige einordnungen sollen deshalb an dieser Stelle stellvertretend vorgenommen<br />

werden.<br />

• Neben dem Begriff Virtuelle Realität (VR) existieren auch die Begriffe, Virtual<br />

Environments (VE), Telepresence, Cyperspace, Tele-Existence, Tele-Symbiosis<br />

sowie Augmented Reality (AR). Anfänglich wurde der Begriff VR synonym<br />

mit den Begriffen „Artificial Reality“, „Synthetic Environments“ oder<br />

„Cyberspace“ verwandt.<br />

• Unter den Begriff virtuelle Medien lässt sich eine Vielzahl von Technologien<br />

subsumieren, die völlig verschiedene Nutzungskontexte darstellen. Gemeinsames<br />

Kennzeichen z.B. von Internet, Computerspielen oder Ve ist die Tatsache,<br />

dass einem Nutzer eine computergenerierte Welt interaktiv in echtzeit<br />

erschließbar wird.<br />

141


STeFAN SelKe<br />

• Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen Virtueller Realität <strong>und</strong><br />

Virtuellen Umgebungen (VE). Beide Begriffe werden zwar häufig synonym<br />

verwandt, sind jedoch strikt zu unterscheiden. Letztlich muss immer der<br />

Nutzer zwischen Vision <strong>und</strong> Wirklichkeit unterscheiden, so wie der Betrachter<br />

eines Films zwischen Fiktion <strong>und</strong> Realität unterscheiden können muss.<br />

Der Begriff VR ist hierbei konnotativ an das Visionäre gekoppelt. Gerade diese<br />

Assoziation geht aber für viele praktische Anwendungen zu weit. Deshalb<br />

scheint es sinnvoller, statt von VR von Ve zu sprechen.<br />

Worin liegt nun der kleinste gemeinsame Nenner virtueller Medien? Dies ist<br />

gleichbedeutend mit der Suche nach einer Definition von Virtualität, die erwartungsgemäß<br />

sehr verschiedenartige ergebnisse erbringt. Allen gemeinsam ist<br />

eine stark ausgeprägte technizistische Sichtweise auf VR.<br />

Die entwicklung der VR ist nur der aktuellste Paradigmenwechsel in der <strong>Raum</strong>darstellung<br />

. Mit dem Computer fand der letzte Paradigmenwechsel statt, der im<br />

Kern auf der echtzeitdarstellung des <strong>Raum</strong>s abhängig vom Standpunkt des Betrachters<br />

beruht. Hieraus speist sich auch die technologische Definition von VR:<br />

blickpunktabhängige <strong>Raum</strong>darstellung („viewpoint depending imaging“: Scott<br />

Fisher). „Virtuelle Realität im traditionellen Sinne bedeutet die Immersion einer<br />

Person in einer synthetischen Welt. Der Benutzer hat den eindruck, anwesend<br />

zu sein. er ist von der Welt umgeben <strong>und</strong> kann sie nach eigenen Wünschen in<br />

natürlicher Form erfahren <strong>und</strong> erleben“ (Sauter/Stratmann 1999: 58). Virtuelle<br />

Realität bezeichnet also die Ausgestaltung scheinbarer Welten <strong>und</strong> die computergenerierte<br />

erzeugung dieser Welten unter unmittelbarer einbeziehung des<br />

Benutzers <strong>und</strong> zugr<strong>und</strong>e liegenden Gesetzmäßigkeiten. Eine typische Definition<br />

ist folgende:<br />

142<br />

„Virtuelle Welt ist die Darstellung unserer Umwelt oder ‚erdachter Welten’ durch Simulation<br />

auf dem Computerbildschirm […] Mit dem Begriff virtuelle Realität wird meist<br />

die rechnergestützte Generierung eines möglichst perfekten sensorischen Abbilds einer<br />

natürlichen oder auch fiktiven Umgebung bezeichnet. Virtuelle Realität verschafft […]<br />

neben dem <strong>Raum</strong>erlebnis <strong>und</strong> der visuellen erschließung neuer erfahrungswelten u. a.<br />

auch intuitive Eingriffsmöglichkeiten durch Augen-, Hand- <strong>und</strong> Körperbewegungen.“<br />

(Schipanski 1999: 72)<br />

In den meisten Definitionen von VR sind daher ähnliche Elemente zu finden.<br />

Diese können wie folgt aufgelistet werden:<br />

• Rechnergestütztes Szenario<br />

• Dreidimensionalität<br />

• Multimediale Präsentationsformen<br />

• <strong>Interaktion</strong> mit Nutzern durch Kopf- <strong>und</strong> Hand-Bewegung sowie Körpergesten<br />

oder eingabegeräte


• Echtzeit-Datenerfassung<br />

• „Eintauchende“ <strong>Interaktion</strong> in Datenräume<br />

Techniken der Sichtbarmachung<br />

• Erwartung von Transferleistungen zwischen Virtueller Realität (VR) <strong>und</strong> Realsituation<br />

(R)<br />

Insgesamt ist ein Überhang an technischen Kriterien, angeführt vom Primat der<br />

technischen Widerspiegelbarkeit von Wirklichkeit, zu erkennen. Technologie<br />

spielt sich gerade im Bereich der VR eindeutig in den Vordergr<strong>und</strong>. Die meisten<br />

Definitionen von VR basieren im Kern auf der Betonung der mehr oder weniger<br />

realitätsnahen Widerspiegelung von Räumen, Dingen <strong>und</strong> Personen. Die Potenz<br />

der rechnerischen Simulation <strong>und</strong> die illusionäre Wirkung des ergebnisses sind<br />

Gr<strong>und</strong>lage des definitorischen Verständnisses von VR. Weder bestimmt das „Sein<br />

das Bewusstsein“ (Marx), noch bestimmt das „Bewusstsein das Sein“ (Hradil),<br />

sondern das das Bewusstsein wird durch den virtuellen (Daten-)Schein bestimmt.<br />

Bewusstsein wird einerseits in Daten transformiert <strong>und</strong> andererseits aus Daten<br />

rekonstruiert. Dem kann man eine nicht-technische Sichtweise gegenüberstellen:<br />

Der bloßen Forderung nach mehr Interaktivität ist die Forderung nach einer für<br />

Probanden angemessenen Qualität der <strong>Interaktion</strong> gegenüberzustellen.<br />

2 Ökologische Validität virtueller Realität – der Wohlfühlfaktor<br />

Kern der VR ist die Übertragung real existierender Welten in ein virtuelles Modell.<br />

Vorschnell könnte man schließen, dass dabei unbedingt darauf ankommt, diese<br />

Übertragung möglichst perfekt vorzunehmen. Im Mittelpunkt sollten aber nicht<br />

allein technische, sondern auch verhaltensbezogene Dimensionen stehen. Nicht<br />

immer kommt es dabei nur auf die Auflösung oder den Grad der Interaktivität an.<br />

So hilft z.B. ein geeignetes Akustikmodell wesentlich zur erweiterung der realitätsnahen<br />

Simulation. Schallquellen werden durch ihre Position, räumliche Ausdehnung<br />

<strong>und</strong> akustische Stärke definiert. Die Anordnung erfolgt in Korrelation<br />

zur Geometrie des Modells in der virtuellen Welt. Somit entsteht eine akustische<br />

Ansicht des <strong>Raum</strong>es. Ein vergleichsweise einfaches physikalisches Modell „reicht<br />

aus, um dem Benutzer einen eindrucksvollen Gesamteindruck einer virtuellen<br />

Welt zu vermitteln, besonders bei schwachen visuellen Darstellungen“ (Sauter/<br />

Stratmann 1999: 65)<br />

Dabei kommt es aber nicht unbedingt nur auf Realismus an, damit sich Nutzer<br />

virtueller Welten wohl fühlen. Den „Wohlfühlfaktor“ kann man auch als die ökologische<br />

Validität virtueller Realität bezeichnen. „Der Wunsch nach einer angenehmen<br />

virtuellen Welt bedeutet nicht gleichzeitig, eine äußert realistische Welt<br />

schaffen zu müssen“ (Sauter/Stratmann 1999: 62). Um zu verstehen, was für<br />

Nutzer angenehm ist, wird nun im Folgenden die erste Schnittstelle, wie sie sich<br />

auch aus dem VERTEX-Projekt ergeben hat, näher untersucht. Diese Schnittstelle<br />

143


STeFAN SelKe<br />

behandelt die Äquivalenzbedingungen virtueller Realität. Gerade in der anwendungsorientierten<br />

Forschung muss nach der Äquivalenz von Realem <strong>und</strong> Virtuellen<br />

gefragt werden (sog. „biotische Wahrnehmungskontexte“). Um verwertbare<br />

Transfereffekte zu erzielen, muss eine möglichst hohe ökologische Validität der<br />

VR erzielt werden. Diese Form der Validität ist an ein Bewusstsein von Realität<br />

geb<strong>und</strong>en. Daher folgt hier zuerst ein Exkurs über den Realitätsbegriff selbst.<br />

3 Der Realitätsbegriff<br />

In Bezug auf den Themenkomplex VR ist der Begriff „Realität“ nicht unproblematisch,<br />

denn er suggeriert, dass Realität beliebig neu zu schaffen sei - entweder<br />

in Form perfekter Nachahmung oder eben vollkommen autark. Der ontologische<br />

Status einer derart definierten Realität muss jedoch kritisch hinterfragt werden.<br />

Im Unterschied zu Illusionen, die rein technisch erzeugt werden können, ist Realität<br />

stets ein soziales Konstrukt. Realität wird durch soziale Gemeinschaften erzeugt,<br />

nicht durch Technik. Umgekehrt sind Illusionen oder Imaginationen nicht<br />

nur körperlose, abstrakte Gebilde. Über Ideen, die nur in der Vorstellung existieren,<br />

kann man keine neuen Vorstellungen gewinnen (Gibson 1982: 276ff.), d.h.<br />

um über eine Idee kommunizieren zu können, muss diese in sinnlich erfahrbare<br />

Zeichen umgewandelt werden – durch Techniken. Hierbei gilt: Je differenzierter<br />

wir komplexe Verständniszusammenhänge ausdrücken können, je mehr wir sie<br />

„vergegenständlichen“ können, desto intensiver sind die Beziehungen zwischen<br />

Gedachtem <strong>und</strong> Tatsächlichem. Die kulturelle evolution unserer geistigen Fähigkeiten<br />

ist im Wesentlichen eine evolution unserer Ausdrucksmittel (leroi-Gourhan<br />

1988: 261f.).<br />

Mit diesem Gedanken lässt näherungsweise eine kulturanthropologische Definition<br />

Virtueller Realität erstellen: Virtuelle Realität bedeutet, dass etwas „der Kraft<br />

oder Möglichkeit nach vorhanden“ (Keil-Slawik 1999: 46) ist. Eine virtuelle Stadt<br />

kann somit sowohl durch die Simulation städtischer Strukturen mit Hilfe von VR,<br />

aber auch durch einen Roman, eine Fotografie oder einen Film „verkörpert“ werden.<br />

Der Unterschied liegt allein dort, wie die Potenzialität der Existenz oder der<br />

Modus des erkennens hergestellt wird. einmal technisch (bei der VR) <strong>und</strong> einmal<br />

durch menschliche Vorstellungskraft (traditionelle Medien). Sicher ist dabei die<br />

technisch erzeugte Immersion müheloser zu bewerkstelligen, was auch latente<br />

Möglichkeitsphantasien nach sich zieht.<br />

Durch die (teilweise trivialen) Anwendungen der VR-Technologie herrscht der<br />

Glaube, dass alles machbar sei, was wünschenswert ist. VR basiert jedoch auf<br />

<strong>Interaktion</strong>en, d.h. alles was möglich sein soll, muss auch vorbedacht werden.<br />

Das Problem hierbei ist, das Komplexität sich nicht auf die additive Verknüpfung<br />

von elementarfunktionen reduzieren lässt, sondern kontingent <strong>und</strong> emergent ist.<br />

Am Beispiel der anthropomorphen Interface Agenten (AIA) wird dies deutlich:<br />

144


Techniken der Sichtbarmachung<br />

„Wo immer Figuren ins Spiel kommen, die ein Eigenleben besitzen, wo erst Verständnis<br />

<strong>und</strong> Interpretation die Sinnhaftigkeit von Handlungen erschließen, sind<br />

die Grenzen […] der Virtuellen Realität“ (Keil-Slawik 1999: 47). Eine weitere Unschärfe<br />

des Begriffs „Virtuelle Realität“ zeigt sich dort, wo es zu einer Koordination<br />

von wahrgenommener Bewegung <strong>und</strong> tatsächlicher Ortsveränderung kommt.<br />

Zudem sind virtuelle Realitäten nur dann beherrschbar, wenn es klar ist, dass<br />

es sich letztlich um einen konstruierten Ausschnitt der erfahrungswelt handelt.<br />

Abenteuerspiele in der Virtuellen Realität wären sonst kaum zu genießen. Auf der<br />

anderen Seite gibt es Anwendungen (z.B. Flugsimulator), die ihre Wirksamkeit<br />

aus einer möglichst realitätsgetreuen Simulation von Bewegungsabläufen <strong>und</strong><br />

Koordinationen erzielen.<br />

Fassen wir zusammen: Auf der epistemologischen ebene zeichnen sich virtuelle<br />

Realitäten durch eine nicht zu reduzierende Ambivalenz aus. einerseits versuchen<br />

sie auf der technischen Seite einen Totaleindruck der Imaginären zu vermitteln,<br />

andererseits liegt ihr Reiz gerade im Wissen um genau jene folgenlose<br />

Konstruiertheit des Totaleindrucks, in der Rückvergewisserung, dass einem zwar<br />

in der virtuellen Welt alles begegnen, letztlich aber in der physischen Welt nichts<br />

passieren kann.<br />

4 Determinanten <strong>und</strong> Komponenten virtuellen erlebens<br />

Die Äquivalenzbedingung ist also ein eine Form der Rückversicherung geb<strong>und</strong>en,<br />

die für den Nutzer möglichst intuitiv sein muss. Dies geht einher mit der Frage,<br />

wie VR überhaupt erlebt werden kann <strong>und</strong> tatsächlich subjektiv erlebt wird.<br />

Die Gr<strong>und</strong>these von Petersen/Gente (2001), vorgetragen aus der Perspektive<br />

der experimentellen Medienpsychologie, geht davon aus, dass die Wirkung<br />

kurzfristiger Mensch-Maschine-<strong>Interaktion</strong> (<strong>und</strong> dabei handelt es sich bei Versuchsanordnungen<br />

mit VR) weniger durch technische Randbedingungen oder<br />

Mediengestaltung als vielmehr durch die verhaltenswirksamen Merkmale der<br />

Nutzungssituation bestimmt werden. Diese erkenntnis hat weitreichende Folgen<br />

für die Konzeptionalisierung von VR-Systemen im Bereich empirischer erhebungen,<br />

wie sie z.B. mit VeRTeX vorliegen. Daher ist gr<strong>und</strong>legend zu fragen,<br />

wie VR erlebt wird, was daran verhaltenswirksam ist <strong>und</strong> was das Besondere am<br />

Eintauchen in eine virtuelle Welt ist?<br />

Das Gefühl des „Eintauchens“ in eine künstlich erzeugte Welt ist keinesfalls auf<br />

VR beschränkt. Der menschliche Geist erzeugt dieses Gefühl beim lesen eines<br />

spannenden Buches, beim Musikhören, beim Träumen. Die Sprache ist das erste<br />

Werkzeug des Menschen zur Erzeugung virtueller Welten. Diese sind jedoch<br />

nicht sinnlich, sondern nur symbolisch erfahrbar. Im Gegensatz dazu wird in<br />

der VR Eintauchgefühl durch Technik erzeugt. „Das vorwiegend visuell […] vermittelte<br />

eintauchen in eine rechnergestützte Simulation ist der eigentliche Kern<br />

145


STeFAN SelKe<br />

der Virtuellen Realität, weshalb man auch von einer Technologie des eintauchens<br />

[„Technology of Immersion] spricht“ (Keil-Slawik 1999: 44). Rechnergestützte<br />

virtuelle Realitäten sind sinnlich erfahrbare, visuelle, auditive, haptische, kinästhetische<br />

Erfahrungswelten. In der Literatur finden sich verschiedene Konzepte,<br />

die die zusätzliche Erlebnisqualität bei der Wahrnehmung <strong>und</strong> beim Erlebnis virtueller<br />

Umwelten erklären: 1. Telepräsenz, 2. Immersion, 3. Flow. Sie werden im<br />

Folgenden knapp vorgestellt.<br />

• Telepräsenz ist ein Konzept, das versucht, die Besonderheit virtuellen Erlebens<br />

durch eine nicht-technische Sichtweise zu erklären. Der Telepräsenzbegriff<br />

nimmt stattdessen Bezug auf die Wahrnehmungsleistung. Telepräsenz<br />

bedeutet, dass medial vermittelte Wahrnehmungsinhalte die durch eine Realsituation<br />

vermittelten Wahrnehmungsinhalte überlagern oder gar ausblenden.<br />

• Das Konzept der Immersion bezieht sich ebenfalls auf die Erfahrung des<br />

„Eintauchens“. Im Idealfall werden alle Sinneseindrücke in der virtuellen<br />

Umgebung generiert, was mit einer vollständigen Zentrierung von Aufmerksamkeit<br />

einhergeht. Der Begriff der Immersion wird weitgehend synonym<br />

mit dem der Telepräsenz verwandt. letztlich geht es in beiden Konzepten<br />

um eine möglichst vollständige Substitution einer realen Umgebung durch<br />

virtuelle eindrücke.<br />

• Das Flow-Konzept, bekannt auch aus zahlreichen Bef<strong>und</strong>en der Erlebnis- <strong>und</strong><br />

Glücksforschung des prominenten ungarisch-amerikanischen Psychologen<br />

Mihaly Czikszentmihaliy (erstmals 1975), beschreibt das Gefühl des eintauchens<br />

im motivationspsychologischen Sinn als Folge anhaltender Konzentration<br />

auf eine Handlung unabhängig von der Form medialer Vermittlung.<br />

Allen drei Konzepten gemein ist, dass sie sich einer prozessuralen Messung entziehen<br />

(Petersen/Gente 2001: 139) jedoch eine Kovarianz mit Emotionen aufweisen:<br />

Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen dem Präsenzempfinden<br />

in virtuellen Umgebungen <strong>und</strong> dem Vergnügen an einer VR-Erfahrung („enjoyment“).<br />

Am deutlichsten sind die Determinanten virtuellen erlebens im Konzept der<br />

Telepräsenz (Steuer 1992; vgl. dazu auch Petersen/Gente 2001 <strong>und</strong> Bente/Otto<br />

1999) ausdefiniert. Dabei wird angenommen, dass das Ausmaß an Telepräsenz<br />

zentral vom Ausmaß der Lebendigkeit („vividness“) <strong>und</strong> der Interaktivität („interactivity“)<br />

eines VR-Systems bestimmt wird. Die Lebendigkeit setzt sich wiederum<br />

zusammen aus der Anzahl der involvierten sensorischen Kanäle („breadth“) <strong>und</strong><br />

deren spezifischer Ausdifferenzierung („depth“). Das Ausmaß der Interaktivität<br />

hängt ab von der Geschwindigkeit der Informationsaufnahme <strong>und</strong> -verarbeitung<br />

des VR-Systems („speed“), der Breite der Verhaltensalternativen („range“) <strong>und</strong> der<br />

Anpassungsfähigkeit des VR-Systems an das Nutzerverhalten („mapping“). Fasst<br />

man diese Determinanten zusammen, so wird deutlich, dass vor allem Gestal-<br />

146


tungsmerkmale des VR-Mediums die Intensität von Telepräsenz (bzw. Immersion)<br />

beeinflussen.<br />

In der Sichtweise des Flowkonzepts hingegen stehen situative Bedingungen für<br />

das erleben virtueller Umgebungen im Vordergr<strong>und</strong>, d.h. der Aufgaben- <strong>und</strong> Situationscharakter<br />

<strong>und</strong> damit die für den individuellen Selbstwert äußerst relevante<br />

Information über die eigene leistung steht hier im Mittelpunkt. Flowerleben<br />

bedeutet, dass sich eine Person von einer Aufgabe herausgefordert, nicht aber<br />

überfordert fühlt. Das erleben dieser Herausforderung <strong>und</strong> ihre Bewältigung<br />

werden ebenfalls als eintauchen erlebt. Hierbei ist die technologische Gestaltung<br />

des Aufgabenkontextes nicht relevant sondern nur die situative Relevanz des Nutzungskontextes.<br />

In ihrer Untersuchung über die Determinanten virtuellen erlebens untersuchen<br />

Petersen/Gente (2001) anhand eines Versuchsaufbaus mit Fahrsimulatoren zentrale<br />

Hypothesen über die Entstehung des spezifischen Erlebens virtueller Realität.<br />

Dabei testen die Autoren, ob das VR-erleben eher von den Gestaltungsmerkmalen<br />

eines VR-Systems beeinflusst wird, wie dies vom Konzept der Telepräsenz<br />

bzw. Immersion nahe gelegt wird, oder durch Situationsmerkmale, wie es sich<br />

aus dem Flow-Konzept ableiten lässt. Als dritte Hypothese wird eine <strong>Interaktion</strong><br />

aus beiden prototypischen Konzepten getestet. erfasst wurden die Reaktionen der<br />

Probanden auf drei ebenen:<br />

1. Subjektive Evaluation durch eine skalierte Befragung zur Erlebnisintensität;<br />

2. Objektive Messung körperlicher Reaktionen;<br />

Techniken der Sichtbarmachung<br />

3. Aufzeichnung der mimischen Aktivität durch Videokameras. Als moderierende<br />

Variable wurde aufgr<strong>und</strong> der Annahmen von Sheridan/Furness (1992)<br />

bezüglich der Relevanz des Trainings im Umgang mit VR-Applikationen die<br />

Computerexpertise miterfasst sowie als weitere moderierende Variable das<br />

Geschlecht.<br />

Im ergebnis konnte gezeigt werden, dass es zwischen unterschiedlichen Gestaltungstypen<br />

(Fahrsimulator mit hoher Auflösung, guter Funktionalität <strong>und</strong><br />

Interaktivität sowie als Kontrast Fahrsimulator mit geringer lebendigkeit <strong>und</strong><br />

Interaktivität) keine signifikanten Unterschiede gab. Unterschiede gab es jedoch<br />

zwischen den Situationstypen. Diejenigen Probanden, denen eine Nutzungsaufgabe<br />

mit niedriger Aufgabenrelevanz gestellt wurde (Spaß haben) zeigten kaum<br />

intensive erlebnisreaktionen. Die Probanden hingegen, die sich in einer Situation<br />

mit hoher Aufgabenrelevanz befanden (Lernkontext) zeigten sowohl intensivere<br />

Körperreaktionen, mimische Aktivität <strong>und</strong> Selbsteinschätzung des erlebnisses.<br />

Es gibt also eine klare Evidenz für den Einfluss von Situationsmerkmalen, während<br />

der Einfluss von Gestaltungsmerkmalen nicht gemessen werden kann. Der<br />

Leistungsbezug eines Nutzungskontext eines VR-Systems wirkt sich – konform<br />

zum Flow-Konzept – relevant auf die Intensität des Erlebens aus. Somit wird das<br />

147


STeFAN SelKe<br />

VR-erleben nicht von technologischen, sondern von motivationspsychologischen<br />

Randbedingungen bestimmt. „Offensichtlich scheinen die Bedingungen der Nutzung<br />

eines VR-Systems das Erleben erheblich stärker zu beeinflussen als dies<br />

der Sophistiziertheitsgrad der Mediengestaltung vermag“ (Petersen/Gente 2001:<br />

144). Mit einer Aufrüstung technologischer Merkmale kann also das VR-erleben<br />

nur bedingt gesteigert werden.<br />

Wie kann man nun diese Randbedingung beeinflussen? Mittels einer einfachen<br />

Instruktionsvariation (Testlegende) konnte eine erhebliche Situationsvarianz erzielt<br />

werden. Bei der Verwendung von VR-Versuchsapplikationen ist also mehr<br />

auf die Merkmale der situativen Umgebung zu achten um die Erlebnisqualität<br />

entscheidend zu steigern.<br />

5 Biologische Voraussetzungen des erlebens Virtueller Realität<br />

Neben den technischen <strong>und</strong> situativen Determinanten <strong>und</strong> Komponenten müssen<br />

auch die biologischen Voraussetzungen des Menschen berücksichtigt werden,<br />

die darüber mitbestimmen, welche Inhalte in virtuellen Umgebungen überhaupt<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> damit später prinzipiell erinnert werden. Gerade im Hinblick<br />

auf VERTEX, einem Recall-/Recognition-Test, bei dem es ja um die spontane<br />

Wiedererinnerbarkeit visueller Reize geht, macht die Analyse biologischer<br />

Begrenzungen Sinn. Gerade in Testumgebungen machen technische lösung<br />

nur dann Sinn, wenn sie eine bestmögliche Anpassung an die physiologischen<br />

<strong>und</strong> psychologischen Bedingungen der Nutzer beinhalten, d.h. die Plastizität des<br />

menschlichen Nervensystems sollte nicht überschätzt bzw. überfordert werden<br />

(Pöppel/Burda 1999: 83). Hierbei gibt es einige kardinale Probleme der VR im<br />

Hinblick auf diese Forderung:<br />

• Mangelhafte Integration der Sinneswahrnehmung: Soll eine plausible <strong>und</strong><br />

akzeptable virtuelle Welt im Kopf des Nutzers entstehen, müssen die Verarbeitungsprozesse<br />

in den (verschiedenen) Sinnessystemen so angesprochen<br />

werden, dass eine erfolgreiche Integration der einzeleindrücke möglich ist.<br />

Wird auf die Ansprache eines Sinneskanals verzichtet, entsteht in der VR<br />

nur ein Teil-, möglicherweise ein Zerrbild der Wirklichkeit. Immersion ist<br />

an eine möglichst vollständige Ansprache <strong>und</strong> eine möglichst unproblematische<br />

Integration aller Sinneskanäle zu erreichen.<br />

• Nicht-Berücksichtigung von Transduktionsprozessen zwischen den verschiedenen<br />

Sinneskanälen: Die qualitativen Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />

Sinnessysteme drückten sich hauptsächlich in unterschiedlichen<br />

Zeitkonstanten bei der Reizaufnahme aus. So dauert der neurochemische<br />

Prozess, der visuelle Informationen verfügbar macht, wesentlich länger als<br />

der entsprechende Prozess beim Hören (Pöppel/Burda 1999: 84). Informationen<br />

aus der Umwelt erreichen also nach unterschiedlichen Zeiten das<br />

148


Techniken der Sichtbarmachung<br />

Gehirn. Zusätzlich sind die sog. Transduktionsprozesse im visuellen System<br />

abhängig von der Stärke des Reizes: je geringer der Reiz, desto länger dauert<br />

es, bis er im Gehirn „ankommt“. Zudem gibt es bei unterschiedlich entfernten<br />

Reizquellen unterschiedliche „Laufzeiten“ für visuelle, auditive <strong>und</strong><br />

olfaktorische Informationen. Zur Aufbau von Realität muss ein spezielles<br />

zentralnervöses Programm verfügbar sein, das aus zeitlich <strong>und</strong> räumlich verteilten<br />

Informationen ein zentrales <strong>Bild</strong> gestaltet. Die Integration von derart<br />

unterschiedlichen Systemzuständen gelingt durch Motorik, d.h. Bewegungsentwürfen<br />

<strong>und</strong> Bewegungen selbst, die ein wesentlicher Bestandteil der Verarbeitung<br />

unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen sind.<br />

• Rudimentäre Repräsentation von Motorik: Da in virtuellen Umgebungen<br />

die motorischen Möglichkeiten unterrepräsentiert sind, fällt eine Integration<br />

der Sinneswahrnehmungen wesentlich schwerer. Gr<strong>und</strong>lage für die Domäne<br />

der Wahrnehmung ist die Fähigkeit, Bewegungen zu erkennen. <strong>Bild</strong>geschehen<br />

kann dann nicht mehr erkannt werden, wenn Objekte, die sich im<br />

<strong>Raum</strong> bewegen nicht verfolgt werden können. Gr<strong>und</strong>lage hierfür sind sog.<br />

„Konstanzmechanismen“ im Gehirn, die die Identität eines einmal erfassten<br />

Gegenstandes über die Zeit bewahren (Farbkonstanz, Größenkonstanz, Objektpermanenz).<br />

Für die Simulation von Realität ist das Primat der Bewegungserkennung<br />

von f<strong>und</strong>amentaler Bedeutung: Bewegungen müssen in<br />

echtzeit <strong>und</strong> stufenlos simuliert werden, damit sie dem Gr<strong>und</strong>bedürfnis der<br />

visuellen Wahrnehmung entsprechen.<br />

• Möglichkeit der parallelen <strong>und</strong> sequenziellen Informationsverarbeitung<br />

beim bewussten Erleben: Jede einzelne Nervenzelle ist maximal nur vier Zwischenschritte<br />

(die durch die Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen<br />

repräsentiert sind) von jeder anderen Nervenzelle entfernt. Diese „strukturelle<br />

Nähe“ bedeutet, dass jede lokale Informationsverarbeitung durch andere<br />

Bereiche im Gehirn, die jeweils andere Aspekte von Informationen repräsentieren,<br />

beeinflusst werden kann. Diese Gehirnarchitektur impliziert eine<br />

„massivst parallele“ (Pöppel/Burda 1999: 86) Informationsverarbeitung <strong>und</strong><br />

ist prinzipiell verschieden von der Funktionsweise von Computern. Zudem<br />

verarbeitet das Gehirn Informationen sequentiell, z.B. bei der Steuerung von<br />

Bewegungsabläufen.<br />

Die Frage, welche Inhalte der Realität bewusst erlebt werden, ist insofern von größter<br />

Bedeutung als hiermit die Randbedingungen für eine erfolgreiche Simulation<br />

von Realität festgelegt werden. Nur solches kann akzeptabel simuliert werden,<br />

was auch bewusst erlebt wird. Auch für die lern- <strong>und</strong> Gedächtnisdomänen ist das<br />

modulare Prinzip der Informationsverarbeitung bezüglicher einer akzeptablen<br />

Simulation in der VR von elementarer Bedeutung. Die bildgebenden Verfahren<br />

(PeT, MeG, fMRI) der neurowissenschaftlichen Forschung haben als zentrales<br />

Ergebnis erbracht, dass jeder mentale Akt, durch eine gleichzeitige Aktivität mehrerer<br />

neuronaler Module gekennzeichnet ist. Gr<strong>und</strong>legend ist bei der Simulation<br />

149


STeFAN SelKe<br />

von VR ist deshalb, dass es nicht nur hinreichend ist, eine eindimensionale sensorische<br />

Welt zu simulieren, sondern die parallelen <strong>und</strong> modularen Verarbeitungsprinzipien<br />

des Gehirns zu berücksichtigen. jede technische entwicklung muss<br />

eingebettet bleiben in die Gr<strong>und</strong>struktur menschlicher erfahrungsmöglichkeiten,<br />

so wie sie durch biologische Determinanten vorgegeben sind. ein wichtiges Kriterium<br />

der einpassung neuer Technologien ist die Befriedigung des ästhetischen<br />

Sinnes. Dies wird unter dem Stichwort „neuronale Ästhetik“ diskutiert.<br />

Insgesamt spannt sich ein Forschungsfeld auf, bei dem es darum gehen muss,<br />

zu verstehen, wie virtuelle Umgebungen „angenehm“ für Nutzer sind, wie ein<br />

irritationsfreier, möglichst stufenloser „Übergang“ zwischen Realsituationen<br />

<strong>und</strong> virtuellen Umgebungen zu erzielen ist <strong>und</strong> wie die sensorischen <strong>und</strong> motorischen<br />

Bedingungen des Nervensystems möglichst optimal simuliert werden.<br />

Dazu gehört auch das Setzen von „Markierungen“, die es dem Nutzer jederzeit<br />

ermöglichen, zu entscheiden, ob er sich in der VR oder der R befindet.<br />

6 Schlussfolgerungen für das VERTEX-Projekt<br />

Für das positive erleben virtueller Umgebungen <strong>und</strong> einen angenehmen Übergang<br />

in die Ve sind wesentlich:<br />

• möglichst konsistente, multimodale sensorischen Bedingungen, also eine<br />

vollständige Ansprache <strong>und</strong> eine möglichst unproblematische Integration<br />

aller Sinneskanäle;<br />

• eine möglichst hohe Aufgabenrelevanz zur Steigerung des Flowerlebens;<br />

• eine Erhöhung der situativen Relevanz des Nutzungskontextes zur Steigerung<br />

der motivationspsychologischen Randbedingungen;<br />

• eine Instruktionsvariante, die Probanden in eine intensive situative Umgebung<br />

mit hoher Erlebnisqualität versetzt;<br />

• Möglichkeit zur Verfolgung von Bewegungsabläufen zur Steigerung des Realitätsbewusstseins;<br />

• Nutzung anthropomorphisierte Kommunikationsformen zur Steigerung des<br />

<strong>Interaktion</strong>sgrades<br />

• Anfrage von Wahrnehmungsinhalten ohne Bruch der Rationalitätsform während<br />

der Anwesenheit in virtuellen Testumgebungen<br />

Die Untersuchung der relevanten Schnittstellen erbrachte folgende erkenntnisse,<br />

die in weiteren Arbeiten systematisiert <strong>und</strong> umgesetzt werden müssen. Wesentlich<br />

für die Akzeptanz, den Wohlfühlfaktor <strong>und</strong> damit die Effizienz der Transferleistungen<br />

einer virtuellen Testumgebung ist die ökologische Validität. Diese<br />

150


kann erhöht werden, wenn die bilogischen Bedingungen des erlebens virtueller<br />

Realität sowie situative Bedingungen beachtet <strong>und</strong> gegenüber den technischen<br />

Determinanten neu gewichtet werden.<br />

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154


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

VeRTeX beta<br />

<strong>Bild</strong>wirkungsmessung durch Wahrnehmungssimulation<br />

VeRTeX beta ist ein empirischer Plakatwirkungstest im virtuellen <strong>Raum</strong>. es stellt<br />

eine interdisziplinäre Verknüpfung von Medienwirkungsforschung <strong>und</strong> VR/Ve-<br />

Technologie dar. Dabei wurde das Experiment unternommen, eine bereits praxiserprobte<br />

Methode der Plakatwirkungsmessung in eine virtuelle Umgebung zu<br />

überführen. Das Verfahren des „Live-Plakat-Tests“ von MWResearch (Hamburg)<br />

wurde dazu in den dreidimensionalen <strong>Raum</strong> übertragen. Gr<strong>und</strong>lage ist ein virtuelles<br />

Stadtmodell, in dem sich Probanden bewegen <strong>und</strong> dabei die Blickrichtung<br />

interaktiv steuern. Ziel ist die Steigerung der Simulationsqualität im Vergleich<br />

zum vorliegenen „Life-Plakat-Test“, bei dem die Probanden lediglich zweidimensionale<br />

Stadtszenerien in Form einer Power Point Präsentation als visuelle Stimuli<br />

erhalten. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob sich durch die gesteigerte<br />

Wahrnehmungsintensität des Stadtr<strong>und</strong>gangs in einer virtuellen Umgebung auch<br />

eine präzisere Bestimmung der Plakatwirkung erzielen lässt, die den technischen<br />

<strong>und</strong> organisatorischen Aufwand rechtfertigt. 1<br />

1 Vgl. dazu den Beitrag „Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum Pretesting von Messeständen<br />

im Rahmen von Erlebnismarketing“ von Karina Mies <strong>und</strong> Fernando Saal in diesem Arbeitsbericht.<br />

157


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

Getestet wird die Wirkung von Werbemitteln <strong>und</strong> Werbeträgern. Im Mittelpunkt<br />

stehen dabei Wirkungen im langzeitspeicher des Gedächtnisses, also die kognitive<br />

Verarbeitung visueller Reize. Wirkungen im Kurzzeitspeicher (Wahrnehmungsselektion,<br />

spontane Reaktionen, Anmutung <strong>und</strong> Aktivierung) sollen nicht<br />

erhoben werden. Der Wirkungstest basiert auf einem Recall-/Recognitiontest.<br />

Dabei soll eine Messung der Aufmerksamkeits- <strong>und</strong> lernprozesse sowie der Herausbildung<br />

eines Images geleistet werden. 2 Die Folgenden Ausführungen beziehen<br />

sich auf Plakattests in virtuellen Testräumen, sind aber prinzipiell auch auf<br />

andere Testinhalte übertragbar. 3<br />

1 Testhypothesen<br />

ein Testplakat wird immer im Vergleich zu einem Kontrastplakat getestet. Daneben<br />

kommen im Modell Umfeldplakate vor, die eine natürliche Plakatierungsdichte<br />

i simulieren. Die Hypothesen für den Test lauten wie folgt:<br />

(H1) Wenn sich bei der Mehrheit der Versuchspersonen (Vp) höhere erinnerungswerte<br />

(Recall) bei einem Plakat in Abgrenzung zu einem anderen<br />

feststellen lassen, so ist davon auszugehen, dass dieses Plakat „wirkungsmächtiger“<br />

ist.<br />

(H2) Wenn sich bei der Mehrheit der Versuchspersonen (Vp) höhere Wiedererkennungswerte<br />

(Recognition) feststellen lassen, ist davon auszugehen, dass<br />

dieses Plakat „wirkungsmächtiger“ ist.<br />

(H3) Wenn sich bei der Mehrheit der Versuchspersonen (Vp) ein positiveres<br />

Image (gemessen an der Beurteiler visueller <strong>und</strong> verbaler Inhalte) feststellen<br />

lässt, ist davon auszugehen, dass dieses Plakat besser akzeptiert wird.<br />

(H4) Höhere Recall-, Recognition- <strong>und</strong> Imagewerte, die in der virtuellen Testumgebung<br />

festgestellt werden, lassen darauf schließen, dass sich das zugehörige<br />

Plakat auch in realen Umgebungen gegenüber Konkurrenzplakaten<br />

durchsetzen kann.<br />

VeRTeX beta stellt eine Weiterentwicklung eines einfachen Testmodells dar. Die<br />

Verbesserungen gegenüber VeRTeX lassen sich wie folgt beschreiben: 1. einsatz<br />

eines optimierten Testmodells, 2. Hinzunahme dynamischer Bewegungsformen<br />

(Straßenbahn), 3. Intuitivere Navigation, 4. Bessere Plakatierung. 4<br />

2 Vgl. dazu den Beitrag „Wie man die Wirkung von <strong>Bild</strong>ern messen kann. Voraussetzungen empirischer<br />

<strong>Bild</strong>wirkungsforschung“ von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />

3 Vgl. dazu den Beitrag „Wirkungsmessung von Erlebniswelten – Konzeptionelle <strong>und</strong> methodologische<br />

Überlegungen zu zukünftigen Projekten“ von Daniel Fetzner <strong>und</strong> Stefan Selke in diesem<br />

Arbeitsbericht.<br />

4 Vgl. den Beitrag „Umsetzung von VERTEXbeta“ von Andreas Filler <strong>und</strong> Stefanie Strubl in diesem<br />

Arbeitsbericht.<br />

158


2 Testmodell <strong>und</strong> Testdurchführung<br />

VeRTeX beta<br />

Die Testumgebung besteht aus einem virtuellen Stadtmodell, in dem sich eine<br />

Vp in einem/einer Stadtr<strong>und</strong>gang/-r<strong>und</strong>fahrt mit eingeschränkter Interaktivität<br />

bewegen kann. Die virtuelle Testumgebung hat zum Ziel, natürliche Wahrnehmungssituationen<br />

zu simulieren <strong>und</strong> dabei möglichst viel Varianz zu erzeugen,<br />

d.h. möglichst viele natürliche Wahrnehmungskontexte zuzulassen. Natürliche<br />

(biotische) Wahrnehmungskontexte bedeutet: 1. Möglichst unverzerrte, d. h. alltägliche<br />

Wahrnehmungsformen (Alltagsprämisse), 2. Möglichst verschiedene<br />

Wahrnehmungsmodi (Heterogenitätsprämisse). 5 Dabei kommt es vor allem auf<br />

eine möglichst gute Idealisierung der in der Realität vorkommenden Wahrnehmungssituationen<br />

an. Wichtigstes Kriterium für die Modellierung <strong>und</strong> Programmierung<br />

des Testmodells ist daher die Plausibilität <strong>und</strong> Widerspruchsfreiheit,<br />

d.h. es dürfen keine Irritationen für die Vp aufkommen. Der Realitätsgrad sollte<br />

diesem Kriterium entsprechen, stellt jedoch kein Selbstzweck dar.<br />

Für die Testrahmung gilt ebenfalls die Alltagsprämisse. Die Vp muss eine Testlegende<br />

erhalten, die einer Alltagssituation entspricht. Eine „touristische“ Stadtführung<br />

entspricht dieser Prämisse nicht, da sich hierbei typischerweise eine andere,<br />

selektive Wahrnehmung einstellt, die einem Sonderfall von Wahrnehmung entspricht.<br />

Die Testrahmung muss zwei Bedingungen erfüllen:<br />

(B1) Standardisierung: jede Vp muss sich auf möglichst ähnlichen Wegen durch<br />

das Testmodell bewegen. Hintergr<strong>und</strong>: Nur dann kann man testtheoretisch<br />

davon ausgehen, dass vergleichbare „Kontaktchancen“ mit dem Testplakat<br />

<strong>und</strong> den Kontrast- <strong>und</strong> Umgebungsplakaten bestehen.<br />

(B2) Variabilität: jede Vp darf eingeschränkte Freiheitsgrade in Bezug auf Bewegungsrichtung,<br />

Bewegungsrythmus <strong>und</strong> Blickrichtung umsetzen, muss<br />

dies aber nicht. Hintergr<strong>und</strong>: Der Test soll eine möglichst vollbiotische<br />

Wahrnehmungssituation simulieren.<br />

B1 <strong>und</strong> B2 widersprechen sich prinzipiell! Daher muss ein möglichst guter Kompromiss<br />

zwischen notwendiger Standardisierung <strong>und</strong> zugelassener Variabilität<br />

gef<strong>und</strong>en werden. Für die Testdurchführung eignet sich am besten folgendes<br />

Szenario:<br />

• Die Einführung der Vp erfolgt als Ansprache aus dem Off durch eine objektive<br />

Erzählerstimme („Märchenonkel“) direkt im MediaLab. Mittels einiger<br />

erklärender Kommentare wird die Vp sowohl in die Testumgebung wie auch<br />

in die Testlegende einleitet: „Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf Ihrem<br />

täglichen Weg zur Arbeit […]“.<br />

5 Vgl. den Beitrag „Techniken der Sichtbarmachung. Nutzungsbedingungen virtueller Testräume“<br />

von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />

159


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

• Die Überleitung in den eigentlichen Test erfolgt durch visuelle/akutische<br />

Überblendungen, d.h. langsam baut sich die virtuelle Stadtumgebung um<br />

die Vp auf.<br />

• Die Vp startet den täglichen Weg zur Arbeit am Bahnhof. Zu Beginn des<br />

Tests bekommt sie ein klar definiertes Ziel im Stadtmodell genannt. Dort<br />

soll sich, so die Testlegende, ihr Arbeitsplatz befinden. Sie wartet auf eine<br />

Straßenbahn, steigt ein, fährt eine Station, steigt dann aus.<br />

• Die Vp, die ja den Weg nicht kennt, navigiert, indem sie durch autosuggestive<br />

Stimmen aus dem Off geleitet wird, d.h. es gibt keine Markierungen auf dem<br />

Boden <strong>und</strong> nur dort Schilder (z.B. Wegweiser zum Bahnhof), wo sich in der<br />

Realität welche befinden.<br />

• Zu Beginn des Tests, kündigt der objektive Erzähler diese „innere Stimme“<br />

an, die der Navigation dient: „Sie kennen das ja, das ist wie ein Selbstgespräch…“.<br />

Zu Beginn erwähnt die innere Stimme eher triviale Inhalte ohne<br />

Bezug zur Navigation (z.B. zum Wetter, zur Tageszeit etc.)<br />

Die anschließende Befragung dient dazu, die Hypothesen H1-H3 zu überprüfen.<br />

Sie unterteilt sich in einen ungestützten <strong>und</strong> einen gestützten Frageteil.<br />

3 Qualitative <strong>und</strong> quantitative Ergebnisses des Pretests<br />

Die Methode <strong>und</strong> Versuchsanlage VeRTeX beta wurde experimentell anhand des<br />

<strong>Bild</strong>samples der Agenda 2010 (Warum?Darum!)-Kampagne im Rahmen eines<br />

Pretests erprobt. Insgesamt testeten n=15 Personen (8 männliche, 7 weibliche) die<br />

Versuchsanordnung. Diese rekrutierten sich aus Studierenden des Fachbereichs<br />

Digitale Medien der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> (FHF) selbst (n=9), sowie aus Studierenden<br />

der Fachhochschule Villingen Schwenningen (FHPol) (n=6).<br />

Neben soziodemografischen Angaben wurde in der anschließenden Online-Befragung<br />

auch nach der Computeraffinität bzw. nach Vorerfahrungen mit VR-<br />

Technologien gefragt. Die Technikkompetenz muss im Kontext eines virtuellen<br />

Wirktests als moderierende Variable aufgefasst werden. Zwischen der Testgruppe<br />

FHF <strong>und</strong> der Testgruppe FHPol zeigten sich erwartungsgemäß gravierende Unterschiede.<br />

Die Studierenden des Fachbereichs Digitale Medien waren wesentlich<br />

technikaffiner.<br />

160


Abb. 1: Pretestergebnisse<br />

A B C<br />

Note 3,7 1,4 3,3<br />

„Wie gefällt Ihnen dieses Plakat insgesamt?“<br />

Der Pretest erbrachte deutliche ergebnisse bezüglich der Messbarkeit unbewusster<br />

visueller Wahrnehmung, zeigte aber auch, dass noch weitere entwicklungsarbeit<br />

auf der technischen ebene notwendig sein wird. Die wichtigsten ergebnisse<br />

werden im Folgenden knapp skizziert.<br />

Die Versuchsanordnung VeRTeXbeta eignet sich sehr gut dazu, die Kontexterinnerung<br />

an Inhalte des virtuellen Stadtmodells zu quantifizieren. Dominante architektonische<br />

Inhalte des 3D-Modells wurden von allen Probanden verlässlich<br />

erinnert. Durch die relativ hohe, unnatürliche, Plakatdichte, stellte die Kontexterinnerung<br />

von Plakaten insgesamt kein Problem dar. Zu beobachten war auch<br />

das selbstständige Auffüllen von erinnerungslücken mit Hilfe der So<strong>und</strong>einspielungen<br />

oder assoziative erinnerungen, d.h. einige Probanden gaben an, Dinge<br />

gesehen zu haben, die im Modell nicht visuell, aber akustisch existierten. Oder<br />

sie erinnerten sich an ähnliche Dinge, z.B. an Taxis oder Busse, obwohl sich im<br />

Stadtmodell nur Autos bewegten.<br />

n=25<br />

VeRTeX beta<br />

Gut ein Drittel der Probanden (n=6) erinnerte sich bei der Abfrage von Werbekategorien<br />

auch an Politikplakate. Damit konnte nachgewiesen werden, dass mit<br />

der Versuchsanordnung trennscharf zwischen Plakatkategorien unterschieden<br />

werden kann. Das eigentliche Testplakat erinnerten in der ungestützten, verbale<br />

stimulierten Abfrage allerdings nur n=3 Testpersonen. Dies bedeutet, dass für einen<br />

praxisorientierten Einsatz von VERTEX beta entweder mit großen Probandenzahlen<br />

gearbeitet werden muss, um genügend verwertbare Aussagen zu einem<br />

Testplakat zu erhalten. Dies ist in pragmatischer einstellung kaum möglich. Das<br />

ergebnis kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass die Abfrage des Testplakats<br />

auf diese Weise nicht operabel ist. Auf die ergebnisse der gestützten Abfragen<br />

zum Testplakat wird an dieser Stelle nicht weiter eingegangen, da damit keine<br />

Fragen virtueller Testumgebungen berührt werden.<br />

Das subjektive Empfinden der Probanden in der virtuellen Testumgebung war<br />

zwar von einigen individuellen Varianzen überlagert, zeigt aber dennoch ein ein-<br />

161


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

heitliches, aussagestarkes <strong>Bild</strong>. Alle Kritikpunkte beziehen sich auf die Ausgestaltung<br />

<strong>und</strong> Funktion des Teststadtmodells. Auffallend war erstens die unnatürliche<br />

Plakatdichte. Daneben gab es ein Bündel von weiteren Faktoren, die den eindruck<br />

von Unnatürlichkeit verstärkten: fehlende Dynamik, Abwesenheit von Menschen,<br />

Probleme mit der So<strong>und</strong>anpassung, d.h. Inkongruenzen mit der optischen Wahrnehmung<br />

sowie, als eigener Themenkomplex, die stark eingeschränkten interaktiven<br />

Steuerungsmöglichkeiten. Insgesamt können aus dem ungestützten Teil<br />

des Pretests folgenden Schlussfolgerungen – als Zielvorgaben formuliert – gezogen<br />

werden:<br />

• Virtuelle Stadtszenarien eigenen sich für Plakatwirkungstest. Allerdings<br />

müssen dazu bestimmte eigenschaften der Ve optimiert werden.<br />

• Die virtuelle <strong>Raum</strong>kulisse, gerade auch in der audio-visuellen Kombination,<br />

darf bei Probanden keine Irritationen erzeugen, da sonst der Simulationseindruck<br />

schon durch kleinste dissonante Details verloren geht.<br />

• Das Bewegungsverhalten der Probanden muss sich natürlichen Bewegungsabläufen<br />

besser anpassen.<br />

• Die Qualität <strong>und</strong> Intensität der Abfrage unbewusster Wahrnehmungseindrücke<br />

ist abhängig von der Art <strong>und</strong> Weise der Abfrage <strong>und</strong> sollte möglichst ohne<br />

Wechsel des Mediums <strong>und</strong> der Rationalitätsform erfolgen. Hierzu sind auch<br />

neueste Kenntnisse der emotionalen Neuroökonomie zu beachten. Durch<br />

die Art der Abfrage darf keine unwillentliche Aufmerksamkeitsverstärkung<br />

erfolgen.<br />

• Die Abfrage der Impactwerte der eigentlichen Testplakate ist durch eine<br />

Mehrebenenabfrage realitätsnah zu operationalisieren. Neben subjektiven<br />

Selbsteinschätzungen sollte eine Kontrolle der Körperfunktionen <strong>und</strong> eine<br />

Aufzeichnung der Bewegungsabläufe <strong>und</strong> Mimik erfolgen. Damit wird neben<br />

der Messung der Aufmerksamkeitsstärke auch die Dokumentation der<br />

Aufmerksamkeitsverteilung sichergestellt.<br />

4 Definition problematischer Schnittstellen beim Einsatz von VR am<br />

Beispiel von VeRTeX beta<br />

Der Pretest zeigte neben einigen Detailergebnissen zwei gr<strong>und</strong>sätzliche Schnittstellen<br />

auf, die bei weiteren Forschungsarbeiten berücksichtigt werden müssen.<br />

Die erste Schnittstelle bezieht sich das problematische Verhältnis von realer Testumgebung<br />

(labor) <strong>und</strong> virtuellem Testszenario. Im Mittelpunkt steht dabei die<br />

Frage, wie die Probanden stress- <strong>und</strong> konfliktfrei von einer Umgebung in die<br />

162


andere überwechseln können. 6 Davon ist aber auch die Frage berührt, was überhaupt<br />

in einer VR-Umgebung wahrgenommen werden kann <strong>und</strong> welche Inhalte<br />

letztendlich wieder in einer realen Umgebung abgerufen werden können. Im engeren<br />

Sinne müssen also im Kontext des VERTEX beta -Projekts folgende Fragen<br />

bearbeitet werden.<br />

• Welche Testmerkmale sind „probandenfre<strong>und</strong>lich“? Dabei müssen die Komponenten<br />

a) Testinstruktion, b) technische Testmerkmale <strong>und</strong> c) mediale<br />

Testgestaltung berücksichtigt werden.<br />

• Wie können die Probanden am besten auf die VR-Erfahrung vorbereitet <strong>und</strong><br />

dabei begleitet werden?<br />

Insgesamt kann in VeRTeX beta eine wegweisende Plattform gesehen werden, die<br />

sich sowohl für experimentelle Untersuchungen der Effekte virtuellen Erlebens<br />

als auch für anwendungsbezogene, medienpsychologische Studien eignet.<br />

6 Vgl. dazu den Beitrag „Translocation“ von Daniel Feuereissen <strong>und</strong> Daniel Fetzner in diesem<br />

Arbeitsbericht.<br />

VeRTeX beta<br />

163


ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />

Umsetzung von VeRTeX beta<br />

1 einleitung<br />

Im Rahmen der Wahlpflichtveranstaltung e-space wurde im Wintersemester<br />

2005/06 an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University eine Methode entwickelt, um<br />

die Wirkung von Plakaten mit Hilfe einer virtuellen Stadtumgebung erforschen<br />

zu können (vgl. Strubl 2005: 2). Diese Arbeit diente dem Ziel, den Forschungsansatz<br />

VERTEX (Virtual Environment Recall Test Experiment) durch die Weiterentwicklung<br />

eines bereits bestehenden Modells aus dem Sommersemester 2005<br />

(Slawinski 2005: 10ff.). Dazu gehörte das Konzept eines Testablaufs. Der vorliegende<br />

Beitrag stellt die neu entwickelte Test-Dramaturgie sowie deren technische<br />

Umsetzung im Rahmen der Veranstaltung vor.<br />

165


ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />

2 Konzeption<br />

entwicklung des Testfalls<br />

Neben der Optimierung des Testmodells selbst sollte auch die Navigation im Testmodell<br />

verbessert werden. Das Hauptaugenmerk lag bei VeRTeX beta vor allem auf<br />

der Annäherung des Testszenarios an die Realität. Die in den Tests gewonnenen<br />

Ergebnisse sollten möglichst „wirklichkeitsnah“ sein. 1<br />

Hierfür war es wichtig, dem Probanden einerseits eine Aufgabe in der virtuellen<br />

Szenerie zu geben, welche ihn wie in der Realität in den Zustand der unbewussten<br />

Wahrnehmung von Werbeträgern versetzt, ihn aber anderseits auch derart auf<br />

der geplanten Strecke durch die Testumgebung zu lotsen, ohne dass dieser das<br />

Gefühl bekommt, die Strecke sei ihm vorgeschrieben.<br />

entwicklung einer Dramaturgie<br />

Der erste Punkt wurde durch eine fiktive Hintergr<strong>und</strong>-Geschichte erreicht, welche<br />

den Probanden mit einer vom eigentlichen Forschungsziel unabhängigen<br />

Aufgabe in die 3D-Szenerie der Münchner Innenstadt versetzt. Mit der Hintergr<strong>und</strong>-Information,<br />

dass die Münchner Verkehrsbetriebe eine neue Methode erproben<br />

wollen, bei der eine Statistik über die innerörtlichen Wegzeiten von <strong>und</strong><br />

zu Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel erstellt werden soll, startete der<br />

Proband unvoreingenommen in Hinsicht auf Werbewirkungsanalysen in den<br />

Testlauf. Dieser „Ablenkungseffekt“ wurde durch eine fiktive Laufgeschwindigkeits-Messung<br />

vor dem Testlauf verstärkt. Der Proband wurde gebeten auf einem<br />

laufband zu gehen, um seine laufgeschwindigkeit für die VR-Umgebung zu ermitteln.<br />

Dies nahm der Testperson zu Beginn des Tests durch eine leichte, ablenkende<br />

Aufgabe einen Teil der Aufregung <strong>und</strong> erhöhte somit die Annäherung der<br />

ergebnisse an eine Alltagssituation.<br />

Steuerung der einheitlichkeit des laufweges<br />

Der zweite Punkt, das unbemerkte leiten des Probanden auf dem geplanten Testpfad,<br />

wurde durch eine objektive Erzählerstimme gelöst. Diese für den Probanden<br />

als eine Art „innere Stimme“ wahrgenommenen Einspielungen aus dem Off erläuterten<br />

ihm zuerst die zuvor geschilderte Situation beim einstieg in die Testumgebung.<br />

Bei der Navigation durch die virtuelle Welt meldete sie sich an relevanten<br />

Stellen wieder zu Wort <strong>und</strong> korrigierte somit die laufrichtung der Testperson.<br />

Hierfür wurden einfache Gedankensätze wie „Ah ja, hier muss ich nun links, ich<br />

will ja zum Bahnhof!“ eingesetzt. Des Weiteren wurde die 3D-Umgebung durch<br />

natürliche Hindernisse wie Absperrungen oder Sicherheitsgitter so entworfen,<br />

dass der Proband nicht mehr alle realen Wege zur Verfügung hatte.<br />

1 Vgl. dazu den vorherigen Beitrag in diesem Arbeitsbericht, in dem die Hypothesen näher erläutert<br />

werden.<br />

166


Um den gelaufenen Pfad bei möglichst allen Personen gleich zu halten, ohne<br />

die Testperson allzu sehr zu delegieren, wurde außerdem eine Straßenbahnfahrt<br />

in die Szenerie integriert. Während dieser Fahrt war die Bewegungsfähigkeit der<br />

Person auf das Drehen des Kopfes reduziert <strong>und</strong> die Straßenbahn fuhr die vordefinierte<br />

Strecke. Auf diese Weise wurde ein guter Kompromiss zwischen Standardisierung<br />

<strong>und</strong> Variabilität der wahrgenommenen Umgebung erreicht.<br />

Auswahl der Teststrecke<br />

Als 3D-Modell stand für VeRTeX beta ein Teil der Münchner Innenstadt als VR-<br />

Modell zur Verfügung. Um der Testperson eine breite Palette von Werbeformen<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmungszeiten präsentieren zu können, wurde die Teststrecke in drei<br />

Teile aufgeteilt: 1. einige Meter Fußweg über den Karlsplatz (Stacchus) <strong>und</strong> durch<br />

eine Unterführung zur Straßenbahn, 2. eine Fahrt mit der Straßenbahn durch<br />

eine Geschäftsstraße <strong>und</strong> 3. ein paar Meter Fußweg am Münchner Hauptbahnhof.<br />

(vgl. Abbildung 1: Geplanter Parcour durch die Szenerie).<br />

Im ersten Streckenteil konnten Kleinplakate an Absperrungen <strong>und</strong> große Werbewände<br />

in der Straßenbahn-Unterführung angebracht werden. Außerdem konnte<br />

die Straßenbahn-Haltestelle, an welcher der Proband kurz angehalten wurde, um<br />

auf die Straßenbahn zu warten, mit Werbung versehen werden.<br />

Während der Straßenbahn-Fahrt hatte der Proband den Blick auf verschiedene<br />

Fronten von Geschäftshäusern sowie eines Kinos, welche im Vorbeifahren kurz<br />

wahrgenommen werden konnten. Am Bahnhof angekommen, musste der Proband<br />

zuletzt noch einen Fußgänger-Überweg überqueren <strong>und</strong> erreichte zuletzt<br />

den Bahnhofsplatz mit verschiedenen litfass-Säulen.<br />

Abb. 1: Plakatauswahl <strong>und</strong> Plakatierungs-Orte<br />

Umsetzung von VeRTeX beta<br />

167


ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />

Für den im Rahmen der Veranstaltung durchgeführten Pretest wurden Werbeplakate<br />

der Firma Nike gewählt. Den Kontrast stellte ein Plakat der Firma Addidas<br />

dar. Um die entworfene Szenerie der Münchner Innenstadt für verschiedene<br />

Tests einsetzen zu können, wurde für die Plakate ein Benennungs-Standard eingeführt.<br />

jedes Plakat wurde nach seiner Anbringungsart <strong>und</strong> Aufstellungsposition<br />

mit einem bestimmten Dateinamen benannt <strong>und</strong> alle Plakate wurden in einem<br />

speziellen Texturordner abgelegt. Beispielsweise wurde Litfass-Säule 1 immer mit<br />

der Textur L001.jpg bespielt. Somit war es durch Austauschen des Textur-Ordners<br />

sehr einfach, auch andere Testläufe in derselben Szenerie zu starten ohne diese<br />

selbst modifizieren zu müssen.<br />

Auswahl <strong>und</strong> einführung der Probanden<br />

Bei der Auswahl der Probanden sollte ein geeigneter Querschnitt erreicht werden.<br />

Als Problem stellte sich hierbei die unterschiedliche erfahrung im Umgang<br />

mit virtuellen Computer-Welten dar. Probanden mit hoher Computer-erfahrung<br />

hatten viel weniger Probleme mit Navigation <strong>und</strong> Immersion, so dass sie sich<br />

erheblich schneller durch die Szenerie bewegten. Als mögliche lösung könnte bei<br />

weiteren Testläufen die maximale Bewegungsgeschwindigkeit innerhalb der 3D-<br />

Welt an die Computerkenntnisse des Probanden angepasst werden. Die für den<br />

Pretest angeworbenen Probanden wurden am Testtag in 30-minütigen Abständen<br />

bestellt. Nach der fiktiven Geschwindigkeits-Messung am Laufband wurden die<br />

Probanden ins VR-labor geführt <strong>und</strong> dort mit der Steuerung des Systems <strong>und</strong><br />

der passiven 3D-Brille vertraut gemacht. Das einspielen der Stimme aus dem Off,<br />

welche die Situation kurz erläutert, startet den Testlauf.<br />

Überbrückung des Medienbruchs zwischen VR <strong>und</strong> Befragung<br />

Um den beim Vorprojekt VERTEX aufgetretenen Medienbruch nach dem virtuellen<br />

R<strong>und</strong>gang zu vermeiden, wurde der Proband bei VeRTeX beta direkt nach<br />

seinem R<strong>und</strong>gang noch im VR-labor befragt. Dies erfolgte über einen Dialog<br />

der Testperson mit der Stimme aus dem Off, welche den Probanden auch in die<br />

Szenerie eingeführt hat. Dies ermöglichte gute Befragungsergebnisse, da sich der<br />

Proband zwischen Test <strong>und</strong> Befragung nicht an eine neue Situation oder Ort anpassen<br />

musste.<br />

3 Technische Umsetzung<br />

eingesetzte Hardware<br />

Die in VeRTeX beta eingesetzt Hardware bestand zu allererst aus einem performanten<br />

PC mit Hochgeschwindigkeits-Grafikkarte. Diese generierte zwei perspektivisch<br />

leicht versetzte <strong>Bild</strong>er der 3D-Umgebung welche über zwei Projektoren<br />

auf eine Rückprojektionswand geworfen wurden. Über Polarisations-Filter<br />

168


vor den Linsen der Projektoren <strong>und</strong> eine passive Polarisations-Brille entstand für<br />

den Probanden somit ein drei-dimensionaler Blick in die Innenstadt Münchens,<br />

da jedes Auge das <strong>Bild</strong> von einem der beiden Projektoren wahrnahm.<br />

Des Weiteren stand dem Probanden ein Sockel mit einem joystick zur Verfügung,<br />

welcher einerseits für unerfahrene Testpersonen Halt bot <strong>und</strong> außerdem<br />

die Navigation durch die virtuelle Welt ermöglichte. Hierbei wurde bewusst auf<br />

einfachheit geachtet, um den Probanden nicht durch die Steuerung von seiner<br />

Aufgabe abzulenken. Der Ton sowie verschiedene Umgebungsgeräusche wurden<br />

über eine Mehrkanal-Musikanlage eingespielt welche, durch ihren <strong>Raum</strong>klang<br />

den immersiven effekt unterstütze. 2<br />

Modellierung in Maya<br />

Das Modell der Stadt München wurde mit der Software Maya (Maya 2007) für die<br />

3D-Umgebung vorbereitet. Das reine Gitternetz-Modell wurde mit abfotografierten<br />

Häuserfronten texturiert. Straßen, Gehsteige <strong>und</strong> Unterführungen wurden<br />

hinzugefügt. Um den Detailgrad zu erhöhen, wurden Dekorations-elemente wie<br />

Bäume <strong>und</strong> Zeitungsboxen eingefügt. Außerdem wurde der Weg durch natürliche<br />

Hindernisse wie Absperrungen abgesteckt. eine große Herausforderung bei der<br />

Modellierung für 3D-Darstellung in echtzeit war hierbei eine gute Kombination<br />

aus Performanz <strong>und</strong> Detailgrad zu finden. Außerdem mussten zum erfolgreichen<br />

Export in die 3D-Entwicklungs-Umgebung weitere für gerendertes 3D-Modelling<br />

nicht relevante Aspekte wie Normalenrichtung der Oberfläche beachtet werden.<br />

Realisierung in Virtools Dev<br />

Dieses 3D-Modell wurde hierauf in die 3D-entwicklungsumgebung Virtools Dev<br />

(Virtools 2005) importiert, welche neben der geringfügigen Manipulation der 3D-<br />

Daten vor allem die echtzeit-Darstellung <strong>und</strong> ereignis-Programmierung als Aufgabe<br />

hatte. Mit Virtools Dev wurden, wie im Folgenden detailliert beschrieben,<br />

die Navigationsskripte <strong>und</strong> Audio-ereignisse programmiert.<br />

Navigationsskripte als Building Blocks<br />

Umsetzung von VeRTeX beta<br />

Die Programmierung erfolgt in Virtools Dev auf visueller Basis durch so genannte<br />

Building Blocks. Diese Objekte mit bestimmten programmtechnischen Funktionen<br />

können ähnlich eines Schaltplans zu komplexen Abläufen <strong>und</strong> Regeln<br />

kombiniert werden. Durch verschiedene Controller Building Blocks wurde somit<br />

realisiert, dass der Proband die Welt mit Hilfe des bereits erwähnten joysticks<br />

durchlaufen kann.<br />

Beim ein- bzw. Aussteigen in/aus der Straßenbahn wurden die Möglichkeiten der<br />

2 Vgl. dazu den Beitrag „Environmental Scene Design – Räumliche Audiokulissen für immersive VR-<br />

Umgebungen“ von Rolf Gassner in diesem Arbeitsbericht.<br />

169


ANDReAS FIlleR / STeFANIe STRUBl<br />

Navigation manipuliert <strong>und</strong> die Straßenbahn-Bewegung gestartet. Um all diese<br />

ereignisse (unabhängig von der Geschwindigkeit des Probanden) zum richtigen<br />

Zeitpunkt stattfinden zu lassen, wurden so genannte Trigger verwendet. Bei diesen<br />

handelte es sich um für die Testperson nicht sichtbare 3D-Quader welche bei<br />

Kollision mit dem Spieler bestimmte ereignisse auslösten.<br />

Audio-ereignisse auf Gegenständen <strong>und</strong> durch Kollisionen<br />

Um die virtuelle Welt möglichst real erscheinen zu lassen, wurde versucht, möglichst<br />

viele Sinne mit einzubeziehen. 3 Daher wurden verschiedene 3D-Objekte in<br />

der Welt mit Geräuschen versehen die der Proband wahrnehmen konnte, wenn<br />

er sich näherte. Wie bereits zuvor beschrieben, wurden über diesselbe Methode<br />

wurden durch Trigger der Testperson auch die Sprach-Informationen zur Wegfindung<br />

eingespielt. Zur Sicherheit wurden auch in den Randbereichen der Szenerie<br />

Trigger erstellt die den Probanden zum Umdrehen bewegen sollten.<br />

Starten des Testlaufes mit Virtools VR<br />

Die Vollbild-Präsentation der Szenerie in der bereits beschriebenen 3D-Darstellung<br />

über zwei Projektoren übernimmt bei Virtools das VR-Pack. Dieses kann<br />

über verschiedene Konfigurations-Dateien an die Hardware-Umgebung angepasst<br />

werden <strong>und</strong> erlaubt einen wiederholten Ablauf der 3D-Szenerie durch einfaches<br />

Doppelklicken. Dies ermöglicht die einfache Widerverwendbarkeit der Szenerie<br />

ohne größere Anpassungen.<br />

literatur<br />

STRUBl, S. (2005): VeRTeX beta – Dokumentation Gruppe „Konzeption“. <strong>Furtwangen</strong>.<br />

SlAWINSKI, A. (2005): VeRTeX beta Forschungsprojekt Medien – Leveldesign<br />

– Arbeitsbericht <strong>und</strong> Dokumentation. <strong>Furtwangen</strong>.<br />

links<br />

MAYA (2007): Autodesk Maya - Produktinformation<br />

http://www.autodesk.de/adsk/servlet/index?siteID=403786&id=8800342<br />

(Zugriff am 14.03.2007)<br />

VIRTOOlS (2005): What‘s New with Virtools Dev 3.5.<br />

http://www.virtools.com/solutions/products/virtools_dev_new3_5.asp<br />

(Zugriff am 16.08.2005)<br />

3 Vgl. hierzu den Beitrag „Techniken der Sichtbarmachung. Nutzungsbedingungen virtueller Testräume“<br />

von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht.<br />

170


DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />

Translocation<br />

Irgendwie dazwischen fühlt man sich, wenn man weggegangen, aber am Ziel<br />

noch nicht angekommen ist. Wo <strong>und</strong> in welchem Vorstellungsraum befindet sich<br />

der Kinobesucher, wenn das licht ausgeht <strong>und</strong> der Film beginnt oder wenn das<br />

Telefon klingelt <strong>und</strong> man zum Hörer greift? Die Verwendung solcher mentaler<br />

Zwischenräume für die empirische Wahrnehmungsforschung war Gegenstand<br />

von TransLocation, einem Studienprojekt 1 der Fakultät Digitale Medien in Kooperation<br />

mit dem Max Planck Institut in Tübingen (MPI). Ziel war die Erstellung einer<br />

Toolbox, um die Übergänge aus dem realen Versuchsraum des neu eröffneten<br />

Cyberneums in virtuelle Umgebungen für Probanden möglichst unmerklich zu<br />

gestalten. Hierfür wurde getestet, ob der Einsatz von filmischen Montagetechniken<br />

<strong>und</strong> die Verwendung von transitorischen Räumen innerhalb einer virtuellen<br />

Umgebung Einfluss auf das Präsenzgefühl einer Versuchsperson haben.<br />

Die Ausgangsthese von Translocation war, dass <strong>Raum</strong>- <strong>und</strong> Zeiterfahrungen aus<br />

alltäglichen Warte- <strong>und</strong> Übergangssituationen genutzt werden können, um das<br />

Präsenzgefühl in virtuellen Umgebungen zu erhöhen.<br />

1 Projektteilnehmer waren Jan Brune, Daniel Feuereissen, Christian Jakob, Christian Rengers, Patrick<br />

Sauer, Christoph Scheidtmann <strong>und</strong> Jonas Schweizer. Projektbetreuung: Daniel Fetzner <strong>und</strong> Stefan<br />

Selke (HFU) sowie Bernhard Riecke (MPI)<br />

173


DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />

„Virtual Reality ist die Angleichung des <strong>Bild</strong>es an die Imagination“<br />

lambert Wiesing<br />

Zunächst erfolgte die Analyse von Passagenräume wie Wartehallen, Flure <strong>und</strong><br />

Aufzüge, die aus dem Alltag bekannt sind. Dann wurden alternative Übergänge<br />

von dem realen Versuchsraum in virtuelle Umgebungen konzipiert <strong>und</strong> praktisch<br />

umgesetzt. In Versuchsreihen wurde an Probanden getestet, wie diese im<br />

Vergleich zueinander <strong>und</strong> im Vergleich zu einem Szenario ohne Übergang abschneiden.<br />

Die Testpersonen wurden vor <strong>und</strong> nach dem Versuch zu ihren erlebnissen<br />

<strong>und</strong> erfahrungen per Gespräch <strong>und</strong> Fragebögen interviewt. Für das<br />

Testing wurde mit der 3D-Software Virtools eine Toolbox erstellt, mit der frei zu<br />

gestaltende Übergänge in Echtzeit simuliert werden können. Mit dieser Toolbox<br />

kann dann das MPI für seine eigenen Versuchsreihen in dem neu eröffneten VRlabor<br />

Cyberneum in Tübingen unter erleichterten Bedingungen Versuche mit<br />

verschiedenen Szenarien durchführen. Getestet wurde die Toolbox exemplarisch<br />

mit Probanden im Medialab der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, wo auch der gesamte<br />

Versuchsablauf einschliesslich Befragung <strong>und</strong> Auswertung der erhobenen Daten<br />

stattfand. Dabei standen folgende Fragestellungen im Vorderg<strong>und</strong>:<br />

• Was ist „Präsenzgefühl“, wie kann es gemessen werden <strong>und</strong> wie können erhobene<br />

Daten ausgewertet/interpretiert werden?<br />

• Hat ein Übergang, der von einem realen <strong>Raum</strong> in einen virtuellen führt (<strong>und</strong><br />

vice versa), einen Einfluss auf das Präsenzgefühl der Probanden?<br />

• Wie sieht ein valider Versuchsaufbau/Versuchsablauf aus, der die zu messenden<br />

Daten nicht verzerrt?<br />

• Welche technischen Mittel kommen zum Einsatz?<br />

• Wie sollen die Szenarien aussehen?<br />

Vorgehen<br />

Zunächst recherchierten wir bisherige Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Versuche mit<br />

VR, Cybersickness, visuelle <strong>und</strong> auditive Wahrnehmung, Psychologie <strong>und</strong> Bewusstseinszuständen,<br />

Architektur <strong>und</strong> Installationskunst sowie Datenerhebung.<br />

Mit dem erworbenen Wissen wurden verschiedene Testszenarien konzipiert, ausgearbeitet<br />

<strong>und</strong> in das bestehende VR-System des Medialabs integriert.<br />

174


Testaufbau <strong>und</strong> Durchführung<br />

Ziel unseres VR-Versuches war es zu untersuchen, ob filmische Montagetechniken<br />

bzw. transitorische Räume innerhalb einer virtuellen Umgebung Einfluss<br />

auf das Präsenzgefühl einer Versuchsperson haben. Gemessen wurde dieses anhand<br />

einer offenen Befragung <strong>und</strong> dem IPQ Fragebogen 2 , um die ergebnisse an<br />

Standardinstrumenten abgleichen zu können.<br />

Situative Vorgabe<br />

Die von uns verwendete Simulationsumgebung war der des Max-Planck-Instituts<br />

in Tübingen sehr ähnlich. Sie bestand aus einem HMD (Head Mounted Display),<br />

einem Kopftracking-System, einem Kopfhörer, einem Keypad <strong>und</strong> einem gut dimensioniertem<br />

Testrechner. Diese technische Ausstattung ermöglicht es, eine<br />

immersive virtuelle Umgebung darzustellen. Die Versuchsperson saß auf einem<br />

Stuhl <strong>und</strong> konnte nur die Perspektive der Kamera durch Kopfbewegung über das<br />

Tracking-System ändern, der Pfad der Fortbewegung war festgelegt. es kamen<br />

zwei unterschiedliche Test-Szenarien zum einsatz.<br />

SZeNARIO 1 bestand aus einem untexturierten Modell des MediaLabs in <strong>Furtwangen</strong>,<br />

das die Versuchsperson als erstes zu sehen bekam. Wir gingen davon<br />

aus, dass zwischen dem realen <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> dem nachgebildeten <strong>Raum</strong> nach kurzer<br />

Zeit eine Wiedererkennung stattfindet. Nach einer festgelegten Zeit wurde die<br />

Versuchsperson aufgefordert, den Übergang selbst durch Knopfdruck auf dem<br />

Keypad auszulösen, damit jede Versuchsperson etwa die gleiche Zeit in der virtuell<br />

simulierten laborumgebung verbringt. Nach dem Durchwandern des transitorischen<br />

<strong>Raum</strong>es stand die Versuchsperson an einer zuvor festgelegten Stelle<br />

in einem neuen <strong>Raum</strong>, dem detailgetreuen Modell des laufraums des Cyberneums<br />

am MPI in Tübingen, wo die Versuchsperson einige abstrakte Objekte wie<br />

in einem Ausstellungsraum betrachten konnte. Die Funktion des ersten <strong>Raum</strong>es<br />

lag darin, der Versuchsperson (VP) nach kurzer Zeit das Gefühl zu geben, in einer<br />

bekannten Umgebung zu sein <strong>und</strong> sich an die Ausrüstung zu gewöhnen.<br />

SZeNARIO 2 bestand nur aus dem Modell des laufraums des MPI, das zu einem<br />

Ausstellungsraum umfunktioniert wurde. Die Versuchsperson sah diesen <strong>Raum</strong><br />

als erstes <strong>und</strong> wurde nicht vorher vom virtuellen Medialab als Zwischenraum<br />

dorthin gebracht. Szenario 2 war unser Kontrollversuch, ob ein transitorischer<br />

<strong>Raum</strong> oder eine filmische Montage überhaupt eine Wirkung auf die Ergebnisse<br />

der Befragung hat.<br />

Versuchsaufbau <strong>und</strong> -durchführung<br />

Für das Pretesting des Versuchsaufbaus wurden acht Personen eingeladen, die<br />

noch keine erfahrung mit Virtual Reality haben. Die Versuchspersonen wurden<br />

2 www.presence-research.org, Zugriff 07/2006<br />

Translocation<br />

175


DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />

in zwei Gruppen eingeteilt, in eine Kontrollgruppe <strong>und</strong> eine Testgruppe. Die Kontrollgruppe<br />

(4 Personen) bekam Szenario 1 (mit Übergang) gezeigt, während die<br />

Testgruppe (4 Personen) das Szenario 2 (ohne Übergang) zu sehen bekam. Nachdem<br />

eine Versuchsperson fertig war, wurde sie von einer Person des Teams mündlich<br />

befragt. Die ergebnisse wurden schriftlich festgehalten <strong>und</strong> mitgeschnitten,<br />

um die Antworten zu einem späteren Zeitpunkt zur Analyse wiedergeben zu können.<br />

Im Anschluss wurde die Versuchsperson gebeten, den IPQ-Fragebogen zu<br />

beantworten, während die nächste Person befragt wurde.<br />

Zur Fortbewegung konnte die VP ein Pad verwenden, Richtungsänderungen wurden<br />

durch das Tracking der Kopfbewgungen (360°) ermittelt. Auf dem VR-Rechner<br />

wurde ein stereoskopisches HMD (Millionen Farben, 4:3, 800x600, FOV 32°<br />

x 24° (HxV), 120Hz) angeschlossen, optional kann auch eine Stereoleinwand benutzt<br />

werden. Der Ton wurde über einen Stereo-Funk-Kopfhörer (20Hz-20kHz)<br />

wiedergegeben, um Hintergr<strong>und</strong>geräusche weitgehend auszublenden. Anwesend<br />

waren nur der Versuchsleiter <strong>und</strong> ein Systemoperator. Die Versuchsgruppen<br />

wurden von der jeweiligen Aufsichtsperson betreut, die auch darauf achtete, dass<br />

jeder Befragte die Bögen getrennt von den anderen beantwortet <strong>und</strong> dass keiner<br />

der Gruppe vor oder nach dem Test mit Versuchspersonen einer anderen Gruppe<br />

in Verbindung trat.<br />

ergebnisse<br />

Die Bedeutung der erkenntnisse 3 dieser Versuchsanordnung hängen massgeblich<br />

von der erfahrung im Umgang mit dem Wahrnehmungsgefühl der Präsenz ab,<br />

das mehrdimensional <strong>und</strong> so nur schwer zu erfassen ist. Da dieses im Gegensatz<br />

zu einem konkret messbaren Wert sehr subjektiv ist <strong>und</strong> stark vom psychischen<br />

<strong>und</strong> physischen Zustand des Probanden abhängt, verbergen sich erhebliche Hürden<br />

bei der Interpretation der Daten. Da dieses Pretesting für Translocation nur<br />

exemplarisch als Methodentest ausfiel, war das Testsample von 4 Personen pro<br />

Szenario zu klein, um eine repräsentative Aussage fällen zu können. Aussagen<br />

aus dem Interview wurden in Relation zu den im IPQ gesammelten Daten gesetzt.<br />

Die hier gesammelten Daten zeigen aufgr<strong>und</strong> der geringen Samplegrösse<br />

keine wesentlichen Unterschiede auf. Die Presence-Items der beiden Szenarien<br />

unterscheiden sich um 0,25 Punkte zugunsten des Szenarios ohne Übergang.<br />

es bedarf weiterer Versuchsreihen, um die zu gewinnenen Daten vom Gr<strong>und</strong>rauschen<br />

abzuheben, idealerweise mit einer Samplegrösse > 60 VPs für jedes<br />

Szenario.<br />

3 siehe auch<br />

http://webuser.fh-furtwangen.de/~fetzner/spacestudies/index.php?n=Main.TransLocation<br />

176


Angrenzende Arbeiten<br />

Verwandte Projekte sind Arbeiten, bei denen das Verhalten von Probanden beobachtet<br />

wird, um anhand der Reaktionen Aufschlüsse über die Funktionsweise<br />

der menschlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Orientierung zu erhalten. Weitere Arbeiten<br />

beschäftigen sich mit VR-Simulationen, in denen der Proband Fähigkeiten erlernt,<br />

die er dann später in der realen Welt anwendet. Dabei wird versucht festzustellen,<br />

welche Faktoren für den Fähigkeitstransfer verantwortlich sind. es steht<br />

bereits fest, dass ein zentraler Bestandteil hierfür der Grad der Präsenz ist.<br />

literatur<br />

GeNNeP, A. (1986): Übergangsriten. Frankfurt a.M.<br />

GRAU, O. (2001): Virtuelle Kunst in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Berlin.<br />

GSCHWeNDTNeR, G. (2002): Kompositionslehre mit Formen. Wiesbaden.<br />

HOFFMAN, D. D. (1998): Visuelle Intelligenz: Wie die Welt im Kopf entsteht.<br />

New York. Mosshammer, D. (2006): einige Fallen bei der erhebung von Daten.<br />

Tübingen.<br />

ITTeN, j. (2003): Kunst der Farbe. leipzig.<br />

INSKO, B. e. (2003): Measuring Presence Subjective, Behavioral and Physiological<br />

Methods. Amsterdam.<br />

jUNG, C.G. (1999): Der Mensch <strong>und</strong> seine Symbole. Zürich.<br />

Translocation<br />

RIeCKe, B. (2005): Towards lean and elegant self-motion simulation in VR. Tübingen.<br />

RIeCKe, B. (2005): Visual cues can be sufficient for triggering automatic, reflexlike<br />

spatial updating. Tübingen.<br />

SHePARD, R. N. (1991): einsichten <strong>und</strong> einblicke: Illusion <strong>und</strong> Wahrnehmungskonflikte<br />

in Zeichnungen. Heidelberg.<br />

SlATeR, M. (1995): The influence of Dynamic Shadows on Presence in Immersive<br />

Virtual environments. london.<br />

SlATeR, M. (1995): An Exploration of Immersive Virtual Environments. London.<br />

SlATeR, M. (1996): Immersion, Presence, and Performance in Virtual environments:<br />

An Experiment with Tri-Dimensional Chess. London.<br />

SlATeR, M. (1994): Body Centred Interaction in Immersive Virtual environments.<br />

london.<br />

177


DANIel FeUeReISSeN / DANIel FeTZNeR<br />

SPIllMANN, l. (1987): Visual Perception - The Neurophysiological Fo<strong>und</strong>ations.<br />

New York.<br />

TURRell, j. (2001): James Turrell, The Other Horizon. Ostfildern.<br />

USOH, M. (1994): Interaction and Visualisation for Architectural Processes in<br />

Virtual environments. london.<br />

UllMANN, F. (2005): Basics - Architektonische Gr<strong>und</strong>elemente <strong>und</strong> ihre Dynamik.<br />

Wien.<br />

USOH, M. (1999): Flying in virtual environments. New York.<br />

USOH, M. (1996): Presence: Experiment in the Psychology of Virtual Environments.<br />

london.<br />

WANG, R. F. (2000): Updating egocentric representation in human navigation.<br />

london.<br />

178


II. Projektentwürfe


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />

Konzeptionelle <strong>und</strong> methodologische Überlegungen zu zukünftigen<br />

Projekten<br />

1 Ziele des Forschungsprojekts<br />

Der virtuelle Testraum VERTEX eignet sich für Verb<strong>und</strong>projekte zwischen <strong>Hochschule</strong>n<br />

<strong>und</strong> Unternehmen. Gegenstand des hier angedachten Forschungsprojekts<br />

ist die Erforschung <strong>und</strong> Nutzbarmachung innovativer 3D-Technologien für<br />

Fragestellungen der empirischen Marktforschung, die bisher nicht befriedigend<br />

gelöst wurden. Hierbei wird die Frage verfolgt, ob sich aufwendige Messeauftritte<br />

in ihrer Wirkung auf Besucher durch Pretests abschätzen lassen. Hierbei geht<br />

es gr<strong>und</strong>sätzlich darum, zu klären, ob <strong>und</strong> inwieweit sich in virtuellen Testumgebungen<br />

quasi-natürliche Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Erlebniskontexte befriedigend<br />

simulieren lassen. Darauf aufbauend wird dann untersucht, wie sich einzelne<br />

Wirkdimensionen <strong>und</strong> -indikatoren in virtuellen Testumgebungen messen lassen.<br />

Für den hier verfolgten, interdisziplinären Forschungsansatz, bietet sich der gewählte<br />

Gegenstandsbereich Messen gerade auch deshalb an, da routinemäßig<br />

Architekturmodelle von Messen als CAD-Daten vorliegen <strong>und</strong> somit in virtuelle<br />

Testräume integriert werden können. Zur Untersuchung dieser Fragestellung eig-<br />

183


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

net sich aufgr<strong>und</strong> ihrer Relevanz im Bereich der Markenwerbung die stark emotionalisierte<br />

Besucherkommunikation. Messen sind konzeptionell so ausgelegt,<br />

dass sie einen intensiven <strong>und</strong> nachhaltigen erlebniseindruck bei den Besuchern<br />

entfalten. 1 Allerdings gibt es hier aufgr<strong>und</strong> der Komplexität der Planung, der<br />

Übersättigung der Zuschauer <strong>und</strong> durch Kostenzwänge Unsicherheitsfaktoren,<br />

die im Extremfall über die Wettbewerbsfähigkeit eines Messeauftritts entscheiden<br />

können. es stellt sich also die Frage, wie intensiv <strong>und</strong> wie nachhaltig der eindruck<br />

einer Markeninszenierung ist <strong>und</strong> ob sich diese Wirkung anhand einzelner Wirkfaktoren<br />

schon im Vorfeld prognostizieren lässt.<br />

Derartige Informationen sind zunehmend notwendig, da ohne empirisch f<strong>und</strong>ierte<br />

Planungsdaten zum Wirkungsnachweis komplexer Messeauftritte der<br />

Planungsprozess auf Dauer nicht zufrieden stellend gesteuert werden kann. In<br />

Zeiten knapper Budgets ist der gezielte Zugriff auf verlässliche empirische Daten<br />

über wirkungsrelevante Dimensionen immer bedeutender. Die hohe Komplexität<br />

von Messeauftritten verbietet daher eine Wirkungseinschätzung „aus dem Gefühl“<br />

heraus.<br />

Obwohl diesem Ansatz auch Akzeptanzprobleme (viele Fachabteilungen wollen<br />

sich nicht „kontrollieren“ lassen, hohe zeitliche Belastung der Verantwortlichen<br />

<strong>und</strong> geringe Personalkapazitäten) gegenüberstehen, die sich außerhalb der technologischen<br />

<strong>und</strong> methodischen ebene bewegen, ist bei einer entsprechenden<br />

Verzahnung mit dem internen Workflow damit zu rechnen, dass sich mittelfristig<br />

Gewinne in Form von Zeit- <strong>und</strong> Ressourceneinsparungen erzielen lassen.<br />

Ziel ist die entwicklung <strong>und</strong> Anwendung einer virtuellen Testumgebung, die es<br />

Probanden ermöglicht, einen Messeauftritt schon vor dessen Besuch bzw. stellvertretend<br />

zum Besuch zu erleben. Der Nutzen dieser Pretests liegt darin, zu<br />

f<strong>und</strong>ierten Argumenten über die Wirkung einzelner Ausstattungsmerkmale der<br />

Standarchitektur zu gelangen. Diese können als konkrete strategische Planungsdaten<br />

zu einer Kosten- <strong>und</strong> Risikoreduktion in entscheidergremien führen.<br />

Im Forschungsprojekt werden technische <strong>und</strong> methodische Fragestellungen<br />

wechselseitig bearbeitet. Die Arbeitsplanung sieht vor, zuerst Sek<strong>und</strong>äranalysen<br />

zur Wirkungsforschung von Markenwelten durchzuführen <strong>und</strong> technische<br />

Schnittstellen für die Nutzung polygonreduzierter CAD-Modelle in einer mobilen<br />

3D-Testeinheit (Alpha-Prototyp) zu identifizieren. Danach erfolgt eine testtheoretische<br />

Überprüfung des entwickelten Befragungsinstruments mit Experimental<strong>und</strong><br />

Kontrollgruppen. Bei positivem ergebnis der Überprüfung der Validität der<br />

Methode (Sollbruchstelle) erfolgt sukzessive die entwicklung einer netzbasierten<br />

Befragungsplattform zur Integration visueller Stimuli sowie die Konzeption, Programmierung<br />

<strong>und</strong> Funktionstest eines Gesamterhebungstools (Beta-Prototyp).<br />

1 Vgl. dazu den Beitrag „Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum Pretesting von Messeständen<br />

im Rahmen von Erlebnismarketing“ von Karina Mies <strong>und</strong> Fernando Saal in diesem Arbeitsbericht<br />

184


Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />

Dieser wird anhand des Pretestings von Messen überprüft. Im letzten Projektteil<br />

wird die Anpassung des Beta-Prototypen an Marktanforderungen vorgenommen.<br />

Die Motivation besteht übergreifend darin, ein Instrument zu entwickeln <strong>und</strong><br />

zu testen, dessen Prognosequalität gängigen Gütekriterien der empirischen<br />

Marktforschung (Validität, Reliabilität, Objektivität) entspricht <strong>und</strong> dazu bestehende<br />

VR-Technologien einzusetzen <strong>und</strong> weiterzuentwickeln. Das Gesamtziel<br />

besteht in der Verbindung aus methodisch validen Testverfahren <strong>und</strong> geeigneten<br />

technischen erhebungs- <strong>und</strong> Prüfmethoden, um damit schon im Vorfeld von<br />

Messeauftritten zu abgesicherten ergebnissen <strong>und</strong> Benchmarks zu gelangen.<br />

In wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive wird dabei die Fragestellung untersucht,<br />

wie sich komplexe emotionale Markenkommunikation am Ende einer<br />

langen Wertschöpfungskette im Kontext von aufwendigen Messeinszenierungen<br />

empirisch f<strong>und</strong>iert abbilden lässt. In technologischer Hinsicht wird erforscht,<br />

ob <strong>und</strong> inwieweit sich mit der heute verfügbaren 3D-Technologie ein empirisch<br />

aussagekräftiger Pretest eines Messeauftritts realisieren lässt <strong>und</strong> welche neuen<br />

soft- <strong>und</strong> hardwaretechnischen Weiterentwicklungen darüber hinaus notwendig<br />

sind. In empirischer <strong>und</strong> methodischer Hinsicht wird die Frage bearbeitet, wie<br />

sich reale <strong>und</strong> virtuelle Erlebniswelten hinsichtlich der Aussagequalität von Befragungsdaten<br />

unterscheiden <strong>und</strong> vergleichen lassen. Überlagerungseffekte ergeben<br />

sich aus der Verbindung empirischer Fragestellungen, der praxisnahen <strong>und</strong><br />

-gerechten entwicklung, Anwendung <strong>und</strong> evaluation von Wirkungstests sowie<br />

der Implementierung von VR-Testumgebungen, dies führt zu …<br />

• einem besserem Verständnis der Grenzen <strong>und</strong> Möglichkeiten von VR-Technologien,<br />

die sich allein aus einer „technikzentrierten“ Perspektive nicht zeigen;<br />

• der Bestimmung der Schnittstelle zwischen Technik <strong>und</strong> Empirie. Hierbei<br />

steht nicht die Frage im Mittepunkt, was wünschenswert wäre, sondern was<br />

beim gegenwärtigen Stand der Technik machbar ist.<br />

Die dabei verfolgte Fragestellung erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> berührt dabei die Disziplinen bzw. Arbeitsfelder Architektur, Gestaltung,<br />

<strong>Bild</strong>wissenschaft, VR/Ve-Technologie (Software), Informatik, empirische Marktforschung,<br />

Marktpsychologie <strong>und</strong> Kommunikationsforschung.<br />

Dabei geht die Bedeutung der exemplarischen Bearbeitung der Basisfragestellung<br />

über den konkreten Anwendungsfall hinaus. Die empirisch valide Prognostizierbarkeit<br />

von Werbewirkungen stellt sich als komplexe, bisher nicht ausreichend<br />

bearbeitete Frage auch in anderen Messekontexten <strong>und</strong> allgemein überall dort,<br />

wo potenzielle K<strong>und</strong>en in eine Markenwelt eintauchen. Diese Form des eintauchens<br />

lässt sich mit Hilfe immersiver VR-Testumgebungen wirtschaftlich <strong>und</strong><br />

empirisch f<strong>und</strong>iert simulieren. eine Übertragbarkeit der ergebnisse auf Anwendungsfelder<br />

auch außerhalb von Messekontexten ist daher zu erwarten. Virtuelle<br />

185


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

Testmodelle/umgebungen können im Bereich der Tourismusforschung (Vorabinformationen<br />

über Reiseziele), der Architektur z.B. von Krankenhäusern (wie fühlen<br />

sich Patienten dort?), der Wirkung von Kultureinrichtungen oder kulturellen<br />

Inszenierungen (welche Stimmung entsteht?), oder bei der Planung von K<strong>und</strong>en-<br />

/Servicezentren (wie zufrieden sind die Besucher?) über Erfolg oder Misserfolg<br />

entscheiden.<br />

2 Anforderungen an das Testinstrument<br />

Unter der Validität eines Tests wird die Gültigkeit einer Messung verstanden:<br />

Wird also gemessen, was gemessen werden soll? Im Kontext von VERTEX sind<br />

hiermit konkret die Fragen verb<strong>und</strong>en, auf welchen ebenen sich die Wirkung<br />

<strong>und</strong> Wirksamkeit eines dreidimensionalen Messemodells <strong>und</strong> eines komplexen,<br />

auf emotionalisierung zielenden Messeauftritts empirisch bestimmen lässt. Zur<br />

validen Abfrage der zu bestimmenden Variablen müssen die richtigen „Ankerpunkte“<br />

gesetzt werden, d.h. die wissenschaftliche Herausforderung im Projekt<br />

besteht in der exakten Operationalisierung der Variablen. Dabei ist auch zu beachten,<br />

wie sich Medienbrüche auf die Validität der Datenerhebung auswirken.<br />

Probanden zeigen unterschiedliche Erinnerungsleistungen, je nachdem, ob die<br />

Abfrageform visuell oder verbal ist. ein 3D-Testmodell als Wahrnehmungsgenerator<br />

macht daher nur dann Sinn, wenn die Abfrage der Wirkdimensionen derart<br />

erfolgt, dass tatsächlich die definierten Variablen in den Dimensionen Akzeptanz,<br />

Image, likes/Dislikes, Gesamt- <strong>und</strong> Detailbewertung, emotionale Aktivierung,<br />

kognitive Prozesse etc. gemessen werden.<br />

Unter Reliabilität versteht man die Zuverlässigkeit einer Messung: Wird also<br />

beim zweiten Probanden so gemessen, wie beim ersten? Im Projekt VERTEX-M<br />

besteht hierbei das wissenschaftliche Ziel darin, den Schnittpunkt zwischen einer<br />

maximal möglichen Standardisierung <strong>und</strong> einer maximal zulässigen Variabilität<br />

der Wahrnehmungseindrücke zu bestimmen. Hier können halb-standardisierte<br />

<strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten, kriteriengesteuerte einschränkungen von Bewegungsfreiräumen<br />

oder zweistufige Testverfahren einen Weg weisen.<br />

Das dritte klassische Gütekriterium ist die Objektivtät eines Tests. es stellt sich<br />

also immer auch die Frage, ob es zu unintendierten Verzerrungseffekten durch<br />

die Testsituation oder ggf. durch Interviewer kommt. Bezogen auf VeRTeX besteht<br />

die Herausforderung, eine standardisierte Einführung vor dem jeweiligen<br />

Test zu entwickeln, den Test selbst (nicht die virtuelle Testumgebung, in der sich<br />

die Probanden bewegen) in einer möglichst reizarmen Umgebung vorzunehmen,<br />

damit die Probanden tatsächlich das Gefühl von Immersivität erfahren <strong>und</strong> letztlich<br />

die Abfrage der Wirkdimensionen nicht nur möglichst standardisiert sondern<br />

auch möglichst ohne Medienbruch vorzunehmen.<br />

186


Hinzu kommen weitere Herausforderungen: eine wichtige Aufgabe auf gestalterischer<br />

ebene wird es sein, in enger Zusammenarbeit mit den Fragestellungen aus<br />

dem empirischen Testdesign den richtigen Realismusgrad des visuellen erscheinungsbildes<br />

zu realisieren. Diese Forderung ergibt sich zum einen aus Gründen<br />

der Performanz der Testumgebung, die eine <strong>Bild</strong>wiederholrate von mindestens<br />

25 pro Sek<strong>und</strong>e erfordert. entscheidend ist aber vor allem, dass für die meisten<br />

Probanden das erlebnis einer VR-Umgebung völlig ungewohnt sein wird. eine<br />

zu große Nähe zu gewohnten <strong>und</strong> realistischen Oberflächentexturen führt hier<br />

erfahrungsgemäß zu grösseren Irritationen, da diese aufgr<strong>und</strong> technischer Randbedingungen<br />

immer noch sehr artifiziell erscheinen. Für Versuchspersonen, die<br />

nicht an den Umgang mit 3D-Computergrafik gewohnt sind, ist es daher in der<br />

Regel einfacher, eine zeichenhafte Darstellung in Form leichter Abstraktionen<br />

als natürlich zu akzeptieren. eine weitere gestalterische Herausforderung wird<br />

es sein, VeRTeX als Werkzeug in den Planungsprozess einzubinden. Viele Messearchitekten<br />

<strong>und</strong> Kreativabteilungen stehen einem solchen Kontrollinstrument<br />

der psychologischen Wirkungsoptimierung eher kritisch gegenüber, weil sie darin<br />

eine einschränkung ihrer kreativen Freiheit sehen. es kann aller Voraussicht<br />

nach nur dann gelingen, den Ansatz als Teil eines iterativen Planungsprozesses<br />

zu etablieren, wenn das zu entwickelnde System dem Gestalter Schnittstellen für<br />

den entwurfsprozess zur Verfügung stellt. ein konkretes Beispiel hierfür ist das<br />

lichtdesign als essentieller Aspekt für die atmosphärische Planung eines Messestandes.<br />

Würde das System das Ausrendern sogenannter lightmaps, also der in<br />

VERTEX verwendeten Texturen <strong>und</strong> Oberflächen des Entwurfs, von Seiten der<br />

Architekten erlauben, hätten diese eine Art Qualitätskontrolle über die zu messenden<br />

Alternativen. Durch eine solche Verzahnung des Werkzeugs mit dem bestehenden<br />

Workflow in der Messeplanung kann eine Akzeptanz auch auf Seiten<br />

der Kreativagenturen erzielt werden.<br />

3 Stand der Markt- <strong>und</strong> Wirkungsforschung<br />

Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />

Nur ein Bruchteil der eingesetzten Kommunikationsinstrumente wird einem Pretest<br />

unterzogen. Neben mangelnder einsicht in die ökonomische Sinnhaftigkeit<br />

solcher Tests sind es v.a. auch Zweifel an der Prognosequalität, die ihrem Einsatz<br />

entgegenstehen. Voraussetzungen für eine hohe Trefferquote bzw. zuverlässige<br />

Vorhersagen der zu erwartenden Werbewirkung sind möglichst biotische, d.h.<br />

realitätsnahe Testbedingungen sowie die valide <strong>und</strong> reliable Operationalisierung<br />

der Werbewirkung. Zwar gibt es vor allem für den Pretest klassischer Werbeinstrumente<br />

eine Reihe im Markt gut akzeptierter <strong>und</strong> methodisch ausgereifter<br />

Verfahren. Bei Anzeigen-Sujets, Radio- oder TV-Spots gelingt es im Vergleich zu<br />

komplexeren Erlebniswelten wie Messen wesentlich leichter, in einem frühen<br />

entwicklungsstadium realistische Testmaterialien <strong>und</strong> Testbedingungen herzustellen.<br />

Das Projekt setzt genau hier an: Auch für sehr komplexe Erlebniswelten<br />

187


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

sollen am Beispiel von Messen möglichst realitätsnahe Testversionen <strong>und</strong> Testumgebungen<br />

geschaffen werden, die es erlauben, deren Werbewirkung effizient,<br />

ökonomisch vertretbar <strong>und</strong> methodisch zuverlässig zu testen.<br />

Insgesamt gibt es kein kommerzielles Angebot, das dem Analysekonzept von<br />

VERTEX entspricht. Werbemittel bzw. komplexe Produkte in virtuellen, für Probanden<br />

immersiv erlebbaren, Testwelten zu erproben, ist ein neues Verfahren.<br />

Methodisch liegt das Innovationspotential nicht nur in der Anwendung der 3Dtechnologie,<br />

die ein eintauen in die Testwelten ermöglicht, sondern auch auf dem<br />

Aspekt der Interaktivität <strong>und</strong> der Vermeidung von Medien- <strong>und</strong> Rationalitätsbrüchen<br />

bei der Abfrage der erlebnis- bzw. Wirkdimensionen. Die kommerziellen<br />

Anbieter, die sich mit Medien- <strong>und</strong> Produktwirkungstests befassen, setzen für<br />

ihre Befragungen meist noch face-to-face Methoden in laborsituationen oder Onlinebefragungen<br />

ein. Im Folgenden werden einige der untersuchten Unternehmen,<br />

die in die vergleichende Marktstudie einflossen, vorgestellt, um das Spektrum<br />

der Methoden <strong>und</strong> damit die Besonderheit von VeRTeX herauszustellen.<br />

Hierbei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Vielmehr sollen prinzipielle<br />

Herangehensweise an projektrelevante Fragestellungen erläutert werden.<br />

• Das Marktforschungsinstitut „Compagnon“ (www.compagnon.de) beschäftigt<br />

sich mit allen Bereichen der psychologischen Markt- <strong>und</strong> Werbeforschung.<br />

Dies umfasst insbesondere auch die hier relevanten Produktwirkungstests<br />

sowie Wirkungsanalysen von K<strong>und</strong>enkommunikation. Hierbei werden Pretests<br />

mit Ex-Post-Wirkungsanalysen kombiniert.<br />

Inhaltlich steht hierbei die Messung von multiplen Reaktionen von Zielgruppen<br />

im Mittelpunkt. Die Zielgruppe wird vom jeweiligen Auftraggeber nach biologischen,<br />

sozio-demografischen <strong>und</strong> psychologischen Aspekten definiert, die Probanden<br />

entsprechend ausgewählt. Die Tests selbst erfolgen durch vergleichende<br />

Teilstichproben mit je ca. 50 Probanden. Das dabei angewandte Verfahren kommt<br />

der Gr<strong>und</strong>idee von VERTEX recht nahe, hat jedoch längst nicht dasselbe Potenzial.<br />

Die Probanden sehen Videos, in die Plakate oder Produkte in einer „lebensechten“<br />

Umgebung eingearbeitet sind. Dabei stehen verschiedene Perspektiven <strong>und</strong><br />

Sehentfernungen zur Auswahl. ein Nachteil dieser Methode ist, dass sie nur in<br />

speziellen Teststudios durchgeführt werden kann <strong>und</strong> dass nach der Betrachtung<br />

der Videoszenen ein Medien- <strong>und</strong> Rationalitätsbruch stattfindet. Nach dem rein visuellen<br />

Input erfolgt die Befragung durch klassische Interviewformen (schriftlich<br />

oder computergestützt). Das Projekt VERTEX geht genau an dieser Stelle weiter.<br />

Zwar entspricht das von „Compagnon“ eingesetzte, videogestützte, Verfahren von<br />

allen kommerziellen Anbietern noch am ehesten, doch sind schon hier Restriktionen<br />

im Vergleich zu VeRTeX erkenntbar. So können die Probanden mit dem<br />

Testszenario weder interaktiv interagieren noch darin „eintauchen“. Genau diese<br />

beiden Merkmale machen jedoch im Kern eine „biotische“ Testsituation aus.<br />

188


Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />

Da die anderen kommerziellen Anbieter von Wirkungstests diesem Anspruch<br />

noch weniger gerecht werden, werden sie nur in Kurzform vorgestellt um zu einer<br />

einschätzung der aktuell verfügbaren Methoden zu gelangen.<br />

• Phaydon research+consulting (www.phaydon.de) führt als Full-Service-Forschungsisntitut<br />

Pre- <strong>und</strong> Posttests durch, deren Ziel die optimale Gestaltung<br />

von Produkten <strong>und</strong> Kommunikationsmaßnahmen <strong>und</strong> die Ableitung konkreter<br />

Handlungsempfehlungen ist. Dieses Ziel wird gr<strong>und</strong>sätzlich auch im<br />

vorliegenden Forschungsprojekt verfolgt.<br />

Zum einsatz kommen dabei standardisierte Studiotests mit Simulationsprogrammen,<br />

die ansatzweise versuchen, natürliche Rezeptionssituationen nachzubilden.<br />

Mit tachistoskopischen Wahrnehmungstests 2 <strong>und</strong> Blickregistrierungsverfahren<br />

wird versucht, das Aufmerksamkeitspotential zu ermitteln, dass von<br />

Werbemitteln oder Produkten ausgeht. Die These der Wirkungsforschung, die<br />

mit dieser Verfahrensgruppe verb<strong>und</strong>en ist, besagt, dass sich entwürfe, die trotz<br />

der verschlechterten Wahrnehmungsbedingungen gut erkannt werden, auch bei<br />

flüchtigen Kontakten (low involvement) in der Praxis durchsetzen. Das Problem<br />

dieses Verfahrens sind sog. Reihenstellungseffekte, die deshalb auftreten, weil die<br />

Wahrnehmung eines Motivs von dem vorher gezeigtem abhängt. Somit sind hier<br />

Zweifel bezüglich der Reliabilität <strong>und</strong> Validiät von Messungen angebracht.<br />

• Pro Media Concept (www.pro-media.org) liefert Informationen zur Marken-<br />

<strong>und</strong> Werbeerinnerung (likes/Dislikes, Gesamt- <strong>und</strong> Detailbewertung, Brand<br />

Fit, Kaufinteresse).<br />

Eingesetzt werden hierzu quantitative Erhebungen mit qualitativen Elemeten.<br />

Die Probanden werden aus dem promio.net Online Access Pool rekrutiert, der<br />

10.000 soziodemografisch repräsentative Zielpersonen umfasst.<br />

• Media Analyzer (www.mediaanalyzer.com) hat sich auf die Messung der Aufmerksamkeitsleistung<br />

spezialisiert, eine Fragestellung, die auch im Kontext<br />

der Projekts VERTEX von zentralem Interesse ist.<br />

Hierzu wurde das sog. Attention Tracking entwickelt, das auf der These beruht,<br />

dass Menschen immer dahin zeigen, wohin sie auch blicken. Die technische Umsetzung<br />

dieser These geschieht durch das „Zeigen“ mit einer Computermaus,<br />

die Aufmerksamkeitsschwerpunkte in Testbildern markiert. Das Verfahren wird<br />

sowohl für einzelmessungen als auch für Kollektivmessungen durch Onlineerhebungen<br />

eingesetzt.<br />

2 Tachistoskopische Tests gehören zur Verfahrensgruppe der Aktivierungstests, die mit gelockerter<br />

Reizbindung arbeiten. Dabei werden Testobjekte zeitlich verkürzt (1/2000 bis 1/10 Sek.) gezeigt.<br />

Verfahren der gelockerten Reizbindung sind Methoden, bei denen der Prozess der entstehung der<br />

Wahrnehmung (Aktualgenese) untersucht wird. Die Wahrnehmung baut sich von einer diffusen<br />

„Vorgestalt“ bis zu einem ausdifferenzierten Wahrnehmungseindruck auf. Es lässt sich also nicht<br />

nur untersuchen, ob etwas wahrgenommen wird, sondern auch wie es wahrgenommen wird.<br />

189


STeFAN SelKe / DANIel FeTZNeR<br />

• Dem Ansatz von VERTEX kommt das Online Sujet Test von heimatwerbung<br />

(www.heimatwerbung.at) ebenfalls nahe. Mit diesem netzbasierten Testverfahren<br />

können sich K<strong>und</strong>en einen eindruck von der Plakatwirkung ihres<br />

entwurfes in einer realen Umgebung machen.<br />

Hierzu werden Werbemittel als jpg-File auf die Website von heimatwerbung hochgeladen<br />

<strong>und</strong> in Vorlagen eingeb<strong>und</strong>en, die z.B. Straßenzüge zu verschiedenen<br />

Tageszeiten oder zu unterschiedlichen Witterungsbedingungen zeigen.<br />

• Im Postercheck der Schweizer Allgemeinen Plakatgesellschaft APG (www.<br />

apgsga.ch) können Auftraggeber ihre Gestaltungsvorschläge ebenfalls in<br />

einem „realen“ Umfeld testen. Hierzu stehen verschiedene Hintergründe<br />

bereit, in die <strong>Bild</strong>dateien eingeb<strong>und</strong>en werden können. In einem ebenfalls<br />

von der APG durchgeführten Posttest geht es im Kern um erinnerungswerte,<br />

Markenzuordnung <strong>und</strong> die evaluation von durch die Werbung evozierten<br />

Gefühlen. Dieser Aspekt wird bei der Wirkungsmessung der Markenkommunikation<br />

von Messeauftritten im Forschungsprojekt VERTEX-M weitaus<br />

tiefgründiger angegangen.<br />

• Die Firma Ipsos (www.ipsos.de) testet ebenfalls K<strong>und</strong>enreaktionen <strong>und</strong> langfristige<br />

K<strong>und</strong>enbindung über die evaluation der Kommunikationsleistung<br />

von Werbemitteln. Hierbei werden den Probanden jedoch lediglich DIN A4<br />

Vorlagen im Kontext eines Labortests präsentiert um dann in einer nachgelagerten<br />

Befragung Recall- <strong>und</strong> Recognitionwerte zu erheben.<br />

• Die Firma It Works (www.aussenwerbung.de) beschäftigt sich mit der erforschung<br />

von Leistungswerten <strong>und</strong> dem Effizienznachweis sowie der Entwicklung<br />

von Prognosemodellen zur Werbewirkung. Hierbei werden Monokampagnen<br />

von der Wirkung von Kampagnenserien unterschieden. eine<br />

Automobilmesse befindet sich an der Grenzlinie zwischen beidem. Ziel ist es<br />

auch hier, durch Kombination von ex ante-Wirkungsmessungen mit ex post<br />

erhebungen zur Darstellung einer Werbewirkungskurve zu gelangen.<br />

• Die Milchstraße AdAttraction (www.milchstrasse.de) bietet neben den klassischen<br />

Wirkungsindikatoren neue erklärungsmöglichkeiten. Durch eine<br />

spezielle Software kann zusätzlich zu den Inhalten von Copytests der Verlauf<br />

der Aufmerksamkeit beim Betrachten von Werbemitteln gemessen werden.<br />

Die Methode ist dabei sehr an der Blickverlaufsmessung angelehnt <strong>und</strong> erfolgt<br />

online.<br />

4 erfolgsaussichten<br />

Ziel von VeRTeX ist die entwicklung einer neuen, bisher auch nicht in Ansätzen<br />

verfügbaren Methode der empirischen Wirkungsforschung. Auf Gr<strong>und</strong>lage der<br />

testtheoretischen Überlegungen <strong>und</strong> Überprüfungen im ersten <strong>und</strong> zweiten Pro-<br />

190


Wirkungsmessung von erlebniswelten<br />

jektteil ist ein Erhebungskonzept zu erwarten, das sich deutlich von bestehenden<br />

eindimensionalen Ansätzen der Markt- <strong>und</strong> Wirkungsforschung distanziert.<br />

Unabhängig von der innerbetrieblichen Akzeptanz einer derartigen Wirkungsprüfung<br />

von Messeauftritten <strong>und</strong> der Wirtschaftlichkeit der Testreihen, besteht die<br />

Erfolgsaussicht darin, während der Projektlaufzeit eine Methode zur Marktreife<br />

zu bringen, die eine zuverlässige Vorhersage der Wirkung des multisensorischen<br />

erlebens von Messeauftritten ermöglicht.<br />

191


DANIel FeTZNeR<br />

Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />

Max Bense in San Francisco –<br />

Rekonstruktion einer Körperspannung<br />

Kunst <strong>und</strong> Technik unterliegen unterschiedlichen Denkweisen <strong>und</strong> produzieren<br />

verschiedene Körperbilder. Jeder Gestalter von technischen Dingen <strong>und</strong> jeder gestaltende<br />

Techniker kennt den Konflikt dieser alternativen Erkenntnismodelle aus<br />

eigener Erfahrung. So auch der Physiker Max Bense (1910-1990), der in beiden<br />

Kulturen zuhause war <strong>und</strong> maßgebliche Gr<strong>und</strong>lagenforschung betrieb. Das Projekt<br />

fogpatch 1 rekonstruiert eine traumatische Körpererfahrung des Wissenschaftlers<br />

in San Francisco.<br />

1 www.fogpatch.de<br />

193


DANIel FeTZNeR<br />

194<br />

„Die Fäden zwischen Kopf <strong>und</strong> Körper sind abgenutzt, doch noch nicht zerrissen.<br />

Nur das Bewußtsein ist ein diskreter Zustand.“<br />

Max Bense, 1970<br />

Der Kybernetiker Max Bense erlebt im Alter von knapp 60 Jahren den Einbruch<br />

des Irrationalen am eigenen leib. Während eines viertägigen Aufenthalts in San<br />

Francisco im August 1969 verpasst er den Bus in Sausalito. Bense geht zu Fuß<br />

über die Golden Gate Bridge zurück in die Stadt <strong>und</strong> dabei kommt dem Physiker<br />

ein hochkomplexes Partikelsystem in die Quere. Das Hereinbrechen einer Nebelwand<br />

vom Pazifik lässt die Temperatur augenblicklich um 15° C sinken, der Fog<br />

verschluckt die Parabel der Stahlkonstruktion <strong>und</strong> verschlägt dem Wort- <strong>und</strong> Gestengenerator<br />

(Walter 1994) die Sprache. Der Schock löst bei Bense in der darauf<br />

folgenden Nacht eine Nierenkolik mit Todesangst aus. erste Artikulationsversuche<br />

<strong>und</strong> eine Verarbeitung des Erlebnisses finden sich in dem Text Existenzmitteilung<br />

aus San Franzisko. Der dabei ersehnte Körperzustand ist vollkommen entnervt.<br />

Während Jimmy Hendrix zeitgleich in Woodstock mit den vibrant So<strong>und</strong>s seiner<br />

E-Gitarre verschmilzt, möchte Bense „nur noch wie Haar sein, fest <strong>und</strong> fein, sensibel,<br />

wortlos <strong>und</strong> schmerzlos“ (Bense 1970) – ohne jede Schwingung. Der prätentiöse<br />

Text erscheint 1970 in einer Auflage von 100 Exemplaren als bibliophile<br />

Publikation mit Originalradierungen der Künstlerin Helgart Rothe.<br />

Als offensiver Vertreter der Moderne beschäftigte sich Max Bense seit den 1940er<br />

jahren intensiv mit der Berechenbarkeit der Welt. Seine Vision war die etablierung<br />

einer neuen Ästhetik als exakte <strong>und</strong> experimentelle Wissenschaft. „Die<br />

metadisziplinäre Analyse von Prozessen der Steuerung, Regelung <strong>und</strong> Rückkoppelung<br />

galt als Weg zur Überwindung des Bruchs zwischen den zwei Kulturen<br />

von Technik <strong>und</strong> Naturwissenschaft einerseits, Kunst <strong>und</strong> Geisteswissenschaft<br />

andererseits“ (Pias 2006). In Weiterführung der Leibnitzschen „Mathesis Universalis“<br />

geht Bense von einer kategorialen Einheit ästhetischer <strong>und</strong> mathematischer<br />

Formen aus, wie viele seiner Zeitgenossen in Kunst <strong>und</strong> Architektur (Roterm<strong>und</strong><br />

2001). Fasziniert von den Möglichkeiten diskreter, digitaler Modelle <strong>und</strong> den<br />

frühen Elektronikgehirnen experimentiert er auf dem Feld des Kreativen, ohne<br />

jedoch selbst zu programmieren. In Fortführung der Birkhoffschen Formel, die<br />

den ästhetischen Wert als Quotienten aus Ordnung <strong>und</strong> Komplexität berechnet,<br />

entwickelt er in den 1950er jahren das Format der Konkreten Poesie <strong>und</strong> beschäftigt<br />

sich mit der Theorie der Malerei. Aus der Position des existentiellen Rationalismus<br />

heraus versucht Bense den Shannonschen Informationsbegriff auf<br />

gestalterische Vorgänge anzuwenden <strong>und</strong> etabliert hierfür den Begriff der Informationsästhetik.<br />

Die Qualität von Kunstwerken, so Bense, liegt aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

inneren Ordnungsbeziehungen „irgendwo auf der Skala zwischen Banalität <strong>und</strong><br />

Chaos <strong>und</strong> ist damit kalkulierbar.“ (Franke 1998) „Diese moderne Ästhetik ist<br />

keine Interpretationsästhetik, sondern eine Ästhetik, die den Versuch macht, das,<br />

was wir in der bezeichneten Weise als „schön“, „nicht schön“, „hässlich“, „nicht<br />

hässlich“ oder dergleichen bestimmen können, als objektiv feststellbar voraussetzen.<br />

Sie ist also eine Art Feststellungsästhetik; das soll heissen, dass das, was


Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />

wir als Aussagen über Kunstwerke oder Designobjekte festhalten, feststellbar ist<br />

in der gleichen Weise, wie der Mineraloge die Zusammensetzung eines Minerals<br />

feststellt <strong>und</strong> nicht etwa interpretiert.“ (Bense 1965)<br />

Aber nicht alles lässt sich in dieser Weise feststellen. Wie verhält es sich beispielsweise<br />

mit dem erleben von Schmerz, das an eine individuelle <strong>und</strong> konkrete Körperlichkeit<br />

geb<strong>und</strong>en ist? In dem cartesischen Modell Benses sind Leib <strong>und</strong> Seele<br />

getrennte entitäten, die man auf verschiedenen Geräten simulieren kann. Konsequent<br />

nutzt Bense das Textwerkzeug der Existenzmitteilung Kierkegaards 2 , um<br />

seine Wahrnehmung in zwei Beobachterrollen zu zerlegen. Alternierend in methodisch<br />

variierender Schreibweise, auf der einen Seite das subjektive Empfinden,<br />

auf der anderen die nüchterne Rationalisierung der Situation. „Ein Wechsel aus<br />

konkretem <strong>und</strong> abstraktem Stil, aus semantischen <strong>und</strong> syntaktischen Techniken“,<br />

wie Bense an anderer Stelle notiert (Bense 1967). Die eigentliche Schmerzerfahrung<br />

einer Nierenkolik entzieht sich aber jeder objektiven Beschreibbarkeit. Sie<br />

wiederfährt nur dem einzelnen Bewusstsein <strong>und</strong> streift das Metaphysische. Die<br />

Qual <strong>und</strong> Empfindung kann annäherungsweise über Empathie <strong>und</strong> Erinnerung<br />

von anderen nachempf<strong>und</strong>en werden. Der Schmerz selbst bleibt dem jeweiligen<br />

Körper eingeschrieben <strong>und</strong> ist über kein Medium vermittelbar. Oder in anderen<br />

Worten: die Aussage „The Mount Everest has snow“ liegt nicht auf derselben Ebene<br />

wie „I am in pain“. (Searle 1997)<br />

Als der Philosoph im Summer of love zu Fuß über die Brücke ging, bringen die<br />

Ultraso<strong>und</strong>s der schwingenden Konstruktion die Steine ins Rollen. Im Februar<br />

1970 kommt es in einem TV-Streitgespräch mit joseph Beuys zur Konfrontation<br />

mit einem ganz anderen Konzept von Körperlichkeit. Der leidenschaftliche<br />

Sammler von kristallinen Objekten trifft auf den Rost-, Fett- <strong>und</strong> Filzkünstler. In<br />

der hitzigen Diskussion versucht Bense, das ganzheitliche Menschenbild seines<br />

Gegners gestisch auf einen numerischen Schieberegler herunterzubrechen, was<br />

ihm nicht gelingt. In diesem schweißtreibenden Showdown von Moderne <strong>und</strong><br />

Postmoderne gerät Max Bense offensichtlich ins Wanken.<br />

Die Rückkopplungs- <strong>und</strong> Regelkreiskonzepte der Kybernetik, die Mitte der 1970er<br />

Jahre ihr vorläufiges Ende fanden, werden durch die massenhafte Verbreitung digitaler<br />

Technologien zu Beginn des 21. jahrh<strong>und</strong>erts wieder aktuell. Nicht ganz<br />

so wie vorhergesehen, denn im Zeitalter von Ubiquitous Computing <strong>und</strong> Perva-<br />

2 Eine Existenzmitteilung ist eine „Mitteilung der subjektiv-existentiellen Äußerungen eines menschlichen<br />

Daseins in Fleisch <strong>und</strong> Blut <strong>und</strong> <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> Zeit“ (Bense 1951).<br />

195


DANIel FeTZNeR<br />

sive Internet sind Computer nicht länger nur informationelle Technikapparate.<br />

Vielmehr durchdringen Funksignale <strong>und</strong> vernetzte Miniaturdevices den realen<br />

<strong>Raum</strong> <strong>und</strong> treten dabei als erkennbare Geräte immer mehr in den Hintergr<strong>und</strong> 3 .<br />

Der Alltag der Menschen <strong>und</strong> ihre lebenswelten werden mit dynamischen Rechnerdaten<br />

überzogen, die Omnipräsenz des Digitalen führt zu einer Vereinheitlichung<br />

von Orten <strong>und</strong> Räumen (Manovich 2005). Auch im Bereich von Kunst<br />

<strong>und</strong> Gestaltung gewinnen rückgekoppelte Prozesse wieder an Faszination. Softwareanwendungen<br />

wie processing.org <strong>und</strong> M/M/j, linkportale wie dataisnature.<br />

com <strong>und</strong> lifestylemagazine wie de:bug suggerieren aufs Neue eine Analogie von<br />

mathematischen <strong>und</strong> ästhetischen Strukturen, propagieren die gegenseitige Bedingung<br />

von Code <strong>und</strong> Design, von Algorithmen <strong>und</strong> Gestalt.<br />

196<br />

„UBIQUE MEDIA DAEMON - Wallowing in my organs, my kidneys,<br />

rushing the signal through the system nothing can block the electrical impulse.”<br />

einstürzende Neubauten<br />

Ansätze der Kybernetik aus den 1950er jahren sind wieder in der Diskussion,<br />

wie zahlreiche Publikationen, Tagungen <strong>und</strong> Hochschulseminare 4 zeigen. Aktuell<br />

wieder in Mode gekommen ist auch die Schwarmintelligenz in Form von<br />

croudsourcing bei Google, Amazon <strong>und</strong> Wikipedia im Web 2.0. Der emergente<br />

Partikelschwarm wird zum Versprechen eines intelligenten Kollektivkörpers.<br />

Und auch die aktuelle Hirnforschung knüpft in ihren Modellen an die bekannten<br />

Konzepte an. Im Gegensatz zu den frühen Ansätzen steht aber jetzt der Mensch<br />

mit seinem unbewussten Sein, seinem irrationalen Empfinden <strong>und</strong> seiner Körperlichkeit<br />

stärker im Mittelpunkt. „Nach den Erkentnissen der Neurobiologie<br />

betreibt der Mensch nicht nur nach aussen, sondern auch innerkörperlich ein<br />

hochkomplexes Kommunikationssystem. Jede Bewegung ist eine Äußerung, die<br />

rückgekoppelt wird, um neue Bewegungen dadurch zu koordinieren“ (Holl 2002).<br />

entscheidend also ist der physische Mediengebrauch <strong>und</strong> die performative Seite<br />

der Mensch-Maschine-Beziehung. Dazu Klaus Theweleit mit seinem Konzept des<br />

dritten Körpers: „Wir sind Figuren aus Licht <strong>und</strong> Wasser, einer Reihe von Säuren<br />

<strong>und</strong> ein paar Mineralien, <strong>und</strong> äußern uns in Wellen. Alle unsere Körperzellen<br />

nehmen ständig nicht nur Nahrung, sondern licht <strong>und</strong> Wellen auf, mediale Reize<br />

<strong>und</strong> Reize aus der luft, darunter eine ungeheure Menge an Reizen, die von anderen<br />

Körpern, von anderen Personen ausgehen. Nur für die gröbsten dieser Reize<br />

haben wir ein bewusst ausgearbeitetes Sensorium.“ (Theweleit 2006)<br />

Auch Alva Noë, Philosoph an der UC Berkeley, betont aktuell den untrennbaren<br />

Zusammenhang von Körper <strong>und</strong> Wahrnehmung mit seinem enactive approach:<br />

„Perceiving is a way of acting. (...) What perception is, however, is not a process in<br />

3 Beim Versuch, mit einem Kontaktmikrofon Tonaufnahmen von einem Hängeseil der Golden Gate<br />

Bridge zu machen, wurde ich nach wenigen Minuten vorübergehend festgenommen. An der Stelle<br />

war keine Überwachsungskamera sichtbar.<br />

4 When Cybernetics meets Aesthetics, Tagung auf der ars electronica 2006 u.a.


Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />

the brain, but a kind of skillful activity on the part of the animal as a whole.“ (Noë<br />

2006) Benses Gegenspieler in der TV-Diskussion war das gut geläufig. Denn Propriozeption<br />

war die Gr<strong>und</strong>lage in den Arbeiten von joseph Beuys, beispielsweise<br />

in seiner Coyotenperformance I like America and America likes me von 1974.<br />

Deutlich zum Ausdruck kommt diese Haltung in seiner Äusserung Ich denke<br />

sowieso mit dem Knie. ergänzend hierzu der Kybernetiker Heinz v. Förster: die<br />

Ursache liegt in der Zukunft. Der Neurologe Paul Christian hatte bereits 1949 mit<br />

seinem Pendelexperiment darauf hingewisen, dass eine systemische Trennung<br />

von Mensch <strong>und</strong> Maschine nicht wirklich funktionieren kann: „Die Kohärenz<br />

zwischen Organismus <strong>und</strong> Umwelt ist somit eine fließende. Es ist nicht möglich,<br />

diese Grenze im Versuch zu determinieren. (…) Im Versuch selbst ist es unmöglich,<br />

eine räumliche, zeitliche oder energetische Grenze anzugeben, an welcher<br />

die motorische Tätigkeit des Organs aufhört <strong>und</strong> die physikalische anfängt. ”<br />

(Christian 1949) Was in all den Regelkreisskizzen vorgetäuscht wurde, hat also<br />

keine klar auszumachend Grenze (Rieger 2003). Alles schwingt.<br />

„Coastal fog reaching into the Bay will burn off by late morning, then clear skies late<br />

afternoon, fog rolls in again.”<br />

Typische Wetterlage in San Francisco<br />

Der Ort, an dem die Computertechnologie <strong>und</strong> dazu passende Körpertrends seit<br />

jahrzehnten auf Hochtouren entwickelt werden, ist San Francisco <strong>und</strong> die umliegende<br />

Bay Area. Und auch Max Bense macht an diesem Ort zweimal Halt -<br />

zunächst fiktiv <strong>und</strong> dann real. Denn da, wo ihm Nebel <strong>und</strong> Brückenso<strong>und</strong>s an<br />

die Nieren gingen 5 , liegen zugleich die Wurzeln der technologischen Utopien des<br />

Kybernetikers. Der junge Physiker Bense arbeitet ab Januar 1942 im Labor für<br />

Hochfrequenztechnik <strong>und</strong> Ultraschall von Dr. Hollmann in Berlin-Lichterfelde.<br />

Dort spekuliert er im Kontext nachrichtentechnischer Forschung zur Übertragung<br />

von <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Ton über die Möglichkeit, demnächst den menschlichen Körper<br />

von Deutschland in die Ferne zu rastern. Mit diesem Rasterkörper könne man<br />

„in San Franzisko spazierengehen” (Walther 1999). Hans Erich Hollmann kam<br />

dann auf ganz natürlichem Wege nach Kalifornien, er wurde 1947 von der NASA<br />

als Radarforscher abgeworben. Von dort schickte er Bense zwei jahre später die<br />

6. Auflage von Norbert Wieners „Cybernetics or control and communication in<br />

the animal and the machine“. Und so sind es tatsächlich die Ultraso<strong>und</strong>s, die<br />

Benses Körper bei dem realen Besuch in der Bay begleiten, durchdringen <strong>und</strong><br />

innervieren: „So wie der Körper des Instruments durch sein Mitschwingen den<br />

Ton der Saite erst richtig hörbar macht, so ähnlich nutzen wir unseren Körper als<br />

Resonator für auditorische erfahrungen. Der Zuhörer selbst wird zum Instrument.”<br />

(Jourdain 2001)<br />

5 Den Nieren kam früher eine ganz andere Bedeutung zu als heute. Siehe etwa AT Psalm 26,2: „Prüfe<br />

mich, Herr, <strong>und</strong> erprobe mich, erforsche meine Nieren <strong>und</strong> mein Herz!“ Noch im Mittelalter wurden<br />

die Nieren als Sitz der Gefühle <strong>und</strong> auch des Geschlechtstriebes angesehen.<br />

197


DANIel FeTZNeR<br />

198<br />

„Die uniteressanten Schlotterformen sind die völlig regelmäßigen, die immer eine<br />

konstante Frequenz einhalten. Aber dann gibt es noch die komplexen<br />

Schwingungsformen, bei denen sich Frequenz <strong>und</strong> Amplitude gleichzeitig <strong>und</strong><br />

unabhängig voneinander ändern Häufig kommen noch Verschlüßelungen ins Spiel,<br />

Frequenzüberlagerungen, unterschiedliche Energieniveaus – man muß schon ziemlich<br />

auf Zack sein, um damit klar zu kommen.”<br />

Thomas Pynchon, Gravity`s Rainbow (1973)<br />

Die beiden Modelle des Raster- <strong>und</strong> des Nebelkörpers können als eine biografische<br />

Klammer im Leben von Max Bense verstanden werden. Das Projekt fogpatch<br />

interpretiert diese alternativen Konzepte zwischen technischem Rauschen<br />

<strong>und</strong> sinnlichem Rausch (Holl 2002) als Tanzperformance in einer interaktiven<br />

Umgebung. Recherche <strong>und</strong> Konzeption erfolgen im Rahmen eines Forschungssemesters<br />

in San Francisco <strong>und</strong> am ZKM in Karlsruhe, die Umsetzung geschieht<br />

in Zusammenarbeit mit weiteren Partnern <strong>und</strong> einer Projektgruppe 6 der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong>.<br />

Folgender Ablauf ist denkbar; ein Sprecher sitzt an einem Tisch <strong>und</strong> beginnt den<br />

Text der Existenzmitteilung zu lesen. Es gibt ein kybernetisches Objekt, dass die<br />

rationale Seite von Bense darstellt, ein Tänzer verkörpert das Irrationale seiner<br />

Persönlichkeit. Die Bewegungen des Tänzers werden getrackt <strong>und</strong> beeinflussen<br />

das Objekt, dessen Verhalten <strong>und</strong> So<strong>und</strong>s. Zu Beginn sind Objekt <strong>und</strong> Tänzer<br />

den einzelnen Strophen des Textes zugeordnet, gegen Ende gehen beide ineinander<br />

über in eine improvisierte Form der Choreographie. Das Objekt besteht aus<br />

einem Stahlrahmen, in den Drahtseile eingespannt sind, die kolikartig mit Motoren<br />

kontrahiert werden. eingehängt in das Gestell sind schwingende Bleche,<br />

auf die flackernde Super8-Aufnahmen projiziert werden, die Benses Blick in San<br />

Franzisko nachstellen. Die Geschwindigkeit der Projektoren <strong>und</strong> Ihre Geräusche<br />

werden über die Software gesteuert, die die gesamte Performance koordiniert<br />

(Max/MSP/Jitter). Geplante So<strong>und</strong>s sind Vibrationsgeräusche der Brücke, Atemgeräusche<br />

Benses aus der TV-Diskussion u.a. Auf einer großen leinwand werden<br />

Videoaufnahmen von Meeresquallen aus der Bay gezeigt, die mit Aufnahmen der<br />

TV-Diskussion mit Beuys überlagert werden – <strong>Bild</strong>er in extremer Zeitlupe bis hin<br />

zum schmerzhaften Schlottern.<br />

6 Michael Raithel, Dirk Hensel, Bernd Dudzik, Patrick Burkert, jennifer Fluck, Andreas Schäfer. Projektbetreuung<br />

Prof. Dr. Bruno Friedmann <strong>und</strong> Katja Wahl


Zeitfenster<br />

Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />

1942 RASTeRKöRPeR/BeNSe<br />

Körperutopie, virtueller Spaziergang durch San Franzisko<br />

1948 CYBeRNeTICS/WIeNeR<br />

„Wenn wir andererseits von einem Meteorologen verlangen, uns eine ähnliche<br />

Durchmusterung der Wolken zu geben, würde er uns ins Gesicht lachen oder<br />

nachsichtig erklären, das es in der gesamten Sprache der Metereologie keinen<br />

Gegenstand wie eine Wolke gibt, definiert als ein Objekt mit einer quasipermanenten<br />

Identität, <strong>und</strong> wenn es sie gäbe, er weder die Fähigkeit besäße noch tatsächlich<br />

daran interessiert wäre, sie zu zählen.“ (Norbert Wiener 1963)<br />

1949 RADARDeNKeR/BeNN<br />

„Das, was die Menschheit heutigentags noch denkt, noch denken nennt, (kann)<br />

bereits von Maschinen gedacht werden, <strong>und</strong> diese Maschinen übertrumpfen sogar<br />

schon den Menschen, die Ventile sind präziser, die Sicherungen stabiler als in<br />

unseren zerklafterten körperlichen Wracks, sie arbeiten Buchstaben in Töne um<br />

<strong>und</strong> liefern Gedächtnisse für acht St<strong>und</strong>en, kranke Teile werden herausgeschnitten<br />

<strong>und</strong> durch neue ersetzt.“ (Gottfried Benn)<br />

1949 PeNDelVeRSUCHe/CHRISTIAN<br />

„Die Kohärenz zwischen Organismus <strong>und</strong> Umwelt ist somit eine fließende. Es ist<br />

nicht möglich, diese Grenze im Versuch zu determinieren. […] Im Versuch selbst<br />

ist es unmöglich, eine räumliche, zeitliche oder energetische Grenze anzugeben,<br />

an welcher die motorische Tätigkeit des Organs aufhört <strong>und</strong> die physikalische<br />

anfängt.“ (Paul Christian 1949)<br />

1957 VeRTIGO/HITCHCOCK<br />

Sprung Madeleine`s an der Golden Gate, Scotties rettender Blick. Madeleine tritt<br />

aus dem grünen Neonebel der Hotelbeleuchtung.<br />

1964 FRee SPeeCH MOVeMeNT/SAVIO<br />

„Es gibt Zeiten, wo das Bedienen der Maschine so widerlich wird <strong>und</strong> Euch in<br />

eurem Innersten so krank macht, dass Ihr nicht mehr mitmachen könnt; <strong>und</strong><br />

Ihr müsst eure Körper auf die Zahnräder <strong>und</strong> Antriebswellen legen, <strong>und</strong> auf die<br />

Hebel <strong>und</strong> Schalter, auf die gesamte Apparatur, <strong>und</strong> Ihr müsst sie zum Stehen<br />

bringen.“ (Mario Savio, Berkeley)<br />

1969 NeBelKöeRPeR/BeNSe<br />

Während Jimmy Hendrix Woodstock zum Schwingen bringt, notiert Max Bense:<br />

„Nur noch wie Haar sein, fest <strong>und</strong> fein <strong>und</strong> sensibel, aber wortlos <strong>und</strong> schmerzlos.“<br />

(Max Bense 1970)<br />

1970 ZABRISKIe POINT/ANTONIONI<br />

Ballett der Zerstörung, Kühlschränke <strong>und</strong> Konsumgegenstände explodieren <strong>und</strong><br />

fliegen als Partikelsystem in Zeitlupe durch die Luft.<br />

199


DANIel FeTZNeR<br />

Systemskizze<br />

200


literatur<br />

BeNSe, M. (1951): Was ist Existenzphilosophie. Köln.<br />

BeNSe, M. (1967): die zerstörung des durstes durch wasser. Köln.<br />

BeNSe, M. (1965): einführung in die Informationsästhetik. In: Ronge, Hans<br />

(Hg.) Kunst <strong>und</strong> Kybernetik. Köln, 29-41.<br />

BeNSe, M. (1970): Existenzmitteilung aus San Franzisko. Köln.<br />

CHRISTIAN, P. (1948): Die Willkürbewegungen im Umgang mit beweglichen<br />

Mechanismen. Berlin, Heidelberg.<br />

FRANKe, H. (1998): Das sogenannte Schöne. In: Telepolis http://www.heise.<br />

de/bin/tp/issue/r4/dl-artikel2.cgi?artikelnr=3226&mode=print (Zugriff am<br />

07.03.2007)<br />

HOll, U. (2002): Kino • Trance • Kybernetik. Berlin.<br />

MANOVICH, l. (2005): Black Box - White Cube. Berlin.<br />

NOë, A. (2006): Action in Perception (Representation and Mind). Boston.<br />

PIAS, C. (2006): Der kalte Traum der Technik. Podcast Ars electronica linz http://<br />

www.aec.at/de/festival2006/podcasts/index.asp (Zugriff am 07.03.2007)<br />

PIAS, C. (2004): Cybernetics | Kybernetik. Zürich-Berlin.<br />

PYNCHON, T. (1973): Gravity`s Rainbow. New York.<br />

RIeGeR, S. (2003): Kybernetische Anthropologie. Frankfurt a. M.<br />

ROTeRMUND, H. (2001): Keine Anrufung des großen Bären. Feature Radio Bremen.<br />

SeARle, j. (1996): The Construction of Social Reality. Berkeley.<br />

THeWeleIT, K. (2006): absolute Sigm<strong>und</strong> Freud. Songbook. Freiburg.<br />

WAlTeR, H. (1994): Max Bense in Stuttgart. Marbach.<br />

WAlTHeR, e. (1999): Max Bense <strong>und</strong> die Kybernetik. In: Computer Art Faszination,<br />

360.<br />

WIeNeR, N.(1963): Kybernetik. Wien.<br />

Zwischen Raster- <strong>und</strong> Nebelkörper<br />

201


STeFAN SelKe<br />

Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis im Kontext digitalisierter Regionalmanagementprozesse<br />

1 Technische Innovation <strong>und</strong> soziale Implikation – Umrisse eines<br />

Forschungsfeldes zwischen Medien <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

Wie entsteht ein neues Forschungsfeld <strong>und</strong> welchen Nutzen kann man daraus<br />

ziehen? Im folgenden Beitrag wird das Potenzial für ein Forschungsprojekt aufzeigt,<br />

das „gelebte“ Interdisziplinarität ermöglicht. Die Überschrift suggeriert ein<br />

Projekt zwischen Produktion <strong>und</strong> Nutzung digitaler Medien. Gegenstand ist der<br />

Einfluss sog. Regio-Wikis (als Bespiel für eine technische Innovation) auf regionale<br />

Identifikationsprozesse (als Beispiel für eine soziale Implikation). Bevor ich<br />

die Skizze zum Forschungsprojekt präsentiere <strong>und</strong> den Forschungsstand aufbereite,<br />

möchte ich einleitend danach fragen, welchen gr<strong>und</strong>sätzlichen Nutzen diese<br />

Art von Projekt haben kann.<br />

Disziplinübergreifendem Orientierungswissen <strong>und</strong> gelebte Interdisziplinarität<br />

Mit steigender Professionalisierung in einem Arbeitsbereich wächst die Gefahr,<br />

die effekte des eigenen Handelns nicht mehr ausreichend einschätzen zu können.<br />

Diese „Betriebsblindheit“ durch Spezialisierung gibt es in jedem Beruf. Wo<br />

203


STeFAN SelKe<br />

also liegt das Optimum zwischen Spezialisierung <strong>und</strong> Generalisierung? Dort, wo<br />

neben einem klar benennbaren Kompetenzbereich auch angrenzende Methoden<br />

beherrscht sowie darüber hinaus gehende Zusammenhänge <strong>und</strong> Potenziale erkannt<br />

werden. Neben der Meisterschaft in einem Fach geht es also auch darum,<br />

tragfähiges Orientierungswissen über technische, ökonomische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

entwicklungen aufzubauen.<br />

Das hier vorgeschlagene Projekt untersucht den Zusammenhang zwischen der<br />

technischen entwicklung von Kommunikationsmedien <strong>und</strong> deren sozialen Gebrauchsweisen<br />

<strong>und</strong> Auswirkungen. Zahlreiche, mit einander verknüpfte, Beziehungen<br />

zwischen Informationstechnologien <strong>und</strong> Gesellschaftsentwicklungen<br />

können dabei erkannt werden. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Frage, wie<br />

Medien gesellschaftliche Strukturen in einer Wissens- <strong>und</strong> Informationsgesellschaft<br />

verändern <strong>und</strong> sich dadurch auf individuelles <strong>und</strong> kollektives Handeln auswirken.<br />

Ziel des Forschungsprojekts ist es, einen Beitrag zur Orientierungshilfe<br />

beim Studium der „Landkarte Informations- <strong>und</strong> Wissensgesellschaft“ zu entwerfen.<br />

erst auf diese Weise wird das Gesamtphänomen Informationsgesellschaft<br />

– weit über rein technische Aspekte hinausgehend – an Kontur gewinnen. Nur<br />

wenn sowohl das kulturspezifische System Softwareentwicklung <strong>und</strong> Mediennutzung<br />

mit dem spezifischen System konkreter Anwendungen verb<strong>und</strong>en wird <strong>und</strong><br />

beide ebenen in Verbindung mit gesellschaftlichen Institutionen gesetzt werden,<br />

wird deutlich, dass Informationstechnologie <strong>und</strong> Information als „defining technologies“<br />

ganz wesentlich kulturelle, ökonomische, soziale sowie politische „Projekte“<br />

sind, wenn man von den technischen Gr<strong>und</strong>eigenschaften abstrahiert.<br />

2 Innovations- <strong>und</strong> Technikanalyse mit regionalwissenschaflicher<br />

Fragestellung<br />

Ein Teil des „sozialen Internets“ (oder Web 2.0) gehört den Wikis. Diese Internetanwendungen<br />

<strong>und</strong> Werkzeuge kollaborativer Zusammenarbeit markieren als<br />

emerging technologies ein relativ neues Feld des Fortschritts. Die Nutzung von<br />

Wikis im Rahmen von Stadt- <strong>und</strong> Regionalmanagementprozessen ist ein noch<br />

nicht einmal in Ansätzen untersuchtes Praxis- <strong>und</strong> Forschungsfeld. Regio-Wikis<br />

sind interaktive Informationsportale, die Inhalte zu Städten <strong>und</strong> Regionen sammeln<br />

<strong>und</strong> die Möglichkeit bieten, diese Inhalte partizipativ zu generieren. Durch<br />

die einbindung der Nutzer entsteht eine neue Form der Vernetzung sozialer<br />

Akteure, die unter dem Gesichtspunkt regionaler Identitätsstiftung untersucht<br />

werden kann. Die Analyse von Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis im Kontext dynamisierter<br />

<strong>und</strong> digitalisierter Regionalmanagementprozesse stellt daher eine notwendige<br />

einschätzung der Diffusionsbedingungen einer neuer Technologie dar.<br />

Die damit verb<strong>und</strong>enen Fragestellungen sind als Querschnittsthema zwischen<br />

Informatik (Entwicklungskontext) <strong>und</strong> <strong>Raum</strong>planung (Anwendungskontext) zu<br />

204


Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

verstehen. Sie berühren rechtliche Fragen (Informationsautonomie, Medienethik),<br />

sozio-kulturelle Aspekte (neue Formen der Herstellung kollektiver Identität)<br />

sowie letztlich auch politische Aspekte (Demokratisierungspotenzial durch<br />

partizipative Kommunikationsformen <strong>und</strong> Technologien). Gr<strong>und</strong>sätzliche Potenziale<br />

<strong>und</strong> Risiken werden methodisch <strong>und</strong> fallbezogen untersucht. Somit können<br />

entwicklungs- <strong>und</strong> Anwendungspotenziale (Partizipationsformen, Bewusstseinsprozesse)<br />

sowie Risiken (z.B. Partizipationshindernisse, Definitionsmonopole)<br />

proaktiv erkannt werden.<br />

Soziale Integration ist eine Basisherausforderung in kommunalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Handlungsfeldern. Räumliche Identifikationsprozesse sind ein zentrales<br />

element von <strong>Raum</strong>entwicklung. Im Spannungsfeld zwischen Regionalplanung<br />

<strong>und</strong> zielgruppenspezifischer Regionalentwicklung kann gegenwärtig das Zusammentreffen<br />

neuer technologischer entwicklungen (Web 2.0/Social Software)<br />

mit virulenten gesellschaftlichen Fragestellungen (Regionalisierungstendenzen)<br />

beobachtet werden. Hierbei kommen nicht nur netzbasierte Verwaltungsinstrumente<br />

(e-governance bzw. e-government) zum einsatz, sondern auch Systeme der<br />

medialen Repräsentation dieser Handlungsfelder.<br />

Der Einfluss kollaborativer Zusammenarbeit im Netz auf kollektive Sinnstiftung<br />

setzt immer häufiger auf einer regionalen Identifikationsarchitektur auf. Dies<br />

ist jedoch nicht nur Ausdruck dynamisierter Partizipationsräume, sondern wird<br />

ebenfalls durch soziale Unterschiede im Zugang <strong>und</strong> unterschiedliche Nutzerverhalten<br />

(e-readiness, digital divide) mit geprägt. Dass es hierbei zu folgenreichen<br />

Diffusionsprozessen/-zyklen kommt, kann gerade im Rahmen einer IuT unter<br />

Beweis gestellt werden. Das Web 2.0 <strong>und</strong> die dazugehörigen Regio-Wikis schaffen<br />

zwar neue Handlungspotenziale, diese müssen jedoch auch auf Risiken hin<br />

untersucht werden. Das Forschungsprojekt reagiert daher auf neue Formen der<br />

Konvergenz von Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Anwendungspraktiken. es erfüllt durch die Integration verschiedener<br />

Fachdisziplinen unter einer gegenstandsorientierten Fragestellung das<br />

Kernkriterium einer IuT, das der Interdisziplinarität <strong>und</strong> markiert zudem eine<br />

Forschungslücke. Die gr<strong>und</strong>legenden Voraussetzungen, Formen <strong>und</strong> Handlungsmöglichkeiten<br />

kollaborativer Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsmedien<br />

wurden bisher erst in Ansätzen erkannt. Die Diskussion dreht sich, nach Stephan<br />

(2006: 5) noch zu sehr um passive Funktionen der Anwendung neuer Techniken<br />

(technology push), statt deren entwicklung Richtung <strong>und</strong> Werte vorgeben zu können<br />

(culture pull).<br />

Das Projekt untersucht übergreifend den Einfluss von Regio-Wikis als Identitätsgeneratoren<br />

im Rahmen digitalisierter Regionalmanagementprozesse. Das<br />

inhaltliche Ziel besteht darin, eine durch die Methoden der Kultur- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

angeleitete <strong>und</strong> zugleich empirisch begründete Folgenabschätzung<br />

des einsatzes innovativer IT-Anwendungen in einem Untersuchungsfeld mit regionalwissenschaftlicher<br />

Relevanz vorzunehmen. Durch die Untersuchung von<br />

205


STeFAN SelKe<br />

Prozessen regionenspezifischer Identitätsstiftung wird der Einfluss neuer Technologien<br />

auf gesellschaftliche Subsysteme exemplarisch verdeutlicht. Das Projekt<br />

ermöglicht die gesellschaftskritische Begleitung dieser Innovationen <strong>und</strong> stellt<br />

notwendiges Korrektivwissen für technologische entwicklungen bereit.<br />

In pluralistischen Gesellschaften sind Sinngemeinschaften vermehrt auch künstliche<br />

Produkte. Daher wird hier danach gefragt, ob die partizipative Herstellung<br />

einer Informationsplattform eine Informationsgemeinschaft etabliert, die weitere<br />

soziale Mechanismen (Exklusivität, Definitionsmonopole, Google-Ranking usf.)<br />

indirekt zu einer dominanten Versinnbildlichung (symbolischen Repräsentation)<br />

einer Region <strong>und</strong> schließlich zu einem regionenbezogenem Bewusstsein führt.<br />

Das Forschungsprojekt stellt daher eine Akzeptanz- <strong>und</strong> Potenzialanalyse von<br />

Stadt- <strong>und</strong> Regio-Wikis zwischen Produktion <strong>und</strong> Nutzung neuer digitaler Medien<br />

in den Mittelpunkt. Untersucht wird der Einfluss von Regio-Wikis auf regionale<br />

Identifikationsprozesse. Der von Regio-Wikis erzeugte Informationsraum wird<br />

damit zu einem Identitätsraum (vgl. Abb. 1). Regio-Wikis sind dabei Beispiele<br />

für medieninduzierte <strong>und</strong> virtuelle Diskurse, wie sie für die Informations- <strong>und</strong><br />

Wissensgesellschaft typisch sind. eine Forschungslücke <strong>und</strong> damit ein Bedarf an<br />

empirisch f<strong>und</strong>ierte Analyse bestehen hinsichtlich des Potenzials sozialer Software<br />

als Identitätsgeneratoren im oben angesprochenen Sinne.<br />

3 Problembeschreibung <strong>und</strong> Fragestellungen für ein Forschungsprojekt<br />

Charakteristikum eines regionalen Systems ist seine fortlaufende, nicht prognostizierbare<br />

Änderung <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Anpassungsleistungen. eine<br />

Region konstituiert sich geradezu als Summe von Anpassungsleistungen auf soziale<br />

Wandlungsprozesse. Das Projekt greift eine derartige Schnittstelle heraus,<br />

die spezifische Anpassungsleistungen markiert: die Interdependenz zwischen<br />

technischem Fortschritt (Web 2.0) <strong>und</strong> gesellschaftlichen Bedürfnissen (mediale<br />

Symbolisierung von Regionen). Regionalwissenschaftliche Forschung untersucht<br />

u.a. den Konstruktionsprozess <strong>und</strong> die Funktionsweise regionaler Identität. Diese<br />

allgemeine Ausgangslage erhält im Rahmen des vorliegenden Projekts eine technikorientierte<br />

Veranschaulichung: Der einsatz von Social Software-Technologien<br />

wird in seiner Auswirkung auf Prozesse der Informationsaneignung <strong>und</strong> Herstellung<br />

regionaler Identität untersucht.<br />

Die Leitfrage des Forschungsprojekts lautet daher: Wie wirken sich die neuen<br />

Web 2.0-Technologien im Kontext digitalisierter <strong>und</strong> dynamisierter Regionalmanagementprozesse<br />

auf deren narrative Symbolisierungen <strong>und</strong> damit die Selbstdefinition<br />

von Regionen aus? Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Leitfrage ergeben sich<br />

folgende Analysefelder:<br />

206


• Prozesse der Technikdiffusion <strong>und</strong> Höhe der Technikakzeptanz;<br />

• Vernetzung von Regio-Wikis <strong>und</strong> Semantische Analyse von Wikis;<br />

• Wirkungsformen zwischen alltäglichen Regionalisierungen sozialer Akteure<br />

(„Regionalbewusstsein“) über der Selbstdefinition von Regionen („Regionale<br />

Identität“);<br />

• Mehrebenenanalyse: Vergleichende Analyse von 1. der kognitiven Ebene<br />

(Bewusstsein von Region, Unterscheidbarkeit zu anderen Regionen), 2. der<br />

affektiven ebene (Ausmaß der gefühlsmäßigen Bindung als Gr<strong>und</strong>lage für<br />

ein kollektives Bewusstsein, Abgrenzung zu anderen Formen von Identität)<br />

<strong>und</strong> 3. der instrumentellen ebene (Mobilisierungspotenzial regionaler Identität<br />

für kollektive Handlungen in Hinsicht auf politische, soziale <strong>und</strong> ökonomische<br />

Ziele);<br />

• Vergleich von Wissensformen zwischen medial <strong>und</strong> personengeb<strong>und</strong>en regionenspezifischen<br />

Inhalten;<br />

• Darstellung institutioneller Innovationshemmnisse bei der Implementation<br />

<strong>und</strong> Untersuchung normativer Machtverhältnisse <strong>und</strong> Konfliktanalyse<br />

4 Stand der Forschung – Von der Informationsplattform zur Sinngemeinschaft<br />

Das hier vorgeschlagene Projekt markiert die Schnittmenge dreier Forschungsfelder:<br />

1. Der Mediensoziologie/-wissenschaft, die nach den Bedingungen „verteilter<br />

Gesellschaftlichkeit“ in virtuellen Informationsräumen fragt; 2. dem Knowledge<br />

Media Design, einem interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem nach den<br />

Produktions- <strong>und</strong> Nutzungsbedingungen medial behandelbaren Wissens gefragt<br />

wird, <strong>und</strong> 3. der Regionalwissenschaft, die nach den Voraussetzungen regionaler<br />

Identitätsbildungsprozesse sucht. Die Interdependenz dieser drei Bereiche <strong>und</strong><br />

ihrer Überlappungen – Informationsräume, Identitätsräume <strong>und</strong> Partizipationsräume<br />

(vgl. Abb. 1) – wird im Folgenden skizziert.<br />

Stand der Forschung zu Knowledge Media Design (KMD)<br />

Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

Neue Wissensmedien wirken der denaturierenden Formalisierung menschlicher<br />

Bedürfnisse entgegen. Knowledge Media Design (KMD) ist eine noch neue Disziplin,<br />

in deren Umfeld interdisziplinär zu “Generierung, Vermittlung, Präsentation<br />

<strong>und</strong> Bewahrung von medial behandelbarem Wissen <strong>und</strong> Wissensmedien“<br />

(vgl. Stephan 2006: 1; Hervorhebung, d.V.) geforscht wird. Regio-Wikis können<br />

vor diesem Hintergr<strong>und</strong> exemplarisch als eine Form medial behandelbares Wissen<br />

betrachtet werden. eine der Forschungsachsen des KMD besteht in der Analyse<br />

von Nutzerbeteiligungen (vgl. Reiterer 2006; Hagebölling 2004). Bekannt<br />

207


STeFAN SelKe<br />

ist, das narrative <strong>und</strong> interaktive Dramaturgien im Kontext von Wissensmedien<br />

die Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Beteiligung des Nutzers erhöhen. Gerade das Beispiel<br />

der Regio-Wikis zeigt, dass Narrationen zwischen externen <strong>und</strong> internen Repräsentationen<br />

(in diesem Fall: kognitive Repräsentationen einer Region) vermitteln<br />

können (Nothnagel 2006: 99ff.). Die dabei entstehenden verteilten digitalen<br />

Informationsräume (Geelhaar 2006: 225) sind ohne weiteres im Rahmen eines<br />

erweiterten <strong>Raum</strong>sbegriffs (vgl. z.B. Schroer 2006) unter sozial- <strong>und</strong> regionalwissenschaftlicher<br />

Fragestellung zu analysieren. Hierbei geht es primär darum,<br />

zu fragen, wie durch kollektive Intelligenz in Experten-Communities (Bleimann/<br />

löw 2006: 36ff.) auch kollektive Identität hergestellt wird. Wie das Beispiel Stadt-<br />

<strong>und</strong> Regio-Wikis zeigt, reagieren lokale <strong>und</strong> regionale Experten aufeinander <strong>und</strong><br />

erzeugen so eine emergente Agenda mit regionalem Inhalt. Dabei gilt es zu untersuchen,<br />

welche Randbedingungen sich auf diese Form der „Schwarmintelligenz“<br />

förderlich oder hinderlich auswirken. Hierzu kann an aktuelle Ansätze zur<br />

erforschung kollektiver Intelligenz in mediatisierten Umgebungen angeknüpft<br />

werden (Bloom 1999; levy 1997) <strong>und</strong> gefragt werden, wie interaktive Produkte<br />

gestaltet, wahrgenommen, erlebt <strong>und</strong> bewertet werden (Hassenzahl 2006: 147ff.)<br />

<strong>und</strong> wie sich über Fragen des Usability-enineering <strong>und</strong> der jagd nach Informationen<br />

(Busmester 2006: 181) hinaus regionales Bewusstsein generieren lässt.<br />

Kurz: Welchen emergenten Sprung kann man von der Nutzung eines Regio-<br />

Wikis als Informationsplattform (Inszenierung von Informationen) zur Sinngemeinschaft<br />

(Integration von Identität) feststellen?<br />

Stand der Forschung zu Mediensoziologie<br />

Die Mediensoziologie der Wissensgesellschaft analysiert die ständig aufkommenden<br />

neuen Wissenspraktiken, deren gesellschaftliche Folgen (z.B. Kübler/<br />

elling 2004) <strong>und</strong> macht Wechselwirkung zwischen Technik <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

transparent. Bereits zu Beginn des Multi-Media-Booms wurde durch die Begriffsschöpfung<br />

„Sociomedia“ (Barrett 1994) auf die soziale Konstruiertheit von Wissen<br />

hingewiesen. Dies gilt insbesondere für die Herausbildung einer Netzkultur<br />

(vgl. Arns 2002; Faßler 2001), die keine Grenzen zwischen „Undergro<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Universität“ (Stephan 2006: 5) mehr kennt. In diesem deinstitutionalisierten<br />

Spannungsfeld bewegen sich heute die partizipativen Wiki-Nutzer. In der Wissensgesellschaft<br />

ist das zentrale Medium der Akquise <strong>und</strong> Integration von Wissen<br />

der (vernetzte) Computer. Durch diese Omnipräsenz digitaler Medien <strong>und</strong> deren<br />

dynamische entwicklung entsteht zunehmend medial vermitteltes Wissen (vgl.<br />

eibl et al. 2006). Wissensprozesse, d.h. sowohl Herstellung als auch Aneignung<br />

von Wissen, haben sich von materiell <strong>und</strong> territorial geprägten Wirtschaftsprozessen<br />

hin zu symbolisch <strong>und</strong> telemedial organisierten Kommunikationsprozessen<br />

gewandelt. Zu fragen ist dabei, ob dadurch neue emanzipatorisch wirksame Potenziale<br />

(vgl. Hartmann 2002) erschlossen werden können.<br />

208


Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

Internet <strong>und</strong> Identität: Identitätsbildende Prozesse von Individuen durch internetbasierte<br />

Kommunikation bzw. computervermittelte Kommunikation sind<br />

mittlerweile beinahe erschöpfend untersucht worden (z.B. aus sozialpsychologischer<br />

Perspektive Döring 2003; aus psychologischer Vitouch 2004; gr<strong>und</strong>legend<br />

Turkle 1999). Bisher ist dabei jedoch meist von Teilidentitäten, z.B. der Geschlechterordnung<br />

in virtuellen Parallelwelten (z.B. Dittmann 1998 <strong>und</strong> Neverla<br />

1998) die Rede. Herstellungsprozesse kollektiver Identität werden vor allem im<br />

Bereich der Untersuchung virtueller Gruppen als Form sozialer Systeme (vgl.<br />

Thiedecke 2003), der interkulturell vergleichenden Migrationsforschung (vgl.<br />

Breidenbach/Zukrigl 2003) oder im Diskurs um Transkulturalität (z.B. Hipfl<br />

2004) thematisiert. Die dabei untersuchten „Identitätsräume“ <strong>und</strong> medienvermittelten<br />

Gemeinschaften (z.B. Hipfl/Hug 2006) schieben aber immer wieder<br />

Vergemeinschaftungskategorien wie z.B. nationale Identität <strong>und</strong> körperbezogene<br />

Identität in den Vordergr<strong>und</strong>. Relativ neu ist der Diskurs um „Urbane Narrationen“<br />

im Bereich der stadtsoziologischen Forschung, der zeigt, dass Identitäten<br />

durch (gemeinsame) Erzählungen generiert <strong>und</strong> stabilisiert werden. Eine explizite<br />

Thematisierung regionaler Identitätsbildungsprozesse findet in den genannten<br />

Diskursen jedoch nicht statt.<br />

Demokratisierungspotenzial: Neben Identitätsprozessen greift die Kultur- <strong>und</strong><br />

Medienwissenschaft die Gründungsmythen des Internets auf <strong>und</strong> fragt nach deren<br />

Realisierungsgrad. Hierbei steht die Frage nach der vermeintlichen „Demokratisierung“<br />

des Internets im Vordergr<strong>und</strong>. Damit verb<strong>und</strong>ene Aspekte werden<br />

unter dem Begriff e-democracy (vgl. Buchstein 1996; Hoecker 2002; leggewie<br />

2004, 2003; Te Reh 2004; Rheingold 1996) behandelt. Das Demokratisierungspotenzial<br />

wird dabei allen Utopien zum Trotz immer stärker angezweifelt. So<br />

stellt die Untersuchung der „Google-Gesellschaft“ (vgl. Batelle 2006; Lehmann/<br />

Schetsche 2005; Vise/Malssed 2006) die digitale Wissensordnung im Bereich<br />

von ökonomie <strong>und</strong> Kultur gr<strong>und</strong>sätzlich unter Verdacht. Hieran schließen sich<br />

medienethische Fragestellungen nach dem Recht auf informationelle Selbstdarstellung<br />

oder zum Umgang mit Wissen in elektronischen Räumen (vgl. Kuhlen<br />

2004) an, die zwischen Illegalität <strong>und</strong> Illegitimität unterscheiden. Dass nicht alle<br />

BürgerInnen zugleich auch User sind, zeigen zahlreiche Untersuchungen zur<br />

digitalen Kluft (vgl. Bühl 2000; Castells 2002; Bonfandelli 2002; Kubicek 2004;<br />

Norris 2001), denen ständig aktualisierte empirische Bef<strong>und</strong>e (vgl. TNS-emnid<br />

2003; van eimeren/Frees 2005) zur Seite stehen.<br />

Humanisierung des Internets: Dennoch besteht ein zentraler Bef<strong>und</strong> mediensoziologischer<br />

Forschung darin, zu zeigen, dass Mediennutzer immer häufiger den<br />

„Bereich des Codes“ betreten. Bisher konnte die Nutzung von Computersystemen<br />

in weiten Bereichen nur als Zumutung begriffen werden, die darauf beruht,<br />

dass menschliche Bedürfnisse nur durch Denaturierung in das informationelle<br />

System integriert werden konnten. Software erzwingt maschinengerechte Formalisierungen,<br />

computerbasierte Handlungsräume werden aus Nutzersicht als<br />

209


STeFAN SelKe<br />

mehr oder weniger vorstrukturiert empf<strong>und</strong>en. Ganz anders wird das Web 2.0 erlebt.<br />

jeder User wird unter den Bedingungen partizipativer Wissensprozesse zum<br />

Wissensunternehmer in eigener Sache, der versucht, möglichst effizient Wissen<br />

zu generieren <strong>und</strong> innerhalb einer fachlichen community soziale Anerkennung<br />

zu erhalten. Daher kann man ohne Übertreibung von einer „Humanisierung des<br />

Internets“ sprechen.<br />

Social Software <strong>und</strong> WIKIs: Gegenwärtige IT-entwicklungen, die unter den Begriffen<br />

„Web 2.0“ oder „Social Software“ (zur Übersicht Hildebrand 2006) zusammengefasst<br />

werden, kommen einem Paradigmenwechsel gleich. Dieser<br />

betrifft im Kern die Art <strong>und</strong> Weise, wie netzbasiert Inhalte produziert <strong>und</strong> konsumiert<br />

werden. Statische Webseiten werden zunehmend durch interaktive Wikis<br />

ersetzt, bei denen die leser selbst auch zu Produzenten werden <strong>und</strong> die Inhalte<br />

einer Webseite verändern können, indem sie eigenständig Informationen hinzufügen.<br />

Die Konsumenten partizipieren also an der Herstellung <strong>und</strong> Darstellung<br />

der Inhalte. Die Rollen von Produzent <strong>und</strong> Rezipient lösen sich auf, völlig neue<br />

Wissenswelten aber auch Identifikationsflächen entstehen. Aus dem passiven<br />

end-User wird der partizipative Nutzer (leuf 2001; Streif 2006), der informiert<br />

<strong>und</strong> freiwillig Inhalte zusammenträgt <strong>und</strong> in das jeweilige thematisch umgrenzte<br />

Wiki einstellt. Die “heimliche Medienrevolution” (Möller 2006) besteht darin,<br />

dass die meisten Wikis das Editieren von Text ohne vorherige Anmeldung <strong>und</strong><br />

ohne Kenntnisse von HTMl erlauben. Somit entsteht ein gewaltiges Potenzial<br />

kollaborativer Medien. Der größte Vorteil von Wikis besteht in ihrer Aktualität<br />

<strong>und</strong> Multimedialität. Probleme auf technischer <strong>und</strong> inhaltlicher ebene beziehen<br />

sich auf die Relevanz <strong>und</strong> Neutralität von Informationen. „Edit-Kriege“ verdeutlichen,<br />

dass gerade in selbstorganisierenden Gemeinschaften Deutungshoheiten<br />

angestrebt <strong>und</strong> mit allen technischen Mitteln realisiert werden. Die sich schon<br />

jetzt abzeichnenden Weiterentwicklungen, Vertrauensnetze („Web of Trust“) <strong>und</strong><br />

Peer-to-Peer-Technologien versuchen, genau an dieser Stelle anzusetzen.<br />

Wikis existieren nicht nur in der Form der freien Enzyklopädie Wikipedia. Im<br />

hier vorgestellten Forschungsprojekt werden sog. Regio-Wikis untersucht, d.h.<br />

Wikis mit thematischer Spezialisierung auf raumbezogene Informationen. Diese<br />

können sich lokal auf eine Stadt oder einen Stadtteil beziehen (Stadt-Wikis)<br />

oder auf der mittleren Maßstabsebene eine ganze Region in den Blick nehmen<br />

(Regio-Wikis). Regio-Wikis ergänzen die allgemeinen Informationen enzyklopädischer<br />

Projekte. Das Stadtwiki Karlsruhe (http://ka.stadtwiki.net) ist das größte,<br />

freie Stadt-Wiki der Welt. es versteht sich als Informationsportal für die Stadt<br />

Karlsruhe <strong>und</strong> ihre Umgebung (landkreis Karlsruhe). Das Stadtwiki Karlsruhe<br />

enthält Informationen zu allen Themen, die einen Bezug zu Karlsruhe haben,<br />

es informiert detailliert <strong>und</strong> vernetzt zu Geographie, Natur, Geschichte, Politik,<br />

Religion, <strong>Bild</strong>ung, Kultur, Soziales, Sport, Wirtschaft <strong>und</strong> Verkehr. ein Beispiel<br />

für ein Regio-Wikis ist das Wiki zur Metropolregion Rhein-Neckar (http://wiki.<br />

rhein-neckar.de).<br />

210


In der Literatur zu Wikis finden sich entweder Übersichtsdarstellungen zum<br />

Oberbegriff Social Software (vgl. z.B. Szugat 2006) oder zum Web 2.0 oder Abrisse<br />

technischer Aspekte der kollaborativen Zusammenarbeit im Netz (vgl. Klobas<br />

2006; Alby 2007). Soziale Aspekte finden nur selten Eingang <strong>und</strong> sind meist<br />

auf die Funktion der „Rückeroberung des Netzes“ durch Weblogs (Eigner/Leitner/Nausner<br />

2003) beschränkt. Auf internationaler ebene beschäftigen sich zum<br />

Thema „Soziale Implikationen des Web 2.0 z.B. die Forschungsgruppe „Community<br />

Lab“ (http://www.communitylab.org), eine Gruppe von Forschern diverser<br />

Universitäten mit der Frage, unter welchen sozialpsychologischen Bedingungen<br />

mit Hilfe von Onlinemedien lokale Vergemeinschaftungsprozesse („Computer<br />

Supported Cooperative Work“) stimuliert werden können (Butler et al. 2002; Beenen<br />

et al. 2004). An der University of Michigan School of Information fragt man<br />

sich im Forschungbereich “Information use in communities”, wie die Schnittstelle<br />

zwischen Humankapital <strong>und</strong> Computer in Zukunft gestaltet werden muss.<br />

Dafür wurde die Wortschöpfung „SocioTechnical Capital“ (Resnick 2002) eingeführt.<br />

Stand der Forschung zu regionaler Identität<br />

Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

Räume sind „Territorien des Selbst“ (Goffman). Der <strong>Raum</strong>bezug sozialen Handelns<br />

<strong>und</strong> die Stabilisierung räumlicher Sinnordnungen werden sowohl in der Sozialgeographie<br />

(vgl. Werlen 2004) als auch in der Wissenssoziologie (vgl. Berger<br />

1995) diskutiert. Räume sind für beide Disziplinen soziale Konstrukte mit einer<br />

Sinnstruktur, d.h. Projektionsflächen für territoriale, juristische, ökonomische,<br />

technische, touristische oder eben auch identitätsstiftende Prozesse. <strong>Raum</strong>, Region<br />

<strong>und</strong> Identität bilden eine unauflösbare handlungsleitende Triade. Gr<strong>und</strong>lage<br />

der interdisziplinären Forschung zu regionaler Identität ist die Neujustierung des<br />

<strong>Raum</strong>begriffs (vgl. Kaufmann 2005) als handlungsbezogene Sinnordnung: Was<br />

im <strong>Raum</strong> geschieht hat damit eine andere Qualität als das, was in einer als Region<br />

attribuierten <strong>Raum</strong> geschieht. Letzteres macht Personen, Objekte, Situationen<br />

<strong>und</strong> Orte zu sinnvollen elementen einer wieder erkennbaren Ordnung, die nicht<br />

nur in einer positionalen Relation zueinander stehen.<br />

Regionen können als heuristisches Schlüsselkonzept verstanden werden. Sie gewinnen<br />

als maßstäblich zu verstehender Gegenpol zur globalen Welt des Wissens<br />

<strong>und</strong> der ökonomie zunehmend an Bedeutung (z.B. Hanika/Wagner 2004). Auch<br />

Regionen sind Konstrukte <strong>und</strong> daher nicht selbstevident: Selbst wenn die Wechselwirkung<br />

zwischen Akteuren, Handeln <strong>und</strong> Region scheinbar selbstverständlich<br />

ist, liegt dem dennoch ein Konstruktionscharakter zu Gr<strong>und</strong>e. erst durch die<br />

Beschreibungen von Regionen <strong>und</strong> erzählungen über Regionen (Narrationen)<br />

sowie das Vorhandensein symbolischer Repräsentationen entsteht eine neue<br />

Form sozialer Wirklichkeit.<br />

„Regionale Identität“ ist eine Abstraktion, die zum Verständnis von Prozessen<br />

zwischen sozialen Akteuren <strong>und</strong> Institutionalisierungsprozessen herangezogen<br />

211


STeFAN SelKe<br />

werden kann (Paasi 2001). Trotz des umfangreichen eingangs in die Forschung<br />

ist der Begriff jedoch nicht eindeutig abgegrenzt. So werden z.B. die Bezeichnungen<br />

Regionalbewusstsein, Regionalkultur oder regionale Mentalität synonym<br />

benutzt. Insgesamt hat der Begriff „Regionale Identität“ meist eine positive Konnotation,<br />

denn er suggeriert ein integratives Moment der Vergemeinschaftung.<br />

Die „Wiederkehr des Regionalen“ (Lindner 1994) wird seit gut einer Dekade gefeiert.<br />

Verb<strong>und</strong>en ist damit ist auch die Frage nach den Möglichkeiten „neuer“<br />

Formen regionaler Identität. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie durch<br />

Identitätsnarrationen konkrete Manifestationen von Regionen entstehen.<br />

Regionale Identität wurde bisher anhand verschiedener Beispielregionen untersucht.<br />

Neben den gr<strong>und</strong>legenden Analysen von Paasi (1986, 2002) zur Identität<br />

finnischer Regionen finden sich z.B. Studien zur westfälischen Identität (Küster<br />

2002; Pfau 2002) oder zur raumbezogene Identität als „Entwicklungsfaktor“<br />

für den ländlichen <strong>Raum</strong>. Regionale Identität wird auch als Gr<strong>und</strong>lage für Naturschutz<br />

<strong>und</strong> ökologische <strong>Raum</strong>planung <strong>und</strong> -entwicklung erachtet. Für den<br />

zweiten Prozessschritt, die symbolische Repräsentation, finden sich Studien zur<br />

Visualisierung der Regionen Westfalen (Tippach 2002) oder Sachsen (Marquardt<br />

2005).<br />

Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 417 „Regionale Identität“ wurde<br />

die Region Sachsen <strong>und</strong> die mit ihr verb<strong>und</strong>enen Prozesse des region making<br />

interdisziplinär erforscht. Regionenspezifische Identifikationsprozesse, die zum<br />

Aufbau regionenspezifischer Sinnordnungen beitragen, standen dabei im Mittelpunkt.<br />

Explizit werden darunter auch Aspekte des „Mit-tun-Wollens“ verstanden.<br />

Gerade dieses partizpative element wird im hier vorgeschlagenen Forschungsvorhaben<br />

betont. Damit wird der Fokus von der hauptsächlich auf kollektive<br />

Imaginationen ausgerichteten Sichtweise auf regionale Identifikationsprozesse<br />

zugunsten einer aktionalen Sichtweise verschoben. Zudem wird als das Medium<br />

der Aktion das Netz analysiert: Das partizipative element besteht in der gemeinsamen<br />

Nutzung von Regio-Wikis. Anknüpfend an den SFB kann dann weiter gefragt<br />

werden, ob sich Regio-Wikis als Identitätsgeneratoren dazu eignen, „Loyalitätsbeziehungen“<br />

aufzubauen bzw. „Sinngemeinschaften“ herzustellen, die zu<br />

einer „Persistenz des Regionalen“ beitragen. Auch wenn die im Rahmen des SFB<br />

vorgelegten ergebnisse sich in vielfacher Hinsicht als hilfreich erweisen, wird<br />

hier eine andere als die regionalgeschichtliche Perspektive eingenommen, indem<br />

auf eine vergleichende Untersuchung medieninduzierter Herstellungsprozesse<br />

regionaler Identität abgezielt wird. Die im SFB angesprochene „Architektur“ regionenbezogener<br />

Identifikationsprozesse, die von „vermittelnden Institutionen“<br />

hergestellt wird, kann also wörtlich genommen werden: Auch Webseiten bzw.<br />

Regio-Wikis haben einen Informationsarchitektur, aus der sich Sinnordnungen<br />

ergeben (können).<br />

Dass die Informationsarchitekturen, die durch Medien etabliert werden, zu<br />

neuen Sinnstiftungen führen, ist im Rahmen medienwissenschaftlicher Un-<br />

212


tersuchungen vielfach belegt worden. Medien sind sowohl Konstrukteure von<br />

Informations- als auch von Identitätsräumen. Gerade Studien zur Herstellung<br />

„transnationaler Identität“ (Hipfl 2004) zeigen, dass durch die Nutzung netzbasierter<br />

Medien neue Formen individueller <strong>und</strong> kollektiver Identität entstehen<br />

können. Im vorliegenden Projekt wird genau diese Perspektive betont. <strong>Raum</strong>bezogene<br />

Identität entsteht als Folge informationsred<strong>und</strong>anter Bedingungen, indem<br />

Identitätsnarrationen mittels verschiedenster Medien distribuiert werden.<br />

Sie entsteht aber auch als Folge homogener Konsensbeziehungen durch die „demokratische“<br />

Einigung auf wissenswerte bzw. darstellungswerte Inhalte, die in<br />

Form medial behandelbarem Wissen im Rahmen von Regio-Wikis zu neuartigen<br />

Prägnanzbildungsprozessen führen.<br />

Forschungskonturierende Schnittstellen<br />

Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

Zusammenfassend sollen kurz die drei Schnittstellen, die sich zwischen den<br />

Perspektiven der Mediensoziologie, des Knowledge Media Design <strong>und</strong> der Regionalwissenschaft<br />

ergeben dargestellt werden. Die folgende Übersichtsgrafik<br />

verdeutlicht interdisziplinäre Zusammenhänge, thematische Schnittstellen <strong>und</strong><br />

inhaltliche Foki des Projekts.<br />

Abb. 1: Identifikation von Schnittstellen für das Forschungsprojekt „Netzbasierte Narrationen“<br />

213


STeFAN SelKe<br />

Informationsräume: In der Wissensgesellschaft spannen netzbasierte IuK-Technologien<br />

neue Sphären der Informationsverteilung auf. Wissen wird zunehmend<br />

medial vermittelt. Auch Wissen über den lokalen <strong>und</strong> regionalen <strong>Raum</strong> wird nicht<br />

erfahrungsgesättigt gewonnen, sondern medial vermittelt konsumiert.<br />

Identitätsräume: In „Multioptionsgesellschaften“ finden unter der Bedingung der<br />

Kolonialisierung von lebenswelt <strong>und</strong> der Pluralisierung von lebensformen Vergemeinschaftungsprozesse<br />

verstärkt in multiplen Identitfikationsräumen statt.<br />

Alte <strong>und</strong> neue Medien wirken dabei als Identitätsgeneratoren. Auch Regionalbewusstsein<br />

<strong>und</strong> regionale Identität werden zunehmend medial vermittelt.<br />

Partizipationsräume: Gr<strong>und</strong>lage der medialen Vermittlung regionaler Identität<br />

sind sinnstiftende Narrationen <strong>und</strong> kollaborative Arbeitsformen im Netz. Hiermit<br />

werden neue Partizipationsräume aufgespannt, deren Wirkung <strong>und</strong> Potenzial<br />

weit über bisherige regionale Prägnanzbildungs- <strong>und</strong> Managementprozesse<br />

hinaus.<br />

literatur<br />

AlBY, T. (2007): Web 2.0 Konzepte, Anwendungen, Technologien. München.<br />

AlBReCHTS, l./MANDelBAUM, S. j. (2005): The Network Society. A New Context<br />

for Planning? London.<br />

BeRGeR, P. A. (1995): Anwesenheit <strong>und</strong> Abwesenheit. <strong>Raum</strong>bezüge sozialen<br />

Handelns. In: Berliner journal für Soziologie, 1, 99-111.<br />

BleIMANN, U./löW , R. (2006): Das Knowledge Broker Network. In: eibl et.<br />

al. (Hg.), 331-340.<br />

eIBl, M./ReITeReR, H./STePHAN, P. F./THIeSSeN, F. (2006) (Hg.): Knowledge<br />

Media Design. Theorie, Methodik, Praxis. München.<br />

FeTZNeR, D./SelKe,S. (2005) (Hg.): Selling Politics. <strong>Bild</strong>inhalte <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>wirkung<br />

der agenda 2010-Kampagne. <strong>Furtwangen</strong>.<br />

HIlDeBRAND, K./HOFMANN, j. (2006): Social Software. Heidelberg.<br />

HIPFl, B. (2004) (Hg.): Identitätsräume. Nation, Körper <strong>und</strong> Geschlecht in den<br />

Medien. eine Topgraphie. Bielefeld.<br />

HIPFl, B. (2004): Medien als Konstrukteure (trans-)nationaler Identitätsräume.<br />

In: dies. (Hg.), 53-59.<br />

HIPFl, B./HUG, S. (2006) (Hg.): Media Communities. Münster.<br />

KlOBAS, j. (2006): Wikis. Tools for Information Work and Collaboration. Oxford.<br />

214


KÜBleR, H.-D./ellING, e. (2004): Wissensgesellschaft. Neue Medien <strong>und</strong> ihre<br />

Konsequenzen. Bonn.<br />

KUHleN, R. (2004): Informationsethik. Umgang mit Wissen <strong>und</strong> Informationen<br />

in elektronischen Räumen. Konstanz.<br />

lINDNeR, R. (1994): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller<br />

Identität. Frankfurt a. M.<br />

MARQUARDT, e. (2005): Viseotype <strong>und</strong> Stereotype. Prägnanzbildungsprozesse<br />

bei der Konstruktion von Region in <strong>Bild</strong> <strong>und</strong> Text. Köln.<br />

MölleR, e. (2006): Die heimliche Medienrevolution. Wie Weblog, Wikis <strong>und</strong><br />

freie Software die Welt verändern. Hannover.<br />

PAASI, A. (1986): The Institutionalization of Regions. A Theoretical Framework<br />

for Understanding the emergence of Regions and the Constitutions of Regional<br />

Identity. In: Fennia, 164, 105-146.<br />

PAASI, A. (2001): Bo<strong>und</strong>ed Spaces in the Mobile World. Deconstructing “Regional<br />

Identity”. In: Tijdschrift voor economische en social geografie, 93, 137-<br />

148.<br />

PAASI, A. (2003): Region and Place: regional Identity in Question. In: Progress in<br />

Human Geography, 475-486.<br />

SCHROeR, M. (2006): Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie<br />

des <strong>Raum</strong>es. Frankfurt a. M.<br />

SELKE [ERSCHIENEN UNTER GUSCHKER], S. (2002): <strong>Bild</strong>erwelt <strong>und</strong> lebenswirklichkeit.<br />

eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die<br />

Sinnhaftigkeit des eigenen lebens. Frankfurt a. M.<br />

SelKe, S. (2005a): Symbolische Politik oder Politik als Ware? Netzbasierte <strong>Bild</strong>wirkungsanalyse<br />

der Agenda 2010-Kampagne durch virtuelle Gruppendiskussionen.<br />

In: Fetzner/Selke (2005) (Hg.), 125-174.<br />

SelKe, S. (2005b): Von der Formstruktur zum sozialen Sinngehalt. Anwendung<br />

<strong>und</strong> kritische Würdigung der dokumentarischen Interpretation als Beispiel<br />

rekonstruktiver Sozialforschung. In: Fetzner/Selke (2005) (Hg.), 9-25.<br />

SelKe, S. (2007): Das Soziale an Software. Rekonstruktion impliziter Gesellschaftsmodelle<br />

bei der entwicklung des Computerspiels MyTown. In: Bevc, T.<br />

(Hg.), Computerspiele <strong>und</strong> Gesellschaftsentwürfe. Münster. In Vorbereitung.<br />

STePHAN, P. F. (2006): Knowledge Media Design – Konturen eines aufstrebenden<br />

Forschungs- <strong>und</strong> Praxisfeldes. In: Eibl et al., 1-42.<br />

STReIF, A. (2006): Wiki – Zusammenarbeit im Netz. Norderstedt.<br />

WeRleN, B. (2004): Sozialgeographie. München.<br />

Netzbasierte Narrationen regionaler Identität<br />

215


III. Studentische Abschlussarbeiten


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum<br />

Pretesting von Messeständen im Rahmen von erlebnismarketing<br />

1 Inhalt der Arbeit<br />

Im Rahmen der Diplomarbeit „Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen zum<br />

Pretesting von Messeständen im Rahmen des Erlebnismarketing“ wurde zunächst<br />

erörtert, wie ein Unternehmen den Besucher eines Messestandes im Rahmen<br />

einer Erlebnisstrategie emotional beeinflussen kann <strong>und</strong> welche Auswirkungen<br />

dies auf das Verhalten des Besuchers hat. Daraufhin wurden Methoden untersucht,<br />

ob <strong>und</strong> wie die ausgelöste emotionale Wirkung kontrolliert <strong>und</strong> gemessen<br />

werden kann. Anschließend wurde ein Blick auf die technische Herstellung einer<br />

passenden virtuellen Umgebung geworfen. Dabei kamen aktuelle Methoden <strong>und</strong><br />

Werkzeuge zur Erstellung derartig komplexer Computergrafiken zum Einsatz.<br />

Abschließend wurde der Aufwand des Verfahrens aufgezeigt <strong>und</strong> ein Vergleich<br />

mit alternativen Verfahren vorgenommen.<br />

Ziel der Arbeit war es, geeignete Verfahren zur Messung von emotionen, die von<br />

Messeständen ausgelöst wurden, im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit sowohl<br />

beim realen als auch beim virtuellen Messestand, zu untersuchen. Damit sollte<br />

eine Gr<strong>und</strong>lage zur entwicklung eines ganzheitlichen Messansatzes der emotio-<br />

219


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

nalen Wirkung von Messeständen mit virtuellen Umgebungen geschaffen werden.<br />

2 Fragestellung<br />

Wie lässt sich eine emotionale Wirkung bei Messeständen im Rahmen einer erlebnisstrategie<br />

erreichen <strong>und</strong> wie kann diese schon vor einem teuren <strong>und</strong> aufwendigen<br />

Aufbau, mit einer virtuellen Testumgebung gemessen werden? Wie<br />

hoch ist der Aufwand einer entsprechenden virtuellen Umgebung <strong>und</strong> welche<br />

Vorteile ergeben sich im Vergleich zu alternativen Verfahren?<br />

3 Vorgehensweise<br />

Nachdem einleitend die Gr<strong>und</strong>lagen des erlebnismarketing geklärt wurden,<br />

konnte darauf eingegangen werden, welche Beeinflussungsmöglichkeiten sich<br />

aus emotions-, umwelt- <strong>und</strong> sozialpsychologischer Sicht bieten <strong>und</strong> wie diese<br />

erkenntnisse in der Konzeption <strong>und</strong> Gestaltung eines Messestandes umgesetzt<br />

werden. Daraufhin wurde überprüft, ob die Gestaltungsmerkmale auch auf die<br />

virtuelle Testumgebung übertragbar sind <strong>und</strong> welche einschränkungen sich ggf.<br />

ergeben.<br />

Danach wurden Meßmethoden vorgestellt, die die ausgelösten emotionen erfassen<br />

sollen <strong>und</strong> auf ihre Anwendbarkeit, sowohl für den realen Messestand als<br />

auch für die virtuelle Testumgebung, untersucht. Die Aufbereitung der Ausgangsdaten<br />

sowie die erstellung der virtuellen Umgebung wurden zum Teil sehr ausführlich<br />

behandelt, um lösungen für gängige Probleme zu erörtern. Dies schloss<br />

auch eine laufweganalyse mit ein. Die anschließende Analyse des Aufwands <strong>und</strong><br />

die Bestimmung des Anwendungspotenzials zeigten, neben den Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Risiken, zukünftige Forschungsfelder <strong>und</strong> Anwendungsmöglichkeiten.<br />

4 Darstellung der Inhalte<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des erlebnismarketing<br />

Das erlebnismarketing ist eine sog. Differenzierungsstrategie, bei der es um<br />

sinnliche Konsumerlebnisse geht, „die in der Gefühlswelt der Konsumenten verankert<br />

sind <strong>und</strong> ihre Werte, Lebensstile <strong>und</strong> Einstellung beeinflussen“(Weinberg<br />

1992: 3). es geht um Strategien, die den Konsum von Produkten, Dienstleistungen<br />

oder Marken zu einem persönlichen erlebnis werden lassen, wobei sich<br />

die vermittelten Erlebnisse nach der Lebensqualität des Konsumenten <strong>und</strong> speziell<br />

der jeweiligen Zielgruppe richten (a.a.O.). Dabei sollen durch eine erlebnis-<br />

220


etonte Kommunikation emotionen <strong>und</strong> Triebe aktiviert oder verstärkt werden.<br />

Das umworbene Produkt <strong>und</strong> die damit vermittelten erlebnisse tragen dann zur<br />

Realisierung der geweckten Triebe <strong>und</strong> Gefühle bei (Thiemer 2004: 165). Den<br />

emotionalen Wert, den das Produkt dadurch bekommt, nennt man emotionalen<br />

Erlebniswert. Darunter versteht man „den subjektiv erlebten, durch die Kommunikation<br />

oder das Produkt oder die einkaufsstätte vermittelten Beitrag zur lebensqualität<br />

des Konsumenten“ (Weinberg 1992: 3).<br />

Das erlebnismarketing versucht, die Kognitionen des Konsumenten über seine<br />

emotionen zu erreichen, d. h. das Verhalten des Konsumenten soll über seine<br />

Gefühle beeinflusst werden. Dabei kommt es darauf an, „die ‚richtigen’ Emotionen<br />

anzusprechen bzw. auszulösen, die zur gewünschten leistungsbeurteilung<br />

führen“ (a.a.O.). Zur emotionalen Beeinflussung bei Messeständen bieten sich<br />

verschiedene erklärungsansätze aus unterschiedlichen Disziplinen an.<br />

Beeinflussungsmöglichkeiten bei Messeständen<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />

Die emotionspsychologie setzt auf eine multisensuale Ansprache des Besuchers.<br />

Diese bietet die Möglichkeit, „mehrere modalspezifisch ausgelöste Einzelerlebnisse<br />

zu einem Gesamterlebnis zu kombinieren“ (Kroeber-Riel/Weinberg 2003:<br />

123). Die visuelle Informationsvermittlung hat dabei die größte Bedeutung <strong>und</strong><br />

möchte man den Besucher eines Messestandes emotional ansprechen <strong>und</strong> ihn,<br />

ohne den Umweg über seine Kognitionen, erreichen, „kommt der visuellen Kommunikation<br />

eine dominante Bedeutung zu“ (a.a.O.) <strong>und</strong> die visuelle Umsetzung<br />

eines erlebniskonzeptes trägt entscheidend zur Wirkung bei.<br />

Unterstützend dazu bieten sich auch Reize an, die die übrigen Sinne des Besuchers<br />

ansprechen, also auditive, haptische, olfaktorische <strong>und</strong> gustatorische Reize.<br />

Stimmt man die eingesetzten Reize nicht richtig aufeinander ab oder vernachlässigt<br />

einzelne Reizmodalitäten grob, muss man mit erheblichen Wirkungsverlusten<br />

rechnen (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 123). Im Idealfall gilt: „Je sinnlicher<br />

ein Erlebnis, desto besser wird es sich einprägen.“ (Pine/Gilmore 2000: 92)<br />

Weitere erkenntnisse für die emotionale Wirkung bei Messeständen kommen aus<br />

der Umweltpsychologie, denn auch die Umwelt beeinflusst das Verhalten über<br />

emotionale Reaktionen (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 428). Das bekannteste<br />

emotionspsychologische Modell, dass Auskunft über die Umwelt – Mensch – Beziehung<br />

gibt, stammt von Mehrabian <strong>und</strong> Russel. Für sie löst eine bestimmte Umgebung<br />

bei einem Menschen auch immer gewisse emotionale Reaktionen aus,<br />

die den Menschen insofern beeinflussen, dass er sich den Umgebungen mehr<br />

oder weniger nähert oder sie meidet (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 428). eine<br />

emotionale Beeinflussung kann dabei über eine ganzheitliche Inszenierung <strong>und</strong><br />

dramaturgische Gestaltung stattfinden. „Inszenierung ist die prototypische Methode<br />

der Kommunikation, wenn es darum geht, erkenntnisse <strong>und</strong> Botschaften<br />

zu vermitteln, Zustimmung zu erhalten, emotionen zu wecken, Sympathie zu<br />

221


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

gewinnen, Wohlbefinden zu erreichen, eine angenehme Unterhaltung zu bieten<br />

<strong>und</strong> Verführung zu erzeugen“ (Thiemer 2004: 196). Einzigartigkeit (Nickel 1998:<br />

137) <strong>und</strong> ein guter <strong>und</strong> themengeb<strong>und</strong>ener Spannungsaufbau sind die Gr<strong>und</strong>lage<br />

für den erfolg (Mik<strong>und</strong>a 1996: 66).<br />

Die Sozialpsychologie beschreibt die emotionale Wirkung des sozialen <strong>Raum</strong>es<br />

<strong>und</strong> den interpersonellen Kommunikationsprozess, denn in seiner Existenz als<br />

soziales Wesen ist der Mensch sowohl Initiator <strong>und</strong> gleichzeitig Produkt eines<br />

fortlaufenden Kommunikationsprozesses (Fischer/Wiswede 2002: 309). Am<br />

Messestand sollte daher eine dialogische Kommunikation stattfinden, da diese<br />

langfristiger <strong>und</strong> einstellungswirksamer als beispielsweise Werbemaßnahmen<br />

bei Massenkommunikation sind (Nickel 1998: 144 <strong>und</strong> Thiemer 2004: 201). Für<br />

die <strong>Interaktion</strong> zwischen Besucher <strong>und</strong> Unternehmen bedeutet dies vor allem die<br />

gezielte erlebnisvermittlung durch das Messestandpersonal. Der Verkäufer kann<br />

hierbei als Kommunikator dienen, mit dem Ziel, den Besucher zu beeinflussen<br />

<strong>und</strong> ihn letztendlich in seiner einstellung zu verstärken oder sie zu ändern <strong>und</strong><br />

ihn dadurch zum Kauf zu bewegen (Weinberg 1992: 102). Zudem sollte immer<br />

die Kommunikation zwischen den Besuchern gefördert werden, denn ein Besuch<br />

eines Messestandes <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Übernahme einer bestimmten<br />

Rolle (z.B. aktionsorientierte Rollen) eröffnen die Möglichkeit einer sozialen<br />

Identität innerhalb einer Gruppe von Gleichgesinnten, wodurch die entwicklung<br />

eines klassischen Gefühls von Gemeinschaft entstehen kann (Thiemer 2004:<br />

205). Dies könnte neben der richtigen Dramaturgie <strong>und</strong> Regie (Zanger/Sistenich<br />

1998: 58) auch beispielsweise durch Sitz- <strong>und</strong> Ausruhgelegenheiten umgesetzt<br />

werden.<br />

Wie dargestellt bieten sich bei Messeständen vielerlei Möglichkeiten, den Besucher<br />

emotional zu beeinflussen. Die Beeinflussung ist dabei ein sehr komplexer<br />

Vorgang, auf den vielerlei Faktoren Einfluss haben. Durch die virtuelle Testumgebung,<br />

mit der diese Beeinflussung kontrolliert <strong>und</strong> gemessen werden soll, ergeben<br />

sich allerdings einige einschränkungen, die die emotionale Wirkung beeinträchtigen<br />

können:<br />

Abb. 2: Aufbau der Testumgebung<br />

222


Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />

An der Grafik lässt sich erkennen, dass die virtuelle Umgebung derzeit noch nicht<br />

alle, für eine emotionale Ansprache, relevanten Merkmale darstellen kann. Besonders<br />

das Fehlen der sozialen Komponenten ist ein großes Manko. Den visuellen<br />

Reizen, die sehr gut darstellbar sind, kommt bei der erlebnisvermittlung<br />

allerdings eine besondere Bedeutung zu. Sie haben, richtig eingesetzt, eine hohe<br />

emotionale Wirkung <strong>und</strong> Einfluss auf Aktivierung, Atmosphäre <strong>und</strong> Einstellung.<br />

Zudem sind visuelle Reize in der Lage, sowohl spezifische, als auch unspezifische<br />

erlebnisse zu transportieren.<br />

Auch Dramaturgie <strong>und</strong> Inszenierung können gut simuliert werden, da die Testpersonen<br />

sich im virtuellen Messestand frei bewegen können, ähnlich wie beim<br />

realen Messestand. Sie haben vor allem Einfluss auf den Spannungsverlauf, die<br />

Atmosphäre <strong>und</strong> die Stimmung.<br />

Diese drei Komponenten sind in der Ve also gut bis sehr gut darstellbar <strong>und</strong> es<br />

wird davon ausgegangen, dass dies (wenn auch unter Verlusten) trotz der fehlenden<br />

Komponenten ausreicht, den Besucher emotional anzusprechen. Die<br />

Möglichkeiten einer realitätsnahen, emotionalen Ansprache scheinen also, wenn<br />

auch eingeschränkt, gegeben. Bisher ist allerdings noch ungeklärt, inwiefern die<br />

Wirkung eines virtuellen Messestandes mit der seines realen Pendants übereinstimmt.<br />

Um dies kontrollieren zu können, sind Methoden nötig, die eine erfassung<br />

der ausgelösten emotionen am virtuellen Messestand <strong>und</strong> am realen Messestand<br />

ermöglichen, um spätere Vergleichtests zu gewährleisten.<br />

emotionsmessung im Rahmen des erlebnismarketing<br />

Bei den untersuchten Messmethoden handelt es sich um eine Auswahl von Verfahren,<br />

die auch in der bisherigen Konsumentenforschung angewendet werden<br />

<strong>und</strong> auf den Komponenten (Dimensionen) von emotionen beruhen, die allen<br />

Gefühlen gemeinsam sind (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 105). Nach verbreiteter<br />

Auffassung sind dies (a.a.O.: 106):<br />

1. erregung/Aktivierung;<br />

2. Richtung (angenehm oder unangenehm);<br />

3. Qualität (erlebnisinhalt);<br />

4. Bewusstsein.<br />

Zur erfassung der emotionsdimensionen bieten sich Messungen auf einer physiologischen,<br />

motorischen <strong>und</strong> subjektiven Erlebnisebene an (a.a.O.: 63). Verfahren<br />

auf physiologischer ebene, d.h. die erfassung elektrophysischer Indikatoren, wie<br />

beispielsweise die Messung elektrodermaler Reaktionen, (Groeppel-Klein 2004:<br />

48) während der Darbietung, sind meist apparativ <strong>und</strong> daher recht aufwendig,<br />

scheinen aber relativ aussagekräftig <strong>und</strong> valide (Kroeber-Riel/Weinberg 2003:<br />

68). ein Nachteil dieser Methoden liegt auch darin, dass hierbei nur einzelne<br />

223


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

emotionsdimensionen, wie die Aktivierung, erfasst werden können <strong>und</strong> über die<br />

beispielsweise die Richtung einer Dimension keine Aussagen gemacht werden<br />

können (a.a.O.).<br />

Die Messungen auf einer subjektiven Erlebnisebene, d.h. die Testpersonen geben<br />

Auskunft über ihre subjektiv wahrgenommenen Empfindungen (a.a.O.), sind weit<br />

verbreitet <strong>und</strong> scheinen hinsichtlich ihrer Handhabung sowohl auf den realen, als<br />

auch auf den virtuellen Messestand gut übertragbar zu sein. Sie können in verbaler<br />

Form, beispielsweise durch Befragung, spontan (Weinberg 1992: 128) oder<br />

mittels Skalen (Trommsdorff 1993: 83), oder auch in nonverbaler Form, wie die<br />

Magnitudeskalierung (Neibecker 1985: 50), auftreten. Hierbei ist es, wenn auch<br />

unter einschränkungen, möglich, alle emotionsdimensionen zu erfassen. jedoch<br />

stehen der relativ leichten Anwendung, vor allem bei den verbalen Methoden,<br />

Validitätsprobleme gegenüber, die nicht unbeachtlich sind (Trommsdorff 1993:<br />

83). Beobachtungstechniken, also Messungen auf der motorischen ebene, wie die<br />

FAST-Technik (Kroeber-Riel/Weinberg 2003: 112 <strong>und</strong> Izard 1994: 144), scheinen<br />

derzeit weder für den realen, noch für den virtuellen Messestand anwendbar.<br />

5 Zwischenfazit<br />

Die unterschiedlichen Methoden bringen alle einige Vor- <strong>und</strong> Nachteile mit sich,<br />

weswegen es schwer fällt, eine eindeutige Aussage darüber zu treffen, welches<br />

die am besten geeignete für die Wirkungskontrolle bei Messeständen ist. Für<br />

welches Instrument man sich letztendlich entscheidet, wäre daher explizit nach<br />

den gegebenen Umständen, wie Budget, Zeit oder dem geplanten Forschungszeitraum,<br />

zu entscheiden. eine Kombination einzelner Verfahren erscheint aufgr<strong>und</strong><br />

der vorliegenden Bef<strong>und</strong>e allerdings als empfehlenswert. Um in Zukunft<br />

die emotionale Wirkung von Messeständen, speziell mit der Ve, kontrollieren<br />

<strong>und</strong> messen zu können, scheint noch einiger Forschungsaufwand nötig zu sein.<br />

Zum einen bieten sich derzeit noch keine ausreichenden erklärungsansätze zur<br />

Wirkung dreidimensionaler erlebniswelten <strong>und</strong> ihrer emotionalen Wirkung auf<br />

den Besucher. Dies erschwert auch die Aussage darüber, inwiefern die Darstellungsmöglichkeiten<br />

ausreichen, eine dem realen Messestand ähnliche Wirkung<br />

zu erzielen. Zum anderen wären Forschungen im Rahmen der beeinflussenden<br />

Wirkung der Ve auf die Testpersonen nötig, die in dieser Arbeit unberücksichtigt<br />

blieben. Sollten die aufgeführten Probleme eindeutig geklärt werden können, bietet<br />

die VE eine gute Alternative, die Wirkung von Messeständen <strong>und</strong> komplexeren<br />

erlebniswelten, vorab zu untersuchen.<br />

224


6 Aufbau der Testumgebung<br />

Im Folgenden wird beschrieben, welche technischen Geräte <strong>und</strong> Verfahren eingesetzt<br />

werden. Dabei werden die Mittel des VR-labors der <strong>Hochschule</strong> verwendet.<br />

Aufbau <strong>und</strong> Funktion werden an folgender Skizze beschrieben:<br />

Abb. 2: Aufbau der Testumgebung<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />

Bei der Darstellung wird ein passives Stereobildverfahren angewendet, um einen<br />

dreidimensionalen Eindruck beim Rezipienten zu erwecken. Dazu wird für jedes<br />

Auge eine separate Ansicht auf die Leinwand projiziert. Dabei ist jeder Beamer<br />

für genau ein Auge zuständig. Die Polfilter vor den Linsen der Beamer sorgen<br />

zusammen mit der Polarisationsbrille dafür, dass jedes Auge nur sein zugeordnetes<br />

<strong>Bild</strong> sieht. Dadurch entsteht bei der Wahrnehmung des Rezipienten ein<br />

künstlicher 3D-effekt. Mit dem joystick kann sich der Rezipient durch die virtuelle<br />

Umgebung bewegen. er steuert dabei die virtuelle Kamera der Umgebung<br />

<strong>und</strong> ändert somit je nach Bedarf seine Blick- bzw. Laufrichtung. Der Joystick ist,<br />

wie die zwei Beamer auch, an den Ausgaberechner angeschlossen. Dieser verarbeitet<br />

alle Signale in echtzeit <strong>und</strong> liefert dem Rezipienten ein kaum verzögertes<br />

Ergebnis. Eine Grafikkarte mit zwei Monitorausgängen (Dual Head) ist dabei notwendig.<br />

Die leistung des Rechners ist ausschlaggebend für die visuelle Qualität<br />

<strong>und</strong> Verzögerung der Darstellung. er muss in der lage sein, die virtuelle Szene<br />

in Echtzeit doppelt berechnen zu können, um jeden Beamer mit einer genügend<br />

hohen <strong>Bild</strong>rate (ideal sind 25 <strong>Bild</strong>er pro Sek<strong>und</strong>e oder mehr) zu versorgen. Die<br />

Rechenleistung, die für die Verarbeitung der eingabesignale des joysticks notwendig<br />

ist, fällt relativ gering aus.<br />

225


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

7 erstellung der Testumgebung<br />

Die erstellung der Ve gliedert sich in zwei Arbeitsumgebungen. Auf der einen<br />

Seite wird der Inhalt für die VE erstellt bzw. modifiziert (3D-Aufbereitung), auf<br />

der anderen Seite wird der Inhalt in das leere Gr<strong>und</strong>gerüst einer Ve eingeb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> mit entsprechenden Merkmalen der Interaktivität versehen (echtzeit-Authoring).<br />

Abb. 3: technischer Arbeitsablauf für virtuelle Umgebung<br />

Damit beide Bereiche zusammenarbeiten können, muss vorher ein Austauschformat<br />

definiert werden. Dieses Format sollte vor Beginn der Arbeit feststehen, um<br />

spätere Inkompatibilitäten auszuschließen. Die verwendeten Softwareprodukte<br />

spielen dabei eine große Rolle, da sie das Format zum Großteil vorgeben. es geht<br />

dabei speziell um das Austauschformat der Daten <strong>und</strong> damit um die Schnittstelle<br />

zwischen CAD-Daten <strong>und</strong> 3D-Aufbereitung sowie zwischen 3D-Aufbereitung <strong>und</strong><br />

echtzeit-Authoring.<br />

Abb. 4: Weg der Aufbereitung der Polygonobjekte<br />

Diese Abfolge gilt für die meisten Objekte des Messestands. Dabei muss jedes<br />

einzelne Teil eines Objekts diesen Vorgang durchlaufen. Nach der richtigen Selektion<br />

folgt das Optimieren der Drahtgitterstruktur. Doppelte Flächen <strong>und</strong> Punkte<br />

werden gelöscht sowie nah beieinander liegende Flächen zusammengefügt. Dies<br />

ist Voraussetzung für eine automatische Untriangulierung, die bei optimierten<br />

Drahtgitternetzstrukturen sehr effizient funktioniert <strong>und</strong> somit ohne große Nachbearbeitung<br />

auskommt. Das abschließende „detachen“ sorgt für die richtige Zertrennung<br />

des Objekts bzw. dessen Unterteile in seine farblich unterschiedlichen<br />

einzelstücke. Dadurch lässt sich nachfolgende Technik für die optimierte Darstellung<br />

nutzen:<br />

226


Ambient Occlusion<br />

Abb. 5.1: Objekte ohne Textur Abb. 5.2: Objekt mit Textur/Ambient<br />

Occlusion<br />

Abbildung 5.1 zeigt ein Objekt ohne Textur. Die Unterobjekte sind jeweils nur in<br />

entsprechende Farben eingefärbt. In Abbildung 5.2 hat sich am Material nichts<br />

geändert <strong>und</strong> trotzdem sieht es anders aus. Der Gr<strong>und</strong> liegt in den unterschiedlichen<br />

Berechnungsverfahren der beiden Abbildungen. Das rechte <strong>Bild</strong> verwendet<br />

eine Renderfunktion mit der Bezeichnung „Ambient Occlusion“. Sie sorgt für<br />

eine leichte Selbstbeschattung der Objekte, ohne das eine Lichtquelle erforderlich<br />

ist. In echtzeit lässt sich diese Funktion momentan noch nicht realisieren. Die<br />

„backen”-Funktion eröffnet jedoch die Möglichkeit, diesen realistischen Effekt auf<br />

einem kleinen Umweg in die Echtzeitgrafik zu überführen. Ähnlich wie bei den<br />

Licht- <strong>und</strong> Schatteninformationen können auch die Informationen der „Ambient<br />

Occlusion“ in eine Texturdatei gespeichert werden. Das Ergebnis entspricht,<br />

je nach Auflösung der Textur, fast dem der Rendergrafik. Die Einstellungen für<br />

das „backen” <strong>und</strong> für die „Ambient Occlusion“ fallen sehr überschaubar aus <strong>und</strong><br />

bedürfen keiner aufwendigen Anpassung. Alle „wichtigen“ Objekte des Messestands<br />

wurden mit diesem Verfahren auf visueller ebene optimiert.<br />

echtzeit-Authoring<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />

Beim echtzeit-Authoring werden zuerst die aufbereiteten Daten in die echtzeit-<br />

Umgebung importiert <strong>und</strong> anschließend, je nach Funktion, überarbeitet, teilweise<br />

angeordnet <strong>und</strong> mit interaktiven Funktionen versehen. Materialien müssen<br />

zwar nicht neu definiert werden, eine Anpassung an die Renderengine der Echtzeit-Umgebung<br />

ist allerdings notwendig. Die lichter aus der Aufbereitungsphase<br />

werden durch ihre Parameter angepasst. Des öfteren müssen zusätzliche lichter<br />

erstellt oder aber vorhandene lichter gelöscht werden. eine 1:1 Übernahme aus<br />

der 3D-Aufbereitung ist aufgr<strong>und</strong> der unterschiedlichen Software nicht machbar.<br />

Die Kamera wird an die späteren Ausgabeeinstellungen angepasst <strong>und</strong> auf die<br />

richtige Augenhöhe platziert.<br />

227


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

Im nächsten Schritt werden die Kollisionsobjekte ermittelt <strong>und</strong> notfalls zusätzliche<br />

Objekte erstellt. Aufgr<strong>und</strong> der verwendeten Technik reichen die ursprünglichen<br />

Objekte des Messestands nicht aus, um eine einwandfreie Navigation ohne<br />

Durchdringungen <strong>und</strong> ohne „Flüge“ über niedrige Objekte zu verhindern. Außerdem<br />

wird die Steuerung erstellt <strong>und</strong> auf die entsprechenden eingabegeräte<br />

übertragen.<br />

Im letzten Schritt müssen nur noch die einstellungen für die stereoskopische<br />

Ausgabe gemacht werden. Dabei automatisiert die echtzeit-Software die Positionierung<br />

<strong>und</strong> erstellung der zwei notwendigen Kameras. Sie tauscht die aktive<br />

Kamera der Szene automatisch durch zwei richtig positionierte Kameras aus.<br />

Nachfolgend ein paar Screenshots aus der echtzeit-Testumgebung:<br />

Abb. 6: Screenshot vom eingangsbereich<br />

Abb. 7: Screenshot auf die lounge<br />

Nach dem Durchlauf der Testpersonen wurde unter anderem eine laufweganalyse<br />

durchgeführt.<br />

8 laufweganalyse<br />

Ziel war es, möglichst genaue Aussagen darüber zu erhalten, welche Orte oft aufgesucht<br />

wurden <strong>und</strong> welche Wege dabei Benutzung fanden. Damit ließen sich<br />

228


unter anderem Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Messestandes bezüglich<br />

seiner Promenierfunktion ziehen. Die Auswertung der laufwegdaten erfordert<br />

mehrere Arbeitsschritte, die nachfolgend aufgeführt sind:<br />

• Erweiterte Gr<strong>und</strong>rissvorlage;<br />

• Analyse der Laufwegdaten <strong>und</strong> Erstellung eines sog. Gr<strong>und</strong>rasters;<br />

• Übertragung der Laufwegdaten auf das Gr<strong>und</strong>raster;<br />

• Auswertung des Gesamtlaufwegs;<br />

• Interpretation der Ergebnisse.<br />

Diese Arbeitsschritte wurden, wie andere technische Schritte in dieser Diplomarbeit<br />

auch, unter dem Aspekt der Effizienz entwickelt. Sie erheben nicht den Anspruch<br />

auf Vollständigkeit, geben aber erste Aussagen ohne großen Aufwand. es<br />

wird auf Standardwerkzeuge- <strong>und</strong> Funktionen zurückgegriffen, die im Rahmen<br />

einer solchen Diplomarbeit verfügbar sind.<br />

Die komplette Vorgehensweise wird hier nur kurz beschrieben: Der Gr<strong>und</strong>riss<br />

wird vor allem um notwendige ein- <strong>und</strong> Ausgänge des Messestands erweitert.<br />

Sie zeigen später die bevorzugten ein- <strong>und</strong> Austrittsorte der Testpersonen. Das<br />

Gr<strong>und</strong>raster ergibt sich aus der Analyse der laufwege aller Testpersonen. es muss<br />

alle Orte <strong>und</strong> Wege aufweisen, da es als Digitalisierungsgr<strong>und</strong>lage für die laufwege<br />

der Testpersonen dient. Die Übertragung der analogen Aufzeichnungen<br />

erfolgt auf jeweils einzelne Layer einer <strong>Bild</strong>bearbeitungssoftware. Diese Layer<br />

werden dann bei der Auswertung des Gesamtlaufwegs in niedrigen Sättigungen<br />

übereinandergelegt. Das ergebnis aus dem Testdurchlauf sieht danach folgendermaßen<br />

aus:<br />

Abb. 8: Auswertung aller neun Testpersonen<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />

229


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

Bereiche, die nur von einer Person besucht worden sind, werden sehr schwach<br />

dargestellt. Die Sättigung der Farbe beträgt dort 11%. Deutlich zu erkennen sind<br />

häufig benutzte Wege wie der Mittelgang oder die Treppe hinauf zur Panoramaaussicht.<br />

Sie besitzen eine Sättigung von 77% oder höher <strong>und</strong> erstrahlen in der<br />

satten Gr<strong>und</strong>farbe. jetzt lassen sich also Aussagen darüber treffen, welche Plätze<br />

des Messestands oft <strong>und</strong> welche weniger oft besucht wurden.<br />

9 Abschätzung des Aufwands<br />

An dieser Stelle soll nur ein grober Überblick über den gesamten Aufwand des<br />

eingesetzten Verfahrens gegeben werden:<br />

Tab.: Aufwand des kompletten Verfahrens<br />

Gesamtaufwand<br />

Arbeitsschritte einheit in h<br />

erstellung 39,50<br />

Durchführung 5,00<br />

Auswertung 26,75<br />

Gesamt 71,25<br />

Aufgr<strong>und</strong> der kleinen Anzahl der Testpersonen ist die Durchführung mit dem<br />

geringsten Aufwand verb<strong>und</strong>en. je mehr Testpersonen genommen werden, desto<br />

größer wird der Aufwand der Durchführung <strong>und</strong> der Auswertung. Die erstellung<br />

bleibt davon unberührt. Rein rechnerisch ergibt sich aus dem Gesamtaufwand<br />

von 71,25 St<strong>und</strong>en eine Arbeitswoche von 2 Personen bei einer 35-St<strong>und</strong>en-Woche.<br />

In der Praxis wäre dieser Wert nicht zu erreichen, da einige Arbeitsschritte<br />

nicht zeitgleich erledigt werden können. Außerdem kann es bei Absprachen mit<br />

Vorgesetzten immer wieder zu Veränderungen kommen. Dieser Punkt wurde in<br />

den Tabellen nicht berücksichtigt. Bezogen auf die Größe <strong>und</strong> des Umfangs des<br />

Messestands <strong>und</strong> einer Testpersonenanzahl von ca. 10, kann mit einem realistischen<br />

Aufwand von eineinhalb bis zwei Wochen bei zwei zuständigen Personen<br />

gerechnet werden.<br />

230


10 Zukunft des Verfahrens<br />

Das entwickelte Verfahren ist momentan nur beschränkt einsatzfähig, da wichtige<br />

Größen, wie z.B. der So<strong>und</strong>, nicht berücksichtigt werden konnten. Außerdem<br />

ist die Methode zur Bestimmung der emotionen noch nicht valide. Der Ansatz,<br />

emotionen in einer virtuellen Umgebung zu messen, ist mit dieser Arbeit noch<br />

nicht ausgereift. Sie bietet vielmehr einen Gr<strong>und</strong>stein, auf dem weitere Forschungen<br />

aufbauen können, um das Verfahren zu standardisieren. In Bereichen<br />

der erstellung der virtuellen Umgebung werden schon einige Hinweise für eine<br />

Standardisierung gegeben. Weitere Messestände müssen untersucht werden, um<br />

dabei gewisse Kontinuitäten herauszufinden, auf denen eine spätere Standardisierung<br />

aufbauen kann.<br />

ein paar kleine erfolge hat diese Diplomarbeit dennoch zu verbuchen. So ist die<br />

Darstellungsqualität mit reinen Visualisierungslösungen zu vergleichen <strong>und</strong><br />

in manchen Bereichen sogar fortschrittlicher. Außerdem können die laufwege<br />

schon vorab ermittelt werden. Dieses Merkmal war bis jetzt nur der Wirkungskontrolle,<br />

also der Posttests, vorbehalten. ein Vergleichswert des realen Messestands<br />

fehlt allerdings, so dass auch hier noch keine Aussagen über die Validität<br />

getroffen werden können.<br />

Forschungsbereiche<br />

Damit das Verfahren also sein ursprüngliches Ziel erfüllen kann, gültige <strong>und</strong> zuverlässige<br />

Aussagen über die Wirkung eines Messestands geben zu können, ist<br />

noch einiger Forschungsaufwand nötig. Im technischen Bereich betrifft das vor<br />

allem den Einfluss des So<strong>und</strong>s, der Haptik <strong>und</strong> des Motion-Tracking. Im Bereich<br />

der Testmethodenentwicklung ist vor allem die Wirkung der virtuellen Umgebung<br />

auf den Rezipienten noch nicht ausreichend untersucht.<br />

Anwendungsbereiche<br />

Potenzialanalyse virtueller Testumgebungen<br />

Die zukünftigen Anwendungsbereiche des Verfahrens sollten Motivation genug<br />

sein, diesen Forschungsansatz weiter zu verfolgen. Das Verfahren lässt sich nämlich<br />

nicht nur allein auf Messestände anwenden. Gr<strong>und</strong>sätzlich kann es für jede<br />

komplexe Erlebniswirkung eingesetzt werden. Ein ganz aktuelles Thema sind dabei<br />

die Flagship Stores der Markenhersteller. Dort könnte ein valides Pretestverfahren<br />

von sehr großem Interesse sein. ebenso könnte das Verfahren im Bereich<br />

der Stadtplanung <strong>und</strong> bei der Vergabe von Werbeflächen eingesetzt werden. Die<br />

Anwendungsmöglichkeiten scheinen endlos <strong>und</strong> sagen einem funktionierenden<br />

Verfahren eine gute Zukunft voraus.<br />

231


KARINA MIeS / FeRNANDO SAAl<br />

literatur<br />

FISCHeR, l.,/WISWeDe, G. (2002): Gr<strong>und</strong>lagen der Sozialpsychologie. München.<br />

GRöPPel-KleIN, A. (2004): Aktivierungsforschung <strong>und</strong> Konsumentenverhalten.<br />

In: Gröppel-Klein, A./Weinberg, P. (Hg.), Konsumentenverhaltensforschung<br />

im 21. jahrh<strong>und</strong>ert. Wiesbaden.<br />

IZARD, C. e./MURAKAMI, B. (1994): Die emotionen des Menschen: eine einführung<br />

in die Gr<strong>und</strong>lagen der emotionspsychologie. Weinheim.<br />

KROeBeR-RIel, W./WeINBeRG, P. (2003): Konsumentenverhalten. München.<br />

MAXON COMPUTeR GMBH (2006): Cinema 4D Dokumentation. Friedrichsdorf.<br />

MIKUNDA, C. (2002): Der verbotene Ort oder Die inszenierte Verführung: Unwiderstehliches<br />

Marketing durch strategische Dramaturgie. Frankfurt a. M.<br />

NeIBeCKeR, B. (1985): Konsumentenemotionen: Messung durch computergestützte<br />

Verfahren; eine empirische Validierung nicht-verbaler Methoden.<br />

Würzburg.<br />

NICKel, O. (Hg.): (1998): eventmarketing. München.<br />

NICKel, O. (1998): Verhaltenswissenschaftliche Gr<strong>und</strong>lagen erfolgreicher Marketingevents.<br />

In: Nickel, O. (Hg.), eventmarketing. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> erfolgsbeispiele<br />

München, 121-148.<br />

PINe, B. j./GIlMORe, j. H./GeBAUeR, S. (2000): erlebniskauf: Konsum als<br />

erlebnis, Business als Bühne, Arbeit als Theater. München.<br />

THIeMeR, j. (2004): erlebnisbetonte Kommunikationsplattformen als mögliches<br />

Instrument der Markenführung: Dargestellt am Beispiel der Automobilindustrie.<br />

Kassel.<br />

TROMMSDORFF, V. (1993): Konsumentenverhalten. Stuttgart.<br />

WeINBeRG, P. (1992): erlebnismarketing. München.<br />

ZANGeR, C./SISTeNICH, F. (1998): Theoretische Ansätze zur Begründung des<br />

Kommunikationserfolgs von eventmarketing. In Nickel, O. (Hg.), eventmarketing.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> erfolgsbeispiele. München, 39-60.<br />

232


ROlF GASSNeR<br />

environmental Scene Design<br />

Imitation <strong>und</strong> Verräumlichung von Geräuschkulissen<br />

1 Abstract<br />

Kein Geringerer als George lucas, bekannt für seine bildgewaltigen Kinospektakel,<br />

soll gesagt haben: „So<strong>und</strong> is 50 percent of the movie-going experience.“ Analog<br />

gilt solches auch für das erleben einer virtuellen Welt: Werden sowohl Sehen<br />

als auch Hören mit aufeinander abgestimmten Reizen versorgt, verstärkt sich<br />

der emotionale eindruck der nachgeahmten Szene aufgr<strong>und</strong> der vollständigeren<br />

Wahrnehmung beträchtlich.<br />

Ziel meiner Diplomarbeit war die Nachahmung von Geräuschkulissen, die in<br />

typischen Alltagssituationen auftreten. Der Möglichkeit einer einfachen Anbindung<br />

an bildgebende Programme sollte dabei Rechnung getragen werden.<br />

In einem ersten Schritt wurden Aufnahmen von ausgesuchten Alltagsszenarien<br />

gemacht. Anschließend erfolgte eine Analyse der vorkommenden Geräusche, <strong>und</strong><br />

zwar durch Klassifizierung nach Verursachern, Sortierung nach Häufigkeit <strong>und</strong><br />

Gewichtung im jeweiligen Kontext. Auf diese Art konnte ein Gestaltungsmuster<br />

herausgearbeitet werden, anhand dessen für beliebige Szenarien eine mediale,<br />

nachgebildete Klangkulisse aus einzelnen elementen wieder zusammengesetzt<br />

235


ROlF GASSNeR<br />

werden kann. Das erarbeitete Design wurde prototypisch in Software „gegossen“<br />

<strong>und</strong> die Anbindung an eine räumlich präzise Mehrkanalwiedergabe – Wellenfeldsynthese<br />

– über eine simple Maussteuerung verwirklicht.<br />

2 Fragestellung<br />

Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautet: Wie können akustische Szenen<br />

mit geringem Aufwand möglichst naturgetreu nachgebildet <strong>und</strong> räumlich wiedergegeben<br />

werden, so dass das Präsenzgefühl in der virtuellen Umgebung gesteigert<br />

wird? Hierzu soll angemerkt werden, dass das Ziel immersiver VR-Installationen<br />

das Eintauchen des Betrachters in die künstliche Welt ist – treffend<br />

zusammengefasst mit den Worten „supsension of disbelief“ (wörtlich: Aufheben<br />

der Ungläubigkeit). Gemeint ist damit der Punkt, an dem der Mediennutzer über<br />

Unzulänglichkeiten der <strong>Interaktion</strong>s-Schnittstelle sowie der audiovisuellen Darbietung<br />

zugunsten eines verstärkten emotionalen erlebens der künstlichen Szene<br />

hinwegsieht– dadurch wird die virtuelle Welt zum Erlebnisraum. 1 In diesem<br />

Zusammenhang kann man auch den Begriff Präsenzgefühl verstehen, der Nutzer<br />

fühlt sich hineinversetzt in eine zugedachte Rolle einer virtuellen Szene, „die<br />

ab diesem Zeitpunkt für ihn zum primären Aktions- <strong>und</strong> Wahrnehmungsraum<br />

wird“ (Gassner 2006: 32).<br />

Analyse von Geräuschkulissen<br />

An anderer Stelle wurde bereits gezeigt, dass der Hörsinn (unbewusst) detaillierte<br />

Informationen über <strong>Raum</strong>größe <strong>und</strong> das Vorhandensein, Beschaffenheit <strong>und</strong> Bewegung<br />

verschiedener Objekte darin liefert (Gaver 1993: 288f.). Diese Genauigkeit<br />

des Gehörs kann in virtuellen Welten dazu genutzt werden, den Immersionsgrad<br />

zu steigern, indem eine visuelle Szene passend auditiv untermalt wird. In einem<br />

ersten Schritt wurden gewünschte Szenen im Real life aufgenommen <strong>und</strong> analysiert,<br />

als Testszenario diente der Schauplatz „Tramhaltestelle Innenstadt an Straßenkreuzung“.<br />

Bei der quantitativen Analyse entstand eine Tabelle, welche die<br />

Verursacher der Geräusche sowie deren Häufigkeit auflistet. Durch sprachliche<br />

Vereinfachung wurden die Geräusche pro Szene etwas reduziert – das Wählen<br />

geeigneter Oberbegriffe (Klangerzeuger) ermöglichte, die So<strong>und</strong>quellen nach ihrer<br />

Entstehung zu kategorisieren, etwa: Mensch – Kommunikation – Lachen. Die<br />

qualitative Analyse erforderte eine Bewertung der Geräusche, wobei ich mich an<br />

der Vorarbeit von Chueng (2002) <strong>und</strong> Chueng/Marsden (2002) orientierte: Das<br />

Präsenzgefühl in virtuellen Umgebungen steigern jene „so<strong>und</strong> events“, welche<br />

1 Vgl. dazu auch den Beitrag „Techniken der Sichtbarmachung. Nutzungsbedingungen virtueller Test<br />

räume“ von Stefan Selke in diesem Arbeitsbericht<br />

236


• an einem Ort erwartet werden;<br />

• einzigartig im jeweiligen Kontext sind <strong>und</strong> dadurch einen hohen Wiedererkennungswert<br />

besitzen.<br />

Durch diese Bewertung konnte eine weitere Reduktion der Klangereignisse erreicht<br />

werden. eine Verschmelzung verschiedener, an ähnlichen Stellen mitgeschnittenen,<br />

Aufnahmen führte zu einer stärkeren Konzentration der ortstypischen<br />

Geräusche. Am ende dieser Auswertungen war es möglich, aus einer<br />

Tabelle die Häufigkeit eines Klangereignisses abzulesen. Diese Häufigkeitsverteilung<br />

konnte nach einer Plausibilitätsprüfung in einen entsprechenden Softwarealgorithmus<br />

übernommen werden.<br />

Synthese <strong>und</strong> Komposition<br />

Nach dieser ausführlichen Analyse kommt es nun auf eine adäquate Synthese<br />

einzelner Klangfragmente zu einer glaubwürdigen Gesamtkulisse an. Dabei halfen<br />

mir die Kriterien von Serafin (2004), die eine Audiokulisse in Vordergr<strong>und</strong>-<br />

<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong>geräusche einteilt. Nach Serafin steigt der Grad der Immersion<br />

einer audiogestützten VR durch folgende Faktoren:<br />

• sich bewegende Schallquellen;<br />

• interaktionsabhängige Klangereignisse (besonders effektiv in Verbindung<br />

mit User Tracking);<br />

• Vielfalt der Geräusche (wenig Wiederholungen, kein erkennbares Muster);<br />

• bewusste Übertreibung von Klängen (Nachvertonung, Foley-Effekte);<br />

• klangliche Erfüllung der Erwartungshaltung eines VR-Nutzers (Klischees<br />

bedienen, die durch häufigen Medienkonsum entstehen)“ (a.a.O.: 32).<br />

Anhand dieser Gestaltungskriterien war es nun möglich, eine Formel für die Synthese<br />

einer Geräuschkulisse zu entwerfen, welche an eine visuelle Szene gekoppelt<br />

<strong>und</strong> in ihr verortet ist.<br />

„Samples (Objekte/<strong>Interaktion</strong>)<br />

+ Transformation/effekte<br />

+ zeitliche Verteilung<br />

+ Position/Bewegung im <strong>Raum</strong><br />

+ akustische <strong>Raum</strong>eigenschaften<br />

+ Hintergr<strong>und</strong> (Atmosphäre)<br />

------------------------------<br />

= Environmental Scene“ (Gassner 2006: 43)<br />

environmental Scene Design<br />

237


ROlF GASSNeR<br />

Diese Formel beinhaltet den gr<strong>und</strong>ätzlichen Aufbau einer Klangkulisse <strong>und</strong> ermöglicht<br />

ihre Nachbildung mit Hilfe entsprechender technischer Vorrichtungen.<br />

Position <strong>und</strong> Bewegung im <strong>Raum</strong> sowie akustische <strong>Raum</strong>eigenschaften können<br />

mit einem entsprechenden Mehrkanal-Wiedergabesystem verwirklicht werden.<br />

Auf Transformation <strong>und</strong> Verteilung möchte ich noch näher eingehen.<br />

3 Der minimalistische Ansatz<br />

Besonderen Wert legte ich in meiner Arbeit auf die erzeugung natürlich <strong>und</strong> realistisch<br />

klingender Geräuschkulissen aus möglichst wenig Ausgangsmaterial,<br />

d.h. mit einer geringen Anzahl ortstypischer Audiosamples sollte eine möglichst<br />

reichhaltige Geräuschkulisse entstehen. Zu diesem Zweck ist, neben dem einsatz<br />

von einer Zufallsverteilung der Samples, die Verfremdung des Ausgangsmaterials<br />

nötig. Dies geschieht durch Beeinflussen verschiedener Parameter, wie: Tonhöhe,<br />

Abspieldauer, Abspielhäufigkeit, Lautstärke, Klangfarbe. Eine Veränderung<br />

der Lautstärke beispielsweise imitiert Nähe bzw. Ferne eines Objekts. Geschickte<br />

Veränderung der Tonhöhe lässt aus dem Sample eines Motorengeräusches den<br />

eindruck verschiedener Fahrzeugtypen entstehen. Bei Geräuschmustern, die aus<br />

regelmäßigen Wiederholungen bestehen, wie etwa Regen oder Schritte, lässt sich<br />

mit der zeitlichen Arrangierung eines einzigen Samples (Tropfen/Schritt) unter<br />

gleichzeitiger Veränderung seiner Tonhöhe, Abspiellänge (Timestretching) <strong>und</strong><br />

lautstärke ein kompletter Vorgang generieren, wie ein Regenguss oder das Vorbeilaufen<br />

eines Passanten.<br />

4 Ausblick<br />

Die auditive VR steht in einsatz <strong>und</strong> Forschung noch an ihrem Anfang: Zwar sind<br />

immersive Multichannelsysteme wie Wellenfeldsynthese bereits als Produkte verfügbar,<br />

jedoch wurde im gestalterischen Sinne wenig Feldforschung getrieben,<br />

so dass bislang wenig gesicherte erkenntnisse vorliegen, wie eine Klangkulisse<br />

beschaffen sein muss, um den immerisven Charakter einer virtuellen Szene zu<br />

verstärken. Im neuen Medienlabor der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, welches eine<br />

CAVE mit auditiver VR beinhaltet, ist es nun möglich, Projekte zu innitiieren <strong>und</strong><br />

durchzuführen, die sich mit Design <strong>und</strong> Wirkung von Klangkulissen beschäftigen.<br />

238


literatur<br />

environmental Scene Design<br />

BReGMAN, A. S. (1990): Auditory Scene Analysis: The Perceptual Organization<br />

of So<strong>und</strong>. Cambridge (USA).<br />

CHUeNG, P./MARSDeN, P. (2002): Designing Auditory Spaces to Support Sense<br />

of Place: The Role of Expectation. Position paper for The Role of Place in<br />

On-line Communities Workshop, CSCW2002, New Orleans.<br />

CHUeNG, P. (2002): „Designing so<strong>und</strong> canvas: The role of expectation and discrimination“,<br />

Extended abstracts of CHI 2002 Conference on Human Factors<br />

in Computing Systems.<br />

GASSNeR, R. (2006) „Environmental Scene Design – Räumliche Audiokulissen<br />

für immersive VR-Umgebungen“, Diplomarbeit, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>.<br />

GAVeR, W. W. (1993): How Do We Hear in the World? Explorations in Ecological<br />

Acoustics. ecological Psychology, Vol. 5, No. 4, 285-313<br />

SeRAFIN, S./SeRAFIN, G. (2004): „So<strong>und</strong> Design to Enhance Presence in Photorealistic<br />

Virtual Reality“, Proceedings of ICAD 04 – Tenth Meeting of the<br />

International Conference on Auditory Display, Sydney, Australia, july 6-9,<br />

2004.<br />

239


NADjA SCHANZ<br />

Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung von installativen virtuellimmersiven<br />

<strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />

1 Zusammenfassung der Diplomarbeit<br />

Zum Sommersemester 2007 wird im neuen Informatikgebäude der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong> ein Medienlabor, das als völlig neuartige Komponente ein ganzheitliches<br />

Virtual Reality-Cluster enthält, eingerichtet. Die technische einrichtung<br />

darin kann zur Bespielung einer <strong>Raum</strong>installation verwendet werden, die mit virtuellen<br />

<strong>und</strong> realen elementen arbeitet <strong>und</strong> interaktiv sein kann.<br />

Der unüberlegte einsatz von digitalen Medien im lehrbetrieb führt nach Michael<br />

Kerres oft zu ergebnissen, die geringe Akzeptanz, schwache lernerfolge <strong>und</strong><br />

Ineffizienz bei Lernenden mit sich bringt. Der Medieneinsatz macht andere Formen<br />

der Lernorganisation notwendig: „Mediale Lernangebote lassen sich nicht<br />

in ein <strong>Bild</strong>ungssystem einführen ohne gr<strong>und</strong>legende Überlegungen zur Aufbau-<br />

<strong>und</strong> Ablauforganisation von <strong>Bild</strong>ung“ (Kerres 2001: 85ff.). Es ist daher wichtig,<br />

dass man sich vor dem einsatz eines neuen Mediums, in diesem Fall das neue<br />

Media labor, mit diesem auseinandersetzt. Daher analysiert die Arbeit die Möglichkeiten<br />

der Gestaltung im neuen Medienlabor sowie den daraus entstehenden<br />

Nutzen für die <strong>Hochschule</strong> <strong>und</strong> allen Beteiligten.<br />

241


NADjA SCHANZ<br />

2 Fragestellung<br />

Die Arbeit untersucht die Fragestellung, wie <strong>und</strong> mit welcher Zielstellung die<br />

neue Technologie des Medienlabors im lehrbetrieb eingesetzt werden kann, damit<br />

sie effizient genutzt werden <strong>und</strong> dadurch für alle Beteiligten einen Mehrwert<br />

bieten kann. Sie diskutiert somit das Potential des Verb<strong>und</strong>labors, zu dem sowohl<br />

das neue VR-Labor als auch die anderen Labore zählen, im Kontext von <strong>Raum</strong>,<br />

<strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Bild</strong>.<br />

3 Vorgehen<br />

Zunächst beschäftigt sich die Arbeit mit der gr<strong>und</strong>legenden Konzeption von<br />

<strong>Raum</strong>installationen: dies beinhaltet die verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten,<br />

Kategorien <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>stechniken von <strong>Raum</strong>installationen. Nachdem<br />

die Technik der neuen laboreinrichtung erläutert wird, werden aufgr<strong>und</strong> dessen<br />

Anwendungen vorgestellt, die in der laboreinrichtung ohne größere Probleme<br />

installiert werden könnten. Mehrere Beispiele ähnlicher laboreinrichtungen anderer<br />

<strong>Hochschule</strong>n bilden den Übergang zur Thematik der Nutzung. Hier geht<br />

es um die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen, Kompetenzen <strong>und</strong> Strukturierungen, die in<br />

Betracht gezogen werden müssen, damit das neue Medium im Lehrbetrieb effizient<br />

eingesetzt werden kann. Mit Hilfe von qualitativen Befragungen zur Nutzung<br />

<strong>und</strong> Gestaltung des Medienlabors werden der daraus entstehende Mehrwert <strong>und</strong><br />

das entwicklungspotential an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> skizziert. Als ergebnis<br />

der Befragungen können Nutzungsszenarien, Handlungsempfehlungen <strong>und</strong><br />

Ansätze für die Zukunft entwickelt werden. Anschließend werden die Resultate<br />

der gesamten Arbeit zusammengefasst <strong>und</strong> daraus verschiedene Ansätze für die<br />

Zukunft abgeleitet.<br />

4 Das Potential des Verb<strong>und</strong>labors<br />

Das neue Medienlabor kann das Potential des Verb<strong>und</strong>labors im Rahmen von<br />

<strong>Bild</strong>, <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> <strong>Raum</strong> entscheidend erhöhen. Dies hängt aber vor allem<br />

davon ab, ob dieses Medium auch erfolgreich genutzt wird. Neben dem einsatz<br />

als lernmittel aus erfahrungen kann das Medienlabor auch zur Realisierung eigener<br />

Projekte, Forschung <strong>und</strong> Entwicklung, <strong>und</strong> Zusammenarbeit mit anderen<br />

Institutionen genutzt werden. Als lernmittel eingesetzt, hängt der erfolg darin<br />

nach Kritzenberger (2005) von inneren <strong>und</strong> äußeren lernbedingungen ab. Dies<br />

sind im Wesentlichen vier Faktoren: „Methoden, Gr<strong>und</strong>lagen, Technologien <strong>und</strong><br />

Anwendungen“ (a.a.O.). Hierbei stehen „Technologien“ für die in dem Labor verwendete<br />

Technik, dies beinhaltet hauptsächlich physische eingabe-, Ausgabe- <strong>und</strong><br />

<strong>Interaktion</strong>sgeräte. Der Faktor „Anwendung“ bezeichnet die konkrete Ausgestal-<br />

242


Virtuell-immersive <strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />

tung <strong>und</strong> Bespielung der Umgebung unter Verwendung der darin bestehenden<br />

Technik. Beide Faktoren sind demnach abhängig von der verwendeten laboreinrichtung.<br />

Für den Anwender <strong>und</strong> alle mit dem labor involvierte Personen ist es<br />

daher umso wichtiger, dass entsprechende Vorraussetzungen oder „Gr<strong>und</strong>lagen“<br />

im Umgang mit dem Labor mitgebracht werden <strong>und</strong> bestimmte „Methoden“ verwendet<br />

werden, durch die vermittelt wird (a.a.O.: 1f.).<br />

Damit die Nutzung des neuen Medienlabors insbesondere für die Fakultät Digitale<br />

Medien optimiert werden kann, wurden qualitative Befragungen mit verschiedenen<br />

lehrkräften <strong>und</strong> Diplomanden durchgeführt. Die ergebnisse der Befragungen<br />

zeigen, dass sich das Potential des labors erst konkret nach Integration<br />

<strong>und</strong> Anwendung im lehrbetrieb zeigen wird. Da viele lehrkräfte dem Potential<br />

der einrichtung noch kritisch gegenüberstehen, gilt es, eine Vorbildfunktion einzunehmen,<br />

die kritischen Stimmen durch interessante <strong>und</strong> erfolgreiche Projekte<br />

<strong>und</strong> Veranstaltung vom Gegenteil überzeugt.<br />

Genügend interessierte Studierende zu finden, scheint weniger schwer, da VR<br />

<strong>und</strong> neue Technologien eine Gr<strong>und</strong>faszination ausüben. Die ergebnisse zeigen<br />

auch, dass die Rolle der lehrenden wichtig ist, die die Aufgaben verteilen <strong>und</strong><br />

zur Verfügung stellen. Zusätzlich wird eine Betreuung benötigt, die stets präsent<br />

ist <strong>und</strong> Studierenden bei der Arbeit in der laboreinrichtung unterstützt. Damit<br />

unter anderem diese Präsenz ermöglicht werden kann, ist die Suche nach geeigneten<br />

Finanzierungsmöglichkeiten unabdingbar.<br />

Die einrichtung kann zu einem Alleinstellungsmerkmal werden, dass sowohl<br />

Studierende anzieht als auch die Position im land erhöht. In diesem Gebiet<br />

könnte die <strong>Hochschule</strong> eine Vorreiterrolle spielen, die im Bereich der entwicklung<br />

von VR <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>stechniken einen entscheidenden Beitrag leistet.<br />

Zusätzlich bekommen Studierende mehr erfahrungen im Bereich <strong>Interaktion</strong>,<br />

Konzeption <strong>und</strong> VR. Dadurch könnten sich sowohl neue Berufsmöglichkeiten für<br />

Absolventen ergeben als auch ein neuer Studiengang im Bereich <strong>Interaktion</strong>/Interaktivität<br />

<strong>und</strong> Informatik entstehen.<br />

Die eher technisch orientierte <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> könnte die VR-laborein-richtung<br />

auch dazu nutzen, mehr Kunst an die <strong>Hochschule</strong> zu bringen. Gerade<br />

solche einrichtungen vereinen Technik <strong>und</strong> Kunst auf besondere Weise:<br />

Es „[…] geraten vermeintlich scharf konturierte Grenzen zwischen Technologie<br />

<strong>und</strong> Kunst in Auflösung. Weltweit arbeitet heute ein eng vernetzter Kreis von<br />

Künstlern in privilegierten Forschungsinstituten an der entwicklung virtueller<br />

Realitäten“(Grau 2002: 133). In der vorlesungsfreien Zeit, in der nur wenige<br />

Studenten die einrichtung nutzen, könnte man mit Stipendien Künstler an die<br />

<strong>Hochschule</strong> holen, die dort eigene Anwendungen realisieren.<br />

Die Einrichtung bietet sich zudem für Projekte an, die die Zusammenarbeit zwischen<br />

mehreren Fachrichtungen <strong>und</strong> Fakultäten fördert. Diesbezüglich wurde<br />

das Verb<strong>und</strong>konzept entwickelt, das durch die Einführung eines Kolloquiums<br />

243


NADjA SCHANZ<br />

zwischen verschiedenen Fachrichtungen die Zusammenarbeit schon teilweise<br />

umsetzt. Generell sollte die Kommunikation zwischen Fachrichtungen <strong>und</strong> Fakultäten<br />

verbessert werden, damit daraus noch mehr interdisziplinäre Projekte<br />

entstehen können. Um gemeinsame Projekte verschiedener Fachrichtungen<br />

im Zusammenhang mit dem Verb<strong>und</strong>labor zu ermöglichen, muss zunächst geklärt<br />

werden, welche Ziele die Fakultät mit der einrichtung verfolgt <strong>und</strong> welche<br />

Schwerpunkte gelegt werden sollen. Dadurch können beispielsweise die verwendeten<br />

Technologien <strong>und</strong> Software bestimmt werden. Durch eine bessere Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Interdisziplinarität zwischen Fachrichtungen <strong>und</strong> Fakultäten kann<br />

so das Potential der einrichtung erhöht werden. Dies könnte zudem die lehre im<br />

Allgemeinen verändern.<br />

Aus technischer Sicht liegen die hauptsächlichen Schwierigkeiten des Potentials<br />

in der noch eingeschränkten Umsetzbarkeit von Anwendungen: Technologien,<br />

Software <strong>und</strong> Hardware können diese häufig nicht so darstellen, wie es gewünscht<br />

wäre. Die Steuerung, Navigation <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong> in diesen Umgebungen ist auch<br />

noch nicht ausgereift intuitiv <strong>und</strong> natürlich möglich. Doch vermutlich wird sich<br />

das in den nächsten jahren verbessern, dies hängt aber davon ab, wie viel in diesem<br />

Bereich in Forschung <strong>und</strong> entwicklung investiert wird. Dann kann durch<br />

entwicklung der Hard- <strong>und</strong> Softwaretechniken die Attraktivität der virtuell-immersiven<br />

Umgebungen noch gesteigert werden. Sinnvoll ist daher der einsatz<br />

von möglichst großen leinwänden, die die Immersion <strong>und</strong> das Präsenzgefühl der<br />

Nutzer verstärken. Zudem muss die einrichtung möglichst intuitive <strong>und</strong> natürliche<br />

<strong>Interaktion</strong>en ermöglichen.<br />

Für die neue laboreinrichtung heißt das zunächst, dass man versucht, die vorhandene<br />

Technik effektiv einzusetzen <strong>und</strong> darin eigene Projekte aufbaut. Viele<br />

Schwierigkeiten technischer Art werden vermutlich erst nach Integration <strong>und</strong><br />

Anwendung einiger Projekte sichtbar <strong>und</strong> können dann verbessert <strong>und</strong> erweitert<br />

werden.<br />

Aus gestalterischer Sicht ist es für eine einrichtung im lehrbetrieb wesentlich,<br />

dass der Zugang von mehreren Personen, die die virtuelle Welt interaktiv erfahren,<br />

gewährleistet werden kann. Das Trackingsystem ermöglicht momentan nur<br />

einem einzigen Akteur die <strong>Interaktion</strong> mit der virtuell-immersiven Umgebung.<br />

Die <strong>Interaktion</strong> mehrerer Teilnehmer mit der Umgebung kann nur über eine<br />

Netzwerkverbindung erreicht werden. es bietet sich daher an, die Umgebung an<br />

ein gutes Netzwerk zu binden, die den Zugriff <strong>und</strong> die Steuerung über die entfernung<br />

ermöglicht. Dann kann die laboreinrichtung auch für Fernlernszenarien<br />

verwendet werden. ein Faktor, der über den erfolg des lernraumes entscheidet,<br />

ist der Aufbau der Anwendung innerhalb der laborumgebung. Hier ist zu beachten,<br />

dass die Gestaltung über viele Faktoren entscheidet: Die „Begeisterung des<br />

Lerners, das interessante Programm, die Kontextualität der Lernumgebung, die<br />

hoch-interaktive Kommunikation, <strong>und</strong> schließlich die GUI, die Benutzerschnittstelle,<br />

die Ästhetik, Einfachheit <strong>und</strong> Interaktivität verbindet“ (Schulmeister 2002:<br />

244


91). Die Laboreinrichtung kann für vielfältige Aufgaben <strong>und</strong> Projekte verwendet<br />

werden, denn virtuelle Welten bieten viele verschiedene Präsentationsformen: sie<br />

weisen einerseits einen höheren Realitätsgrad als andere Medien auf, andererseits<br />

sind sie auch „dazu geeignet, abstrakte Informationen, die Sinnesorganen nicht<br />

unmittelbar zugänglich sind, erfahrbar zu machen“ (Schwan 2006: 16). Daher ist<br />

es wichtig, dass die Einrichtung möglichst flexibel gestaltet ist <strong>und</strong> ohne große<br />

Umstände für an die jeweiligen Projekte angepasst werden kann.<br />

5 Ausblick<br />

Wird die laboreinrichtung im lehrbetrieb entsprechend genutzt, kann sich dadurch<br />

ein sehr hohes Potential ergeben. Das tatsächliche Potential des Medienlabors<br />

wird sich aber hauptsächlich erst nach Integration <strong>und</strong> Anwendung im<br />

lehrbetrieb zeigen. Vieles hängt davon ab, wie <strong>und</strong> von wem die einrichtung genutzt<br />

wird. Insofern ist es schwierig, aus den ergebnissen der Arbeit das Potential,<br />

dass sich durch Nutzung des Verb<strong>und</strong>labors ergeben wird, zu bestimmen. Die<br />

Laboreinrichtung bietet auf jeden Fall genug <strong>Raum</strong> für neue Entwicklungen <strong>und</strong><br />

Forschungen für die Fakultät <strong>und</strong> die <strong>Hochschule</strong>. Man kann daher nur gespannt<br />

sein, inwieweit die laboreinrichtung in einigen jahren genutzt wird, welche Projekte<br />

darin entstehen <strong>und</strong> welches Potential sich im Bereich <strong>Interaktion</strong>, <strong>Raum</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Bild</strong> dadurch entwickelt.<br />

literatur<br />

Virtuell-immersive <strong>Raum</strong>arbeiten im lehrbetrieb<br />

GRAU, O. (2002): Virtuelle Kunst in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Visuelle Strategien.<br />

Berlin.<br />

KeRReS, M. (2001): Multimediale <strong>und</strong> telemediale lernumgebungen. Konzeption<br />

<strong>und</strong> entwicklung. München.<br />

KRITZeNBeRGeR, H. (2005): Multimediale <strong>und</strong> interaktive lernräume. München.<br />

SCHUlMeISTeR, R. (2002): Gr<strong>und</strong>lagen hypermedialer lernsysteme. Theorie<br />

- Didaktik -Design. Oldenburg.<br />

SCHWAN, S./BRUDeR, j. (2006): Virtuelle Realität <strong>und</strong> e-learning. Didaktisches<br />

Design. http://www.e-teaching.org/didaktik/gestaltung/vr/vr.pdf (Zugriff<br />

am 24.3.2006)<br />

245


AleXANDeR lUDWIG<br />

3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />

1 Zusammenfassung der Diplomarbeit<br />

je mehr man sich bei der Konzeption eines Interfaces bewusst macht, wie Menschen<br />

denken, handeln <strong>und</strong> wahrnehmen, desto leichter wird der Anwender mit<br />

dem Interface interagieren können. Das Interface wird eine umso höhere Akzeptanz<br />

finden, je mehr es sich an die Wahrnehmung des Menschen anlehnt <strong>und</strong> an<br />

ihr orientiert.<br />

Wir alle kennen die bisher üblichen <strong>und</strong> uns mittlerweile einverleibten <strong>Interaktion</strong>smetaphern<br />

wie Maus <strong>und</strong> Tastatur. Durch die neuen technischen Möglichkeiten<br />

sind inzwischen jedoch völlig neue Ansätze für die Bedienung von Anwendungen<br />

denkbar. Die neuen, komplementären Technologien erlauben einen<br />

neuen Blickwinkel: Beschränkungen durch Hardwarerestriktionen nehmen kontinuierlich<br />

ab <strong>und</strong> erlauben damit die bis dato engen Regeln bei der entwicklung<br />

der <strong>Interaktion</strong>smetaphern aufzuweichen <strong>und</strong> den Zugang zum System auf anders<br />

als bisher gekannte Weise zu erproben.<br />

Entscheidend für die Akzeptanz von zukünftigen ubiquitären Systemen wird<br />

das Design der Mensch-Maschine-Schnittstellen sein. Dabei wird die gewaltige<br />

247


AleXANDeR lUDWIG<br />

Anzahl von Systemen, mit denen ein einzelner Mensch in Zukunft interagieren<br />

muss, eine bedeutende Rolle spielen <strong>und</strong> eine Simplifizierung der Anwendungsbedienung<br />

verlangen. Je mehr wir von unserem Umfeld „gezwungen“ werden,<br />

uns auf zusätzliche Mensch-Maschine-Schnittstellen einzulassen, umso wichtiger<br />

wird es für uns werden, dass diese ähnlich „funktionieren“, <strong>und</strong> wir nicht<br />

jedes Mal völlig neue Kontexte im Umgang mit der Anwendung begreifen <strong>und</strong><br />

trainieren müssen. erfolg wird haben, wer es schafft, eine menschenfre<strong>und</strong>liche<br />

Umgebung der <strong>Interaktion</strong> zu schaffen, die auch noch das Gefühl gibt, eine erleichterung<br />

der Aufgabenbewältigung mit sich zu bringen.<br />

Solange beim Umgang mit dem User Interfaces noch das Vorhandensein dessen<br />

als erstes ins Auge springt oder wir mit der Notwendigkeit einer Aktion konfrontiert<br />

werden, die uns vielleicht noch fremd oder unklar ist, wird jede solche<br />

Schnittstelle erst einmal auf eine gewisse natürliche (wenn auch vielleicht unbewusste)<br />

Abwehrhaltung beim Anwender stoßen. Sobald wir die erfahrung machen,<br />

dass die <strong>Interaktion</strong> keine wirklich neuen Vorkenntnisse benötigt, werden<br />

wir uns ungezwungener auf immer neue Situationen einlassen können <strong>und</strong> auch<br />

bereit sein, neue Wege im Umgang mit der Maschine auszutesten. Der Zugang<br />

wird erleichtert.<br />

Die erkennbare entwicklung in Richtung Schnittstellen, die die Bedürfnisse des<br />

Users als zentralen Ansatz sehen, wird selbst der Motor sein, diese auch voranzutreiben.<br />

Automatisch kommt dabei ein weiterer Aspekt, nämlich ein wirtschaftlicher<br />

Gr<strong>und</strong> für das Entwickeln „menschenbezogener“ Anwendungen hinzu:<br />

je mehr userfre<strong>und</strong>liche Anwendungen in den Handel kommen, umso größer<br />

werden auch die Ansprüche diesbezüglich an zukünftige Programme sein. Die<br />

Erwartungshaltung wird mit jeder realisierten Verbesserung für jedes weitere<br />

Produkt bezüglich Bedienererleichterung steigen. je mehr Anwendungen es gibt,<br />

die einen leicht erlernbaren Charakter haben, umso größer wird die erwartungshaltung<br />

der User sein, auch zukünftige Anwendungen aus diesem Blickwinkel zu<br />

bewerten <strong>und</strong> somit zu akzeptieren oder auch nicht.<br />

Zu beachten ist auch, je mehr Anwendungen von uns bedient werden müssen,<br />

desto intuitiver muss jede Auseinandersetzung mit ihnen werden. Wenn wir auf<br />

bereits erlernte „Verhaltensmuster“ zurückgreifen können, werden wir neue Programme<br />

schneller akzeptieren <strong>und</strong> nicht dadurch abgeschreckt werden, schon<br />

wieder als Novize in eine erst zu trainierende Aufgabe hineinwachsen zu müssen.<br />

letztendlich werden sich nur die Anwendungen am Markt erfolgreich durchsetzen,<br />

die leicht erlernbar <strong>und</strong> einfach zu bedienen sind <strong>und</strong> die am meisten auf<br />

unsere Bedürfnisse eingehen, das ist, uns in den Mittelpunkt des Geschehens<br />

(der Anwendungen, der Werbung etc.) stellen.<br />

248


2 Fragestellungen <strong>und</strong> Vorgehen<br />

3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />

In meiner Thesis betrachte ich die entwicklung, Gestaltung, Analyse <strong>und</strong> Implementierung<br />

interaktiver Computersysteme für den menschlichen Gebrauch,<br />

wobei mein Augenmerk vor allem im praktischen Teil der Arbeit dem Teilaspekt<br />

„3D Interfaces <strong>und</strong> besonders der Integration von Motion Tracking in diese“ gilt.<br />

Folgende Ziele habe ich definiert <strong>und</strong> die Thesis danach strukturiert:<br />

• Aufzeigen neuer Aspekte <strong>und</strong> Trends auf dem Weg zu neuen Bedienoberflächen<br />

bzw. <strong>Interaktion</strong>möglichkeiten <strong>und</strong> deren Umsetzung <strong>und</strong> Nutzung im<br />

Allgemeinen <strong>und</strong> im Bereich des Marketings.<br />

• Zusammenfassungen der verschiedenen Thesen <strong>und</strong> Meinungen von Experten<br />

aus der Literatur zum Thema „Technologische Entwicklungen im Bereich<br />

der Ein- <strong>und</strong> Ausgabegeräte“ aufbereiten <strong>und</strong> daraus eigene Schlüsse<br />

über die Möglichkeiten <strong>und</strong> Auswirkungen dieser entwicklung in der Thesis<br />

ziehen.<br />

• Gedanken zu neuartigen Navigationskonzepten <strong>und</strong> deren Umsetzungs- <strong>und</strong><br />

Anwendungspotenzialen.<br />

• Nach den heute bekannten Gesetzen <strong>und</strong> Empfehlungen für die Gestaltung<br />

von Interaktive User Interfaces habe ich als praktischen Teil meiner Thesis<br />

eine Schaufensterinstallation entwickelt.<br />

Damit war neben der theoretischen Betrachtung des Themas der Aufbau einer<br />

Schaufensterinstallation, von der entwicklung des User Interfaces bis hin zur<br />

Auswertung der aus dem „Experiment“ gewonnen Daten, Gr<strong>und</strong>lage für meine<br />

Thesis. Die zukünftige einsatzmöglichkeit von 3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />

im Bereich Marketing anhand einer Prototyp-Installation zu beobachten<br />

<strong>und</strong> auszuwerten, soll Aufschlüsse über die Auswirkungen dieser neuen Interfaces<br />

auf das Konsumentenverhalten geben. Im Folgenden werden ausgewählte<br />

ergebnisse vorgestellt.<br />

3 Die Installation aus interface-designspezifischer Sichtweise<br />

Ziel der von mir durchgeführten Installation aus interface-designspezifischer<br />

Sicht ist es im Wesentlichen, das übliche eingabeinterface wegfallen zu lassen,<br />

um es dem User zu ermöglichen, direkt mit dem <strong>Raum</strong> zu interagieren - <strong>und</strong><br />

dies auf einfachste Art <strong>und</strong> Weise. Das visuelle ergebnis der <strong>Interaktion</strong> wird dem<br />

User im grafischen Frontend dargestellt, mit der Möglichkeit, über die eigene<br />

Bewegung die Position der dargestellten Figuren zu bestimmen. Das spielerische<br />

Szenario soll einen einfachen <strong>und</strong> ungezwungenen Umgang mit dem Interface<br />

erlauben. Die Verbindung der physischen Tätigkeit mit der dargestellten Reaktion<br />

249


AleXANDeR lUDWIG<br />

des Systems bietet Spaß, Freude <strong>und</strong> Vergnügen. Der Überraschungseffekt durch<br />

das plötzliche Auftauchen einer Figur auf dem Display beim Vorbeigehen ruft die<br />

nötige Aufmerksamkeit für die Installation hervor <strong>und</strong> gibt den Anreiz, sich mit<br />

den Figuren lange genug zu beschäftigen, um auch einen möglichen Kaufwunsch<br />

auszulösen.<br />

Norman (2004) weist in seinem Buch „Emotional Design“ unter anderem auf<br />

den spielerischen Ansatz hin. er beschreibt in diesem Buch auch die drei ebenen<br />

der Auffassung, die sich auch auf interaktive Installationen anwenden lassen.<br />

Das sind: die viszerale ebene, die Verhaltensebene <strong>und</strong> eine ebene des Nachdenkens.<br />

• Über die viszerale Ebene werden biologische Faktoren, wie etwa Emotionen,<br />

Unvernunft, Aufmerksamkeit aufgr<strong>und</strong> greller Farben, Geruch etc. einbezogen.<br />

• Die Verhaltensebene bezieht sich darauf, wie sich etwas verhält. Im Wesentlichen<br />

ist hiermit die Handhabung gemeint: Ist etwas einfach zu benutzen?<br />

• In der Ebene des Nachdenkens nehmen persönliche, kulturelle <strong>und</strong> soziologische<br />

Erfahrung Einfluss, wie Kontexte aufgenommen werden.<br />

Meine Installation lässt sich ebenfalls anhand dieser drei Aspekte beschreiben.<br />

Da sie spielerisch <strong>und</strong> unvernünftig ist, kommt sie dem Rezipienten auf der viszeralen<br />

ebene näher <strong>und</strong> soll durch eine einfache <strong>und</strong> intuitive Handhabung auf<br />

der Verhaltensebene überzeugen. Und soll schließlich, nicht zuletzt aus werblichen<br />

Hintergründen, zum Nachdenken über das Produkt anregen.<br />

Die Installation bietet eine direkte Handlungsanregung, bei der sofort klar wird,<br />

wie das Interface <strong>und</strong> somit die Installation zu benutzen ist. Das Interface lässt<br />

sich nicht falsch bedienen - <strong>und</strong> kann somit auch nicht falsch verstanden werden.<br />

Dieser Punkt bezieht sich auf die ebenfalls von Norman (1988) in „The Design<br />

of Everyday Things“ erwähnte Affordance (Aufforderungscharakter): Affordance<br />

verweist auf den Aufforderungscharakter einzelner <strong>Interaktion</strong>selemente. Diese<br />

vermitteln durch ihre Beschaffenheit, diese kann physisch oder optisch sein,<br />

die Art der möglichen Manipulation. Beispiel: Knöpfe können gedrückt werden.<br />

jedoch entsteht in diesem Punkt eine Kluft zwischen realen <strong>und</strong> virtuellen Objekten.<br />

So ist uns bei realen Objekten allein durch deren Form bewusst, wie wir<br />

sie anfassen <strong>und</strong> manipulieren können. In der virtuellen Welt, wie etwa einem<br />

User Interface, ist diese eindeutige Manipulierbarkeit nicht gegeben. Hinter der<br />

grafischen Fassade, den Graphical User Interface, steht eine klar programmierte<br />

Zuweisung der damit verknüpften Funktion, <strong>und</strong> es gilt diese dem User visuell zu<br />

propagieren. Hierzu haben sich jedoch bestimmte Konventionen über die <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit<br />

etabliert. Einen experimentellen Bruch dieser Konventionen<br />

zeigt beispielsweise die Webseite: http://www.dontclick.it<br />

250


4 Ubiquitous Computing - Die Allgegenwart der Informationstechnologie<br />

Die Allgegenwart der Informationstechnologie wird als Ubiquitious Computing<br />

bezeichnet. Vielerlei entwicklungen tragen dazu bei, dass wir uns in einer zunehmend<br />

von Technologie durchdrungenen Umwelt bewegen. Das Aufkommen von<br />

Funketiketten auf RFID-Basis, multimediafähige Handys <strong>und</strong> Chips in Kreditkarten<br />

<strong>und</strong> Ausweispapieren sind nur der Anfang dieser entwicklung. Der größte<br />

<strong>und</strong> wichtigste Schritt in dieser Entwicklung wird die Vernetzung der „übrig<br />

gebliebenen“ Gegenstände <strong>und</strong> deren Anbindung an das universale Netzwerk<br />

(Internet) sein. Der Computer als solcher kann somit zunehmend mit der Umgebung<br />

verschmelzen beziehungsweise ganz verschwinden. einzelne, miteinander<br />

agierende Gegenstände übernehmen dessen Aufgabe <strong>und</strong> bieten somit eine<br />

Art „intelligente“ Umwelt. Zudem erweist sich die Möglichkeit, sämtliche eingeb<strong>und</strong>enen<br />

Gegenstände zu orten, als zusätzliche Qualität. langfristig gesehen<br />

entsteht so ein „Internet der Dinge“. Ubiquitious Computing ist im Gr<strong>und</strong>e das<br />

Gegenteil von Virtual Reality. Wird der Mensch in der Virtual Reality in eine vom<br />

Computer simulierte Umwelt gesetzt, so wird er im Ubiquitious Computing vom<br />

Informationsnetz umgeben. Der Mensch steht hierbei im Zentrum, wobei sein<br />

reales Umfeld von Computern aufgewertet wird. (lipp 2004: 77 ff.)<br />

5 Ausblick<br />

3D Interfaces <strong>und</strong> Motion Tracking<br />

Interfaces sollten in erster linie auf die Gewohnheiten des Menschen hinsichtlich<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Bewegung eingehen <strong>und</strong> den technischen Fortschritt nutzen,<br />

um diese optimal zu unterstützen. je weniger abstrakt die Interfacemetapher ist,<br />

desto leichter lässt sich der User an das System heranführen. erfahrungen aus<br />

dem bisherigen Umgang mit Interfaces sowie die bekannten Usability-Aspekte<br />

lassen sich auf die neuen Technologien <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen neuen Interfaces<br />

portieren; diese müssen jedoch bei der Portierung auf die neuen Gegebenheiten<br />

angepasst werden.<br />

Neue Interfaces sind eigentlich nichts wirklich neues, sondern ein Schritt hin<br />

zur natürlicheren <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten, also die Umsetzung <strong>und</strong> Nutzung<br />

realer Handlungen auch im Anwendungsumfeld. Am effizientesten lässt sich<br />

anhand intuitiver <strong>und</strong> gewohnter Metaphern interagieren; hier zeigt sich jedoch<br />

auch, dass sich manchmal der User nur durch das Weglassen bekannter eingabegeräte<br />

auf eine neue <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit einlässt. ein großes Thema wird<br />

in der Zukunft der Werbung sein, darauf zu achten, dass Reizüberflutung vermieden<br />

wird. Denn noch hält sich hartnäckig die falsche Einschätzung, je höher<br />

die Datenmenge ist, die auf den zu Bewerbenden gerichtet ist, desto mehr bliebe<br />

hängen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Bei Reizüberflutung geht die Kapazität<br />

für Informationsaufnahme gegen Null. Damit würde auch eine der Gr<strong>und</strong>aussa-<br />

251


AleXANDeR lUDWIG<br />

gen der Medienpsychologie „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Paul Watzlawick)<br />

relativiert oder zumindest in Frage gestellt. Wenn man es jedoch schafft,<br />

Informationen in genau der richtigen Situation anzubieten, so werden diese auch<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Rezipienten aufgenommen. Wichtig ist auch<br />

in Zukunft den technischen Fortschritt <strong>und</strong> dessen Auswirkungen im Auge zu<br />

behalten, vielleicht mit dem besonderen Beachtung, dass es gerade die kleinen<br />

<strong>und</strong> unsichtbaren Dinge sind, die eine schleichende Änderung mit sich bringen,<br />

dann aber wesentlichen Einfluss auf die gesamte Interfacemetapher haben. Als<br />

Beispiel der einsatz von RFID. Der Zuwachs an Technologien in unserer Umwelt<br />

vergrößert auch das mögliche Überwachungspotential; <strong>und</strong> damit wird natürlich<br />

dem Datenmissbrauch eine Tür geöffnet. Den Datenschutz stellt dies vor<br />

eine neue Herausforderung, da es gilt, die Daten des Individuums optimal zu<br />

schützen. Wichtig ist, dass der Konsument weiterhin selbst bestimmen kann, <strong>und</strong><br />

sich bewusst ist, welche Daten er preisgeben möchte. Die Interessen des Konsumenten<br />

<strong>und</strong> des Werbetreibenden müssen in einem ausgewogenen Verhältnis<br />

bleiben. Mehr Werbung bedeutet auf der einen Seite vielleicht mehr Umsatz für<br />

die werbenden Unternehmen, auf der anderen Seite erhält der Beworbene zusätzliche<br />

Informationen, die ihm seine entscheidungen erleichtern können.<br />

literatur<br />

NORMAN, D. (1988): The Design of everyday Things. New York.<br />

NORMAN, D. (2004): emotional Design. New York.<br />

lIPP, l. (2004): <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch <strong>und</strong> Computer im Ubiquitious<br />

Computing. Münster.<br />

252


PATRICK SCHWAB<br />

Informationsvisualisierung mit Hilfe von Processing<br />

zur Darstellung von Websitestatistiken<br />

Heute fallen im beruflichen wie im privaten Bereich riesige Mengen digitaler Daten<br />

an. Hierzu zählt auch die Speicherung von Nutzerdaten, welche das Verhalten<br />

von Besuchern auf entsprechenden Internetseiten wiedergeben. Aus den gewonnenen<br />

Informationen können gezielt Maßnahmen zur Optimierung <strong>und</strong> Weiterentwicklung<br />

der Seiten getroffen werden. Die Menge <strong>und</strong> Komplexität der Daten<br />

steigt jedoch so schnell an, dass deren Analyse <strong>und</strong> Darstellung enorm aufwendig<br />

ist. Im laufe der Zeit haben sich verschiedene Methoden entwickelt, Daten zu<br />

analysieren <strong>und</strong> diese visuell aufzubereiten.<br />

1 Ausgangslage <strong>und</strong> Problemstellung<br />

Im Bereich der Websitestatistik ist das Webserver-Logfile eine häufig genutzte<br />

Quelle, um die darin enthaltenen Informationen zu visualisieren. Das vom Webserver<br />

produzierte Logfile enthält ein automatisch erstelltes Protokoll bestimmter<br />

Aktionen der Besucher einer Internetseite. Da die Anzahl der einträge schnell<br />

sehr groß werden kann, ist es in dieser Form schwierig, Kenngrößen aus dem Datensatz<br />

abzulesen. Deshalb ist es einerseits schwierig, die Daten zu vergleichen,<br />

255


PATRICK SCHWAB<br />

andererseits fehlt vielen Usern das Verständnis, Logfiles korrekt zu interpretieren.<br />

eine Möglichkeit, diese Daten übersichtlicher zu präsentieren, ist die Darstellung<br />

mittels Diagrammen verschiedener Art, zum Beispiel Balken-, Kreis- oder Flächendiagramme.<br />

Hieraus lassen sich zwar Statistiken <strong>und</strong> Strukturen ableiten,<br />

die visualisierten Daten werden jedoch nur relativ einseitig dargestellt. Komplexe<br />

Schaubilder, in denen versucht wird verschiedene Daten gleichzeitig darzustellen,<br />

sind oft unübersichtlich.<br />

Datensätze treten in den verschiedensten Formen auf <strong>und</strong> können auf ebenso<br />

vielseitige Weise dargestellt werden: in ihrer Reinform, gelistet <strong>und</strong> sortiert in Tabellen,<br />

zusammengefasst zu Datenpaketen, aufbereitet in Diagrammen <strong>und</strong> zusätzlich<br />

codiert über Form <strong>und</strong> Farbe. Websitestatistiken liefern in der Regel eine<br />

große Anzahl an Diagrammen, um den Betrachtern den Zugang zu den Daten<br />

zu verschaffen. Problematisch ist hierbei allerdings die relativ einseitige Darstellung<br />

der Diagramme, welche mehrheitlich ohne Bezug zueinander aufbereitet<br />

werden. Möchte man mehrere Faktoren betrachten, muss in der Regel zwischen<br />

unterschiedlichen Charts gewechselt werden. Hierdurch gehen dem Betrachter<br />

wichtige Informationen verloren, da der Bezug der Daten zueinander nicht gegeben<br />

ist. Gefordert ist folglich eine Form der Darstellung, die mehrere Variablen<br />

sinnvoll miteinander kombiniert. Darüber hinaus besteht in der Regel keine Möglichkeit<br />

mit dem visualisierten Datensatz zu interagieren.<br />

2 Zielsetzung<br />

Das Ziel ist es, eine neue Darstellungsform für die Websitestatistik zu finden, die<br />

dem Betrachter einen größeren einblick in den Datensatz ermöglicht, als bisherige<br />

Darstellungsformen. Dabei soll im Speziellen auf die Merkmale einzelner<br />

Seiten des zu visualisierenden Internetauftritts eingegangen werden, ohne dabei<br />

mehrere Schaubilder miteinander vergleichen <strong>und</strong> analysieren zu müssen. Anhand<br />

der statistischen Darstellung soll es möglich sein, direkte Rückschlüsse auf<br />

die Qualität einzelner Seiten zu treffen, welche wiederum strategische Maßnahmen<br />

zur Optimierung dieser erlauben.<br />

3 Vorgehen<br />

Für eine effektive Analyse der Seite sollen die verwendeten Variablen in einer Darstellungsform<br />

kombiniert werden. Ziel dabei ist es, Zusammenhänge der Daten<br />

gewinnbringend zu visualisieren <strong>und</strong> eine aufschlussreiche, übersichtliche Darstellung<br />

zu erzeugen. ein Problem das gerade bei neuen Visualisierungsformen<br />

häufig auftritt ist, dass diese für den Betrachter oft schwer zu lesen sind. Um den<br />

einstieg für die Betrachter zu erleichtern wird deshalb im Folgenden versucht,<br />

weitestgehend mit bereits gelernten Formen zu arbeiten. Die erste Variable, die<br />

256


Informationsvisualisierung mit Hilfe von Processing<br />

visualisiert werden soll, ist die Anzahl der Besucher pro Unterseite. Diese gibt<br />

an, wie viele Benutzer in einem bestimmten Zeitraum auf der entsprechenden<br />

Seite zu Besuch waren. Hierbei liegt es nahe, eine Form zu wählen, welche in<br />

Abhängigkeit von den Besuchern in ihrer Größe variiert <strong>und</strong> das aus der Treemap<br />

bekannte Prinzip der Größenrelevanz aufgreift. je größer die Anzahl der Besucher<br />

ist, desto größer ist auch das darzustellende Objekt. Gut geeignet ist hierfür<br />

der Kreis (vgl. Abb. 1).<br />

Abb. 1 : Kreisform Abb. 2: Kreisform im <strong>Raum</strong> Abb. 3: Trichterobjekt<br />

eine optisch angenehme Form, welche in statistischen Darstellungen bereits aus<br />

dem Kreisdiagramm bekannt ist. Dargestellt werden soll das Referenzobjekt im<br />

dreidimensionalen <strong>Raum</strong>. Folglich wird die Ausgangskreisform über die x- <strong>und</strong><br />

z-Achse gezeichnet (vgl. Abb. 2). Gezeigt wird ein Kreis mit variablem Radius,<br />

welcher sich an die Anzahl der Besucher anpasst. Da aber die Besucheranzahl<br />

alleine keine große Aussagekraft über die Tauglichkeit der einzelnen Seiten hat,<br />

wird diese mit der Verweildauer der Besucher kombiniert. Für die erweiterung<br />

der Kreisform ist eine Abtragung in Richtung der y-Achse angedacht. Wird zusätzlich<br />

die Verweildauer abgetragen, entsteht ein Trichterobjekt (vgl. Abb. 3),<br />

welches entsprechend der Besucheranzahl <strong>und</strong> Verweildauer in der Höhe sowie<br />

dem Durchmesser variiert. Jede Schicht des Trichterobjekts steht hierbei für eine<br />

festgelegte Verweildauer <strong>und</strong> die Anzahl der zu dieser Zeit noch vorhandenen<br />

Besucher. Beginnend mit der obersten Schicht, welche dem einstiegszeitpunkt<br />

entspricht (komplette Anzahl der Besucher), werden beispielsweise im Minutentakt<br />

weitere Schichten abgetragen <strong>und</strong> die noch verbleibenden Besucher über das<br />

Kreisobjekt dargestellt. Auf diese Weise ergeben sich für die einzelnen Seiten entsprechende<br />

Trichterobjekte, die bestimmten Typen zugeordnet werden können<br />

<strong>und</strong> somit erste Rückschlüsse bezüglich des Nutzerverhaltens auf der Seite erlauben.<br />

Abbildung 4 zeigt zwei Querschnitte möglicher Referenzobjekte. Der linke<br />

Querschnitt tendiert zu einer zylindrischen Form. Dies hängt damit zusammen,<br />

dass über die Zeit (y-Achse) nur ein geringer Abfall an Besuchern aufzuweisen<br />

ist.<br />

257


PATRICK SCHWAB<br />

Abb. 4: Querschnitt des Trichterobjekts<br />

Diese Art Trichter spricht für den Inhalt der entsprechenden Seite <strong>und</strong> weist<br />

eine hohe durchschnittliche Verweildauer auf. Der rechte Querschnitt hingegen<br />

kann bei gleicher Anzahl an Besuchern (vgl. Radius des Startkreises) nur eine<br />

geringere durchschnittliche Verweildauer aufweisen. Dies zeigt sich durch den<br />

schnellen Abfall der Besucher über die Zeit (y-Achse). Diese Art der Trichterform<br />

ist ein erstes Indiz für Seiten, welche beim Betrachter nicht ausreichend Begutachtung<br />

finden <strong>und</strong> unter Umständen optimiert werden sollten. Natürlich muss<br />

dies von Seite zu Seite differenziert werden. einstiegsseiten, die den User direkt<br />

zu weiteren Angeboten oder Unterseiten weiterleiten sollen, werden es schwer<br />

haben, mit einer hohen Verweildauer glänzen zu können. Handelt es sich hierbei<br />

allerdings um Seiten, die dem Besucher wesentliche Informationen vermitteln<br />

sollten, ist eine niedrige Verweildauer äußerst unvorteilhaft. Diese Fälle gilt es<br />

vorab zu unterscheiden. Die nächsten Variablen, die es darzustellen gilt, sind die<br />

Ein- <strong>und</strong> die Ausstiegsseiten. Hiefür werden einfache Pfeilobjekte verwendet, die<br />

durch ihre Richtung, ihre Größe sowie eine farbliche Codierung, die ein- <strong>und</strong> Aussteiger<br />

der entsprechenden Seite kennzeichnen. Über diese zusätzlichen Objekte<br />

erhält der Betrachter einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt, um Rückschlüsse<br />

auf die Seiten des Internetauftritts zu treffen. Kommt es bei Seiten, die eine hohe<br />

Anzahl an Besuchern aufweisen oder als typische einstiegsseiten gelten, zu vermehrten<br />

Ausstiegen, ist es angebracht, diese auf mangelhaften beziehungsweise<br />

fehlerhaften Inhalt zu überprüfen. eventuell können hier auch technische Probleme<br />

oder zu lange ladezeiten Gr<strong>und</strong> für den Ausstieg der User sein.<br />

Die bisher betrachteten Variabeln spiegeln den Zustand einer Unterseite wider.<br />

Im Folgenden gilt es zusätzlich eine Visualisierungsform für die Bewegung der<br />

Besucher zwischen den Seiten zu finden. Hierfür werden mehrere Unterseiten<br />

in der bereits bekannten Graphenform abgetragen <strong>und</strong> durch linien verb<strong>und</strong>en,<br />

sobald eine Bewegung zwischen den Seiten festgestellt wird. Je nach Häufigkeit<br />

der Bewegung nehmen die Stränge der linien an Intensität zu oder ab. Zusätzlich<br />

kann durch farbliche Codierung die Intensität unterstützt werden. Seiten, die gar<br />

nicht frequentiert werden oder kaum Bewegung aufweisen sind schnell auszumachen<br />

<strong>und</strong> können auf mögliche Ursachen hin untersucht werden. ein Gr<strong>und</strong><br />

hierfür ist womöglich eine schlechte Navigationsstruktur oder falsch platzierte<br />

Hyperlinks, die vom Besucher nicht gef<strong>und</strong>en werden.<br />

258


Informationsvisualisierung mit Hilfe von Processing<br />

Die Möglichkeit der <strong>Interaktion</strong> ist ein weiterer wichtiger Punkt für den Betrachter.<br />

Sie ermöglicht es ihm, die Datenbestände je nach Wunsch zu betrachten <strong>und</strong><br />

direkt in diese einzugreifen. Fehlerhafte oder unschlüssige <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />

hinterlassen beim User unter Umständen einen negativen eindruck <strong>und</strong><br />

schmälern somit die Chance, ihn mit der Anwendung zu überzeugen. Aktionen<br />

sollten schlüssig <strong>und</strong> nachvollziehbar sein. Folgende <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />

gilt es bei der prototypischen Umsetzung zu berücksichtigen:<br />

• Das Darstellen einer Zeitleiste, über die der Betrachter auf tagesbezogene<br />

Auswertungen zugreifen kann.<br />

• Die Bewegung im <strong>Raum</strong>. Der Betrachter soll die Möglichkeit haben, sich frei<br />

im dreidimensionalen <strong>Raum</strong> bewegen zu können. Ziel dabei ist es, die visualisierten<br />

Objekte aus der von ihm gewünschten Perspektive betrachten<br />

zu können. Um dem Problem der Desorientierung aus dem Weg zu gehen,<br />

soll es zusätzlich möglich sein, vordefinierte perspektivische Ansichten anzuspringen<br />

<strong>und</strong> über einen Standard-Zoomwert direkt in die Ausgangslage<br />

zurückkehren zu können.<br />

• Das Ein- <strong>und</strong> Ausblenden der Variablen, die grafisch dargestellt werden<br />

(Trichterobjekte, Ein- <strong>und</strong> Ausstiegsseiten, Besucherbewegung). Dies soll<br />

dazu dienen, gezielt bestimmte, für den Betrachter wichtige Parameter betrachten<br />

zu können.<br />

• Des Weiteren soll dem Betrachter die Möglichkeit gegeben werden, zwischen<br />

der Parallel- <strong>und</strong> der Zentralprojektion zu wechseln. „Parallelprojektionen<br />

werden sehr häufig in 3D-CAD-Systemen verwendet. Da Längen <strong>und</strong> Winkel<br />

erhalten bleiben, sind Messungen in der Projektion möglich. Bei allen Parallelprojektionen<br />

fehlt die Tiefeninformation. Ein von der Projektionsebene<br />

entferntes Objekt ist genau so groß wie das selbe Objekt unmittelbar vor der<br />

Projektionsebene“(DMA 2007). In der Zentralprojektion hingegen werden<br />

weit entfernte Objekte auch kleiner dargestellt als nahe liegende Objekte<br />

<strong>und</strong> perspektivisch verzerrt. Ist der Betrachter an einem Überblick auf die<br />

Zugriffe der einzelnen Seiten interessiert (die über den Radius der Kreise<br />

dargestellt sind) hat er die Möglichkeit, in die Parallelprojektion zu wechseln.<br />

Diese Ansicht ist verzerrungsfrei <strong>und</strong> erlaubt eine genaue Vergleichsmöglichkeit<br />

zwischen den einzelnen Seiten.<br />

• Abschließend soll dem Betrachter eine Detailansicht einzelner Objekte als<br />

weitere <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit angeboten werden. Diese erlaubt eine separate<br />

Darstellung einzelner Seiten mit genauen Werten wie der Besucheranzahl,<br />

der durchschnittlichen Besucherzeit, den ein- <strong>und</strong> Aussteigern <strong>und</strong>,<br />

falls vorhanden, den verweisenden Quellen.<br />

259


PATRICK SCHWAB<br />

4 ergebnisse <strong>und</strong> Ausblick<br />

Websitestatistiken werden genutzt, um einen eindruck über das Besuchersegment<br />

<strong>und</strong> dessen Verhaltensweise zu bekommen. Bis heute gibt es im Bereich<br />

der Websitestatistik kaum Alternativen zu etablierten Darstellungsmethoden. Da<br />

sich derzeit keine klare Richtung in der entwicklung neuer Formen der Darstellung<br />

abzeichnet, wurde im Rahmen der Diplomarbeit gezielt auf die Nachteile<br />

gängiger lösungen eingegangen <strong>und</strong> anhand dieser auf eine neue, klare Form<br />

hingearbeitet. Darüber hinaus sind die Betrachter statistischer Darstellungen<br />

durch den konzeptionellen Ansatz aus ihrer bisher recht „passiven“ Rolle befreit<br />

worden <strong>und</strong> durch eine interessante, interaktive lösung motivierter, sich genauer<br />

mit dem visualisierten Datensatz zu beschäftigen. Die <strong>Interaktion</strong>selemente erlauben<br />

es dem Betrachter, gezielt in die Darstellung der Daten einzugreifen <strong>und</strong><br />

diese je nach Wunsch zu betrachten. Um die Tragfähigkeit des Konzeptes zu verdeutlichen,<br />

wurde ein Prototyp mit Processing entwickelt. Den aktuellen Stand<br />

des Prototyps findet sich unter http://processing.sense-art.de.<br />

Abb. 5: Screenshot des Prototyps<br />

literatur<br />

DMA (2007) Gr<strong>und</strong>lage: 3D Grafikmodule.<br />

http://www.dma.ufg.ac.at/app/link/Gr<strong>und</strong>lagen:3D-Grafik/module/9643<br />

(14.01.2007)<br />

260


ARBeITSBeReICH INTeRAKTION


I. <strong>Interaktion</strong>skonzepte – Angewandte Forschung


WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />

Interaktive Medieninstallationen im Spannungsverhältnis<br />

von medialer Gestaltung <strong>und</strong> technischer<br />

Konstruktion<br />

1 einleitung: Veranstaltung Interaktive Medieninstallationen<br />

Seit dem Sommersemester 2006 wurde an der Fakultät Digitale Medien der<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> von dem Architekten Daniel Fetzner <strong>und</strong> dem Informatiker<br />

Wolfgang Taube die interdisziplinäre Veranstaltung ‚Interaktive Medieninstallationen‘<br />

entwickelt <strong>und</strong> mit guter studentischer Resonanz zweimal durchgeführt.<br />

Zielgruppe waren Studierende aus den Studiengängen Medieninformatik<br />

<strong>und</strong> Online Medien, die in eher generalistisch angelegten Studiengängen für<br />

Tätigkeiten im Zusammenhang mit den inzwischen nicht mehr ganz so Neuen<br />

Medien ausgebildet werden.<br />

Besonderheit der Veranstaltung war die enge Verzahnung von künstlerisch/gestalterischen<br />

Anforderungen mit der technischen Umsetzung in einer anspruchsvollen<br />

Programmierumgebung <strong>und</strong> deren realräumliche Inszenierung. Dies<br />

stellte sowohl für die Studierenden als auch für die lehrenden, die von unterschiedlichen<br />

fachlichen Traditionen geprägt sind, in der Seminarsituation eine<br />

Herausforderung dar.<br />

267


WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />

2 Interaktive Medieninstallationen<br />

Interaktive Medieninstallationen sind als Form der Medienkunst vorwiegend seit<br />

den 1980er jahren entstanden. es handelt sich um technische Umgebungen, bei<br />

denen BesucherInnen durch unterschiedliche <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten mit<br />

dem System kommunizieren <strong>und</strong> dabei Video- <strong>und</strong>/oder Audioausgaben in echtzeit<br />

beeinflussen. Die künstlerischen Konzepte thematisieren oft den Umgang<br />

mit medialen Strukturen.<br />

Bekannte Beispiele für Medieninstallationen sind etwa Access von Marie Sester 1<br />

im ZKM, the Very Nervous System (VNS) von David Rokeby 2 <strong>und</strong> der Zerseher<br />

von joachim Sauter 3 <strong>und</strong> Dirk lüsebrink.<br />

Für MedieninformatikerInnen ermöglichen interaktive Medieninstallationen<br />

eine Auseinandersetzung mit neuartigen ein- <strong>und</strong> Ausgabemedien <strong>und</strong> selbst<br />

gestaltbaren räumlichen Umgebungen. Als künstlerische Praxisform kann eine<br />

Installation über den engen Horizont kommerziell einsetzbarer Produkte hinausgehen<br />

<strong>und</strong> den Beteiligten zu einer innovativen Sicht auf moderne <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />

verhelfen.<br />

3 Werkzeuge für die echtzeit-Medienverarbeitung<br />

Nun ist die erstellung multimedialer Präsentationen mit einem PC heute trivial<br />

– ganze Bibliotheken wurden mit der Beschreibung der Verheißungen <strong>und</strong><br />

Gefahren von Multimedia in den letzten jahren gefüllt <strong>und</strong> eine Reihe von Produkten<br />

sind Bestandteile unseres technisierten Alltags geworden. Die vielzitierte<br />

Integration der unterschiedlichen Medien im PC beschränkt sich aber oft auf den<br />

universellen Mausklick, der dann ganz traditionell ein Musikstück, einen Film<br />

oder eine Animation startet. Höhepunkte der Medienintegration sind dann textbasierte<br />

Chats, die parallel zum Abspielen eines Films angeboten werden.<br />

Die aktive einbindung der BesucherInnen in multimediale Umgebungen <strong>und</strong> vor<br />

allem die Verwendung von in echtzeit manpulierbaren Audio- <strong>und</strong> Videodaten<br />

werden auch heute noch eher in aufwändigen <strong>und</strong> eher experimentellen Prototypen<br />

eingesetzt.<br />

erst mit der Möglichkeit, direkt in echtzeit auf Benutzer zu reagieren, werden<br />

neue multimediale erlebnisformen realisierbar. Das reine Betrachten vorgefertigter<br />

medialer Versatzstücke ist nicht zu vergleichen mit der direkten interaktiv-immersiven<br />

einbeziehung in eine elektronische Welt. Dazu muss auf der<br />

1 http://www.sester.net/<br />

2 http://homepage.mac.com/davidrokeby/vns.html<br />

3 http://www.artcom.de/<br />

268


Interaktive Medieninstallationen<br />

technischen ebene das Ausgabebild ca. 25 Mal pro Sek<strong>und</strong>e immer wieder neu<br />

berechnet <strong>und</strong> ausgegeben werden. Und auch konzeptionell stellen solche Umgebungen<br />

andere Anforderungen an die Produzenten <strong>und</strong> die Benutzer.<br />

Die technischen Voraussetzung für die schnelle echtzeit-Videoverarbeitung sind<br />

– vor allem getrieben durch den Verkaufserfolg der Computerspiele – in den<br />

letzten jahren immer mehr verbessert worden. Die dramatisch gestiegene leistungsfähigkeit<br />

der heutigen Grafikkarten <strong>und</strong> generell der heutigen Prozessoren<br />

ermöglichen komplexe grafische Berechnungen auch auf handelsüblicher Hardware.<br />

Auf der eingabeseite stehen mit preisgünstigen Webcams ganz einfache<br />

Möglichkeiten zur Aufnahme von Video- <strong>und</strong> auch Audiosignalen zur Verfügung,<br />

die dann bei Bedarf durch qualitativ hochwertigere Kameras ersetzt werden können.<br />

Für die Ausgabe kann man große lCD-Schirme oder auch Beamer einsetzen,<br />

die dann oft mit Rückprojektion verwendet werden.<br />

Diese Hardware-Komponenten sind eine Voraussetzung für die entwicklung einfacher<br />

<strong>und</strong> kostengünstiger Medieninstallationen. Auf der Softwareseite könnte<br />

man eine beliebige weitverbreitete Programmiersprache wie C++ oder java verwenden,<br />

um die beabsichtigte Funktionalität zu entwickeln. Allerdings zeigt sich<br />

hier, dass die Wahl einer für die Zielgruppe geeigneten Softwareumgebung von<br />

großer Bedeutung für das endprodukt ist.<br />

Weitverbreitete entwicklungsumgebungen wie etwa die java-Programmierung<br />

mit eclipse können zwar für die Programmierung einer medialen Installation<br />

eingesetzt werden. es zeigt sich aber, dass der konzeptionelle Graben zwischen<br />

der Implementierungsebene <strong>und</strong> dem beabsichtigten Resultat in vielen Fällen<br />

zu groß ist. Die Folge ist, dass dann Techniker technisch anspruchsvolle Umgebungen<br />

realisieren, die aus gestalterischer Sicht unbenutzbar sind, während<br />

die Gestalter Konzepte erstellen, von denen nur ein statischer eindruck in Photoshop<br />

realisiert wird <strong>und</strong> die nie lauffähig zum leben erweckt werden. Ausweg<br />

aus diesem Dilemma ist oft eine arbeitsteilige Zusammenarbeit von Technikern<br />

<strong>und</strong> Gestaltern zur Realisierung der gewünschten Produkte. Hierbei besteht die<br />

Gefahr, daß den Gestaltern der Kontakt zum eigentlichen medialen Material verlorengeht.<br />

Im Gegensatz zu traditionellen Medien besteht das Material bei den<br />

elektronischen Medien sowohl aus den elektronischen Repräsentanten der stofflichen<br />

Materie als auch aus den Algorithmen, die dieses Material auf unterschiedliche<br />

Art <strong>und</strong> Weise transformieren können. Dieser Zusammenhang mit seinen<br />

Gestaltungsmöglichkeiten kann nur einheitlich erfahren werden <strong>und</strong> setzt ein<br />

einlassen der Gestalter auf die Algorithmik voraus.<br />

Um diese integrierte Herangehensweise zu unterstützen, haben eine Reihe von<br />

Programmierprojekten eher aus dem künstlerischen Umfeld Programmierumgebungen<br />

speziell für die Zielgruppe künstlerisch/gestalterisch orientierter Personen<br />

entwickelt. Während Trogemann/Viehoff von der KHM (Code@Art) mit<br />

einem Toolkit sich noch recht eng am traditionellen Programmierverständnis<br />

269


WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />

halten, haben Casey Reas <strong>und</strong> Ben Fry mit der java-basierten Programmierumgebung<br />

Processing eine eigenständige entwicklungsumgebung realisiert, die nicht<br />

auf Informatik-spezifische Entwicklertugenden Wert legt. Processing unterstützt<br />

stark das Ausprobieren von effekten, die inkrementelle <strong>und</strong> interaktive Weiterentwicklung<br />

von Konstruktionsideen <strong>und</strong> die einfache Weitergabe für den kommunikativen<br />

Austausch. Von der Handhabung erinnert es stark an das in den 1990er<br />

jahren weitverbreitete HyperCard, allerdings mit einer nahtlosen Integration in<br />

die java-Welt mit all den Möglichkeiten, die der komponentenbasierte Ansatz von<br />

java bietet.<br />

In dem hier vorgestellten Seminar wurde eine weitere entwicklungsumgebung<br />

eingesetzt, die von vornherein von Künstlern für Künstler entwickelt wurde <strong>und</strong><br />

die ein ganz eigenständiges Programmierparadigma verwendet. es handelt sich<br />

um Max (zusammen mit den Komponenten Msp <strong>und</strong> Jitter), das von Miller Puckette<br />

<strong>und</strong> anderen seit 1996 entwickelt wurde 4 .<br />

Max 5 wurde zunächst zur Verarbeitung von Audio-Daten entwickelt, später kam<br />

mit jitter eine Komponente für die Verarbeitung von Video-Daten hinzu. eine<br />

möglichst schnelle Verarbeitung von live-Daten in echtzeit, die miteinander<br />

kombiniert, unterschiedlich transformiert <strong>und</strong> dann wieder ausgegeben werden<br />

können, stand von Anfang an im Zentrum der Entwicklung. Max ist als komfortable<br />

Oberfläche zur Kontrolle unterschiedlicher digitaler Signale konzipiert, die<br />

einem medialen Gestalter maximale Eingriffsmöglichkeiten in das mediale Material<br />

gewährt. Zur Realisierung vieler effekte ist man auf auf mehr oder weniger<br />

komplexe Programmierung angewiesen – die Programmierung ist aber immer<br />

nur Mittel zum (medialen) Zweck.<br />

Das zugr<strong>und</strong>liegende Programmierparadigma ist die datenfluß-orientierte Programmierung.<br />

Im Gegensatz zur prozeduralen Programmierung, die sich an den<br />

Verarbeitungsschritten des Prozessors orientiert, stehen bei der datenfluß-orientierten<br />

Programmierung die Daten – also das mediale Material – im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Max-Programme – sog. Patches – bestehen aus Objekten, die miteinander verb<strong>und</strong>en<br />

sind <strong>und</strong> die sich zu verarbeitende Daten <strong>und</strong> Kontroll-Messages zuschicken.<br />

Die TeilnehmerInnen der Seminare waren einerseits sehr fasziniert von den<br />

Möglichkeiten von Max, hatten andererseits auch große Schwierigkeiten, sich von<br />

dem ihnen vertrauten java-Programmiermodell zu lösen. Manche Funktionen<br />

wurden dann doch lieber als sog. Max-Externals in Java programmiert, obwohl<br />

eine einfachere Realisierung in Max durchaus möglich gewesen wäre.<br />

4 Ähnliche Ansätze verfolgen Pure Data (PD) <strong>und</strong> vvvv<br />

5 Max/Msp/Jitter sowie zusätzliche Komponenten werden als kommerzielle Produkte über www.<br />

cycling74.com vertrieben<br />

270


4 Ablauf<br />

Interaktive Medieninstallationen<br />

In dem Seminar mussten nun einerseits die notwendige technischen Gr<strong>und</strong>lage<br />

zur Realisierung der gewünschten Medieninstallationen vorbereitet werden, zum<br />

anderen mussten die inhaltlichen Konzepte erarbeitet werden. So wurden vorhandene<br />

Medieninstallationen untersucht, eigene Ideen zu umsetzbaren Konzepten<br />

weiterentwickelt <strong>und</strong> Texte zur Medientheorie diskutiert <strong>und</strong> gleichzeitig erfolgte<br />

eine schrittweise einarbeitung in die ungewohnte Systemumgebung mit ersten<br />

Durchführbarkeitstests bezogen auf die technischen Komponenten. Abger<strong>und</strong>et<br />

wurde das Seminar mit einem Besuch des ZKM in Karlsruhe, bei dem wichtige<br />

Medienkunstwerke live erlebt werden konnten.<br />

Als zentrales technisches Thema stellte sich das Tracking von Objekten in einer<br />

Videoszene in echtzeit heraus. Will man nicht auf spezielle Sensoren zurückgreifen,<br />

so ist die Analyse von Videobildern einer Szene zur erkennung von Benutzerverhalten<br />

zentrales Moment der <strong>Interaktion</strong>ssteuerung. Hier stand mit dem<br />

von jean Marc Pelletier entwickelten Paket CV6 (Computer Vision) ein hilfreiches<br />

Werkzeug zur Verfügung.<br />

Auf der gestalterischen ebene war der Umgang mit einer sehr offenen Fragestellung<br />

für viele Studierende eine große Herausforderung. Während sie in ihrem<br />

bisherigen Studium mit sehr detailliert festgelegten Aufgabenstellungen<br />

konfrontiert waren, wurde hier nur ein grober Rahmen vorgegeben, der von den<br />

einzelnen Gruppen konkretisiert werden musste. Im ersten Seminar war dies<br />

eine bestimmte <strong>Raum</strong>situation, im zweiten Seminar wurde das Thema ‚Grenzen‘<br />

vorgegeben.<br />

Zunächst liefen einige Konzepte auf die reine Bebilderung einer Meinung hinaus<br />

(z.B. ‚Studiengebühren sind schlecht‘). Erst in einem zweiten Schritt konnten<br />

sich die Studierenden auf die <strong>Raum</strong>situation einlassen <strong>und</strong> eine Installation entwerfen,<br />

die dem Benutzer ein erleben der Situation ohne pädagogischen Zeigefinger<br />

ermöglichte.<br />

Bei dem Versuch, das spezifisch Neuartige der interaktiven Medieninstallationen<br />

zu erfassen, stießen wir in den Diskussionen immer wieder auf die Mehrdeutigkeit<br />

des <strong>Interaktion</strong>sbegriffs7 . Von Dag Svanaes (2000) haben wir die Bedeutung<br />

des kinästhethischen Denkens gelernt, mit dem der norwegische Informatiker<br />

die zentrale Rolle von körperlichen Bewegungen für das Verständnis von <strong>Interaktion</strong>en<br />

fasst. In Fortführung <strong>und</strong> ergänzung der Gestaltheorie aus der Tradition<br />

des Bauhauses schlägt Svanaes im Kontext interaktiver Umgebungen eine Erweiterung<br />

sogenannter kinästhetischer Gestaltmomente vor. Neue eingabeverfahren<br />

wie die Analyse von Videobildern, die über die Beschränkungen von Maus <strong>und</strong><br />

6 http://www.iamas.ac.jp/~jovan02/cv/<br />

7 Vgl. dazu den Beitrag über den <strong>Interaktion</strong>sbegriff „<strong>Interaktion</strong> = (Actio + Reactio)*“ von Wolfgang<br />

Taube in diesem Arbeitsbericht.<br />

271


WOlFGANG TAUBe / DANIel FeTZNeR<br />

Tastatur hinausgehen, ermöglichen eine verstärkte Berücksichtigung des Körpers<br />

als eingabemedium. Bereits mit einfachen <strong>Bild</strong>verarbeitungsalgorithmen kann<br />

man aus den <strong>Bild</strong>ern einer Webcam interessante <strong>Interaktion</strong>sgesten extrahieren.<br />

Verschiedene Arbeiten in der Veranstaltung haben auf diese Weise das Verhalten<br />

von Besuchern im <strong>Raum</strong> thematisiert. In einer Installation wurde ein Betrachter,<br />

der bei Bewegung im Videobild sichtbar war, bei Nicht-Bewegung ausgeblendet<br />

<strong>und</strong> der Betrachter war auf einmal unsichtbar. Umgekehrt wurde in einer anderen<br />

Installation ein Avatar umso kleiner (<strong>und</strong> trauriger), je weniger Bewegung in<br />

der Szene erkennbar war.<br />

Abb. 1: Skizze T.I.M.<br />

David Rokeby, gleichzeitig Künstler <strong>und</strong> Programmierer, betont in seinem Aufsatz<br />

‚Transforming Mirrors‘ (1999) die neue Rolle des Zuschauers <strong>und</strong> den Verlust<br />

an Kontrolle auf Seiten des Künstlers: ‚Interaction is about encounter rather<br />

than control‘. Interaktive Kunstwerke schaffen einen Möglichkeitsraum für<br />

Handlungen. erst in den eigenständigen Handlungen der Interakteure materialisiert<br />

sich das Kunstwerk <strong>und</strong> ermöglicht in dieser Materialisierung ein neuartiges<br />

Erleben der Situation. Über den Text gab es viele Diskussionen zum Unterschied<br />

von linearen <strong>und</strong> interaktiven Arbeiten. Rockeby gibt hier bereits 1994 einen sehr<br />

differenzierten Standpunkt wieder, so dass Tranforming Mirrors auch die noch<br />

heute relevanten Fragen stellt.<br />

Abb. 2: Screenshot FKK<br />

272


entstanden sind insgesamt 12 sehr unterschiedliche Arbeiten, wobei einige konzeptionell<br />

<strong>und</strong> technisch herausragend waren. Besonders erwähnenswert sind die<br />

Installationen Farbtöne, FleX <strong>und</strong> T.I.M. im Sommersemester 2006 sowie eX-<br />

ClUSIO, Türhüter <strong>und</strong> Considerable Strain im Wintersemester 2006/07.<br />

Sämtliche Arbeiten sind inklusive Software-Patch im ISIC-Wiki dokumentiert<br />

unter:<br />

http://webuser.fh-furtwangen.de/~fetzner/spacestudies/index.php?n=Main.IMI<br />

5 erfahrungen<br />

Der technologische Aufwand bei dieser lehrform ist minimal, neben den lizenzen<br />

von Max/MSP/Jitter werden lediglich einfache Hardwarekomponenten<br />

wie etwa handelsübliche Firewire- oder USB-Kameras mit geringer Auflösung<br />

benötigt. Die Motivation unter den Studierenden war in beiden Semestern sehr<br />

hoch <strong>und</strong> es wurden von allen Teilnehmern interessante erfahrungen gesammelt<br />

<strong>und</strong> neue Beobachtungen gemacht. Seien es solche kleinen Experimente wie etwa<br />

das Drehen des Beamers an der Decke um 90°, so dass das <strong>Bild</strong> nicht wie gewohnt<br />

an die Wand, sondern auf den Boden projiziert wird <strong>und</strong> man darauf laufen kann.<br />

Oder die erfahrung, eine Videokamera als technisches Auge <strong>und</strong> Schnittstelle<br />

zu einer selbst programmierten Umgebung zu erleben, die im Gebrauch dann<br />

wieder neue Fragen aufwirft. Damit kann ein Verständnis für ein programmiertes<br />

Gegenüber als Systemkonzept in der theoretischen <strong>und</strong> praktischen Auseinandersetzung<br />

um eine selbstentwickelte Installation wachsen.<br />

Wir werden den Kurs also auch weiter anbieten.<br />

literatur<br />

Interaktive Medieninstallationen<br />

SVANAeS, D. (2000): Understanding Interactivity – Steps to a Phenomenology<br />

of Human-Computer Interaction. Trondheim. http://www.idi.ntnu.no/~dags/<br />

interactivity.pdf<br />

ROKeBY, D. (1999): Transforming Mirrors. http://homepage.mac.com/davidrokeby/mirrors.html<br />

TROGeMANN, G./VIeHOFF, j. (2005): Code@Art. eine elementare einführung<br />

in die Programmierung als künsterlische Praktik. Wien.<br />

273


WOlFGANG TAUBe<br />

Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

1 <strong>Interaktion</strong> – Facetten eines umstrittenen Begriffs<br />

Wenn ein Begriff über lange Zeit in verschiedenen Fachdisziplinen kontrovers<br />

diskutiert wird, dann deutet er auf ein zentrales Problem hin, dessen Bedeutung<br />

sich noch nicht völlig entfaltet hat. ein Musterbeispiel hierfür ist die Diskussion<br />

um den <strong>Interaktion</strong>sbegriff in den vergangenen 20 jahren, die auch im jahre<br />

2007 nicht abgeschlossen ist <strong>und</strong> die hier um einen Beitrag aus der Sicht eines<br />

Informatikers bereichert werden soll. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit<br />

eine geeignete Fassung des <strong>Interaktion</strong>sbegriffs eine Hilfestellung bei der<br />

Konstruktion interaktiver Systeme sein kann.<br />

Mensch <strong>und</strong> Maschine<br />

Man kann den Begriff <strong>Interaktion</strong> sehr unterschiedlich definieren. Im Extremfall<br />

kann man ihn entweder für die <strong>Interaktion</strong>en zwischen Menschen (interpersonale<br />

<strong>Interaktion</strong>) reservieren oder ihn soweit fassen, dass es sämtliche Aktivitäten<br />

von Menschen <strong>und</strong> Maschinen umfasst. Wenn man die <strong>Interaktion</strong> für das aufeinander<br />

bezogene Handeln von Menschen reserviert, so wird oft als zusätzlicher<br />

275


WOlFGANG TAUBe<br />

Begriff die Interaktivität ins Spiel gebracht, um das Zusammenspiel von Menschen<br />

mit Maschinen (<strong>und</strong> vor allem Computern) zu fassen (z.B. Schulmeister<br />

2004). eine gr<strong>und</strong>sätzliche Unterscheidung zwischen Mensch <strong>und</strong> Maschine<br />

macht dann Sinn, wenn ansonsten die Gefahr besteht, dass man Maschinen menschenähnliche<br />

eigenschaften zuordnet <strong>und</strong> ihnen eigene Absichten, Gefühle <strong>und</strong><br />

Verstand unterstellt.<br />

Ich möchte in diesem Beitrag mit einem breit gefassten <strong>Interaktion</strong>sbegriff die<br />

Strukturen von <strong>Interaktion</strong>sprozessen untersuchen <strong>und</strong> Ablauf sowie Wirkungsweise<br />

von <strong>Interaktion</strong>en als wechselseitig aufeinander bezogene Handlungen von<br />

beliebigen Akteuren beschreiben <strong>und</strong> die ebene der Bedeutung von <strong>Interaktion</strong><br />

zunächst ausklammern. erst wenn wir die Funktionsweise <strong>und</strong> die Faszination<br />

von <strong>Interaktion</strong>sprozessen verstanden haben, können wir ihren Stellenwert im<br />

Rahmen menschlicher Begegnungsprozesse besser verstehen.<br />

Ein vielzitierter Ansatz stammt von Rafaeli (1988: 120): “Interactivity is feedback<br />

that relates both to previous messages and to the way previous messages related<br />

to those preceding them.” Wichtig ist der Bezug der Nachrichten untereinander<br />

<strong>und</strong> Rafaeli unterscheidet grob drei ebenen der Kommunikation: die nicht-interaktive<br />

Zweiweg-Kommunikation, bei der es keinen Bezug der Nachrichten untereinander<br />

gibt, die reaktive Kommunikation, bei der es einen einfachen Bezug der<br />

Reaktion auf die auslösende Kommunikationsaktion gibt <strong>und</strong> zum Schluß die eigentlich<br />

interaktive Ebene, auf der die Reaktion Bezug nimmt auf „Inhalt, Natur,<br />

Form oder einfach die Präsenz früherer Referenzen“ (1988: 119). Die Qualität der<br />

Reaktionen auf frühere Aktionen im Rahmen von <strong>Interaktion</strong>ssequenzen ist also<br />

von zentraler Bedeutung für die <strong>Interaktion</strong>. Dieser prozeßbezogene <strong>Interaktion</strong>sbegriff<br />

bildet auch die Gr<strong>und</strong>lage für die hier noch zu entwickelnde Sichtweise<br />

der <strong>Interaktion</strong>.<br />

Abb. 1: <strong>Interaktion</strong>svarianten<br />

276


Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

Ausgehend von der <strong>Interaktion</strong> von zwei oder mehr Menschen in einer direkten<br />

Kommunikationssituation kann man verschiedene <strong>Interaktion</strong>sformen im Zusammenhang<br />

mit Computern unterscheiden. Im ersten Fall wird der Computer<br />

als Vermittlungs-Medium genutzt, um eine <strong>Interaktion</strong> mit einem menschlichen<br />

<strong>Interaktion</strong>spartner durchzuführen. Hierbei hat der Computer eine ganz ähnliche<br />

Funktion wie das Telefon, der Brief oder die Videokonferenz <strong>und</strong> er dient vor<br />

allem zur Überbrückung von <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> Zeit. Die Technik soll möglichst unsichtbar<br />

bleiben <strong>und</strong> dient nur als Träger für die eigentliche <strong>Interaktion</strong>shandlungen.<br />

eine völlig andere Situation ergibt sich bei der <strong>Interaktion</strong> mit einem Computer,<br />

bei der es um die Nutzung gespeicherter Daten oder die Arbeit mit Programmen<br />

geht. Hier soll die Technik sichtbar werden, da sie neuartige Nutzungs- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sformen<br />

ermöglicht. In realen technisch vermittelten <strong>Interaktion</strong>sprozessen<br />

ist die Grenze fließend. Während beim Telefon der reine Vermittlungscharakter<br />

deutlich überwiegt, wird die e-Mail-<strong>Interaktion</strong> durch eine ganze Reihe<br />

zusätzlicher Nutzungsfunktionen unterstützt <strong>und</strong> damit auch verändert.<br />

Greifen wir zwei weitverbreitete Nutzungsformen heraus: die Suche nach Informationen<br />

<strong>und</strong> Computerspiele. Der durch das Internet bereitgestellte riesige<br />

Informationsraum wird unter anderem durch Suchmaschinen wie Google erschlossen.<br />

Antworten auf Fragen findet man in einem interaktiven Frage- <strong>und</strong><br />

Antwortprozeß. Fragen sind die Suchbegriffe, die ergebnisseiten sind die Antworten.<br />

In einem mehrstufigen Prozeß werden die Fragen präzisiert <strong>und</strong> die Antworten<br />

vom Suchenden im Hinblick auf seine Problemstellung ausgewertet. In<br />

diesem Prozeß spielen die gespeicherten Daten, der Algorithmus der Zuordnung<br />

von Suchbegriff <strong>und</strong> Datenbank <strong>und</strong> die Bereitstellung der ergebnisse für die<br />

Suchenden eine entscheidende Rolle für die Interpretation durch die Suchenden<br />

<strong>und</strong> die Bestimmung der nächsten Suchschritte.<br />

Bei den Computerspielen ist die <strong>Interaktion</strong> mit dem auf dem Computer laufenden<br />

Spiel die essenz der Nutzung (Crawford 2003). Die Spieler handeln permanent<br />

im Kontext des Spiels, sie treffen Entscheidungen <strong>und</strong> führen sensomotorische<br />

Handlungen aus, die über erfolg <strong>und</strong> Nicht-erfolg entscheiden. Die<br />

Konsequenzen ihrer Handlungen werden unmittelbar am <strong>Bild</strong>schirm dargestellt<br />

<strong>und</strong> können so in kontinuierlichen Feedback-Zyklen optimiert werden. Die Initiative<br />

für Handlungen liegt nicht nur beim menschlichen Spieler, vielmehr treten<br />

im laufe des Spiele immer neue Herausforderungen auf (neue Monster, abnehmende<br />

Kraft), auf die der Spieler reagieren muss.<br />

Das gemeinsam Verbindende der verschiedenen <strong>Interaktion</strong>sformen mit dem<br />

Computer sind die Aktions-Reaktions-Zyklen, die eine schrittweise Bewegung<br />

im Handlungsraum ermöglichen. Der menschliche <strong>Interaktion</strong>spartner verfolgt<br />

dabei eigene Ziele, die allerdings nicht explizit formuliert sein müssen <strong>und</strong> sich<br />

auch im Verlauf der <strong>Interaktion</strong> ändern können. Auf der Seite des maschinellen<br />

<strong>Interaktion</strong>spartners kann man nicht von Zielen sprechen, aber hier sind die Re-<br />

277


WOlFGANG TAUBe<br />

aktionen von menschlichen Designern so entworfen, daß sie verstehbare Antworten<br />

auf Fragen des menschlichen <strong>Interaktion</strong>spartners liefern können. Die<br />

Asymmetrie des <strong>Interaktion</strong>sprozesses ist offenk<strong>und</strong>ig, die strukturelle Ähnlichkeit<br />

der Aktions-Reaktionsfolgen rechtfertigt aber die Sichtweise als wechselseitig<br />

aufeinander bezogene Handlungen.<br />

<strong>Interaktion</strong> mit dem Computer<br />

In der Informatik wird der <strong>Interaktion</strong>sbegriff erstaunlicherweise kaum gr<strong>und</strong>legend<br />

problematisiert. Nach dem gr<strong>und</strong>legenden Modell von Eingabe –> Verarbeitung<br />

–> Ausgabe (EVA) führt ein Computer eine Verarbeitung aufgr<strong>und</strong> einer<br />

Eingabe durch <strong>und</strong> erzeugt eine Ausgabe. Für klar definierte Aufgaben ist das<br />

Modell angemessen <strong>und</strong> zur Not ist es die Aufgabe der Informatiker, für eine<br />

klare Definition der Aufgaben zu sorgen.<br />

Abb. 2: eVA-Prinzip<br />

erst mit der zunehmenden medialen Nutzung von Computern, bei der nicht mehr<br />

der Werkzeugcharakter mit klar definierten Aufgaben im Vordergr<strong>und</strong> steht <strong>und</strong><br />

die interaktive Nutzung eher der Orientierung in neuartigen Handlungsräumen<br />

dient, stößt das klassische eVA-Modell an seine Grenzen.<br />

Peter Wegner (1997) hat vor 10 jahren an prominenter Stelle in den Communications<br />

der ACM eine Debatte um den Stellenwert von <strong>Interaktion</strong>en angestoßen<br />

(‚Why Interaction is more powerful than Algorithms‘) <strong>und</strong> dabei zentrale Konzepte<br />

wie die Offenheit interaktiver Systeme thematisiert. Allerdings ging es ihm<br />

vor allem um eine Ausweitung des Berechenbarkeitsbegriffs <strong>und</strong> nicht um ein<br />

Verständnis des Zusammenwirkens von Mensch <strong>und</strong> Maschine.<br />

Die Informatik als Wissenschaft beschäftigt sich intensiv mit der Konstruktion<br />

interaktiver Systeme <strong>und</strong> ein ganzes Teilgebiet – die Human-Computer Interaction<br />

– widmet sich den praktischen Problemen der <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch<br />

<strong>und</strong> Maschine. In Preece et al. (2002), einem der besten lehrbücher zum Thema<br />

Interaction Design, findet man eine Fülle von Vorschlägen für den Entwurf<br />

interaktiver Systeme, eine klare Begriffsbestimmung der <strong>Interaktion</strong> sucht man<br />

allerdings vergebens.<br />

278


Abb. 3: <strong>Interaktion</strong>smodell nach Norman<br />

Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

Don Norman (1986: 42) hat ein erweitertes <strong>Interaktion</strong>smodell für die Mensch-<br />

Computer <strong>Interaktion</strong> entwickelt, bei dem BenutzerInnen aus übergeordneten<br />

Zielen Handlungsentwürfe ableiten, diese dann dem Computer zur Ausführung<br />

übergeben <strong>und</strong> anschließend das Resultat von der Wahrnehmung bis zur Bewertung<br />

verarbeiten. In dieser oder leicht abgewandelter Form gehört das Modell<br />

inzwischen zum Handwerkszeug der Informatik.<br />

Für eine funktionale Sichtweise auf die Ausführung von Kommandos <strong>und</strong> die anschließende<br />

Bewertung des Resultats ist dieses Modell sehr gut geeignet, den dialogischen<br />

Charakter eines fortlaufenden <strong>Interaktion</strong>s-Prozesses von zwei eigenständigen<br />

Akteuren fasst es allerdings nicht. eingabe <strong>und</strong> Ausgabe sind immer<br />

wiederkehrende ereignisse in einer längeren Folge von <strong>Interaktion</strong>sschritten, die<br />

aufeinander aufbauen <strong>und</strong> die sich gegenseitig bedingen.<br />

Chris Crawford, ein bekannter entwickler von Computerspielen, macht die spezielle<br />

Faszination der Computerspiele an der Interaktivität fest <strong>und</strong> definiert dies<br />

als „a cyclic process in which two active agents alternately (and metaphorically)<br />

listen, think and speak“ (2003: 76 – nebenstehend eigene Darstellung). In diesem<br />

Modell wird die eigenständige Rolle der beiden beteiligten Akteure gut sichtbar<br />

<strong>und</strong> auch der kontinuierliche Rollenwechsel von Sender <strong>und</strong> empfänger.<br />

279


WOlFGANG TAUBe<br />

Abb. 4: <strong>Interaktion</strong>smodell nach Crawford<br />

Allerdings bleibt das Modell von Crawford in dieser Darstellung bei allem Wechsel<br />

noch statisch, da kein Bezug auf den Verlauf der <strong>Interaktion</strong> erfolgt – es sind reine<br />

Reaktionen auf direkt vorangegangene Aktionen. Notwendig ist eine erweiterung<br />

des Modells, mit der die vorangegangenen <strong>Interaktion</strong>sschritte gespeichert werden<br />

<strong>und</strong> somit für eine Referenz verfügbar gemacht werden. Der Zustand, wie er<br />

sich über die vorausgegangenen <strong>Interaktion</strong>sschritte entwickelt hat, muss gespeichert<br />

werden <strong>und</strong> die beteiligten <strong>Interaktion</strong>spartner müssen damit arbeiten können.<br />

Notwendig ist eine erweiterung des Modells, die den <strong>Interaktion</strong>szustand in<br />

das Modell integriert, wobei die beteiligten <strong>Interaktion</strong>spartner sowohl über einen<br />

eigenen Zustand verfügen als auch über einen gemeinsam geteilten. Die beiden<br />

Interakteure nenne ich – wie in der Literatur zur <strong>Interaktion</strong> üblich – Ego <strong>und</strong> Alter,<br />

um die unterschiedlichen Rollen im <strong>Interaktion</strong>sprozess deutlich zu machen.<br />

Im Vergleich zum ursprünglichen Modell von Crawford sind auch die Phasen<br />

des Wahrnehmens, Denkens <strong>und</strong> Handelns stärker miteinander verzahnt, was<br />

den menschlichen Perzeptions- <strong>und</strong> Kognitionsprozessen eher entspricht (Gibson<br />

1982). Mit diesem Modell können interaktive Kommunikationsprozesse nach<br />

Rafaeli (1988) gut beschrieben werden.<br />

Abb. 5: erweiterung des <strong>Interaktion</strong>smodells von Crawford<br />

280


Im nächsten Schritt wird der zweite Interakteur – der bis jetzt ein Mensch war –<br />

durch einen Computer <strong>und</strong> die Begriffe wahrnehmen – denken – handeln durch<br />

technischen Verarbeitungsphasen Eingabe – Verarbeitung – Ausgabe ersetzt.<br />

In diesem Modell der <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch <strong>und</strong> Computer sind alle notwendigen<br />

Komponenten berücksichtigt. Als letzte erweiterung kommt hier noch<br />

die Berücksichtigung der vergangenen <strong>Interaktion</strong>schritte hinzu.<br />

Abb. 6: <strong>Interaktion</strong> zwischen Computer <strong>und</strong> Mensch<br />

Der von Rafaeli geforderte Rückbezug der <strong>Interaktion</strong>shandlungen erfordert notwendigerweise<br />

eine Speicherung der <strong>Interaktion</strong>shistorie – als Erinnerung beim<br />

Menschen oder als Speicherung in einer Datenstruktur beim Computer. Die gespeicherten<br />

Inhalte müssen dann bei der Produktion der Reaktion berücksichtigt<br />

werden <strong>und</strong> ausgewählte elemente des Zustandes sollten auch visualisiert<br />

werden. Die detaillierten Anforderungen an das Zusammenspiel von Aktion <strong>und</strong><br />

Reaktion müssen allerdings genauer untersucht werden.<br />

2 <strong>Interaktion</strong> als kontinuierliches Zusammenspiel von Aktion <strong>und</strong><br />

Reaktion<br />

Interaktive erfahrungen von BenutzerInnen<br />

Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

In den Diskussionen um Definition <strong>und</strong> Stellenwert der <strong>Interaktion</strong> wird meist<br />

die <strong>Interaktion</strong>ssituation als Ganzes betrachtet, ohne die verschiedenen Rollen<br />

zu beachten. Aber auch hier muss man für eine Analyse der Wirkungsmechanismen<br />

die sich gegenseitig ergänzenden Perspektiven der beteiligten Akteure, von<br />

Ego <strong>und</strong> Alter, einnehmen <strong>und</strong> die <strong>Interaktion</strong>ssequenzen aus der Sicht von Ego<br />

durchdeklinieren.<br />

Aus der Perspektive der Gestaltung interaktiver (Computer-)Systeme ist vor allem<br />

die Perspektive der BenutzerInnen von entscheidender Bedeutung. Auch wenn<br />

man Mensch <strong>und</strong> Maschine als beteiligte <strong>Interaktion</strong>spartner analysiert, so exi-<br />

281


WOlFGANG TAUBe<br />

stiert die ebene der Intentionalität <strong>und</strong> des erlebens von geglückten <strong>Interaktion</strong>en<br />

selbstverständlich nur auf der Seite des menschlichen <strong>Interaktion</strong>spartners.<br />

In der Diskussion um Interaktivität findet man immer wieder Hinweise auf die<br />

spezifische Erlebnisqualität von <strong>Interaktion</strong>en. Rafaeli (1988: 124) spricht von<br />

der <strong>Interaktion</strong> als einem menschlichen Gr<strong>und</strong>bedürfnis, jaeckel (1995: 463)<br />

beschreibt die physische Präsenz der <strong>Interaktion</strong>spartner als wichtiges Definitionselement<br />

des soziologischen <strong>Interaktion</strong>sbegriffs, da nur hier die direkten<br />

Rückkopplungsmechanismen greifen. Für Goleman ist die Fähigkeit, unmittelbar<br />

auf andere Menschen reagieren zu können, ein gr<strong>und</strong>legendes Merkmal unseres<br />

„sozialen Gehirns“ (2006: 19) <strong>und</strong> Bauer (2006) betont die Wichtigkeit der Spiegelung<br />

<strong>und</strong> der Resonanz der eigenen Aktionen in den Reaktionen der Umwelt.<br />

Im Kern geht es bei der interaktiven erfahrung darum, dass meine Aktion als<br />

Akteur eine Reaktion bei einem Gegenüber auslöst, die ich – der Akteur – als<br />

Re-Aktions-Handlung wahrnehme. Meine zentrale These lautet nun, daß die<br />

Gr<strong>und</strong>elemente dieser interaktiven erfahrung auch in der <strong>Interaktion</strong> mit dem<br />

computergestützten Material wirksam sind <strong>und</strong> die Faszination interaktiver Systeme<br />

ausmachen. Voraussetzung ist allerdings, daß die Aktionen als nicht-triviale<br />

Handlungen erlebt werden <strong>und</strong> dass das Gegenüber ein eigenständiges Verhalten<br />

zeigt.<br />

Gr<strong>und</strong>lage der interaktiven erfahrung ist die eigene Handlung. Diese Handlung<br />

ist nicht auf verbale – gesprochene oder textuelle Äußerungen – beschränkt <strong>und</strong><br />

schließt im Gegenteil immer auch eine körperliche Komponente mit ein. Auch in<br />

den oft beschriebenen Gesprächssituationen hat die Körpersprache einen großen<br />

<strong>und</strong> notwendigen Anteil an der Gesamtinteraktion. In der computergestützten<br />

<strong>Interaktion</strong> ergeben sich z. Zt. gerade neue <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten durch entwicklung<br />

neuer eingabegeräte, die nicht nur die Fingerspitzen, sondern auch die<br />

<strong>Raum</strong>position <strong>und</strong> die Gestik des Körpers erfassen können.<br />

Die Fähigkeit zu handeln <strong>und</strong> die Befriedigung, die sich aus einer erfolgreich<br />

durchgeführten Handlung ergibt, findet sich gut in dem englischen Begriff<br />

‚Agency‘ wieder. Eine deutsche Übersetzung ist nicht einfach <strong>und</strong> wird unterschiedlich<br />

gehandhabt. Eine gute Formulierung ist der Begriff der ‚Handlungsmächtigkeit‘,<br />

der sowohl die Fähigkeit zur Handlung als auch das Machtgefühl,<br />

das sich aus der Handlung ergibt, beinhaltet. janet Murray formuliert sehr schön<br />

die spezielle Befriedigung, die sich aus der Handlungsmächtigkeit ergibt: “When<br />

the things we do bring tangible results, we experience the second characteristic<br />

delight of electronic environments – the sense of agency. Agency is the satisfying<br />

power to take meaningful action and see the results of our decisions and choices.”<br />

(1999: 126) Im Umgang mit interaktiven Systemen erleben die BenutzerInnen<br />

ein Gefühl von Agency, von Handlungsmacht, das viele von ihnen in anderen<br />

Situationen selten erleben <strong>und</strong> das die Gr<strong>und</strong>lage für die Faszination dieser Systeme<br />

darstellt.<br />

282


Aufbauend auf dem erleben der Agency ist es gerade die Asymmetrie der <strong>Interaktion</strong><br />

mit dem Computer, die die <strong>Interaktion</strong> mit dem Computer aus anderen<br />

<strong>Interaktion</strong>en heraushebt: die strukturelle Ähnlichkeit mit der menschlichen <strong>Interaktion</strong><br />

ohne den Kampf um Durchsetzung <strong>und</strong> soziale Macht in menschlichen<br />

<strong>Interaktion</strong>en – der Computer beschwert sich nicht, hat keine Widerworte, aber<br />

er antwortet trotzdem.<br />

<strong>Interaktion</strong> mit dem Material<br />

Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

Häufig wird der <strong>Interaktion</strong> zwischen Menschen die <strong>Interaktion</strong> zwischen Mensch<br />

<strong>und</strong> Maschine gegenübergestellt. Eine Maschine ‚an sich’ gibt es aber nicht – eine<br />

Maschine transformiert immer etwas Gegebenes nach einem Algorithmus in ein<br />

geplantes Ziel. Dieses Gegebene ist das Material des Transformationsvorganges<br />

<strong>und</strong> im Gr<strong>und</strong>e findet bei der <strong>Interaktion</strong> mit der Maschine eine <strong>Interaktion</strong> mit<br />

dem Material statt. So ist die <strong>Interaktion</strong> mit den Ausstellungsrechnern im Kaufhaus,<br />

auf denen nur das Betriebssystem läuft, extrem eingeschränkt <strong>und</strong> lässt die<br />

Faszination der vernetzten Notebooks kaum erahnen. Erst mit meinen Texten,<br />

<strong>Bild</strong>ern, Videos <strong>und</strong> e-Mails wird die Maschine zum Bezugspunkt spannender<br />

<strong>Interaktion</strong>en.<br />

Das über einen Computer bereitgestellte Material ist kein reines passives Objekt<br />

von Aktionen. Durch die Verarbeitungsmöglichkeiten des Computers bekommt<br />

das Material eine eigene Plastizität <strong>und</strong> innere Dynamik, kann das Material eine<br />

eigenständige Logik entfalten. So wird in der Medieninstallation ‚Der Zerseher’<br />

von Sauter (1991) ein dargestelltes <strong>Bild</strong> an der Stelle, die die ZuschauerInnen im<br />

Fokus haben, ‚zerfressen‘ oder, um es technischer auszudrücken, durch Eye-Tracking<br />

wird der Blickpunkt bestimmt <strong>und</strong> die dort befindlichen Pixel nach einem<br />

Algorithmus transformiert.<br />

Mit der Perspektivverschiebung von der Maschine zum computergestützten Material<br />

gerät auch der eigentliche Inhalt der <strong>Interaktion</strong>, die über den Computer<br />

vermittelte <strong>Interaktion</strong> mit dem algorithmischen Material, in den Mittelpunkt der<br />

Untersuchung. Mit der numerischen Repräsentation (Manovich 2001) von Texten,<br />

Tönen, <strong>Bild</strong>ern <strong>und</strong> Videos ergibt sich die Möglichkeit, Algorithmen auf diesem<br />

Material auszuführen <strong>und</strong> fast beliebige Operationen vom reinen Abspielen<br />

bis hin zur Konstruktion virtueller Welten zu realisieren. So entstehen Objekte<br />

in künstlichen Räumen, die aber zunächst seltsam leblos bleiben. erst in der <strong>Interaktion</strong><br />

mit BenutzerInnen können die Objekte ein eigenes Verhalten zeigen,<br />

indem sie auf Eingaben nach beliebig komplexen Algorithmen reagieren <strong>und</strong> so<br />

in der kontinuierlichen Abfolge von Aktion <strong>und</strong> Reaktion einen Dialog mit dem<br />

Material ermöglichen.<br />

283


WOlFGANG TAUBe<br />

Analyserahmen für die <strong>Interaktion</strong><br />

Ich schlage einen <strong>Interaktion</strong>sbegriff vor, der sowohl das interpersonale Handeln<br />

als auch Handeln mit Maschinen umfasst. Dabei versuche ich die Spezifik von<br />

interaktivem Handeln, die Faszination herauszuarbeiten, die ganz offensichtlich<br />

mit dieser speziellen Art von Handlungen verb<strong>und</strong>en ist. Meine Vermutung ist,<br />

dass dieses interaktive Handeln sehr gr<strong>und</strong>legend in der menschlichen körperlichen<br />

<strong>und</strong> geistigen Struktur verankert ist. Die Faszination der sozialen <strong>Interaktion</strong><br />

mit dem Anderen überträgt sich in veränderter Form auf die von Menschen<br />

geschaffenen Artefakte.<br />

<strong>Interaktion</strong>en sind <strong>Interaktion</strong>sprozesse, bei denen einzelne <strong>Interaktion</strong>sschritte,<br />

die jeweils aus einer Aktion <strong>und</strong> einer darauf bezogenen Reaktion bestehen, zeitlich<br />

nacheinander <strong>und</strong> in enger Verzahnung miteinander ablaufen. Dies wird in<br />

der Formel <strong>Interaktion</strong> = (Actio + Reactio)* ausgedrückt, die die bekannte Newtonsche<br />

Formel von actio = reactio in abgewandelter Form aufnimmt <strong>und</strong> um den<br />

in der Informatik bekannten Wiederholungsoperator (...)* ergänzt.<br />

Die gr<strong>und</strong>legenden Komponenten eines <strong>Interaktion</strong>sprozesses sind <strong>Interaktion</strong>sschritte.<br />

Von einem <strong>Interaktion</strong>sschritt kann man sprechen, wenn eine Aktion<br />

eines Akteurs eine durch den Akteur wahrnehmbare Reaktion eines eigenständigen<br />

Anderen auf die Aktion hervorruft. Dieses eigenständige Andere ist ein<br />

Gegenüber, das einen eigenen Zustand hat <strong>und</strong> ein nicht-triviales Verhalten zeigt.<br />

Mit Interaktivität wird das Potential eines Akteurs bezeichnet, <strong>Interaktion</strong>sschritte<br />

durchzuführen, also Aktionen auszuführen <strong>und</strong> Reaktionen wahrzunehmen.<br />

Nach dieser Definition ist die Existenz eines Gegenübers, eines an der <strong>Interaktion</strong><br />

beteiligten Partners, von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung. Bei der <strong>Interaktion</strong> zwischen<br />

zwei Menschen ist dies offensichtlich gegeben. Bei Artefakten sind mehrere Fälle<br />

zu unterscheiden. Bei einem Gegenstand, der als erweiterung des eigenen Körpers<br />

erlebt wird wie z.B. eine Gabel oder ein Spazierstock, sprechen wir in der<br />

Regel nicht von einer <strong>Interaktion</strong>. Ganz anders verhält es sich, wenn Artefakte<br />

ein Verhalten zeigen, dass nicht durch rein physikalische Gesetze offensichtlich<br />

erklärbar ist. Der menschliche Wahrnehmungsapparat kann sehr schnell willkürliche<br />

Bewegungen in der Umwelt unterscheiden <strong>und</strong> wendet ihnen erhöhte Aufmerksamkeit<br />

zu. Solche willkürlichen Begungen sind Störungen der visuellen<br />

Struktur (Gibson 1982: 109), die von hoher Relevanz für den Beobachter sind.<br />

Damit ein Artefakt als Gegenüber erlebt wird, ist die Nicht-Vorhersehbarkeit des<br />

Verhaltens <strong>und</strong> damit die eigenständigkeit eine wichtige Voraussetzung.<br />

Die in einem <strong>Interaktion</strong>sprozess von ego <strong>und</strong> Alter ausgetauschten Aktionen<br />

<strong>und</strong> Reaktionen stellen eine Sprache dar, die sowohl aus explizit ausgetauschten<br />

verbalen Äußerungen als auch aus dem gesamten Spektrum körperlicher Signale<br />

<strong>und</strong> technischer Sensoren bestehen kann. einzige Voraussetzung ist, dass die<br />

jeweiligen Signale auch von den Interakteuren wahrgenommen <strong>und</strong> interpretiert<br />

284


Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

werden können. Während die <strong>Interaktion</strong>ssprache sich beim Menschen im evolutionsprozeß<br />

über einen langen Zeitraum entwickelt hat, wird sie bei der Mensch-<br />

Maschine <strong>Interaktion</strong> zumindest für die Seite der Maschine im Hinblick auf die<br />

<strong>Interaktion</strong> bewusst gestaltet. Beim entwurf einer Benutzungsschnittstelle wird<br />

eine <strong>Interaktion</strong>ssprache entworfen <strong>und</strong> in diesem entwurfsprozeß müssen zentrale<br />

Qualitätsdimensionen beachtet werden.<br />

Der Bezug von Aktion <strong>und</strong> Reaktion muss sich in der <strong>Interaktion</strong>ssprache wiederfinden.<br />

So muss die Reaktion des Gegenübers im Zusammenhang mit der Aktion<br />

erlebt werden, also in einer Wirkungs-Ursache Beziehung stehen, <strong>und</strong> muss zeitlich<br />

deutlich gekoppelt sein. eine zentrale eigenschaft dieser Kopplung <strong>und</strong> wichtiges<br />

Qualitätskriterium ist ihre Direktheit. Hutchins, Hollan <strong>und</strong> Norman (1986:<br />

99) schlagen eine Unterscheidung zwischen semantischer <strong>und</strong> artikulatorischer<br />

Direktheit vor. Die semantische Direktheit bezieht sich auf die Übereinstimmung<br />

von Aktion <strong>und</strong> Reaktion auf der bewußten symbolischen ebene, auf der ein<br />

Mensch <strong>Interaktion</strong>sschritte durchführt. Die artikulatorische Direktheit bezieht<br />

sich auf die Form der einzelnen <strong>Interaktion</strong>sschritte. je näher die physische Form<br />

der Objekte der <strong>Interaktion</strong>ssprache ihrer Bedeutung ist, desto höher ist die artikulatorische<br />

Direktheit. Dieser Gr<strong>und</strong>gedanke liegt dem bekannten <strong>Interaktion</strong>sprinzip<br />

der direkten Manipulation zugr<strong>und</strong>e, bei dem eine direkt wahrnehmbare<br />

Repräsentation von Objekten durch kontinuierlich wahrnehmbare <strong>Interaktion</strong>shandlungen<br />

verändert werden kann (Shneiderman 1992: 205).<br />

Für ein Verständnis der artikulatorischen Direktheit ist die einbeziehung der Körperlichkeit<br />

der menschlichen Interakteure wichtig. Oft werden <strong>Interaktion</strong>en auf<br />

den Austausch symbolischer Nachrichten auf der ebene der semantischen Direktheit<br />

reduziert. Dabei wird die körperliche F<strong>und</strong>ierung unserer Aktionen <strong>und</strong><br />

die nicht-symbolische Wahrnehmung der verschiedenen ebenen von Reaktionen<br />

ausgeblendet. In der phänomenologischen Tradition (Merleau-Ponty 1946) haben<br />

Autoren wie Dag Svanaes (2000) <strong>und</strong> Paul Dourish (2001) die Bedeutung des ‚kinaestetic<br />

thinking’ (Svanaes), also dem Denken in <strong>und</strong> durch Bewegung, <strong>und</strong> der<br />

‚embodied interaction’ (Dourish) herausgearbeitet. Erst in unserem körperlichen<br />

Dasein kann der Mensch agieren <strong>und</strong> hat vor aller symbolischen Konzeptualisierung<br />

der Reaktionen mit seiner körperlichen Wahrnehmung längst vorbewußte<br />

Facetten der Reaktion aufgenommen.<br />

Durch die enorme leistungssteigerung von ein- <strong>und</strong> Ausgabegeräten von Computern<br />

können heute <strong>Interaktion</strong>ssprachen entworfen werden, die ein hohes Maß<br />

an artikulatorischer Direktheit realisieren. Das erleben der Direktheit auf semantischer<br />

<strong>und</strong> auf artikulatorischer ebene führt beim Interakteur zum Gefühl des<br />

direkten engagements (Hutchins, Hollan <strong>und</strong> Norman 1986: 114) in der <strong>Interaktion</strong>.<br />

Ein einzelner <strong>Interaktion</strong>sschritt ist gr<strong>und</strong>sätzlich asymmetrisch – Akteur <strong>und</strong><br />

Re-Akteur (ego <strong>und</strong> Alter) sind funktional deutlich unterschieden. Die mögliche<br />

285


WOlFGANG TAUBe<br />

Symmetrie kommt über die Prozesse – also über aufeinander aufbauende <strong>und</strong><br />

sich gegenseitig referenzierende <strong>Interaktion</strong>sschritte. Wenn die Rolle von Akteur<br />

<strong>und</strong> Re-Akteur regelmäßig wechselt, so kann man einer symmetrischen <strong>Interaktion</strong><br />

sprechen.<br />

<strong>Interaktion</strong>sprozesse von Menschen mit Artefakten sind in der Regel asymmetrisch<br />

– der Mensch ist der Akteur. Wenn allerdings das Artefakt (Computer)<br />

eine Folge von Aktionen ausführt (Fragen, eingabeaufforderungen), auf die der<br />

Mensch jeweils eine Antwort (Reaktion) geben soll, so kann man auch hier ansatzweise<br />

von einem symmetrischen <strong>Interaktion</strong>sprozess sprechen.<br />

Bei Computerspielen wächst der Computer in die Rolle des Akteurs hinein –<br />

Handlungs-Sequenzen, eigenständige Aktionen (neue Monster tauchen an unerwarteten<br />

Stellen auf) – hier handelt es sich um einen weitgehend symmetrischen<br />

<strong>Interaktion</strong>sprozess.<br />

3 Folgerungen<br />

Aus der Betonung des Prozeßcharakters von <strong>Interaktion</strong>en folgt eine stärkere Berücksichtigung<br />

von <strong>Interaktion</strong>sprozessen auch bei der Gestaltung technischer<br />

interaktiver Systeme. es reicht nicht, isolierte Aktionen in einer Anwendung zu<br />

implementieren <strong>und</strong> es den Benutzer-Innen zu überlassen, diese Aktionsatome<br />

zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Kontinuierliche Rückmeldungen<br />

während der Aktionsausführung, Visualisierung des sich entwickelnden<br />

Zustands der <strong>Interaktion</strong> <strong>und</strong> Operationen, die sich auf einzelne elemente des<br />

Zustands beziehen, sind wichtige Gestaltungsanforderungen im Systementwurf.<br />

Diese Punkte klingen altvertraut, sie müssen aber im lichte der besonderen Bedeutung<br />

der Wahrnehmung von Reaktionen schärfer gefasst werden. Neuere ergebnisse<br />

der Perzeptionsforschung (Spitzer 1996, Ware 2004) machen die große<br />

Bedeutung vorbewußter Wahrnehmungen deutlich. Noch bevor wir Objekte auf<br />

einer abstrakten ebene bewußt wahrnehmen, laufen verschiedene Wahrnehmungsoperationen<br />

ab, die die Bewertung der aktuellen Situation betreffen. Diese<br />

Prozesse sind gerade im Rahmen von <strong>Interaktion</strong>en sehr wichtig <strong>und</strong> müssen<br />

bewußt beim Systementwurf gestaltet werden.<br />

Der Zustand einer <strong>Interaktion</strong> – die Kenntnis von den vorher abgelaufenen <strong>Interaktion</strong>sschritten<br />

– muss auf der Seite des interaktiven Systems stärker als bisher<br />

visualisiert werden <strong>und</strong> auch für Operationen nutzbar gemacht werden. Dazu<br />

gehören die Darstellung von Navigationsschritten, Bezug auf frühere eingaben,<br />

Rückkehr zu früheren Zuständen auch jenseits des ‚Undo’ <strong>und</strong> ähnlichen Funktionalitäten.<br />

eine Analyse von <strong>Interaktion</strong>sabläufen der hier vorgeschlagenen Sichtweise wird<br />

neue <strong>Interaktion</strong>sgesten als zusammenhängende Nutzungsmuster identifizieren.<br />

286


Die Handlungen von BenutzerInnen dürfen nicht länger auf isolierte KeyPressevents<br />

beschränkt bleiben, sondern müssen stärker als ganzheitliche Aktionen<br />

verstanden werden, bei denen übergeordnete Ziele <strong>und</strong> auch perzeptive <strong>und</strong> sensomotorische<br />

ebenen zusammenspielen.<br />

Auch für die lehre im Fach Medieninformatik ergeben sich neue Anforderungen.<br />

Vielfach wird die Medieninformatik als Integration von vor allem visueller Gestaltung<br />

<strong>und</strong> Informatik gesehen, wobei einige Vertreter wie z.B. die <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong> großen Wert auf die einbeziehung wirtschaftlicher Aspekte legen. es<br />

fehlt die explizite Einbeziehung der Humanwissenschaft, vor allem der Wahrnehmungspsychologie.<br />

Der Mensch steht zwar selbstverständlich immer im Zentrum<br />

– nur ist dort leider oft der Blinde Fleck auf der Netzhaut. Die Details des direkten<br />

Zusammenspiels zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Handeln müssen verstärkt im<br />

Hinblick auf die Gestaltung interaktiver Systeme untersucht werden.<br />

literatur<br />

BAUeR, j. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation<br />

<strong>und</strong> das Geheimnis der Spiegelneuronen. München.<br />

BIeBeR, C./leGGeWIe, C. (2004) (Hg.): Interaktivität – Ein transdisziplinärer<br />

Schlüsselbegriff. Frankfurt.<br />

CRAWFORD, C. (2003): On Game Design. Indianapolis.<br />

DOURISH, P. (2001): Where the Action is. The Fo<strong>und</strong>ations of ebodied Interaction.<br />

Cambridge.<br />

GIBSON, j. j. (1982): Wahrnehmung <strong>und</strong> Umwelt. München.<br />

GOleMAN, D. (2006): Soziale Intelligenz. München.<br />

HUTCHINS, e. l./HOllAN, j. D./NORMAN, D. A. (1986): Direct Manipulation<br />

Interfaces. 87 - 124. In: Norman, D./Draper, St.: User Centered Systems Design.<br />

Hillsdale.<br />

MANOVICH, l. (2001): The language of New Media. Cambridge.<br />

MIlNeR, D. A./GOODAle, M. A. (1995): The Visual Brain in Action. Oxford.<br />

MURRAY, j. (1999): Hamlet on the Holodeck. Cambridge.<br />

Interaktivität = (Actio + Reactio)*<br />

NeUBeRGeR, C. (2007): Interaktivität, <strong>Interaktion</strong>, Internet – Eine Begriffsanalyse.<br />

In: Publizistik, jg. 52, Heft 1, 33 - 50.<br />

NORMAN, D. A. (1986): Cognitive engineering. 31 - 62. In: Norman, D./Draper,<br />

St.: User Centered Systems Design. Hillsdale.<br />

287


WOlFGANG TAUBe<br />

QUIRING, O./SCHWeIGeR, W. (2006): Interaktivität – ten years after. Eine Bestandsaufnahme<br />

<strong>und</strong> ein Analyserahmen. In: Medien <strong>und</strong> Kommunikationswissenschaft,<br />

54. jg, 5 - 24.<br />

RAFAelI, S. (1988): Interactivity. From New Media to Communication. In:<br />

Hawkins, R. P./ Wieman, j. M./Pingree, S. (Hg.): Advancing Communication<br />

Science: Merging Mass and Interpersonal Processes. Newbury Park, 110-134.<br />

SCHUlMeISTeR, R. (2004): Didaktisches Design aus hochschuldidaktischer<br />

Sicht - ein Plädoyer für offene lernsituationen. In: Rinn, U./Meister, D. M.<br />

(Hg.): Didaktik <strong>und</strong> Neue Medien. Konzepte <strong>und</strong> Anwendungen in der <strong>Hochschule</strong>.<br />

(Medien in der Wissenschaft; 21), 19-49.<br />

SHeIDeRMAN, B. (1992): Designing the User Interface. Reading.<br />

PReeCe, j./ROGeRS, Y./SHARP, H. (2002): Interaction design: beyond humancomputer<br />

interaction. New York.<br />

SPITZeR, M. (1996): Geist im Netz – Modell für Lernen, Denken <strong>und</strong> Handeln.<br />

Heidelberg, Berlin.<br />

WeGNeR, P. (1997): Why Interaction is more powerful than Algorithms. Communications<br />

of the ACM, Vol. 40, No. 5, 80 – 91.<br />

WARe, C. (2004): Information Visualization - Perception for Design. 2nd edition,<br />

San Francisco.<br />

288


BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />

<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />

Technologien im labor Neue Medien (lNM) der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong><br />

1 einleitung<br />

Interaktive Medien sind in der Regel für Menschen gemacht, die als Benutzer<br />

<strong>und</strong> in zunehmendem Maße auch als Akteure <strong>und</strong> Gestalter von virtuellen Umgebungen<br />

in erscheinung treten. Neben dem immer noch stark vernachlässigten<br />

Tast- <strong>und</strong> Gleichgewichtssinn in den meisten Produktionen, sind nach wie vor<br />

Augen <strong>und</strong> Ohren die wesentlichen medialen endglieder. Als menschliche Aktoren<br />

fungieren meist die direkte <strong>und</strong> bewusste Bedienung von Tastatur, Maus<br />

oder ähnlichen handgesteuerten Geräten. Diese Trennung in separate Wahrnehmungskanäle<br />

<strong>und</strong> technologische endgeräte führt leicht zu einer Reduktion des<br />

in seiner Natur ganzheitlichen <strong>und</strong> gesamtkörperlichen menschlichen erlebens<br />

auf wenige diskrete Verbindungen zwischen Benutzer <strong>und</strong> technischem System.<br />

In vielen Medienproduktionen ist daher ein Verlust an synästhetischen <strong>und</strong> vor<br />

allem auch kinästhetischen erfahrungen als simultane Durchdringung der verschiedenen<br />

Sinne die Folge. Der Neurologe Viktor von Weizsäcker trat dieser technologischen<br />

entwicklung schon 1947 entgegen <strong>und</strong> bezeichnete das konkrete Verschmolzen-Sein<br />

mit der realen Welt als „Kohärenzerfahrung“ (Weizsäcker 1947).<br />

Um dieser, in der zeitgenössischen Forschung wieder sehr aktuellen, Sichtweise<br />

291


BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />

Rechnung zu tragen, wurde das labor Neue Medien (lNM) an der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong> erklärtermaßen als integratives Verb<strong>und</strong>labor konzipiert. Damit ist<br />

es möglich, multimodale <strong>Interaktion</strong>ssysteme (Schomaker 1995) zu realisieren,<br />

die einen ganzheitlichen menschlichen erlebnisraum schaffen.<br />

2 Das labor Neue Medien<br />

Das labor konzentriert in einem <strong>Raum</strong> die wichtigsten der oben genannten Medienkomponenten.<br />

Neben einem Videoatelier mit Greenscreen ist vor allem das<br />

VR-Cluster zu nennen, das aus einem visuellen, einem auditiven <strong>und</strong> einem Trackingteil<br />

besteht, Abb. 1.<br />

Abb. 1: VR-Cluster im Labor Neue Medien der HFU <strong>Furtwangen</strong> (Wax 2005)<br />

Die reale Welt wird in jedem Augenblick mit allen Sinnen erlebt. Der Gesichtssinn<br />

als Hauptsinn für die erfassung der Umwelt wird durch die auditive Wahrnehmung<br />

unterstützt, die vor allem die emotionale Ebene bedient. Im „Nahbereich“<br />

sind weitere Sinnesmodalitäten wichtig; sozusagen case sensitiv, kommt es<br />

292


auf das wahrzunehmende ereignis an, welche Sinne welche Rolle spielen. Immer<br />

wirken diese aber im Zusammenspiel <strong>und</strong> nie als getrennte einheiten. Das labor<br />

Neue Medien soll für einen eingeschränkten Realitätsbereich zunächst den<br />

Seh- <strong>und</strong> den Gehörsinn, sowie das kinästhetische Moment des Benutzers ansprechen.<br />

Ziel ist es, das dieser mental darin eintauchen kann <strong>und</strong> sich in der für<br />

ihn so entstandenen Realität selbst erfährt. Durch eine physisch aktive Teilnahme<br />

an dieser virtuellen Realität kann die Immersivität wesentlich gesteigert werden.<br />

Für eine interaktive einbindung von Rezipienten <strong>und</strong> Akteuren werden die Trackingsysteme<br />

des labors verwendet.<br />

3 <strong>Interaktion</strong><br />

<strong>Interaktion</strong> ist im Medienbereich zu einem attraktiven <strong>und</strong> schillernden Begriff<br />

avanciert. Durch die enorme Vielfalt der verwendeten Technologien lassen sich<br />

damit installative <strong>und</strong> performative Werke konzipieren, was seit den 1980er jahren<br />

vor allem im Bereich der elektronischen Medienkunst geschah. <strong>Interaktion</strong>,<br />

als (Re-) Aktion auf einen situativen Vorgang, der dadurch beeinflusst, verändert,<br />

umgestaltet wird, somit neue Reaktionen auslöst oder beeinflusst, kann als<br />

Kommunikation, als schöpferischer Vorgang oder als Wirkungskreis verstanden<br />

werden. In diesen werden verschiedene Komponenten eingeb<strong>und</strong>en, die als technische<br />

einheiten an ein interaktives Werk, eine Installation <strong>und</strong> einen interaktiv<br />

beeinflussbaren dramaturgischen Ablauf angepasst sein müssen.<br />

Das labor Neue Medien stellt ein Framework von <strong>Interaktion</strong>stechnologien als<br />

Werkzeuge zur Schaffung von Medieninstallationen <strong>und</strong> -aktionen zur Verfügung.<br />

Um diese Technologien optimal verwenden zu können, ist eine kybernetische Betrachtung<br />

von verschiedenen <strong>Interaktion</strong>smodellen <strong>und</strong> deren Dynamik wichtig.<br />

Hierzu wird die in der Kybernetik übliche Systemanalyse mit ihren regelungstechnischen<br />

Bezügen qualitativ auf den Wirkungskreis <strong>Interaktion</strong> appliziert.<br />

Abb. 2: <strong>Interaktion</strong> als Wirkungskreis<br />

<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />

293


BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />

Abb. 2 zeigt eine einfache allgemeine <strong>Interaktion</strong>sstruktur: eine visuell-auditive<br />

Szene (VAS) wird von einer Szenenanalyseeinheit (Scene analysis) erfasst <strong>und</strong><br />

mit einer Referenzszene verglichen, die auch eine Änderung oder zeitliche Fortführung<br />

der VAS sein kann. ergibt dieser Vergleich einen Unterschied, eine Differenz<br />

∆s, so wird diese über eine geeignete Technologiekomponente, einem Human-Computer-Interface<br />

(HC-Interface), der Szenensteuerung (Scene Control)<br />

zugeführt; mit entsprechenden Szenenänderungen als Folge.<br />

Ist ein Mensch als Akteur eingeb<strong>und</strong>en, so ist er es, der eine Szene beobachtet<br />

(Scene analysis), deren Wahrnehmung mit einer bewussten oder unbewussten<br />

Wunschvorstellung (Referenz VAS) vergleicht <strong>und</strong> gegebenenfalls reagiert, also<br />

ein ∆s erzeugt. Das in Abb. 2 skizzierte Blockschaltbild wird im Einzelfall differenzierter<br />

sein; beispielsweise können die Reaktionszeiten des Akteurs oder<br />

von technischen Komponenten eingeb<strong>und</strong>en werden, die Szenensteuerung kann<br />

komplexere Komponenten enthalten, die fremd- oder zufallsgesteuert sind. Solche<br />

rückgekoppelten Wirkungskreise hängen in ihrer Dynamik stark von der<br />

konkreten (technischen) Realisierung ab. Die Steuerung eines virtuellen Autos<br />

zum Beispiel weist eine andere Kreisdynamik auf, als die bewusste Veränderung<br />

eines virtuellen audio-visuellen Stillebens (Beispiel hierzu: Der Zerseher, von joachim<br />

Sauter). Die Dynamik eines <strong>Interaktion</strong>skreises beeinflusst entscheidend<br />

den Immersionsgrad eines interaktiven Projektes: was geschieht bei plötzlichen<br />

Änderungen, hervorgerufen durch den Akteur oder durch eine „intelligente“ Szenensteuerung<br />

(Scene control) oder durch eine Beeinflussung, eine Störung von<br />

Außen, fühlt sich der Akteur hierbei wohl, kann er dazu adäquat reagieren.<br />

Die Kreiskomponenten des <strong>Interaktion</strong>skreises in Abb. 2 werden im einzelfall<br />

stark variieren, die Rückkopplungsstruktur ist jedoch immer vorhanden. Einige<br />

Besonderheiten sollen nun am Beispiel von zwei Arbeiten an der Fakultät Digitale<br />

Medien aufgezeigt werden. Die installative Projektarbeit LogIn1 wurde im schon<br />

länger bestehenden VR-labor der Fakultät Digitale Medien realisiert, sie wird in<br />

das neue labor Neue Medien portiert <strong>und</strong> erweitert werden. Die zweite Installationssoftware<br />

ist MOTOX, sie wurde im Rahmen einer Thesisarbeit (Wahl 2007)<br />

im Institut für Musik <strong>und</strong> Akustik, Zentrum für Medienkunst (ZKM), Karlsruhe,<br />

entwickelt <strong>und</strong> dort auch aufgeführt.<br />

1 Mitglieder der Projektgruppe LogIn: Tobias Früh, Nadine Hahn, Dominik Lüffe, Fabian Maier, Stefan<br />

Nösges, Vidunan Pirathaparajah - Doku: http://webuser.fh-furtwangen.de/~fetzner/medialab/<br />

294


4 Interaktive Projekte<br />

Das Projekt LogIn<br />

<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />

Die neuen Medientechnologien im LNM sollten bei diesem Projekt kreativ genutzt<br />

werden, <strong>und</strong> es wurde ein Konzept für eine <strong>Raum</strong>installation entwickelt.<br />

Das so geschaffene technologische Netzwerk hat auch generischen Charakter,<br />

das heißt, dessen Komponenten sollen als Werkzeuge für weitere lNM-Realisierungen<br />

dienen.<br />

logIn thematisierte das neue Informatikgebäude der <strong>Hochschule</strong>. Als Gr<strong>und</strong>lage<br />

für den Videoteil wurden Detailbilder des Neubaus verwendet, als Klangelemente<br />

wurden Geräusche <strong>und</strong> Klänge von Computer aufgenommen. Die Installation<br />

wurde schließlich mit Hilfe der Software MAX/MSP, Virtools <strong>und</strong> einem Ambisonics<br />

System realisiert.<br />

Abb. 3: logIn<br />

Da das lNM noch nicht betriebsfertig war, wurde das logIn-Konzept in kleinerem<br />

Rahmen im bestehenden VR-labor realisiert. ein Akteur bewegt zwei Trackingsensoren<br />

des Trackingsystems Flock-of-Birds, Abb. 3 <strong>und</strong> kann damit <strong>Bild</strong>manipulationen<br />

auf einer Leinwand mit 3D-Stereorückprojektion sowie ein<br />

<strong>Raum</strong>klangsystem steuern. letzteres ist ein Ambisonics System 2 , realisiert als<br />

MAX/MSP-Patcher, mit 8 lautsprechern. Die Bewegungen der Floc-of-Birds-Sensoren<br />

wurden als Input <strong>und</strong> Steuersignal für Video <strong>und</strong> Audio benutzt.<br />

2 Frei verfügbar von der Webseite des Institut of Computer Music and So<strong>und</strong> of the Zurich School of<br />

Music, Drama and Dance, www.icst.net/downloads<br />

295


BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />

Abb. 4: MOTOX (Wahl 2007)<br />

MOTOX<br />

MOTOX, Abb. 4, ist die technologische Realisierung einer <strong>Interaktion</strong>sperformance,<br />

die im ZKM, Karlsruhe als Thesisarbeit (Wahl 2007) entwickelt <strong>und</strong> mit<br />

einer Gruppe von Capoeira-TänzerInnen aufgeführt wurde. Die räumlichen Bewegungen<br />

der Akteure wurde mit Videotracking erfasst <strong>und</strong> dienten zur Steuerung<br />

eines Algorithmus zur Musikerzeugung; die Musik wurde mit einem<br />

<strong>Raum</strong>klangsystem über 8 lautsprecher, die sich über den TänzerInnen befanden,<br />

wiedergegeben.<br />

5 Diskussion<br />

Das Framework logIn wird von einer Art kybernetischen Steuermann bedient<br />

(Abb. 3). Dieser hat die Sensoren <strong>und</strong> damit das virtuelle Geschehen „fest im<br />

Griff“ <strong>und</strong> wirkt damit als bestimmender <strong>und</strong> auch notwendiger Akteur im Gesamtkreis.<br />

er analysiert die audio-visuelle Szene <strong>und</strong> bestimmt deren Verlauf.<br />

Seine Handbewegungen im <strong>Raum</strong> werden direkt in So<strong>und</strong>veränderungen <strong>und</strong><br />

Manipulationen der 3D-Videoprojektion abgebildet.<br />

296


Nun kann dieser sehr direkte interaktive Wirkungskreis (closed loop), Abb. 5,<br />

auch aufgebrochen werden: der Akteur hört <strong>und</strong> sieht nicht mehr auf das, was er<br />

produziert, sondern bewegt lediglich seine Trackingsensoren nach einem vorgegebenen<br />

oder spontanen Muster. Die Rückführung über den Beobachter unterbrochen,<br />

es handelt sich somit nur um eine Szenensteuerung, nicht mehr um<br />

einen <strong>Interaktion</strong>skreis.<br />

Abb. 5: logIn als <strong>Interaktion</strong>skreis<br />

<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />

Das Framework MOTOX begleitet auditiv eine Tanz-, eine Spielszene mit mehreren<br />

Beteiligten. Die Bewegungen der Spielenden bzw. TänzerInnen werden erfasst,<br />

aus diesen Trackingdaten wird ein So<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Musikszenario erzeugt, das,<br />

räumlich gestaltet, das Tanz- bzw. Spielszenario ergänzt <strong>und</strong> verdichtet.<br />

Angenommen, die Akteure agieren, wie bei der Uraufführung im ZKM Karlsruhe<br />

geschehen, selbstständig, dann existiert auch keine direkte Rückführung über<br />

eine Szenenanalyse, siehe Abb. 3. Somit handelt es sich auf den ersten Blick um<br />

keine direkte <strong>Interaktion</strong>. Genauer betrachtet, zeigen sich dann aber doch deutliche<br />

Wirkungskreise: die Spielerbewegungen erzeugen <strong>und</strong> beeinflussen über<br />

das Trackingsystem das auditive Umfeld. Die so entstehende So<strong>und</strong>atmosphäre<br />

wird hierdurch geprägt <strong>und</strong> verdichtet, somit schwingen die Bewegungen als<br />

Töne <strong>und</strong> Rhythmen, als Klangfelder um die Akteure. Diese Stimmung beeinflusst<br />

die TänzerInnen <strong>und</strong> deren Bewegungen zumindest unbewusst. Dieser<br />

emotionale Wirkungskreis unterliegt nicht dem bewussten Vergleich zwischen<br />

VAS <strong>und</strong> einer gewünschten Referenz-VAS, sondern beeinflusst letztere direkt,<br />

Abb. 6. Damit ist die Wahrnehmung an sich gemeint, die Interpretation des Perzeptiven<br />

<strong>und</strong> auch die emotionale „Sicht“ die starken Einfluss auf Bewertung <strong>und</strong><br />

Reaktion von <strong>und</strong> auf äußere ereignisse hat. Hier wird nun die Referenz-VAS<br />

beeinflusst, die Vorstellung also von der visuell-auditiven Szene <strong>und</strong> somit auch<br />

die davon geprägten Bewegungsaktivitäten der Akteure.<br />

297


BRUNO FRIeDMANN / DANIel FeTZNeR<br />

Abb. 6: MOTOX als interaktiver Kreis<br />

Hier zeigen sich sehr deutlich die Unterschiede zwischen <strong>Interaktion</strong>en im Bereich<br />

digitaler Medien <strong>und</strong> technisch motivierten Regelkreissystemen. Bei letzteren<br />

bedarf es klarer Hierarchien <strong>und</strong> eindeutiger, wenn möglich linearer, bzw.<br />

linearisierter Zusammenhänge zwischen Aus- <strong>und</strong> eingang der Komponenten.<br />

Bei medialen <strong>Interaktion</strong>en, in denen der Mensch nicht nur physisch elementarer<br />

Bestandteil des <strong>Interaktion</strong>ssystems ist, können determinierte Kreisstrukturen<br />

nicht funktionieren - zumal in einem kreativen Kontext.<br />

Im Gegensatz zu logIn ist also das Spielerensemble bei MOTOX nicht Bestandteil<br />

des direkten <strong>Interaktion</strong>skreises. Dieser Zweig ist unterbrochen, dafür ist<br />

der unbewusste Rückwirkungskanal, siehe Abb. 6, vorhanden. Die Akteure in<br />

MOTOX können jedoch auch die direkte Rückkopplung aktivieren, indem sie die<br />

Klangkulisse bewusst wahrnehmen <strong>und</strong> mit ihren Bewegungen Einfluss darauf<br />

nehmen.<br />

Dieser essentielle Unterschied wurde zu Beginn der kybernetischen Forschung<br />

ende der 1940er jahre nicht nur von Viktor von Weizsäcker (s.o.), sondern auch<br />

von seinem Kollegen Paul Christian (Christian 1948) beobachtet. In seinem bekannten<br />

Pendelexperiment stellte er fest, dass komplexe <strong>und</strong> rückgekoppelte<br />

Bewegungsfolgen dem Wissen entzogen, automatisiert sind, also unbewusst<br />

prozessieren: „Die Kohärenz zwischen Organismus <strong>und</strong> Umwelt ist somit eine<br />

fließende. Es ist nicht möglich, diese Grenze im Versuch zu determinieren. […]<br />

Im Versuch selbst ist es unmöglich, eine räumliche, zeitliche oder energetische<br />

Grenze anzugeben, an welcher die motorische Tätigkeit des Organs aufhört <strong>und</strong><br />

die physikalische anfängt.“<br />

6 Zusammenfassung<br />

Das Labor Neue Medien ermöglicht die Produktion von solchen komplexen, immersiven<br />

Umgebungen. Mit Hilfe der dreifachen Stereorückwandprojektion <strong>und</strong><br />

298


der Wellenfeldsynthese kann ein visuell-auditiver <strong>Raum</strong> überzeugend simuliert<br />

werden. Ferner sind durch die Trackingmöglichkeiten interaktive Szenarien realisierbar,<br />

die als aktive rückgekoppelte Perzeption die Immersivität ebenfalls<br />

steigern können. Diese Technologien sollen auch die Performances von professionellen<br />

Tänzern <strong>und</strong> Musikern interaktiv unterstützen <strong>und</strong> erweitern. Das<br />

VR-Cluster wirkt dann als vom Künstler gespieltes Instrument oder fügt dem<br />

selbstständig agierenden Künstler visuell-auditive zeitvariante Patterns hinzu. ein<br />

solches Instrument erfordert eine sensible <strong>und</strong> intelligente Umsetzung der Trackingdaten.<br />

logIn ist ein erstes rudimentäres Beispiel hierfür. Bei selbstständig<br />

agierenden Akteuren kann das VR-Cluster mit Hilfe von algorithmischen Prozessen<br />

<strong>und</strong> einer vorgegebenen Performance Timeline (z. B. mit MAX/MSP/jitter)<br />

der realen Darbietung eine virtuelle Komponente hinzu fügen, die über den<br />

unbewussten Kreis verläuft <strong>und</strong> z. B. einem Bewegungskünstler eine völlig neue<br />

erfahrung seines eigenen künstlerischen Ausdrucks vermitteln kann.<br />

Das HC-Interface <strong>und</strong> die Szenensteuerung sind bei MOTOX recht aufwändig<br />

gestaltet. Beispielsweise können bestimmte Tänzerfiguren als Patterns erfasst<br />

werden (pattern matching). Damit können dann einzelne Klangmuster gestartet<br />

oder in bestimmter Weise geändert werden. Der Ausbau dieser dynamischen<br />

Komponenten auf der Basis von MAX/MSP/jitter wird <strong>Interaktion</strong>sszenarien entscheidend<br />

aufwerten <strong>und</strong> flexibler machen. Die Einbeziehung von nichtdeterministischen<br />

Übertragungsalgorithmen <strong>und</strong> zufälligen oder von außen bestimmten<br />

entscheidungsprozessen ermöglichen den Studierenden die Generierung von<br />

multiplen Systemzuständen, die über simple Wenn-Dann-Zusammenhänge hinausgehen<br />

<strong>und</strong> vor allem den Benutzer mit seiner ganzen Körperlichkeit in den<br />

Mittelpunkt stellen.<br />

literatur<br />

<strong>Interaktion</strong>sstrukturen mit digitalen Medien<br />

CHRISTIAN, P. (1948): Die Willkürbewegungen im Umgang mit beweglichen<br />

Mechanismen. Berlin, Heidelberg.<br />

SCHOMAKeR, l. et. al. (1995). A Taxonomy of Multimodal Interaction in the<br />

Human Information Processing System. A Report of the Esprit BRA Project<br />

8579 MIAMI, WP1.<br />

WAHl, K. (2007): The generic developement of a motion controlled musical device<br />

for multiuser interaction with an exemplary live performance. Diploma-<br />

Thesis an der Fakultät Digitale Medien, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong><br />

WAX, S. (2005): Abschlussbericht zur Projektkoordination der Anforderungsprofile<br />

für das Media Lab der Fachhochschule <strong>Furtwangen</strong>. <strong>Furtwangen</strong>, München<br />

.<br />

WeIZSÄCKeR, V. VON (1947): Körpergeschehen <strong>und</strong> Neurose. Stuttgart.<br />

299


STeFAN SelKe<br />

MyTown<br />

Implizite Einflussfaktoren auf die Entwicklung eines Computerspiels.<br />

eine mediensoziologische Rekonstruktion<br />

1 Spielentwicklung als Untersuchungsfeld: Ausgangsfrage <strong>und</strong> Zielsetzung<br />

der Studie zum Computerspiel MyTown<br />

MyTown ist ein Computerspiel, bei dem es für den (studentischen) Spieler darum<br />

geht, eine Wohnung an einem neuen Studienort zu finden. Es wurde von<br />

Studierenden der Fakultät Digitale Medien an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> mit<br />

Hilfe einer Open Source Software programmiert. Die verwendete Software bietet<br />

potenziell viele Möglichkeiten zur Programmierung eines Spiels. Aus der hier<br />

vertretenen Perspektive ist es daher nicht selbstverständlich <strong>und</strong> auch nicht trivial,<br />

welches Konzept letztlich entstand. Die spannende Aufgabe bestand darin,<br />

nach den Randbedingungen der Spielprogrammierung zu fragen. Sie sind „das<br />

Soziale“ an Software. Damit kann exemplarisch gezeigt werden, wie sich „Gesellschaft“<br />

bei der Planung <strong>und</strong> Umsetzung eines Computerspiels in den Entwicklungsprozess<br />

einschreibt. Was dies über die „Mind Sets“ der Entwickler aussagt<br />

<strong>und</strong> wie diese sich in den verschiedenen etappen des entwicklungsprozesses auf<br />

entscheidungen auswirken, ist Gegenstand der hier vorgelegten Studie. Vor allem<br />

wird damit die Frage beantwortet, ob es überhaupt möglich ist, mit Hilfe von<br />

Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung (z.B. Bohnsack 2003) bzw. quali-<br />

301


STeFAN SelKe<br />

tativer Methoden der Medienforschung (z.B. Ajaß/Bergmann 2006) eine solche<br />

Analyse überhaupt vorzunehmen. In jedem Fall geht es dabei darum, das scheinbar<br />

Selbstverständliche zu hinterfragen <strong>und</strong> die eigene (Produzenten-)Kultur zu<br />

befremden. Dieser Beitrag ist das Ergebnis exemplarischer methodischer Befremdung<br />

der Kultur der Spielentwicklung.<br />

Wesen des (Computer-)Spiels<br />

Was macht ein Spiel zum Spiel? Warum spielen wir überhaupt? Spiele sind gleichermaßen<br />

Simulationen, Modelle <strong>und</strong> Projektionsflächen für Sehnsüchte. Dies<br />

gilt nicht nur für die Alltagswelt sondern auch die Sinnsphäre der Wissenschaft.<br />

In beiden Sphären modellieren Spiele Wirklichkeiten – die vom Spieler „erlebt“<br />

werden. Diese Modellierung von Wirklichkeit unterliegt jedoch selbst wieder eigenen<br />

Gesetzmäßigkeiten. Spiele leben von der drastischen Vereinfachung der<br />

Wirklichkeit. Sie sind vereinfachte (teils abstrakte) Abbildungen realer Systeme. es<br />

macht also Sinn zu fragen, welche (bewussten <strong>und</strong> unbewussten) Vorannahmen<br />

in die jeweilige Konzeption dieser Abstraktion einfließen. Genau darin drückt<br />

sich der Einfluss impliziter Gesellschaftsentwürfe aus. Wesentlich am Spiel ist<br />

weiter, dass es Veränderungen entlang einer Zeitachse enthält. Diese Straffung<br />

der Zeit ist eine der phänomenologischen Gr<strong>und</strong>eigenschaften des Spiels. Die<br />

im Spiel enthaltenen Akteure werden derart modelliert, dass ihr Handlungsspektrum<br />

in einem maßstäblichen Verhältnis zur Regelhaftigkeit sozialen Handelns<br />

in der Realwelt steht. Straffung der Zeit <strong>und</strong> regelhafte Modellierung von Verhalten<br />

sind Mechanismen der Reduktion von Komplexität, ohne die ein Spiel eben<br />

kein Spiel wäre.<br />

Perspektiven des Forschungsfeldes „Computerspiel“<br />

Der hier vorgestellte Beitrag reiht sich nicht in den Kanon der literatur über Computerspiele<br />

ein, da nicht das Spielen selbst, sondern das entwickeln des Spiels<br />

Gegenstand der Untersuchung ist. Beide Zugänge zum Spiel unterscheiden sich<br />

radikal. In der literatur wird oft darauf hingewiesen, dass Computerspielsoftware<br />

einen stärkeren Absatz findet, als Anwendungsprogramme (Fritz/Fehr 1999).<br />

Meist begegnet man daher unter dem platten (aber medienwirksamen) Stichwort<br />

„Medienverwahrlosung“ (Christian Pfeiffer) Computerspielen in kritischer Einstellung.<br />

In den Medienwissenschaften dominieren Untersuchungen zum (vermeintlichen)<br />

Zusammenhang von Spiel <strong>und</strong> Identität (Fritz/Fehr 1999), Spiel<br />

<strong>und</strong> Gewalt (z.B. Fehr 2002; Feibel 2004; Gesmann 2006; Strüber 2006) oder<br />

zum Illusionscharakter von Spielen <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Gefahr des Realitätsverlustes<br />

(z.B. Gieselmann 2002). In Studien, die sich an den bekannten kommerziellen<br />

Spielen (ego-Shootern etc.) abarbeiten, wird der Zusammenhang von<br />

Fiktionalität <strong>und</strong> Realität kritisch untersucht (z.B. Schlüter 2007), teilweise explizit<br />

auf der Ebene der Akteurstypen, die dann als „fiktionale Helden“ (z.B. Buschbaum<br />

2006) gebrandmarkt werden. eine weitere Gruppe von Studien betrachtet<br />

302


Computerspiele aus größerer Distanz als eine (neue) Form von Kultur (z.B. Butler<br />

2007) oder versucht (konstruktiv) zu zeigen, wie Computerspiele durch einbindung<br />

narrativer Strukturen besser an die lebenswelt der Spieler rück zu binden<br />

sind (Finsterbusch 2006). Die dritte Gruppe von Beiträgen richtet sich an die<br />

Spielentwickler selbst. Zahlreiche Anleitungen zur Herstellung von Computerspielen<br />

sind auf dem Markt, die jedoch im Wesentlichen rein technische Aspekte<br />

der Programmierung mit der jeweiligen Software in den Mittelpunkt rücken (z.B.<br />

Habgood/Overmars 2006). Sie richten sich teilweise (durchaus widersprüchlich<br />

zur Verwahrlosungsthese!) explizit an Kinder (z.B. Schumann 2006).<br />

Inversion der Untersuchungsperspektive – Spielentwicklung statt Spielen<br />

MyTown<br />

In vielen Abhandlungen steht daher entweder der technische oder der immersive<br />

Modus des Spielens im Vordergr<strong>und</strong>, z.B. wenn Computerspielen als „Handlungsform“<br />

untersucht wird (Klimmt 2006). Im immersiven Modus geht es darum,<br />

wie das Spiel „erlebt“ wird, wie also der Spieler darin „eintaucht“. Davon<br />

handelt dieser Beitrag gerade nicht. Hier steht die symbolische Perspektive der<br />

Produzenten im Vordergr<strong>und</strong>. Das Spielen tritt hinter das entwickeln des Spiels<br />

zurück. Untersucht wird, woher die Sehnsucht nach Simulation der Produzenten<br />

rührt <strong>und</strong> auf welche Faktoren sie sich gründet. es geht, im Sprachstil der Soziologie,<br />

um deren „Weltsicht“ (klassisch dazu Luckmann 1988), Leitbilder, Prägungen<br />

sowie um implizite Wissensformen. es ist nicht beabsichtigt, zu zeigen, welche<br />

Art von Gesellschaft das Spiel in seiner jetzigen Form illustriert, sondern um den<br />

Versuch, aus den retrospektiven Selbstdeutungsversuchen der entwicklerInnen<br />

– die ihr eigenes Produkt <strong>und</strong> dessen Entstehungsgeschichte kommentieren –<br />

eine Deutungsebene zweiter Ordnung zu etablieren. Die Ausgangsfrage lässt sich<br />

dann so formulieren: Wie verhalten sich die technischen Möglichkeiten bei der<br />

entwicklung <strong>und</strong> Programmierung eines Computerspiels zu den gesellschaftlich<br />

geprägten, intersubjektiven Vorstellungen <strong>und</strong> Ideen der EntwicklerInnen? Oder<br />

einfacher: Was sagt das Spiel über seine Entwickler aus?<br />

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine einmalige Befragung der<br />

Produzenten <strong>und</strong> beanspruchen daher lediglich heuristischen Charakter. Im<br />

Sommersemester 2006 bestand die Gelegenheit, eine Gruppendiskussion mit<br />

den sechs studentischen entwicklerInnen (zwei Studentinnen, vier Studenten)<br />

des Spiels MyTown durchzuführen. Für die Befragung selbst wurde keine besondere<br />

Methode bevorzugt . eine Besonderheit muss gleich zu Beginn erwähnt<br />

werden: Das Spiel wurde nie fertig gestellt. Was bleibt, ist also die Möglichkeit zur<br />

Rekonstruktion des Konzepts. Diese Möglichkeit wurde genutzt. Den kritischen<br />

Stimmen, die nun vermuten, dass es ohne „einsatzfähiges“ Spiel unmöglich sei,<br />

Zusammenhänge zwischen einem Computerspiel <strong>und</strong> Gesellschaftsbildern zu<br />

analysieren, lässt sich entgegnen: Man kann aus der Not auch eine Tugend machen.<br />

es geht hier nicht um eine Studie über aktives Spielen, sondern um eine<br />

Untersuchung des Konzepts eines Spiels <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>e liegenden gemein-<br />

303


STeFAN SelKe<br />

samen Überlegungen der Produzenten, die gemeinsamen Aushandlungsprozesse,<br />

die gemeinsam getroffenen entscheidungen. Soweit diese rekonstruierbar<br />

sind, geben sie ausreichend Aufschluss über die nichtzufällige Verschränkung<br />

von Spielwelt <strong>und</strong> gesellschaftlicher Wirklichkeit.<br />

Im ersten Teil des Artikels wird daher der Prozess der Spielentwicklung im Feld<br />

institutionalisierter Wissensvermittlung (<strong>Hochschule</strong>) rekonstruiert, um Faktoren<br />

aufzuzeigen, die dafür verantwortlich sind, dass das Spiel als Spiel letztlich<br />

seine (konzeptionelle) Form angenommen hat. erst in einem zweiten Teil kann<br />

dann gefragt werden, welche dieser Faktoren auch als Indikatoren für die „Einschreibung“<br />

von Gesellschaft in den Prozess der Entwicklung gewertet werden<br />

können.<br />

2 Institutionelle Rahmenbedingungen der Spielentwicklung – Übergreifende<br />

Rekonstruktion des entwicklungsprozesses<br />

Welche Bedeutung hat der äußere Rahmen für die Spielentwicklung? Wie verhalten<br />

sich Aufgabenstellung, Planung, Entscheidungsfindung <strong>und</strong> Konzepterstellung<br />

im Kontext des institutionellen Feldes <strong>Hochschule</strong> zueinander? Nur eine auf<br />

die Aussagen der entwickler selbst gestützte Rekonstruktion des gesamten entwicklungsprozesses<br />

– einschließlich seines Scheiterns – kann Aufschluss über<br />

den Einfluss impliziter Gesellschaftsentwürfe geben.<br />

Die Entwicklung des Spiels fand im Rahmen eines Projektstudiums über zwei<br />

Semester statt. Das entwicklerteam bestand aus sechs Studierenden, die sich in<br />

drei Unterteams aufteilten: Grafik, Inhalt <strong>und</strong> Programmierung. Der Zusammenarbeit<br />

dieser Teams kommt im Folgenden eine besondere Bedeutung zu. Die von<br />

den Lehrenden formulierte Aufgabenstellung war denkbar offen: Ein „reales“<br />

Erlebnis sollte in eine „künstliche“ Welt übersetzt werden. Was entwickelte sich<br />

ausgehend von dieser Aufforderung?<br />

Im ersten Semester bestand die Herausforderung darin, die o. g. Aufgabenstellung<br />

gemeinsam mit den lehrenden <strong>und</strong> untereinander im entwicklerteam zu<br />

diskutieren. Dieser Projektabschnitt diente somit ausschließlich dazu, das noch<br />

offene Rahmenkonzept mit plausiblen Inhalten zu füllen. Damit war eine Arbeitsweise<br />

vorgegeben, die Kreativität in den Mittelpunkt rückte: „Uns kam es am<br />

Anfang vor allem darauf an, erst mal eine Idee zu finden“ (GD, 4). Das Brainstorming<br />

selbst fand im Rahmen eines Workshops statt <strong>und</strong> war in der erinnerung<br />

der Studierenden durch größtmögliche Offenheit gekennzeichnet: „Am Anfang<br />

konnten wir noch ein bisschen herum spinnen. Da wollte man dann eine Komplexität<br />

haben von der Szene“ (GD, 12). Die im Zitat angesprochene Komplexität<br />

zielte auf eine möglichst heterogene Ideensammlung ab, aus der durch eliminative<br />

Konkurrenz schließlich die Beste ausgewählt wurde . Aus Sicht der Studierenden<br />

wirkte der Ideenfindungsprozess ergebnisoffen: „Wir hatten ja nicht<br />

304


MyTown<br />

in dem Sinne irgendwelche Vorgaben oder Zielsetzungen, sondern wir konnten<br />

ja wirklich alles bis ins Detail frei diskutieren“ (GD, 93-96). Das spätere Spielkonzept,<br />

die Suche nach einer studentischen Wohnung in einer fremden Stadt,<br />

wurde also in einem Aushandlungsprozess erarbeitet, wobei man insgesamt auf<br />

der Suche nach einer neuen Spielform war. Handlungsleitend war, aus Sicht der<br />

EntwicklerInnen, „eher so ein intellektueller Spielanreiz“ (GD, 246-248). Diese<br />

endgültige einigung auf eine gemeinsame Kernidee begründen die Studierenden<br />

wie folgt sehr schlüssig:<br />

„Das ist eben eine Situation, die wir alle im Prinzip haben, wie 98 Prozent der Furtwanger<br />

Studenten […], dass man irgendwo hinkommt, wo man sich nicht auskennt <strong>und</strong> erst<br />

nach <strong>und</strong> nach sich die Stadt zu eigen machen kann. Weil wir festgestellt haben, dass<br />

man sogar in einer Kleinstadt wie <strong>Furtwangen</strong>, die jetzt tatsächlich recht übersichtlich<br />

ist, sich am ersten Tag verlaufen kann <strong>und</strong> sich aber nach zwei jahren nicht mehr vorstellen<br />

kann, wie das überhaupt funktioniert.“ (GD, 4).<br />

Diese Äußerung liefert einen ersten Hinweis darauf, welche gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit sich als mögliche Projektion im Konzept des Spiels wieder finden<br />

wird – die der eigenen Lebenswelt , die im Kern durch zwei Konstanten zusammengehalten<br />

wird: dem Studienort <strong>Furtwangen</strong> im Schwarzwald <strong>und</strong> dem Studium<br />

an der Fakultät Digitale Medien.<br />

Schon zu Ende des ersten Semesters zeigten sich jedoch Umsetzungsprobleme.<br />

Diese zogen sich wie ein roter Faden durch das Projektstudium <strong>und</strong> bestimmten<br />

damit das Ergebnis des Entwicklungsprozesses gravierend: „Wir hatten am ende<br />

des Semesters ein ganz tolles Konzept mit unserem Spiel <strong>und</strong> den ganzen Ideen<br />

- spielen konnte man es aber nicht!“ (GD, 145-157). Lehrende wie Studierende<br />

hatten schlicht den zeitlichen Aufwand, inhaltlichen Konsens zu erzielen, massiv<br />

unterschätzt. Dennoch begann im zweiten Semester die eigentliche Arbeit<br />

in den einzelteams mit dem Ziel, ein Prototypenkonzept aus dem vorhandenen<br />

Spielkonzept heraus zu entwickeln. Trotz intensiver Zusammenarbeit zwischen<br />

den drei entwicklerteams konnte das Konzept des Spiels technisch nicht umgesetzt<br />

werden. Insgesamt fühlten sich die Studierenden durch den Versuch, ein<br />

komplettes Spiel zu programmieren, überfordert. Auch der Versuch, mit einer<br />

3D-Engine einen „funktionsfähigen“ Spielcharakter (die Spielfigur) zu erzeugen,<br />

der soziale <strong>Interaktion</strong>en ausführt, scheiterte. Diese Überforderung hing vor<br />

allem mit der Modellierung der Spielakteure zusammen: In MyTown geht es darum,<br />

dass ein Wohnungssuchender in einer Stadt mit anderen Stadtbewohnern<br />

Gespräche führt, d.h. auf strategische Weise interagiert. Von der Qualität dieser<br />

<strong>Interaktion</strong> hängt dann der weitere erfolg der Wohnungssuche ab. An dieser<br />

Stelle überschätzten die Entwickler sich, bzw. unterschätzen die Komplexität <strong>und</strong><br />

Kontingenz sozialer <strong>Interaktion</strong>en. es zeigte sich, dass die Modellierung sozialer<br />

Situationen, „mit allem, was damit zusammenhängt […] einfach ein bisschen viel“<br />

(GD, 206-209) ist. letztlich wurde das Spiel nur in einer sehr reduzierten Version<br />

mit extrem eingeschränkten Funktionalitäten realisiert. Das bedeutet konkret: „es<br />

305


STeFAN SelKe<br />

gab kein leben. es war kein <strong>Interaktion</strong>spartner da. Also alles, was man machen<br />

konnte, war ja im Prinzip durch eine leere Stadt laufen, durch eine tote Stadt laufen“<br />

(GD, 216). Dennoch kann anhand der vorliegenden konzeptionellen Überlegungen<br />

eine Rekonstruktion von Einflussfaktoren auf die Spielentwicklung<br />

vorgenommen werden. Im nächsten Abschnitt wird daher gezeigt, auf welchen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen das Konzept basiert <strong>und</strong> welche Einflussfaktoren hierbei eine Rolle<br />

spielten.<br />

3 Gr<strong>und</strong>elemente <strong>und</strong> Einflussfaktoren auf die Entwicklung des<br />

Spiels MyTown<br />

Aus der Diskussion mit den entwicklern kristallisierten sich einige gr<strong>und</strong>legende<br />

Faktoren heraus, die Einfluss auf die Entwicklung des Spiels hatten <strong>und</strong> daher im<br />

Folgenden im Zusammenhang vorgestellt werden.<br />

Die virtuelle Stadt als Spielszene<br />

Die Szene des Spiels (der Handlungsraum) sollte von Anfang an eine Stadt sein.<br />

Mit dieser entscheidung ging die Überlegung einher, die erlebnisvielfalt, Aufgabendichte<br />

<strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten zu erhöhen: „es war einfach auch<br />

so […], wenn jetzt jemand ein Spiel sieht […], wo ein Haus drin ist, also in einem<br />

Haus, da kann man einfach nichts erleben. Das ist man auch einfach nicht so<br />

gewöhnt. Um halt nur die Spielinteraktion zu haben <strong>und</strong> was erleben zu können,<br />

muss halt einfach der Spieler eine gewisse Bewegungsfreiheit haben in der 3D-<br />

Welt <strong>und</strong> nicht nur auf ein Haus eingeschränkt sein. Da kann man einfach schon<br />

von der allgemeinen Meinung her viel unterbringen“ (GD, 13). Die Studierenden<br />

richten sich erkennbar am generalisierten Anderen (der „allgemeinen Meinung“)<br />

aus <strong>und</strong> antizipieren Akzeptanzkriterien eines potenziellen Spielpublikums. Ihnen<br />

schwebte eine große Stadt mit moderner Architektur vor. Sie sollte zudem<br />

„sehr aussagekräftige Orte“ (GD, 36) enthalten. Letztlich sah die Stadtszene dann<br />

vollkommen anders aus, als geplant: „Also […] ursprünglich hatten wir wirklich<br />

so riesen Bürogebäude oder größere Bürogebäude mit Glasfassaden <strong>und</strong> ziemlich<br />

viel Stahlkonstruktion […] Dann wurde die Anzahl an sich auch runtergeschraubt<br />

[…] Dann sind wir zu der Idee gekommen, das eben wie Las Vegas darzustellen,<br />

dass die Gebäude an sich nicht so zusammenpassen, aber gerade dass dieses<br />

Nicht-Zusammenpassen eben wieder ein Zusammenspiel ergibt“ (GD, 174). An<br />

diesem Punkt zeigt sich, dass der entwicklungsprozess tatsächlich nicht ganz so<br />

ergebnisoffen war, wie es den Studierenden zuerst erschien. Bei näherer Betrachtung<br />

werden die institutionalisierte Deutungsmacht der lehrenden <strong>und</strong> weitere,<br />

externe Einflussfaktoren sichtbar. Ein Diskussionsteilnehmer erinnert sich: „es<br />

gab lange Diskussionen auch mit den Professoren sozusagen, wie eine Stadt auszusehen<br />

hat <strong>und</strong> welche Umgebung die haben soll. Und da mussten wir […] auch<br />

völlig neu lernen“ (GD, 184). Die Alltagswahrnehmung der Studierenden reichte<br />

306


nicht aus, um eine komplette Stadt im virtuellen <strong>Raum</strong> zu planen. Die Definitionsmacht<br />

der lehrenden führte dazu, dass das ursprünglich anvisierte Stadtkonzept<br />

radikal modifiziert wurden, bis letztlich das bestehende Modell – eine „Mischung<br />

aus Tschernobyl <strong>und</strong> Las Vegas“ – herauskam. Mit Hilfe der Lehrenden konnten<br />

noch weitere aussagekräftige Quellen zum Thema Stadtplanung erschlossen werden.<br />

Hiermit sind insbesondere filmische Darstellungen von Städten gemeint.<br />

Verb<strong>und</strong>en mit diesem szenischen Konzept ist auch die Idee der „Aneignung“ der<br />

Stadt. Die Stadt soll „zu seiner [der des Spielers] Stadt“ (GD, 196) werden. Aber<br />

wie wird die Stadt zur Stadt des Spielers? Indem er immer wieder „zum selben<br />

Döner-Mann geht“ <strong>und</strong> „nach <strong>und</strong> nach leute kennen lernt“ (GD, 192). Aneignung<br />

geschieht also durch die Verdichtung der <strong>Interaktion</strong>en durch Wiederholungen.<br />

Implizites Ziel des Spiels war es daher auch, einen „Lebensraum“ (GD,<br />

196) zu finden: „Ich glaube, das Spiel, diese Wohnung zu finden, ist automatisch<br />

das ergebnis sich einen aktiven lebensraum gestaltet zu haben“ (GD, 196). In<br />

dieser Wortwahl schwingt eine nicht unkritische Konnotation mit, auf die aber an<br />

dieser Stelle aus Platzmangel nicht näher eingegangen werden kann.<br />

Die Spielaufgabe<br />

MyTown<br />

MyTown ist letztlich eine Art Rollenspiel. Die Spielaufgabe besteht aus der Wohnungssuche<br />

in einer fremden Stadt, wobei dem Suchenden verschiedene andere<br />

Akteure begegnen, mit denen er interagieren kann. Auf der konzeptionellen ebene<br />

erhält die jeweilige Spielfigur „Lebenspunkte“ <strong>und</strong> „Charismapunkte“ . Der<br />

Spieler muss durch sein (soziales) Handeln Aufgaben lösen, die ihn in der Welt<br />

des Spiels weiterbringen. Die lösung der Aufgaben ist an den erfolg/Misserfolg<br />

bei der Wohnungssuche geknüpft, d.h. je nach individuellem Verhaltensmuster<br />

gibt es alternative Spielfortgänge. Dabei ist die Anzahl der Verhaltenskategorien,<br />

die im Verlauf des Spiels bewertet werden, endlich. je nach der Höhe ihres Punktestandes<br />

reagiert die Umwelt dann entweder positiv-wohlwollend oder negativablehnend.<br />

Eine positive Sanktionierung bedeutet, dass die Spielfigur z.B. Tipps<br />

für die Wohnungssuche erhält, eine negative Sanktionierung wirkt sich dahingehend<br />

aus, dass die Spielfigur z.B. eine bereits angebotene Wohnung letztlich<br />

nicht erhält.<br />

Hierin zeigt sich die eigentliche Spielidee, denn das Spiel soll der „Fortentwicklung“<br />

des Spielcharakters, wenn nicht gar seiner „Optimierung“ dienen. Die<br />

entwickler stellten sich folgende Fragen: Was passiert mit der entwicklung des<br />

Studenten? Wie wirkt sich seine charakterliche Entwicklung auf das Ergebnis seiner<br />

Wohnungssuche aus? Wie verändert sich die Person durch ihre Handlungen?<br />

Durch die „Wandlung“ der Person – so die These – verbessern oder verschlechtern<br />

sich seine Chancen auf dem Wohnungsmarkt. In den Worten eines der entwickler:<br />

„Also wenn er jetzt immer nur pampige Antworten gibt, da hatten wir z.<br />

B. vorgesehen, dass er dann in Zukunft einfach auch eine schlechte Ausstrahlung<br />

hat <strong>und</strong> die anderen Menschen schon gleich negativer auf ihn reagieren, dass er<br />

307


STeFAN SelKe<br />

es irgendwie schwieriger hat, irgendwelche Informationen zu bekommen; währenddessen<br />

wenn er immer fre<strong>und</strong>lich ist <strong>und</strong> hilfsbereit, dass er dann eben eine<br />

positive Ausstrahlung hat <strong>und</strong> andere Menschen eher bereit sind, ihm zu helfen“<br />

(GD, 18). Die Charakteroptimierung passiert durch „angemessene“ Dialoge: Jedes<br />

Gespräch wird nach einem Rankingverfahren <strong>und</strong> Algorithmus neu berechnet.<br />

Dazu dient im Hintergr<strong>und</strong> eine umfangreiche Datenbank mit (unterschiedlich<br />

bewerteten) Antwortmöglichkeiten. Das gleichermaßen technische wie sozialwissenschaftliche<br />

Problem hierbei sind die Indikatoren <strong>und</strong> deren Skalierung.<br />

Unklar bleibt, wie bestimmte Antworten bewertet werden (sollen). Damit ist das<br />

Kernproblem des vorgelegten Konzepts benannt: Wie können die komplizierten<br />

einzelfaktoren, die zwischenmenschliches Zusammenleben ermöglichen (<strong>und</strong><br />

bestimmen) in angemessene technische Parameter zerlegt werden? Wie können<br />

abhängige, unabhängige <strong>und</strong> intervenierende Variablen so definiert werden, dass<br />

sie in technische Parameter umgewandelt werden können?<br />

Die Reduktion der realweltlichen Optionsparalyse durch ein Rankingverfahren<br />

ist zwar eine charmante Idee, letztlich jedoch Ausdruck eines technizistischen<br />

Weltbildes. Dem durchaus spürbaren intellektuellen Interesse an der sozialen<br />

Wirklichkeit <strong>und</strong> ihren Mechanismen, an Dialogen <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>en, steht das<br />

Problem der Algorithmisierung sozialer Parameter gegenüber: „Wir hatten es halt<br />

herunter gebrochen. Es gab Charismapunkte, es gab Essen, Sättigung. […] Geld.<br />

[…] Auf diese drei Sachen hatten wir es im Prinzip herunter gebrochen. Das Geld<br />

hatte keine Auswirkung auf den Charakter, wohl aber wie hoch der Sättigungsgrad<br />

ist <strong>und</strong> wie halt das Charisma aktuell ist“ (GD, 44-49). Letztlich erkennen die<br />

Studierenden die damit verb<strong>und</strong>enen Probleme selbst: „Da haben wir auch relativ<br />

eindimensional gedacht. Da haben wir dann einfach gesagt, das eine sind minus<br />

drei Punkte, das andere sind plus ein Punkt. Das war dann einfach auch nur ein<br />

Zahlenstrahl im Prinzip“ (GD, 50). Hier setzt sich eine Form „technokratischen“<br />

Denkens durch. Der erfolg auf dem Wohnungsmarkt ist kaum von der charakterlichen<br />

Verfassung oder gar Wandlung eines Suchenden abhängig, sondern von<br />

Markt- oder Informationsvorteilen.<br />

Die Spielcharaktere – Exemplarische Stereotypen<br />

An den Spielcharakteren zeigt sich besonders deutlich, welche Folgen die radikale<br />

Vereinfachung von Wirklichkeit im Computerspiel MyTown hat. Die realweltliche<br />

Heterogenität wird auf nur drei exemplarische Stereotypen reduziert.<br />

Als Spielfiguren wurden ein Informatiker, ein Betriebswirt <strong>und</strong> ein Sozialpädagoge<br />

konzipiert. Diese drei Typen repräsentieren die Kategorie „Studierender“ vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> unterschiedlicher „Ontologien“ im studentischen Milieu: „Die<br />

starten mit verschiedenen Werten, haben verschiedene Bedürfnisse […] Also der<br />

Typus des Sozialpädagogen hatte sehr viele Allergien, war sehr kontaktfreudig, so<br />

ganz klischeehaft oder vielleicht Teilklischee, ich weiß gar nicht, ob man das so<br />

ganz allgemein sagen kann“ (GD, 88-97). Die Reduktion der gesellschaftlichen<br />

308


MyTown<br />

Wirklichkeit auf drei Sozialtypen sollte aus Sicht der Entwickler „Komplexität der<br />

Wohnungssuche in die Figuren hinein implementieren . […] so Sachen wie jetzt<br />

beispielsweise, dem Informatiker war immer sehr wichtig, dass seine zukünftige<br />

Wohnung auch auf jeden Fall einen DSL-Anschluss hat, dafür nicht unbedingt<br />

Fenster. […] Dafür hat er weniger Charisma“ (GD, 88-89). Hinter diesen vereinfachten<br />

Sozialfiguren steht ein vereinfachtes Menschenbild (Spielfigur braucht<br />

Schlaf, muss essen, sich duschen), das sich auf eine behavioristische Auffassung<br />

von Wirklichkeit gründet. Menschliches Verhalten wird dabei ausschließlich als<br />

Folge der Veränderung der äußeren Umwelt (Reiz-Reaktions-Schema) erklärt:<br />

Wenn die Spielfigur nicht genug zu essen bekommt, wird sie gereizter, führt<br />

<strong>Interaktion</strong>en auf einem anderen „Level“ durch. Dies wirkt sich dann letztlich<br />

negativ auf die Aufgabenerfüllung aus. Aber selbst diese scheinbar einfachen<br />

Kausalketten sind technisch kaum umzusetzen. Selbst stereotypische <strong>Interaktion</strong>en<br />

besitzen noch unendliche viele Varianten. Diese müssen vorausgedacht,<br />

skaliert, bewertet <strong>und</strong> als Frage- <strong>und</strong> Antwortparameter in eine Datenbank abgelegt<br />

werden. Zudem wird von den <strong>Interaktion</strong>spartnern im Spiel (Menschen auf<br />

der Straße, Mitstudierende vor dem schwarzen Brett, Gastronomiebetreiber) ein<br />

potenzieller „Codeswitch“ erwartet, d.h. sie müssen wie im realweltlichen Alltag<br />

unterschiedlich auf die drei exemplarischen Spieltypen reagieren.<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, auf welcher Wissensbasis die<br />

entwickler die Spielcharaktere modellierten. In der Diskussion wird sehr schnell<br />

deutlich, dass einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Spielentwicklung der<br />

eigene lebensweltliche Hintergr<strong>und</strong> der Studierenden, ihre Selbstbeobachtungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Erfahrung darstellt. Damit ist der Wunsch verb<strong>und</strong>en, „eben einfach<br />

mal unsere Erlebnisse sozusagen in dieses Spiel ein[zu]bringen“ (GD, 4). Die<br />

entwickler studieren ein informationstechnisches Fach <strong>und</strong> hatten sich vorher<br />

noch nie bewusst mit sozialen <strong>Interaktion</strong>en auseinander gesetzt. Sie haben sich<br />

daher auch nicht explizit mit (sozial-)psychologischen Theorien beschäftigt, die<br />

ihnen einen konkreten Anhaltspunkt für die Modellierung sozialer Prozesse liefern<br />

könnten. Woher kommt also das Wissen über den Ablauf zwischenmenschlicher<br />

<strong>Interaktion</strong>en? Es kann sich nur aus Selbstbeobachtungen <strong>und</strong> eigenen<br />

erfahrungen speisen, auf deren Basis die entwickler sich ihr eigenes Menschenmodell<br />

„zusammenbasteln“. Es besteht aus Ableitungen erster Ordnung auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage eigener Erfahrungen <strong>und</strong> ist Ergebnis von Selbstbeobachtung: „Und<br />

so kamen wir halt drauf, dass wir so eine für uns erfahrbare Situation […] nehmen,<br />

an vielen Punkten aber auch wirklich mit viel Humor versehen, weil gerade<br />

Wohnungssuche etwas Menschliches ist. Man sucht sich ja so ein neues Nest<br />

irgendwie.“ (GD, 36). Die Entwickler erkennen den Einfluss der eigenen Umgebung<br />

unmittelbar an: „Wenn man dann so in der R<strong>und</strong>e sitzt <strong>und</strong> sagt, so, wie<br />

sieht es denn hier bei uns in <strong>Furtwangen</strong> aus <strong>und</strong> wie fühlen wir uns denn, oder<br />

wie haben wir uns gefühlt, dann wird das natürlich auch teilweise in das Spiel<br />

oder die Konzeption hineinprojiziert“ (GD, 96). Anhand dieses Einflussfaktors<br />

drückt sich ein mittelbares (aber nicht verwirklichtes) Ziel des Spieles aus, dass<br />

309


STeFAN SelKe<br />

darin besteht, die Stadt <strong>Furtwangen</strong> (wohungssuchend) besser kennen zu lernen:<br />

„Wir wussten auch alle nicht, wie <strong>Furtwangen</strong> aussieht, bevor wir hierher gekommen<br />

sind“ (GD, 181).<br />

Die „sinnhafte“ Spielform in Abgrenzung zu „normalen“ Computerspielen<br />

Das Konzept für MyTown entstand in expliziter Abgrenzung gegenüber „normalen“<br />

Computerspielen. Studierende, die hier als Spielentwickler tätig wurden,<br />

sind nicht bloß naive Anwender, sondern auch bereit zu kritischer Reflektion:<br />

„Man beschäftigt sich ja auch immer ein bisschen mit Computerspielen, wenn<br />

man sie selbst spielt, man kriegt ja immer mal was mit, dann hätte man schon<br />

gemerkt, dass es irgendwas Tolles, Neues gibt, was eben auf diese Art <strong>und</strong> Weise<br />

seinen Sinn macht“ (GD, 232). Dazu war allerdings der oben beschriebene<br />

institutionelle Rahmen eines Projektstudiums notwendig <strong>und</strong> hilfreich. Für die<br />

Entwickler besteht die Aufgabe, sich mit ihrem Konzept von einem „normalen“<br />

Computerspiel abzugrenzen. Was aber ist ein „normales“ Computerspiel? Immer<br />

wenn der Begriff „normal“ gebraucht wird, gibt er einen Hinweis auf sozial relevante<br />

Wirklichkeitsentwürfe.<br />

Die Entwickler selbst entwerfen eine pragmatische Definition dieser Normalität.<br />

„Normal“ ist ein Computerspiel, „das man kaufen kann, das massenhaft verbreitet<br />

ist, das man persönlich kennt“ (GD, 188). Durch die „normalen“ Spiele werden<br />

Genre „gesetzt“ (Ego Shooter, Kolonialisierungsspiele etc.), die aber für den<br />

vorliegenden Entwicklungskontext (Projektstudium) nicht akzeptabel erschienen.<br />

Diese Spiele dienten jedoch ex-negativo als Inspirationsquelle. Die Studierenden<br />

waren auf der Suche nach einem besonderen Element: „Für uns war auch ziemlich<br />

wichtig, dass wir irgendwas haben, was es so noch nicht gibt. Und es gibt<br />

tatsächlich auf dem Markt ziemlich wenige Spiele, die sich mit zwischenmenschlicher<br />

<strong>Interaktion</strong> tatsächlich jetzt auf der menschlichen Ebene befassen. <strong>Interaktion</strong><br />

klar, aber dann immer nur weil ein Charakter irgendwas möchte“ (GD, 223).<br />

Keines der „normalen“ Computerspiele machte aus Sicht der Befragten „Sinn“.<br />

Sinnhaftigkeit war aber genau das element, das sie suchten: Sinnhaftigkeit statt<br />

Fiktionalität.<br />

Ihr Spiel sollte auf keinen Fall ein Gewaltspiel, ebenso kein „Lern- oder Zeigefingerspiel“<br />

(GD, 246-248) werden. Die Entwickler grenzen sich ebenso von realitätsfernen<br />

oder fiktionalen Genres ab. Die Figuren sollten mit normalen, d.h. von<br />

uns allen geteilten Fähigkeiten <strong>und</strong> Möglichkeiten ausgestattet sein, also keine<br />

Superhelden mit Superkräften darstellen. Dieses Merkmal der entwicklung verdient<br />

besondere Beachtung, da alle Produzenten selbst erfahrene, aktive Spieler<br />

sind <strong>und</strong> sich gut mit fiktionalen Spielen auskennen. Was bedeutet es also, wenn<br />

im Rahmen eines institutionalisierten lernprozesses gerade diese erfahrungswelt<br />

auf der Suche nach „Normalität“ verlassen wird? Eine Reaktion auf die Gewöhnung<br />

an die bombastischen Übertreibungen in den üblichen Spielen? Oder<br />

eher eine gr<strong>und</strong>legende Kritik an der Realitätsferne, wie es dieser Diskussionsteil-<br />

310


MyTown<br />

nehmer stellvertretend ausdrückt: „Was mich immer […] sehr gestört hat, dass die<br />

Charaktere - okay, die können seitwärts laufen, vorwärts laufen, aber die können<br />

auch rückwärts laufen. Die laufen 50 Meter rückwärts, bis sie an irgendeine Wand<br />

kommen <strong>und</strong> dann stehen sie da. […] Es geht nicht. Kein Mensch läuft irgendwie<br />

rückwärts <strong>und</strong> fällt nicht hin“ (GD, 249-253). Die Kritik an den „normalen“<br />

Spielen äußert sich auch in der Art der Zeitstraffung, wie sie einleitend als konstituierendes<br />

Element von Spielen beschrieben wurde. In „normalen“ Computerspielen<br />

agiert die Spielfigur nur, um direkt Erfolg zu haben. Wird die vermeintlich<br />

„richtige“ Antwort gegeben, geht das Spiel schnell weiter. „Das ist wirklich nur<br />

so eine kleine Hürde, über die man springen muss“ (GD, 227). Stattdessen sollte<br />

sich in MyTown jeder Dialog auf den nächsten <strong>und</strong> übernächsten auswirken um<br />

so die Latenz von Verhaltensmustern zu simulieren, wie sie ja aus dem Alltag<br />

bekannt ist. Explizit suchten die Produzenten auf dieser Entwicklungsstufe nach<br />

Realismus. Dabei trennten sie scharf zwischen der ebene der Gestaltung <strong>und</strong><br />

der des Inhalts: „Diese grafischen Sachen sollten eben nicht realistisch sein, aber<br />

das Inhaltliche sollte allerdings schon ans leben angepasst sein“ (GD, 249-255).<br />

Sie suchten also nicht nach Foto-Realismus, sondern nach Sozial-Realismus. es<br />

erschien ihnen als besonders reizvoll, sich mit sensiblen, komplexen sozialen <strong>Interaktion</strong>en<br />

zu beschäftigen. Damit gaben sie der inhaltlichen ebene eine herausgehobene<br />

Stellung, vor der ebene der technischen Realisierbarkeit. Sie zeigten<br />

Interesse für die variablen Formen <strong>und</strong> Bedingungen zwischenmenschlichen<br />

Zusammenlebens <strong>und</strong> zielten darauf ab, diese Formen <strong>und</strong> Bedingungen des Zusammenlebens<br />

technisch zu simulieren (ohne dies realisieren zu können).<br />

4 Parallelwelt mit Limesfunktion – Zur Rekonstruktion impliziter<br />

Gesellschaftsmodelle bei der Konzeption des Computerspiels My-<br />

Town<br />

Die Rekonstruktion der wesentlichen Elemente <strong>und</strong> Einflussfaktoren zeigt, wie<br />

vielschichtig der entwicklungsprozess dieses Computerspiels ist. Was sagt also<br />

das Konzept des Spiels über die Haltung der Entwickler aus? Welche impliziten<br />

Gesellschaftsentwürfe sind darin vorborgen? Im letzten Abschnitt wird das bisher<br />

erörterte noch einmal unter dieser leitfrage verdichtet. Da der Beitrag sich als<br />

heuristische Annäherung an die Fragestellung versteht, werden die ergebnisse<br />

als Thesen formuliert.<br />

• These 1: Die während des Entwicklungsprozesses erfolgte Änderung der Relevanzsetzung<br />

verdeutlicht die Suche nach Sinnhaftigkeit als bestimmenden<br />

Anreizfaktor der Spielentwicklung<br />

Die gesamte Spielentwicklung war geprägt von einem Klima latenter Überforderung,<br />

der sich in der mangelnden Trennung zwischen konzeptioneller <strong>und</strong><br />

technischer Ebene ausdrückte. Indem die Studierenden diesen Gr<strong>und</strong>konflikt<br />

311


STeFAN SelKe<br />

erkennen, verschieben sich im entwicklungsprozess anfangs gesetzte Motivationsrelevanzen<br />

(vgl. Schütz 1982: 78ff.) derart, dass die folgende Planung sich neu<br />

ausrichten kann. Die Idee der technisch ausgefeilten Umsetzung einer komplexen<br />

Spielwelt wird aufgegeben, an ihre Stelle tritt das konzeptionelle Arbeiten,<br />

das „Basteln“ an der Spielidee.<br />

Dieses Plausibilitätskriterium steuert im Folgenden den gesamten entwicklungsprozess.<br />

Seine deutlich zu rekonstruierende Dominanz ist das eigentlich Überraschende.<br />

Die technische Umsetzung der plausiblen Hintergr<strong>und</strong>geschichte wird<br />

als nachgelagerte entwicklungsaufgabe neu eingestuft <strong>und</strong> damit eigentlich abgewertet.<br />

Dabei schiebt sich das Plausibilitätskriterium „Sinnhaftigkeit“ immer<br />

deutlicher in den Vordergr<strong>und</strong>. Spielhandlungen, die in der Realwelt unmöglich<br />

sind, werden vehement ausgeschlossen, da sich die entwickler stark von den bekannten<br />

fiktionalen Genres abgrenzen: „Solche Gedanken sind aber immer wieder<br />

eingeflossen, wo wir uns gefragt haben, wieso w<strong>und</strong>ert sich niemand, dass<br />

das in Spielen einfach geht, dass man da einfach Sachen machen kann, die man<br />

im echten leben niemals macht“ (GD, 244). Infolgedessen suchen sie nach realistischen<br />

Darstellungsmöglichen sozialer <strong>Interaktion</strong>. Genau an dieser Stelle kippt<br />

der entwicklungsprozess. Die Suche nach Sozialrealismus, nach Sinnhaftigkeit<br />

wird zum bestimmenden Antrieb der entwicklung. Im Spiel MyTown geht es<br />

also weder nur darum, den Charakter der Spielfigur zu optimieren, noch darum,<br />

sich durch die geografische Mobilität <strong>und</strong> die Dichte sozialer <strong>Interaktion</strong>en einen<br />

Lebensraum zu erschließen, sondern darum, „Sinn aufzubauen“ (GD, 235). Sinn<br />

meint: nachhaltige Beziehungen, spürbare Wirkungen sozialer <strong>Interaktion</strong>en. einer<br />

der Studierenden fasst dies in einer anschaulichen Fokussierungsmetapher<br />

zusammen: „Wir wollten schon Realismus reinbringen an der Stelle“ (GD, 244).<br />

Wie aber kann Sinnhaftigkeit in ein Computerspiel „implementiert“ werden? Die<br />

Entwickler sehen sich gezwungen, sich mit der Matrix sozialer Prozesse auseinander<br />

zu setzen. Dies gelingt ihnen allerdings nur auf der Basis eigener lebensweltlicher<br />

Anschauungen <strong>und</strong> erfahrungen, so dass der von ihnen gewünschte<br />

Realismus letztlich in eine technizistische Stereotypisierung mündet.<br />

• These 2: Die Modellierung des Spiels als Arena kompetetiver Selbstdarstellung<br />

verdeutlicht die Wirksamkeit des leistungsgedankens als implizitem<br />

leitbild der entwickler<br />

Dem selbst eingeforderten Anspruch nach Realismus wird das Konzept auf den<br />

ersten Blick gerecht, denn die soziale Situation „Wohnungssuche“ könnte nicht<br />

anschaulicher <strong>und</strong> plausibler sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass<br />

die Studierenden ein unabgeschlossenes Verständnis sozialer Prozesse besitzen<br />

<strong>und</strong> daher mit ihrem Spiel eine Arena kompetetiver Selbstdarstellung erdenken,<br />

die letztlich viel über die impliziten Vorannahmen der entwickler aussagt. Zwei<br />

Konzepte konkurrieren dabei unbemerkt: In der ersten Konzeption geht es im<br />

Kern um eine Charakteroptimierung durch bewertete <strong>und</strong> selbstwertdienliche<br />

Dialoge. Der wohnungssuchende Spieler tritt in <strong>Interaktion</strong> mit den Bewohnern<br />

312


MyTown<br />

der Stadt, er stellt <strong>und</strong> beantwortet Fragen. Seine Frage- <strong>und</strong> Antwortwahl wird<br />

zum Identitätsakt, da sie sich auf den weiteren Spielverlauf <strong>und</strong> -erfolg auswirkt.<br />

In diesem Konzept wird die Welt des Sozialen mit ihren komplexen <strong>und</strong> kontingenten<br />

sozialen Grammatiken auf ein sehr einfaches (man könnte auch sagen:<br />

durchschaubares) System von Dialogen reduziert. Durch die technische limitierung<br />

der Komplexität dieser Sprechakte wird entgegen des eigenen Anspruchs<br />

gerade kein Realismus ins Spiel eingebaut. Vielmehr ist das zugr<strong>und</strong>e liegende<br />

Konzept als Ausdruck eines technokratischen Menschenbildes zu werten, dass<br />

sich als ein weiterer Einflussfaktor manifestiert.<br />

Das zweite, eng damit verb<strong>und</strong>ene Konzept, stellt vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer prozessuralen<br />

Logik <strong>und</strong> der virtuellen Stadt als Experimentierraum das Thema der<br />

Erschließung von „Lebensraum“ in den Mittelpunkt. Aber auch dafür sind <strong>Interaktion</strong>en<br />

mit Menschen notwendig, <strong>Raum</strong> allein kann nicht sinnvoll erschlossen<br />

werden, worauf schon Simmel (1995: 218) hingewiesen hat: „Von allen Potenzen<br />

des lebens ist der <strong>Raum</strong> am meisten die zur Anschauung gewordene Unparteilichkeit.<br />

[…] Und dieser Unparteilichkeit des <strong>Raum</strong>es überhaupt nähert sich<br />

für die praktischen Verwertungen am meisten das unbewohnte, niemandem weiter<br />

gehörige Terrain, das eben sozusagen bloß <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> weiter nichts ist“. Nur<br />

durch <strong>Interaktion</strong>en erhält der einzelne die Möglichkeit, sich durch den Kontakt<br />

mit verschiedenen Gruppen eine Identität zu erschaffen, das, was Simmel (1989:<br />

237ff., 1992: 456ff.) klassisch die „Kreuzung sozialer Kreise“ <strong>und</strong> die daraus folgende<br />

„Bestimmtheit der Person“ nennt.<br />

Zwischen diesen beiden Konzepten, der Punktelogik der Charakteroptimierung<br />

<strong>und</strong> der Prozesslogik des erschließens von lebensraum herrscht eine ambivalente<br />

Spannung. Hinter beiden Konzeptionen aber zeigt sich der Einfluss eines<br />

impliziten Gesellschaftsbildes. Dieses kann in erster Annäherung mit dem Paradigma<br />

der leistungsgesellschaft in Deckung gebracht werden. Die Spieler<br />

müssen etwas leisten, um etwas anderes zu bekommen. Hierin drückt sich eine<br />

spezielle – intersubjektiv verbindliche – Motivationsrelevanz aus: „Denn das, was<br />

getan werden muss, ist dadurch motiviert, wofür es getan werden muss“ (Schütz<br />

1982: 80). Charakteroptimierung <strong>und</strong> Selbstverortung werden immer mehr zum<br />

notwendigen Handwerk im Überlebenskampf einer Gesellschaft, in der wichtige<br />

Ressourcen wie Arbeit <strong>und</strong> soziale Anerkennung immer knapper werden. Die<br />

entwickler haben die öffentliche Rhetorik um Selbstmanagement, Soft Skills <strong>und</strong><br />

andere Parolen, die letztlich die Rückkehr zur Selbstverantwortlichkeit des Individuums<br />

ausdrücken, verinnerlicht <strong>und</strong> verdeutlichen (wieder einmal) die schon<br />

von Beck (1986) postulierten Individualisierungstendenzen. In der virtuellen<br />

Welt des Spiels wird die realweltliche logik nur noch radikalisiert: Dort einen<br />

Platz zu finden (=MyTown) bedeutet, sich den „normregulierenden“ Verhaltensanforderungen<br />

(Habermas 1988: 132ff.) von Vermietern, Mitschülern <strong>und</strong> anderen<br />

Protagonisten schon auf der sprachlichen ebene perfekt anzupassen. Soziales<br />

Verhalten wird in der virtuellen Kopie der leistungsgesellschaft zu einer<br />

313


STeFAN SelKe<br />

entweder-Oder logik reduziert, während es im realweltlichen Pendant zumindest<br />

(noch) fließende Übergänge zwischen Inklusion <strong>und</strong> Exklusion, Insidern <strong>und</strong><br />

Outsidern gibt.<br />

• These 3: Die Sehnsucht nach Simulation ist geprägt vom Wechselspiel zwischen<br />

kontingenter Sinnhaftigkeit <strong>und</strong> der Komplexität algorithmischer Prozesse<br />

Gleichzeitig drückt dieses ambivalente Konzept von MyTown die Sehnsucht nach<br />

Beherrschbarkeit einer durch <strong>und</strong> durch unüberschaubaren Welt aus. Der Versuch,<br />

mittels einer Parameter-logik die Optionsparalyse der Realwelt zu reduzieren,<br />

muss zwangsläufig scheitern. Technik in Form von Software wird zum<br />

Modell für Naturbeherrschung. Gleichzeitig scheitern die entwickler an einem<br />

gr<strong>und</strong>legendem Problem: der Komplexität sozialer Vorgänge.<br />

Obwohl Computerspiele für viele User fester Bestandteil der eigenen lebenswelt<br />

sind, die Spielwelt als Kommunikations- <strong>und</strong> Kontaktraum selbstverständlich<br />

geworden ist, können realweltliche Vorgänge dort letztlich nur sehr holzschnittartig<br />

abgebildet werden. Auf die Komplexität sozialer Vorgänge wies schon Simmel<br />

(1995: 209) hin, indem er behauptete, dass: „die wirkliche Struktur einer<br />

Vergesellschaftung […] keineswegs durch ihr sociologisches Hauptmotiv allein<br />

bestimmt [wird], sondern durch eine sehr große Anzahl von Verbindungsfäden<br />

<strong>und</strong> Verknotungen“. Das Hauptmotiv „Wohnungssuche“, so alltagstauglich es<br />

erscheint, reicht also noch nicht aus, um die realweltliche Heterogenität dieser<br />

„Verknotungen“ adäquat abzubilden. Die verschiedenen Kodierungsschichten,<br />

die in der realen Welt mittels Sprache <strong>und</strong> vor allem auch parasprachlich transportiert<br />

werden, die Mehrschichtigkeit sozialer Prozesse, die Kontextgeb<strong>und</strong>enheit<br />

zwischenmenschlicher Kommunikation lässt sich im Spiel MyTown nicht<br />

angemessen herunter skalieren („downsizen“ in der Sprache der Entwickler). Es<br />

lässt sich daher feststellen, dass sich der Wunsch nach Sinnhaftigkeit <strong>und</strong> der<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Konstruktion einer „Parallelwelt“ im Konzept zwar deutlich<br />

ausdrückt, technisch aber nicht plausibel umgesetzt werden kann <strong>und</strong> an einen<br />

limeswert stößt: Die Möglichkeiten zur technisch-algorithmischen Parametrisierung<br />

sozialer Prozesse verhalten sich umgekehrt proportional zur Kontingenz<br />

sozialer Wirklichkeit.<br />

Fassen wir zusammen: Ausgangspunkt dieses Beitrages war das unstrukturierte<br />

„Feld offener Möglichkeiten“ (Schütz 1982: 52), den eine gegebene 3D-Engine<br />

für die Verwirklichung eines Computerspiels vorgibt. Dringendste Frage war,<br />

was innerhalb dieses Feldes an Bedeutung gewinnt <strong>und</strong> warum, „wie <strong>und</strong> durch<br />

welches Verfahren […] einige der offenen Möglichkeiten ausgewählt <strong>und</strong> in Beziehung<br />

zueinander gesetzt“ werden (Schütz 1982: 53). Diese Frage ist Ausdruck einer<br />

spezifischen Forschungshaltung, wie sie sich gerade in der Wissenssoziologie<br />

ausdrückt. Etwas Gegebenes derart anzuzweifeln bedeutet: „Einen Gegenstand<br />

[…] zum Problem, zum Thema oder zur Aufgabe unseres Denkens zu machen,<br />

314


MyTown<br />

bedeutet nichts anderes, als ihn als zweifelhaft oder fragwürdig zu begreifen, ihn<br />

aus dem Hintergr<strong>und</strong> der fraglosen <strong>und</strong> unbefragten Vertrautheit […] herauszulösen“<br />

(Schütz 1982: 56). Ziel der Untersuchung war es daher, die Denkmodelle<br />

zu erörtern, die als nicht-technische Voraussetzung sowohl den Produktions- als<br />

auch den Rezeptionsprozess limitieren.<br />

Der anfangs offene entwicklungsprozess mündete in ein Konzept, das einen<br />

intersubjektiv bekannten Vorgang (Wohnungssuche) vor dem Hintergr<strong>und</strong> des<br />

eigenen sozialräumlichen erlebens (<strong>Furtwangen</strong>) thematisiert. Das Kernthema<br />

Wohnungssuche in einer fremden Stadt wird in die Form einer rudimentären<br />

Grammatik des Alltagslebens gebracht, die im Kern auf die Zerlegung, wenn<br />

nicht gar Atomisierung des Suchprozesses in Form mechanistisch gedachter <strong>und</strong><br />

instrumentell bewerteter Situationen <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>en hinausläuft. Der erlebnistransfer,<br />

der ja die ursprüngliche Aufgabe (aus Sicht der Lehrenden) darstellte,<br />

mündet darin, realweltliche <strong>Interaktion</strong>en algorithmisch zu parametrisieren <strong>und</strong><br />

als bewertetes Frage-Antwortschema in eine Datenbank als Steuerungsinstrument<br />

zu transferieren.<br />

Diese exemplarische Rekonstruktion des Spielentwicklungsprozesses führt zu<br />

gr<strong>und</strong>legenden einsichten über das prekäre Wirklichkeitsverhältnis von Computerspielen:<br />

Das Spiel stellt einerseits auf der ebene des Konzepts den Versuch<br />

dar, komplexe Grammatiken sozialer <strong>Interaktion</strong>en zwischen den Spielfiguren<br />

in ein einfaches entscheidungsmodell zu überführen. es zeigt andererseits auf<br />

der ebene der technischen Realisierung, dass kontingente realweltliche Prozesse<br />

der Herstellung von Sinnhaftigkeit sich nur sehr unzureichend durch algorithmische<br />

Prozesse simulieren lassen. Den vielen Möglichkeiten der Software stehen<br />

nur begrenzte Realisierungsformen gegenüber. Dies zeigt sehr deutlich die<br />

Aktualität einer der Kernthesen der Wissenssoziologie. Die Freiheit des individuellen<br />

Handelns ist begrenzt, Handlungsoptionen unterliegen vorstrukturierten<br />

Bedingungen, da wir alle nur ein „plug-in“ in einer Menge (Bloom 1999: 124)<br />

sind. Dennoch drückt das Spiel den Wunsch aus, der „Entdinglichung des Sozialen“<br />

(Giesen 1991) entgegenzutreten. Denkt man das Konzept von MyTown<br />

konsequent weiter, so landet man schließlich in der Parallelwelt Secondlife (www.<br />

secondlife.com), einer netzbasierten 3D-Welt, die von ihren inzwischen gut 3 Millionen<br />

Bewohnern programmiert wird. Realweltliche soziale <strong>Interaktion</strong>en wird<br />

hier in (fast) vollem Umfang simuliert. Man kann Partner kennen lernen, sich<br />

binden <strong>und</strong> wieder trennen, land kaufen <strong>und</strong> verkaufen. IBM hat in der Welt von<br />

Secondlife Geschäfte eröffnet, Schweden vor kurzem die erste offizielle Online-<br />

Botschaft im Cyberspace . Wieso sich diese Spirale, basierend auf der Sehnsucht<br />

nach Simulation, immer weiter dreht, wäre eine eigene Untersuchung wert. ein<br />

anderes Mal.<br />

315


STeFAN SelKe<br />

literatur<br />

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MyTown<br />

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317


STeFAN SelKe<br />

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Tübingen.<br />

318


II. Studentische Abschlussarbeiten


KATRIN STANGWAlD<br />

Entwicklung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung<br />

des BOE-BOT in Max/MSP/Jitter<br />

Der Parallax Boe-Bot bezeichnet einen Roboter, der zur Fortbewegung mit zwei<br />

Servo-Motoren ausgestattet ist. Die energie bezieht der Boe-Bot über ein angebrachtes<br />

Akku-Pack oder durch den Anschluss eines angebrachten Netzteiles.<br />

Ausgestattet mit verschiedenen Sensoren <strong>und</strong> Aktoren ist es möglich, die Umgebung<br />

wahrzunehmen <strong>und</strong> auf ereignisse zu reagieren. Der Boe-Bot ist mit einer<br />

Steuereinheit, dem „Javelin Stamp Module“ ausgestattet. Dieses Modul bezeichnet<br />

einen in java programmierbaren Mikrocontroller, mit dem ein prozessorgesteuertes<br />

Verhalten ausgeführt werden kann.<br />

Max/MSP/Jitter ist eine graphische Programmierumgebung, die eine Vielzahl an<br />

Komponenten zur Audio- <strong>und</strong> Videobearbeitung bereitstellt. Max stellt dabei das<br />

Gr<strong>und</strong>gerüst dar, auf dem MSP mit Audio-Komponenten <strong>und</strong> jitter mit Video-<br />

Komponenten aufsetzt. Die Komponenten werden auch Externals bezeichnet.<br />

323


KATRIN STANGWAlD<br />

1 Ziel der Untersuchung<br />

Ziel der Diplomarbeit ist es, eine Lösung für einen flexiblen Datenaustausch zwischen<br />

den Programm zwischen dem Programm Max/MSP/Jitter von Cycling‘74<br />

<strong>und</strong> dem Roboter Parallax Boe-Bot zu entwickeln <strong>und</strong> zu implementieren. Die<br />

Übertragung der Daten soll mittels Bluetooth erfolgen, so dass die Daten jedes<br />

Sensors in Max/MSP zugänglich sind. Bluetooth ist ein Industriestandard gemäß<br />

Institute of electrical and electronics engineers (Iee) für drahtlose (Funk-)Vernetzung<br />

von Geräten über eine kurze Distanz.<br />

Vor dem Versand der Sensordaten werden diese mit einer Sensorkennung versehen,<br />

um beim empfang dem Sensorursprung der Daten zuordnen zu können.<br />

Die Kommunikation erfolgt dabei in beide Richtungen. Die ankommenden Daten<br />

sollen in Max/MSP/Jitter ausgewertet werden. Ziel ist es, eine Anbindung des<br />

Boe-Bots an Max/MSP in Form eines flexiblen Werkzeuges zu erstellen. Dies soll<br />

den Gr<strong>und</strong>stein für weitere Projekte bilden.<br />

2 Anforderungen<br />

Die Anforderungen der Steuerungsplattform des Boe-Bots umfassen dabei die<br />

Realisierung einer Verbindung der zwei Komponenten Boe-Bot <strong>und</strong> Max/MSP<br />

über Bluetooth. Dabei ist eine fehlerfreie, biderektionale Datenübertragung zu<br />

gewährleisten. ein Kamera-Modul soll ebenfalls in den Boe-Bot integriert werden.<br />

Weitere Sensoren/ Aktoren müssen integriert werden können, ohne das es<br />

einer Änderung der Software-Architektur bedarf. Eine Schnittstelle in Max/MSP<br />

ist mit Hilfe von Externals zu realisieren. Die Datenübertragung der Sensoren soll<br />

mit möglichst einer hohen Übertragungsrate, geringer latenz <strong>und</strong> einer Priorisierung<br />

zur laufzeit erfolgen.<br />

Für die Realisierung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung wird eine Analyse<br />

der technischen Komponenten vorausgesetzt. Hier ist zu klären, ob eine erweiterung<br />

mit Max/MSP/Jitter durchführbar ist. Desweiteren ist es notwendig, einen<br />

Überblick über die einzelnen Komponenten des „Parallax Boe-Bots“ zu erhalten.<br />

Hierzu gehören die „Conitnuous Rotation Servos“, das „Javelin Stamp Module“,<br />

die „Javelin Stamp IDE“, als auch diverse Erweiterungen des Boe-Bots mit Sensoren.<br />

Hierunter fällt auch die Bluetooth-Komponente, mit der die verschiedenen<br />

Daten des Roboters an das Programm Max/MSP übertragen werden sollen.<br />

3 Analyse<br />

Die Analyse beschäftigt sich überwiegend mit dem lösungsansatz der Robotersteuerung.<br />

Hierzu wird die leitungsorientierte <strong>und</strong> die paketvermittelte Übertra-<br />

324


gung in Betracht gezogen. eine Bandbreitenanalyse bestimmt die notwendige<br />

Übertragungskapazitäten <strong>und</strong> bildet die Voraussetzung zur Wahl einer Architektur-lösung.<br />

Verschiedene Szenarien werden vorgestellt, eine Auswahl mit Begründung<br />

wird getroffen, die im Rahmen der Diplomarbeit zum einsatz kommt.<br />

Als Realisierungsmöglichkeit ist die paketvermittelte Übertragung in Betracht gezogen.<br />

Ein Protokoll definiert dabei die Vereinbarungen über die Struktur der zu<br />

versendenden Datenpakete. Für die Durchführung einer erfoglreichen Kommunikation<br />

müssen Sender <strong>und</strong> empfänger eine identische Struktur der Datenpakete<br />

annehmen <strong>und</strong> somit das gleiche Protokoll verwenden. Dabei besteht ein Datenpaket<br />

stets aus einem Header <strong>und</strong> dem Anteil der eigentlichen Nutzdaten. Der<br />

Header ist in mehrere Felder unterteilbar. jedes Feld kann dabei Status-Informationen<br />

zu dem aktuellen Kommunikationsvorgang oder Meta-Informationen zu<br />

den Nutzdaten enthalten. Die Daten werden separiert <strong>und</strong> in Frames aufgeteilt.<br />

Für Max/MSP sind Patches realisiert, die Steuerpakete für den Boe-Bot generieren.<br />

Die Abfolge der Pakete, die Kommunikation als auch die Bedienelemente<br />

wurden durch vorhandene Externals von Max realisiert. Für den Javelin ist dabei<br />

eine Architektur zu realisieren, die eine scheinbar gleichzeitige Abarbeitung<br />

der ankommenden Pakete, die Generierung neuer Sensordatenpakete sowie den<br />

Versand der Sensordatenpakete durchführt. Dies wird erreicht, indem diese Aufgaben<br />

in kurzen Zeitabständen wiederholend abgearbeitet werden. Der Boe-Bot<br />

kann somit möglichst zügig auf das eintreffen neuer Steuerbefehle sowie auf die<br />

Reizung der installierten Sensoren reagieren.<br />

4 einsatzmöglichkeiten<br />

Entwicklung einer flexiblen Sensorik-Integrationslösung<br />

eine einsatzmöglichkeit im lehrbetrieb liegt in Vorlesungen, die sich mit <strong>Interaktion</strong><br />

beschäftigen. Hier ist denkbar, verschiedene Boe-Bots miteinander in Aktion<br />

treten zu lassen. Eine <strong>Interaktion</strong> kann durch Tracking gegeben sein – das<br />

Verfolgen eines Objektes oder einer Lichtquelle, welche auf einem weiteren Boe-<br />

Bot montiert ist.<br />

• Desweiteren sind auch Projekte mit Künstlicher Intelligenz (KI) denkbar. Folgendes<br />

Beispiel ist hierzu angeführt: der Boe-Bot soll ein bestimmtes Objekt<br />

in einem <strong>Raum</strong> finden <strong>und</strong> diesen an eine andere Stelle des <strong>Raum</strong>es transportieren.<br />

Hierbei ist die Reaktion des Boe-Bots nicht vorhersehbar.<br />

• Mit dem Einsatz von Whiskers können Aktionen bei einer Kollision durchgeführt<br />

werden.<br />

• Farbige Linien, die auf dem Boden angebracht sind, können verfolgt werden.<br />

• Denkbar ist auch der Einsatz von Boe-Bots in der Programmierveranstaltung.<br />

Über ein erweitertes Display-Modul können Statusmeldungen <strong>und</strong> Sensordaten<br />

direkt auf dem Bot angezeigt werden.<br />

325


KATRIN STANGWAlD<br />

• Eine Datenbankanbindung, in der verschiedene Aktionen gespeichert sind<br />

<strong>und</strong> beispielsweise von einem Zufallsgenerator ausgewählt werden, können<br />

dem Boe-Bot Befehle erteilen, ohne dass seine Reaktion vorhersehbar ist.<br />

• Eine Internetanbindung in Max/MSP kann Daten liefern. Als Szenario ist<br />

denkbar, dass verschiedene Boe-Bots auf einem Spielfeld interagieren. eine<br />

über dem Spielfeld montierte Kamera, filmt die Szene <strong>und</strong> überträgt diese<br />

über Internet an Dritte, die über die entfernung aktiv in das Spielgeschehen,<br />

beispielsweise über ein java-Applet, einwirken können.<br />

Mit der Erstellung des flexiblen Werkzeuges in Form einer Steuerungsplattform<br />

des Boe-Bots ist eine Anwendung entstanden, die noch sehr viel erweiterungspotenzial<br />

für zukünftige Projektarbeiten <strong>und</strong> Thesen aufweist. Die Möglichkeiten<br />

der Realisierungen sind nahezu unbegrenzt, da der Boe-Bot den kompletten<br />

Funktionsumfang des Programmes Max/MSP/Jitter enthält. Daher stellen die zuvor<br />

angeführten Beispiele lediglich einen kleinen Abriss der Möglichkeiten dar.<br />

Zukünftige Projekte hängen von der kreativen Gestaltung der Max/MSP Patches<br />

durch ihre Nutzer ab, welchen keine Grenzen gesetzt sind.<br />

links<br />

http://www.cycling74.com<br />

http://www.parallax.com<br />

326


MATTHIAS HeINTZ<br />

Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java<br />

3D<br />

1 Zusammenfassung der Diplomarbeit<br />

Gegenstand der Arbeit ist die entwicklung einer neuartigen, intuitiven <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit<br />

in einer mit java 3D erstellten Anwendung. Um die entscheidung<br />

für java 3D als Programmiersprache für die realisierte Anwendung zu begründen,<br />

werden verschiedene Möglichkeiten zur erstellung interaktiver, virtueller <strong>und</strong><br />

stereoskopisch präsentierter Umgebungen miteinander verglichen. Die Vorteile<br />

einer stereoskopischen gegenüber einer monoskopischen Ausgabe werden erläutert<br />

<strong>und</strong> verschiedene Methoden zur erzeugung <strong>und</strong> Reproduktion von stereoskopischen<br />

<strong>Bild</strong>ern beschrieben. Da eine solche Ausgabe aber noch nicht interaktiv<br />

ist, werden bestehende Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten evaluiert <strong>und</strong><br />

daraus die umgesetzten <strong>Interaktion</strong>en abgeleitet. Das eigens dafür entwickelte<br />

eingabegerät, eine Spraydose mit Mausbuttonklick-Funktion, wird vorgestellt<br />

<strong>und</strong> es wird dargelegt, wie es zur Intuitivität der gesamten Anwendung beigetragen<br />

hat. Neben einer detaillierten Präsentation der entstandenen Anwendung<br />

J-fitti 3D <strong>und</strong> ihrer Einsatzmöglichkeiten, wird auch ein Ausblick gegeben, welche<br />

erweiterungen zukünftige Verwendungsfelder erschließen können.<br />

329


MATTHIAS HeINTZ<br />

2 Bedeutung des Themas<br />

<strong>Interaktion</strong>en haben in unserem realen, alltäglichen leben einen sehr hohen<br />

Stellenwert, da wir durchgängig <strong>und</strong> meist unbewusst mit unserer Umwelt interagieren.<br />

Ohne Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten wäre man von der<br />

Außenwelt isoliert, da man weder den Standort in der Welt verändern, noch auf<br />

die Umgebung einwirken könnten.<br />

Gleiches gilt auch in virtuellen Welten. Deshalb wurde nach Wegen gesucht, um<br />

aus der Realität bekannte <strong>Interaktion</strong>en in die vom Computer erzeugten, künstlichen<br />

Welten zu übertragen. Dies wird dadurch erschwert, dass wir uns nicht<br />

wirklich in der virtuellen Umgebung befinden. Somit müssen wir uns zwangsläufig<br />

eines oder mehrerer Eingabegeräte bedienen, um mit der Welt innerhalb des<br />

Rechners in Wechselwirkung zu treten.<br />

Hier knüpft diese Diplomarbeit an. es werden bestehende Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>smöglichkeiten<br />

evaluiert, um auf dieser Basis eine möglichst immersive<br />

<strong>und</strong> intuitive Anwendung, mit einer neuartigen <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit, zu entwickeln.<br />

3 Navigationsarten<br />

Man unterscheidet zwischen First-, Second- <strong>und</strong> Third-Person Navigation, je<br />

nachdem wie direkt oder indirekt die Navigationsmethode arbeitet (Barrilleaux<br />

2001: 127-129).<br />

• Die First-Person Navigation basiert darauf, dass der Benutzer navigiert, indem<br />

er „sich selbst“, die „erste Person“, beziehungsweise deren Repräsentation<br />

in der Anwendung (dies könnte zum Beispiel eine Kamera oder ein<br />

View sein), mit Hilfe der eingabegeräte direkt kontrolliert. Diese Art der Navigation<br />

ist uns aus der Realität bekannt <strong>und</strong> kommt beispielsweise in ego-<br />

Shootern zum einsatz.<br />

• Bei der Second-Person Navigation navigiert man durch die Szene, indem<br />

man einzelne elemente der Szene als Hilfsmittel verwendet. eine Form der<br />

Second-Person Navigation wird bei vielen Rollenspielen eingesetzt, bei denen<br />

man den Charakter, den man spielt, <strong>und</strong> die Umgebung aus einer isometrischen<br />

Ansicht von schräg oben sieht. Man bewegt sich zu Personen<br />

oder Gegenständen hin, indem man sie anklickt. Man kann sich aber auch<br />

frei durch den <strong>Raum</strong> bewegen, indem man irgendwo auf den Boden klickt,<br />

wodurch die Spielfigur dann dorthin läuft.<br />

• Bei der Third-Person Navigation geschieht die Navigation losgelöst von der<br />

eigentlichen Szene. Das heißt, die Navigationselemente befinden sich außerhalb<br />

der Szene, werden dort bedient <strong>und</strong> bewirken dann die Navigati-<br />

330


on durch die Szene. Auch diese Navigationsart findet in Computerspielen<br />

Anwendung. Beispielsweise wird sie in Simulationsspielen eingesetzt, um<br />

einheiten an einen Punkt außerhalb des aktuell sichtbaren Bereichs zu bewegen.<br />

Dazu gibt es, meist am unteren <strong>Bild</strong>schirmrand, eine Kommandoleiste,<br />

die eine kleine Minikarte enthält. Diese Minikarte ist somit kein Teil der eigentlichen<br />

Szene, in der sich die Einheiten befinden, da die Kommandoleiste<br />

außerhalb dieser Szene ist. Zum Bewegen der einheiten kann man nun die<br />

Minikarte als Hilfsmittel verwenden <strong>und</strong> die einheiten somit auch an eine<br />

Stelle außerhalb des aktuell sichtbaren Bereichs bewegen.<br />

Des Weiteren wird in der literatur (a.a.O.: 126-127 <strong>und</strong> 129-130) zwischen räumlicher<br />

<strong>und</strong> kontextabhängiger Navigation unterschieden, abhängig davon, in<br />

welchem Bereich die Navigation angewendet wird. Die räumliche Navigation ist<br />

die Art von Navigation, die wir aus dem täglichen leben kennen: Der Benutzer<br />

bewegt sich durch den geometrisch bestimmten <strong>Raum</strong> von A nach B. Die kontextabhängige<br />

Navigation bezeichnet die Navigation durch einen konzeptionellen<br />

<strong>Raum</strong>, der nicht durch räumliche Parameter bestimmt ist, sondern der sich durch<br />

die Ähnlichkeit oder Zusammengehörigkeit der dargestellten Daten ergibt. Zum<br />

Beispiel könnte eine Webseite ein solcher „<strong>Raum</strong>“ sein, der dann dadurch definiert<br />

wird, dass sich alle Dateien im gleichen Ordner auf dem Server befinden.<br />

Durch das Navigieren mit Hilfe der Menüpunkte auf der Webseite navigiert man<br />

dann eigentlich durch diesen Ordner.<br />

4 <strong>Interaktion</strong>sarten<br />

Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />

<strong>Interaktion</strong>, im Kontext virtueller Umgebungen, bedeutet die (direkte oder indirekte)<br />

Manipulation von Objekten <strong>und</strong> ihren Eigenschaften in der virtuellen<br />

Umgebung durch den Benutzer <strong>und</strong> das unmittelbare (visuelle, auditive, haptische,...)<br />

Feedback für ihn auf der einen Seite sowie die Veränderung der virtuellen<br />

Umgebung durch die einwirkungen des Benutzer <strong>und</strong> ihre Restriktionen<br />

für ihn auf der anderen Seite.<br />

• First-Person <strong>Interaktion</strong> ist im Gr<strong>und</strong>e das Gleiche wie First-Person Navigation.<br />

Denn der Benutzer interagiert dabei mit seiner Repräsentation in<br />

der virtuellen Welt (der ersten Person). Dadurch führen Bewegungen <strong>und</strong><br />

Rotationen zu einer Veränderung des Standortes <strong>und</strong> der Blickrichtung<br />

<strong>und</strong> somit zu einer Navigation durch die Umgebung.<br />

• Bei der Second-Person <strong>Interaktion</strong> manipuliert der Benutzer die Objekte<br />

in der Szene direkt, um sie zu bewegen oder zu rotieren: „[…] the user<br />

has the feeling of directly manipulating an object in the scene, the second<br />

person.” (a.a.O.: 151). Der Name dieser <strong>Interaktion</strong>sart kommt daher, dass<br />

die Objekte in der Szene als „Second Persons“, neben dem Benutzer als<br />

„First Person“, bezeichnet werden.<br />

331


MATTHIAS HeINTZ<br />

332<br />

• Bei der Third-Person <strong>Interaktion</strong> manipuliert der Benutzer die Objekte in<br />

der Szene nicht direkt, sondern indirekt, indem er Knöpfe, Regler oder<br />

andere Hilfsmittel (die Third-Persons oder „dritten Personen“) außerhalb<br />

der Szene, aber innerhalb der Anwendung, verwendet.<br />

5 java 3D <strong>und</strong> dessen Alternativen zur erstellung von echtzeit 3D-<br />

Anwendungen<br />

Zur erstellung von virtuellen, interaktiven Umgebungen <strong>und</strong> zur Umsetzung<br />

der unterschiedlichen Navigations- <strong>und</strong> <strong>Interaktion</strong>sarten gibt es verschiedene<br />

Möglichkeiten. In den folgenden Abschnitten werden einige davon mit ihren jeweiligen<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachteilen beschrieben. Sie lassen sich grob in APIs <strong>und</strong> Softwarelösungen<br />

unterteilen. APIs sind Application Programming Interfaces <strong>und</strong><br />

definieren eine Schnittstelle zwischen dem Anwendungscode <strong>und</strong> den Betriebssystemfunktionen.<br />

Das heißt, sie abstrahieren die Betriebssystemfunktionen (zum<br />

Beispiel für die grafische Ausgabe) für den Programmierer. Damit kann er eine<br />

höhere Programmiersprache zur Implementierung der Anwendung verwenden.<br />

Man unterscheidet dabei zwischen Low- <strong>und</strong> High-Level-APIs, je nachdem wie<br />

hoch der Abstraktionsgrad der API ist. Softwarelösungen (wie Max/MSP von Cycling74<br />

oder Virtools) sind nicht nur Interfaces, sondern komplette Programme.<br />

Sie abstrahieren noch weiter als APIs <strong>und</strong> stellen dem Anwender eine grafische<br />

Oberfläche zur Verfügung. Mit deren Hilfe kann er die virtuelle Welt <strong>und</strong> ihre<br />

Funktionalitäten erzeugen, ohne eine Programmiersprache einsetzten zu müssen.<br />

low-level-APIs (wie OpenGl <strong>und</strong> DirectX) sind einfach gehalten <strong>und</strong> besitzen<br />

eine geringe Abstraktionsstufe. Ihr Vorteil liegt darin, dass sie sehr direkt auf die<br />

Hardware aufsetzen <strong>und</strong> damit dem Programmierer die größtmögliche Freiheit<br />

bei der Nutzung aller von der Hardware angebotenen Funktionen geben. „Sie<br />

betrachten die darzustellenden Daten als einen Strom von nur minimal zusammenhängenden<br />

Dreiecken, sehen aber nicht die logischen Zusammenhänge von<br />

Objekten.“ (Reiners 2004: 532). Daher muss der Programmierer die komplette<br />

Szene aus einzelnen Dreiecken, so genannten Triangles, zusammensetzen. Durch<br />

die geringe Abstraktion der Daten kann dies, je nach Komplexität der Szene, sehr<br />

schwierig sein.


Abb. 1: 3D-Würfel aus 12 Triangles<br />

Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />

Auch die Translationen <strong>und</strong> Rotationen einzelner Objekte sind kompliziert, da diese<br />

nicht als komplexes Ganzes angesehen werden. So kann der Programmierer<br />

beispielsweise nicht „den Würfel“ von A nach B bewegen, sondern muss jedes<br />

der zwölf Dreiecke, die zusammen den Würfel bilden, so verschieben, dass der<br />

eindruck entsteht, als würde sich der komplette Würfel von A nach B bewegen.<br />

Die Ausgabe auf diese Art zu erzeugen, ist sehr gut geeignet um besonders realistische<br />

ergebnisse zu erzielen, denn durch den einsatz von low-level-APIs können<br />

die neuesten Entwicklungen im Grafikkartensektor genutzt werden. Durch<br />

die soeben beschriebenen Schwierigkeiten bei der erstellung <strong>und</strong> Manipulation<br />

der Objekte sind sie für interaktive Anwendungen eher weniger geeignet. „Für<br />

entwickler, für die die Graphik nur ein Mittel zum Zweck <strong>und</strong> nicht Selbstzweck<br />

ist, ist das eine zu niedrige Abstraktionsebene mit zu vielen Problemen.“ (Reiners<br />

2004: 532)<br />

High-level-APIs (wie Open Scenegraph <strong>und</strong> java 3D) besitzen eine höhere Abstraktionsstufe,<br />

als die vorgestellten low-level-APIs. Sie liegen nicht so dicht über<br />

der Hardware <strong>und</strong> können daher erst nach einiger Anpassungszeit neue Grafikkartenfeatures<br />

unterstützen. Dafür betrachten sie die darzustellenden Daten nicht<br />

als Datenstrom aus Dreiecken, sondern als Graph mit verschiedenen Objekten.<br />

Dieser Graph wird Szenengraph genannt <strong>und</strong> wird verwendet um die Szene zu<br />

erzeugen. Dazu werden verschiedene Objekte, wie Kugeln oder Würfel, erzeugt<br />

<strong>und</strong> in den Graph eingehängt. So ist es möglich komplexe Objekte zu erstellen,<br />

indem man zum Beispiel für ein einfaches Auto einen Quader (als Karosserie) erzeugt<br />

<strong>und</strong> an diesen vier Zylinder (als Räder) anfügt. Um dieses Auto von A nach<br />

B zu bewegen muss dann nur noch der Quader bewegt werden, wodurch sich die<br />

davon abhängigen Zylinder automatisch mitbewegen.<br />

java 3D ist eine High-level-API auf Basis der Programmiersprache java. Sie baut,<br />

je nach Version, auf OpenGL oder DirectX auf, welche die Schnittstelle zur Hardware<br />

bilden <strong>und</strong> das Rendern der Szene übernehmen. Auch java 3D verwendet<br />

zur erzeugung der Szene einen Szenengraph. ein java 3D-Szenengraph ist ein<br />

Baum, an dessen Wurzel alle in der Szene vorkommenden Objekte angehängt<br />

333


MATTHIAS HeINTZ<br />

werden. er besteht aus BranchGroups, TransformGroups <strong>und</strong> leaves. Die Groups<br />

haben immer genau einen elternknoten <strong>und</strong> können mehrere Kindknoten besitzen.<br />

Als leaves werden, wie auch bei sonstigen Bäumen in der Informatik, die<br />

Knoten ohne Kindknoten bezeichnet. Während die BranchGroups die Objekte in<br />

der Szene darstellen, realisieren die TransformGroups die verschiedenen Transformationen<br />

(wie verschieben, rotieren <strong>und</strong> skalieren) der Objekte.<br />

6 J-fitti 3D<br />

J-fitti 3D ist die im Rahmen dieser Diplomarbeit entstandene Anwendung, mit<br />

der ein Benutzer auf dem virtuellen Marktplatz von <strong>Furtwangen</strong> dreidimensionale<br />

Sprayobjekte erzeugen kann. Dazu steht ihm, als neuartiges Eingabegerät,<br />

eine umgebaute Spraydose zur Verfügung, mit der er eine virtuelle Spraydose<br />

in der Anwendung steuert. Das Erzeugen neuer Sprayobjekte geschieht durch<br />

Betätigen des Sprühkopfes: Solange er gedrückt wird entsteht ein Spraystrang,<br />

der an der Stelle im <strong>Raum</strong> bleibt, an die er gesprüht wurde. Der Benutzer kann<br />

durch einen Doppelklick auf den Spraykopf alle bisher erzeugten Objekte wieder<br />

löschen. Die Navigation durch die Anwendung geschieht durch herumlaufen in<br />

der realen Umgebung, da die Bewegungen des Benutzers getrackt <strong>und</strong> in die<br />

virtuelle Umgebung übertragen werden.<br />

Der Name J-fitti 3D setzt sich aus Java 3D, der Programmiersprache, in der die<br />

Anwendung geschrieben wurde <strong>und</strong> Graffiti 3D zusammen, was die realisierte,<br />

neuartige <strong>Interaktion</strong>smöglichkeit beschreibt.<br />

Abb. 2: Entwickler bei der Verwendung von J-fitti 3D<br />

334


7 Anwendungsmöglichkeiten<br />

Mit J-fitti 3D kann man kreativ tätig werden <strong>und</strong> unkompliziert dreidimensionale<br />

Objekte erzeugen, auch wenn man sich nicht mit 3D-Modellingprogrammen auskennt.<br />

Diese Objekte können dann als Vorlage für einen Modeller dienen, der<br />

damit ein den Vorstellungen des Benutzers entsprechendes 3D-Modell erstellen<br />

kann. Des weiteren kann J-fitti 3D als Designtool zur skizzenhaften Umgestaltung<br />

von Außenarealen <strong>und</strong> Innenräumen verwendet werden, indem die zu gestaltenden<br />

Umgebungen als Modell geladen werden <strong>und</strong> dann mit der Spraydose<br />

die gewünschten Objekte erzeugt <strong>und</strong> platziert werden. Damit ist eine intuitive<br />

Anwendung entstanden, die schon einige Verwendungsmöglichkeiten besitzt,<br />

aber auch noch einiges an erweiterungspotential für kommende Thesen <strong>und</strong> Projekte<br />

aufweist.<br />

literatur<br />

Stereoskope Projektion <strong>und</strong> 3D <strong>Interaktion</strong> mit Java 3D<br />

BARRIlleAUX, j. (2001): 3D User Interfaces with java 3D. Greenwich.<br />

ReINeRS, D. (2004): Herausforderungen an moderne Szenengraphsysteme am<br />

Beispiel OpenSG. In: Informatik-Spektrum 27, 6, 531–541.<br />

335


KATjA WAHl<br />

Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />

Als interdisziplinäre ergänzung zur ISIC Kernthematik beschäftigt sich meine im<br />

Februar 2007 fertig gestellte Diplomarbeit mit dem „Hörbarmachen von <strong>Interaktion</strong>“<br />

unter maximaler Einbeziehung des Körpers <strong>und</strong> in künstlerischem Kontext.<br />

Hinter dem Titel „The generic development of a motion controlled musical device<br />

for multiuser interaction with an exemplary live performance“ verbirgt sich die erstellung<br />

einer modularen Software, die über zwei Kameras in echtzeit tänzerische<br />

Bewegung aufnimmt, auswertet <strong>und</strong> in Klangereignisse <strong>und</strong> Klangmodulationen<br />

umsetzt. Im Mittelpunkt steht das auditive erlebnis durch die körperliche <strong>Interaktion</strong><br />

zweier Akteure sowie die Generierung eines publikumswirksamen Klangbildes,<br />

das den Charakter der Bewegungen widerspiegelt – darauf aufsetzend Beobachtungen<br />

zur Zuschauerwirkung sowie der Wechselwirkung zwischen Klang<br />

<strong>und</strong> Bewegungsqualität. Das generelle Ziel der Arbeit war die Entwicklung eines<br />

künstlerischen Rahmenkonzeptes <strong>und</strong> des zugehörigen technischen Systems<br />

bis zur Aufführungsreife. Systemkomponenten <strong>und</strong> Klangcharakteristik wurden<br />

dabei maßgeblich bestimmt vom gewählten Aufführungskontext, dem brasilianischen<br />

Kampf-Tanz „Capoeira“.<br />

337


KATjA WAHl<br />

1 Capoeira<br />

Die vor ca. vierh<strong>und</strong>ert jahren in Brasilien von Sklaven afrikanischer Herkunft<br />

entwickelte Bewegungskunst Capoeira erfordert den einsatz des gesamten Körpers<br />

(siehe Abb. 2). Geführte <strong>und</strong> langsame bis hin zu ausschweifenden <strong>und</strong><br />

extrem schnellen, akrobatischen Bewegungselementen dienen der <strong>Interaktion</strong><br />

mit dem Gegenüber <strong>und</strong> bieten ein Schauspiel, das den alltäglichen Überlebenskampf<br />

der ehemals Versklavten darstellt. Im Fluss aus Angriff <strong>und</strong> Verteidigung<br />

ergibt sich unter ständiger Beobachtung des Gegenübers jede Bewegung aus der<br />

vorangegangenen. Tricks <strong>und</strong> Finten gehören ebenso zum Repertoire wie die bloße<br />

Andeutung von Angriffen zur Demonstration der eigenen Überlegenheit.<br />

Abb. 1: Capoeira Bewegungsbeispiele (eigene Aufnahme)<br />

„Die Musik ermöglicht es uns, miteinander zu kommunizieren. Sie erzählt die<br />

Geschichte der Capoeira, kommentiert das Geschehen <strong>und</strong> treibt die Spieler an.<br />

Ohne Musik geht gar nichts.“ – Mestre Rosalvo (Rodust 2005: 76). Die Musik hat<br />

in der Capoeira einen mindestens ebenso hohen Stellenwert wie die Bewegung<br />

<strong>und</strong> ist fester Bestandteil der eigenen Philosophie. Das Berimbau, ein einsaitiger<br />

Musikbogen, gibt den Rhythmus vor <strong>und</strong> die Begleitinstrumente wie die Atabaque<br />

(Standtrommel) oder das Pandeiro (Tambourin) stimmen ein. Gesangssoli<br />

<strong>und</strong> Dialoge zwischen Vorsänger <strong>und</strong> Chor bilden den stimmlichen, kommentierenden<br />

Anteil. eine Capoeira Roda 1 folgt einer Dramaturgie, die sich prinzipiell<br />

auszeichnet durch einen langsamen Beginn <strong>und</strong> eine sukzessive Steigerung des<br />

Rhythmus- <strong>und</strong> Bewegungstempos sowie der Dynamik des Gesanges.<br />

1 Roda: Kreis aus Musikern <strong>und</strong> Spielern, der die Akteure umgibt <strong>und</strong> antreibt. Der Begriff bezeichnet<br />

auch generell eine Capoeira Performance.<br />

338


2 Neue Dimension durch neue Technologien<br />

Dieser kontexttypische Ablauf bildete auch die dramaturgische Basis für die Inszenierung<br />

von Capoeira mit live-elektronik 2 <strong>und</strong> ermöglichte die Durchführung<br />

als abgeschlossene Performance. Die Motivation, eine vielschichtige <strong>und</strong><br />

bewährte Tradition wie Capoeira mit neuer Medientechnologie zu konfrontieren,<br />

entspringt zum einen der Absicht, für Experimente mit Klang <strong>und</strong> Bewegung<br />

einen geeigneten Präsentationsrahmen mit einer mitgebrachten Vielfalt an Bewegungen<br />

zu erhalten; hauptsächlich aber, durch die neu hinzugefügte Dimension<br />

Beobachtungen zur Wechselwirkung zwischen tänzerischer Aktion <strong>und</strong> einem<br />

ungewohnten, in echtzeit gestaltbaren Feedback anzustellen.<br />

Abb. 2: Systemaufbau (eigene Abbildung)<br />

Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />

Hierzu wurde folgendes Szenario realisiert: eine Seiten- <strong>und</strong> eine Deckenkamera<br />

eröffnen einen <strong>Interaktion</strong>sraum (Abb. 1) von 4 x 3 x 3 Metern. Die Spieler bewegen<br />

sich in diesem <strong>Raum</strong> <strong>und</strong> können auch jederzeit heraustreten <strong>und</strong> weiteragieren.<br />

Die Kameras sind verb<strong>und</strong>en mit einem entsprechend leistungsstarken<br />

Rechensystem, das die beiden digitalen, unkomprimierten Videostreams gleichzeitig<br />

verarbeitet. Die <strong>Bild</strong>auswertung erfolgt über Videomodule zur Analyse der<br />

<strong>Bild</strong>matrizen, die Klangsynthese über entsprechende Audiomodule (s.u., Analysekomponenten).<br />

Zur Steigerung der Immersivität durch räumliche effekte geschieht<br />

die Klangausgabe über ein 8-Kanal-lautsprecherarrangement, das über<br />

ein Audiointerface mit dem Rechner verb<strong>und</strong>en ist. Die lautsprecher werden mit<br />

2 live-elektronik: Instrumentale oder vokale Klänge, die in echtzeit elektronisch verarbeitet werden.<br />

Hier bezogen auf die Beeinflussung von Klängen durch Bewegung, mit Hilfe elektronischer Komponenten.<br />

Beides angewendet im Rahmen einer live-Performance.<br />

339


KATjA WAHl<br />

Hilfe der Ambisonics 3 -Technologie angesteuert, die ein dynamisches Verschieben<br />

von Klanquellen über die acht Kanäle ermöglicht. Die Tänzer bewegen sich<br />

nun in gewohnter Manier in- <strong>und</strong> außerhalb des Feldes <strong>und</strong> erzeugen so durch<br />

unterschiedliche Bewegungen unterschiedliche Klangereignisse, verschieben<br />

Klangquellen über die Bewegungsrichtung oder modulieren Tonhöhe <strong>und</strong> Tempo<br />

durch die Geschwindigkeit der Bewegung.<br />

Tracking<br />

Das bildbasierte Tracking bietet den Vorteil eines uneingeschränkten Bewegungsumfanges<br />

von beliebiger Intensität. es sind keine am Körper befestigte Geräte,<br />

Kabel, oder aufwändig anzubringende Markierungen nötig, wie es etwa bei einem<br />

sensor- oder markerbasierten Tracking der Fall wäre. Des Weiteren ist der „interaktive<br />

<strong>Raum</strong>“ ein größtmöglicher, da die detektierbaren Flächen großzügig durch<br />

Kamerawinkel <strong>und</strong> Kameraabstand bestimmt sind <strong>und</strong> nicht durch ein beispielsweise<br />

eng zu definierendes Magnetfeld oder die Länge von Kabeln. Als nachteilig<br />

in der Umsetzung des Kameratrackings erwies sich der erhebliche Aufwand zur<br />

Herstellung von konstanten lichtbedingungen, um den notwendigen Kontrast<br />

zwischen Akteuren <strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong> zu erzielen. ebenso traten aufgr<strong>und</strong> der<br />

großen zu verarbeitender Datenmengen Performanzprobleme auf, die nur durch<br />

den kontinuierlichen Test <strong>und</strong> Austausch von Hardwarekomponenten wie Prozessor,<br />

Kameratypen <strong>und</strong> Signalleitungen zu lösen waren.<br />

Analysekomponenten<br />

Die Vielfalt der Bewegungsqualitäten bot ein breites Ideenspektrum für die Implementierung<br />

von Analysemodulen, von denen hier drei beispielhaft aufgeführt<br />

sind. Durch die Wahl von weißer Kleidung <strong>und</strong> schwarzem Unter- <strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong><br />

entstand ein größtmöglicher Kontrast <strong>und</strong> es konnte damit eine Graustufen<br />

(Abb. 3) - <strong>und</strong> Binärbildauswertung (Abb. 4) angewendet werden. Alle Softwaremodule<br />

wurden realisiert in der Entwicklungsumgebung Max/MSP/Jitter .<br />

1. „Proximity“: Die Annäherung von Körpern<br />

Durch das Verhältnis von Umfang zu Fläche des im Binärbild befindlichen<br />

Schwarzanteils wird die „Zirkularität“ der Objekte gemessen, mit zunehmender<br />

Annährung der Körper ähnelt der Schwarzanteil zunehmend einem Kreis. Die<br />

Messvarianzen in Form von Fließkommawerten zwischen null <strong>und</strong> eins werden<br />

auf einen lautstärkeregler abgebildet, so dass bei Annäherung ein zugeordneter<br />

Ton an Dynamik zunimmt <strong>und</strong> bei entfernung abnimmt. Dieser effekt dient der<br />

Spannungserzeugung durch direktes Hörbarmachen der <strong>Interaktion</strong>. entsprechende<br />

Analysemethoden wurden der „Cv.jit“ -Bibliothek entnommen.<br />

3 Ambisonics: Verfahren zur Wiedergabe eines mehrdimensionalen Klangfeldes, entwickelt in den<br />

1960er <strong>und</strong> 1970er jahren in Großbritannien. In dieser Arbeit verwendet wurden die Ambisonics<br />

Externals für Max MSP von ICST Zürich.<br />

340


2. „Tempo“: Die Geschwindigkeit von Bewegungen<br />

Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />

Durch Auswertung der Differenz in der <strong>Bild</strong>information von aufeinander folgenden<br />

Frames (engl. „framesubstraction“) wird die Geschwindigkeit einer Bewegung<br />

gemessen. Schnelle Bewegungen bewirken eine hohe <strong>Bild</strong>differenz,<br />

langsame Bewegungen eine niedrigere. Die resultierenden Werte werden auf<br />

Rhythmusgeschwindigkeit, Tonhöhe (Pitch) oder einmalige Klangereignisse abgebildet.<br />

Dieser Effekt ermöglicht eine wechselseitige Beeinflussung von Bewegungsgeschwindigkeit<br />

<strong>und</strong> Rhythmustempo. Die Methoden zur <strong>Bild</strong>analyse entstammen<br />

der Max/Jitter Standardbibliothek.<br />

3. „Pattern Matching“: Klangereignisse durch Mustererkennung<br />

Spezielle Klangereignisse können durch die echtzeit-Auswertung eindeutiger<br />

Bewegungsmuster ausgelöst werden. Der live-Videostream durchläuft dabei ein<br />

Objekt, das anhand mehrerer Deskriptoren den aktuellen Frame mit einer gespeicherten<br />

<strong>Bild</strong>matrix vergleicht <strong>und</strong> bei hoher Ähnlichkeit anschlägt. Es können<br />

mehrere Muster (Abb. 4) gleichzeitig aktiv sein. So können Körperhaltungen grob<br />

identifiziert werden <strong>und</strong> entsprechende akustische Ereignisse bewirken. Die Auswertung<br />

erfolgt mit Hilfe von Objekten aus der Cv.jit Bibliothek <strong>und</strong> funktioniert<br />

rudimentär, bei sehr eindeutigen Mustern.<br />

Abb. 3: Ansicht Deckenkamera, Graustufendarstellung (eigene Aufnahme)<br />

Abb. 4: Beispiele für Bewegungsmuster, Binärdarstellung (eigene Aufnahme)<br />

341


KATjA WAHl<br />

Klangcharakteristik<br />

Der Klangcharakter der Anwendung kann beliebig durch die Wahl der Audiosamples<br />

bestimmt werden. Im Falle der ersten MOTOX 4 Performance war dies<br />

rein rhythmisches Material, gesampelt aus live-Aufnahmen von Berimbau,<br />

Trommeln, Stimmen <strong>und</strong> Saxophongeräuschen. Die mögliche Klangmodulation<br />

beinhaltet Pitch-Shifting, Tempovariation <strong>und</strong> Dynamikänderung. Das Klangmaterial<br />

wird zur laufzeit aus beliebig mit Audiosamples zu füllenden lokalen Datei-Pools<br />

bezogen. Der Gr<strong>und</strong>klang lässt sich wie auf einer Zeitleiste in mehrere<br />

Teile gliedern, sodass beispielsweise einzelne gepufferte Parts zu gewünschten<br />

Zeitpunkten abgespielt werden <strong>und</strong> eine Dramaturgie gebildet werden kann. einzelne<br />

Klangsamples, die zum Beispiel von ereignissen wie hohen Sprüngen oder<br />

Bewegungsmustern ausgelöst werden, hinterliegen in entsprechenden listen, die<br />

per Drag & Drop vom Programm generiert werden. Die listeneinträge lassen sich<br />

über ihre Identifikationsnummern von den Ereignissen aufrufen <strong>und</strong> die zugehörigen<br />

Audiodateien werden ohne auffällige latenzen wiedergegeben.<br />

<strong>Interaktion</strong><br />

Das erfahren von Interaktivität durch eine allgemeine Gestaltung des Klangbildes<br />

spielt in dieser Arbeit eine größere Rolle als die eins zu eins Zuordenbarkeit von<br />

Aktion <strong>und</strong> Reaktion. Deshalb beschreibt der Begriff „<strong>Interaktion</strong>“ hier weniger<br />

die direkte akustische Rückmeldung des Systems auf dediziert ausgeführte Aktionen<br />

als vielmehr eine subtilere, vielschichtigere Wirkung durch ein zwar direkt<br />

gestaltetes, aber gleichzeitig stellenweise extrem verdichtetes <strong>und</strong> deshalb nicht<br />

immer unmittelbares auditives Feedback. es handelt sich also nicht um eine rein<br />

technische Demonstration, sondern um eine Performance als integratives Ganzes,<br />

die einen eigenen Charakter entwickeln kann <strong>und</strong> soll. Im Falle der beschriebenen<br />

ersten Vorführung ist dies ein Geflecht aus Rhythmen <strong>und</strong> Tönen, das wie<br />

eine elastische Masse geformt werden kann <strong>und</strong> das wechselseitig die Aktionen<br />

hinsichtlich Tempo <strong>und</strong> Dynamik beeinflusst.<br />

Systemgenerik<br />

Der generische Ansatz zeigt sich in der Offenheit für zusätzliche Schnittstellen<br />

<strong>und</strong> der allgemeinen Weiterverwendbarkeit des Systems. Dies wurde erreicht<br />

durch eine vollständige Implementierung aller Komponenten in der entwicklungsumgebung<br />

Max/MSP/Jitter sowie durch die Wahl von vergleichsweise einfach<br />

montier- <strong>und</strong> konfigurierbarer Hardware. Als zukünftige Erweiterung ist die<br />

einbindung von zusätzlichen Sensordaten über MIDI oder UDP genauso denkbar<br />

wie die Ressourcenerweiterung durch ein Clustern von Rechnern <strong>und</strong> eine<br />

Datenübermittlung via Open So<strong>und</strong> Control. Die Offenheit von Max/MSP/Jitter<br />

<strong>und</strong> die konsolenartigen Module von MOTOX erlauben das einfache Hinzufügen<br />

4 MOTOX: „Motion To X“, Eigenname des Systems („X“ steht für beliebige Audioparameter).<br />

342


von weiteren <strong>Bild</strong>auswertungsmethoden <strong>und</strong> Klangkomponenten. Durch die ausschließliche<br />

Verwendung von Open-Source-Externals <strong>und</strong> den Standardobjekten<br />

von Max selbst ist MOTOX ohne weitere Lizenzen auf jedem geeigneten Rechensystem<br />

weiterentwickelbar.<br />

live-Performance<br />

Bewegungsgesteuerter Klang <strong>und</strong> live-Performance<br />

Die Anpassung des Systems an die Bewegungscharakteristik der einzelnen Akteure<br />

durch häufige Proben, sowie deren enge Einbindung in den Entwicklungsprozess<br />

stellte sich als wesentlich heraus, war hier aber hinsichtlich Zeit <strong>und</strong><br />

Ressourcen nur eingeschränkt möglich. Dies ließ sich teilweise durch die ausgedehnte<br />

Verwendung repräsentativer Videoaufnahmen ausgleichen. entwicklungs-<br />

<strong>und</strong> Aufführungsumgebung unterschieden sich zudem maßgeblich hinsichtlich<br />

der Größe des <strong>Raum</strong>es, der Lautsprecheranordnung <strong>und</strong> dem Licht-Reflexionsverhalten<br />

des Bodenbelages. Deshalb war in der Endphase des Projektes eine umfangreiche<br />

Adaptierung der Umgebungsparameter sowie des Softwareverhaltens<br />

notwendig, um eine Aufführung realisieren zu können.<br />

Die Live-Performance „MOTOX – body so<strong>und</strong>s body“ wurde am 27. Januar 2007<br />

am ZKM, Zentrum für Kunst <strong>und</strong> Medientechnologie in Karlsruhe, im Rahmen<br />

der Veranstaltung „Flying Circus“ des Instituts für Musik <strong>und</strong> Akustik (IMA) gezeigt.<br />

Zehn Capoeiristas spielten wie beschreiben im Rhythmus der gesampelten<br />

Klänge <strong>und</strong> zweier live gespielter Berimbaus. Die Akteure schilderten ihre erfahrung<br />

der Performance als spannend <strong>und</strong> interessant, gerne wiederholbar <strong>und</strong><br />

durch mehr Proben optimierbar. Die Zuschauerreaktionen machten einerseits die<br />

schwierige direkte Zuordenbarkeit von Bewegung <strong>und</strong> Klang deutlich, andererseits<br />

die unterschiedliche Rezeption der <strong>Interaktion</strong> – die Stimmen reichten von<br />

„nicht zuordenbar“ über „manchmal erkennbar“ bis hin zu „eindeutig erkennbar“.<br />

Die Klangqualität konnte laut dem Feedback von Akteuren <strong>und</strong> Zuschauern<br />

durch Dichte, Rhythmik <strong>und</strong> Dramatik überzeugen. eine Weiterentwicklung der<br />

Anwendung wird hinsichtlich Performanz, erweiterter Schnittstellen <strong>und</strong> einer<br />

eventuellen Reduktion der Anzahl der Akteure stattfinden.<br />

343


Autoren<br />

MelTeM ACARTÜRK, geb. 1980; Studium der Soziologie, Psychologie <strong>und</strong> europäischen<br />

ethnologie an der Universität Augsburg. Neben der Produktion ethnologischer<br />

<strong>und</strong> soziologischer Dokumentarfilme (2003-2006) Mitgestaltung des<br />

interkulturellen Stadtplanes Augsburg (www.interkultureller-stadtplan.de), dabei<br />

verantwortlich für Fotografien <strong>und</strong> Interviews in der türkischsprachigen Community.<br />

Magisterabschlussarbeit im Fach Soziologie zum Thema Identitätskonstruktion<br />

durch visuelle Kommunikation – im Rahmen der Kampagne „Du bist<br />

Deutschland“ (2007).<br />

TOBIAS BOlTe, geb. 1980; 2001-04 Studium (Gr<strong>und</strong>studium) der Medieninformatik<br />

an der Technischen Universität Dresden, seit 2004 Studium der Medieninformatik<br />

an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University; 2003/04 Programmierer für<br />

Content Management Systeme am Media Design Center Dresden; aktuell Bachelor-Thesis<br />

im Bereich mobiler GIS-Applikationen.<br />

345


Autoren<br />

PATRIK BURST, geb. 1980; 2002-2007 Studium der OnlineMedien an der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong>. Titel der Diplomarbeit: ConVis: ein visuelles Chatsystem für<br />

die Unterstützung von Online-Gruppendiskussionen. lebt derzeit im <strong>Raum</strong> Freiburg.<br />

DANIel FeTZNeR, geb. 1966; Architekturstudium <strong>und</strong> Combined Media Studies<br />

in München, london <strong>und</strong> Berlin. Abschlussarbeit mit Auszeichnung zum<br />

Thema Translokation, Kinematografie <strong>und</strong> Kolonialarchitektur; 1994-96 Mitarbeiter<br />

am Institut für Architektur <strong>und</strong> Design der Universität der Künste in Berlin;<br />

1997-98, Producer bei America Online in Hamburg; 1998-2001 Creative Director<br />

bei der echtzeit AG in Berlin; 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum<br />

für Technologie- <strong>und</strong> Innovationsmanagement CeTIM München/Rotterdam. Seit<br />

dem Wintersemester 2002/03 Professor an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, Aufbau<br />

<strong>und</strong> leitung des laborNeueMedien. 2007 Visiting Professor an der San Francisco<br />

State University <strong>und</strong> Gastkünstler am ZKM in Karlsruhe.<br />

DANIel FeUeReISSeN, geb. 1981; seit 2002 an der HS-<strong>Furtwangen</strong>.Ursprünglicher<br />

Schwerpunkt Allgemeine Informatik, seit 2003 Schwerpunkt Medieninformatik<br />

des Fachbereich Digitale Medien. 2005 Projektleiter für das Projekt<br />

„Martin <strong>und</strong> die KMT“ an der Universitätsklinik Heidelberg <strong>und</strong> 2006 für das<br />

Projekt „Translocation“ am Max Planck Institut. 2006-2007 Studienaufenthalt an<br />

der SFSU in San Francisco.<br />

ANDREAS FILLER; arbeitet als wissenschaflicher Mitarbeiter am Forschungszentrum<br />

Intelligent Media der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> sowie im Projekt SmaProN<br />

um seine Forschungen im Bereich der Smart Products zu vertiefen mit welchen<br />

er sich auch in seiner Diplomarbeit des Studiengangs Online-Medien befasste. er<br />

wird sein Studium im März 2007 durch ein Aufbaustudium fortsetzen, um einen<br />

Master-Abschluss zu erhalten.<br />

BRUNO FRIeDMANN, Prof. Dr.-Ing., geb. 1954; studierte Kommunikationstechnik<br />

an der FH Karlsruhe, dann Medizinische Messtechnik <strong>und</strong> Biokybernetik an<br />

der Universität Karlsruhe, währenddessen auch 2 Semester Harmonielehre an<br />

der Musikhochschule sowie verschiedene Aktivitäten als Musiker in div. Gruppierungen.<br />

Nach der Promotion 2 jahre Postdoktorand am Institut für Genetik <strong>und</strong><br />

Mikrobiologie, Universität Würzburg <strong>und</strong> 2 jahre bei Fresenius GmbH, medizinische<br />

Sicherheitstechnik, Berufung an die <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, im jahre<br />

1994. Forschungs- <strong>und</strong> Interessensgebiete: Auditive Wahrnehmung, Multimodale<br />

<strong>Interaktion</strong>, interaktive Systeme <strong>und</strong> Technologien.<br />

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Autoren<br />

ROlF GASSNeR, Dipl. Inf. FH; in der realen Welt Studium der Online Medien<br />

2006. Zur Zeit als Mediengestalter <strong>und</strong> -programmierer beschäftigt bei b2c.tv in<br />

Ludwigsburg. Nebenberuflich Event Manager <strong>und</strong> DJ (Electro, House). Fre<strong>und</strong><br />

epischer Spielwelten wie Oblivion <strong>und</strong> Gothic 3. Zieht das friedliche, naturnahe<br />

landleben einem postindustriellen urbanen Ballungszentrum vor.<br />

GUNNAR HANSeN, geb. 1981; 2001-2006 Studium der Politischen Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Deutschen Sprachwissenschaft an der Universität Hannover, 2003-<br />

2006 Studium der Medienwissenschaft am Institut für journalistik <strong>und</strong> Kommunikationsforschung<br />

Hannover. Magisterarbeit zum Thema „Politisches Marketing<br />

<strong>und</strong> Regierungskommunikation. Die öffentlichkeitsarbeit der B<strong>und</strong>esregierung<br />

zur Vermittlung der Agenda 2010.“<br />

MATTHIAS HeINTZ, geb. 1982; Studium der Medieninformatik an der <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Furtwangen</strong> mit dem Abschluss Diplom, Thema der Diplomarbeit: „Stereoskope<br />

Projektion <strong>und</strong> 3D-<strong>Interaktion</strong> mit Java 3D“; Zur Zeit Student im Masterstudiengang<br />

„Computer Science in Media“ an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>,<br />

Abschluss voraussichtlich Mitte 2008.<br />

AleXANDeR lUDWIG, geb. 1981; Studium im Bereich Online Medien an der<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>, Thema der Bachelor Thesis: „3D Interfaces <strong>und</strong> Motion<br />

Tracking“.<br />

KARINA MIeS, geb. 1977; 2002-2007 Studium Medieninformatik an der <strong>Hochschule</strong><br />

in <strong>Furtwangen</strong>. Diplomarbeit zum Thema: Potenzialanalyse virtueller<br />

Umgebungen zum Pretesting von Messeständen im Rahmen des erlebnismarketings.<br />

Seit 3/2007 als Freiberuflerin in der Webentwicklung <strong>und</strong> Onlineprogrammierung<br />

tätig.<br />

FeRNANDO SAAl, geb. 1981; 2002-2007 Studium der Medieninformatik an der<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> <strong>und</strong> am Tecnológico de Monterrey in Mexiko; Diplomarbeit<br />

zum Thema: Potenzialanalyse virtueller Umgebungen zum Pretesting von<br />

Messeständen im Rahmen des erlebnismarketings. lebt seit 3/2007 in München<br />

<strong>und</strong> arbeitet bei Real Time Technology als Consultant im Bereich Virtual Prototyping.<br />

PATRICK SCHWAB, geb. 1980; 2002-2007 Studium der Online Medien an der<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University; Diplomarbeit zum Thema Informationsvisualisierung<br />

mit Hilfe von Processing zur Darstellung von Websitestatistiken. Seit<br />

05/2007 junior Art Director bei jung von Matt/Neckar GmbH.<br />

347


Autoren<br />

NADjA SCHANZ, geb. 1981; 2001-2006 Studium der Medieninformatik an der<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>; Diplomarbeit zum Thema: „Gestaltung <strong>und</strong> Nutzung<br />

von installativen virtuell-immersiven <strong>Raum</strong>arbeiten im Lehrbetrieb“. Lebt seit<br />

1/2007 in Sydney, Australien <strong>und</strong> arbeitet u.a. für iCinema | Center for interactive<br />

cinema research.<br />

STeFAN SelKe, Dr. phil., geb. 1967; Visueller Soziologe <strong>und</strong> empirischer Sozialforscher,<br />

Mitbegründer von ISIC, arbeitet z.Zt. als Wissenschaftlicher Angestellter<br />

an der Universität Karlsruhe sowie der PH Karlsruhe. Arbeitsschwerpunkte:<br />

Mediensoziologie, Social Software, Wissenssoziologie, <strong>Bild</strong>wirkungsforschung.<br />

KATRIN STANGWAlD; 2002-2007 Studium der Medieninformatik, Fachbereich<br />

Digitale Medien, <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> University<br />

STeFANIe STRUBl; arbeitet als Creative Director bei der auf die fotorealistische<br />

Personalisierung von <strong>Bild</strong>ern spezialisierten Firma „von Aichberger & Roenneke“.<br />

WOlFGANG TAUBe, geb. 1955; Dr. Ing., Informatikstudium an der TU Berlin,<br />

1983-1996 Software-Ingenieur <strong>und</strong> Technologieberater in Bremen, 1996-2001<br />

Professor für Verwaltungsinformatik an der FH Kehl, seit 2001 Professor für<br />

Medieninformatik an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong>. Aktuelle Forschungsschwerpunkte:<br />

entwurf <strong>und</strong> Implementierung interaktiver Systeme, <strong>Interaktion</strong>skonzepte<br />

in virtuellen 3D-Umgebungen.<br />

KATjA WAHl schloss mit dieser Arbeit im Februar 2007 als Diplom-Informatikerin<br />

(FH) im Fach Online-Medien an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> ab. Sie hat als<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin im März 2007 die technische leitung im labor<br />

Neue Medien der Fakultät Digitale Medien an der <strong>Hochschule</strong> <strong>Furtwangen</strong> übernommen<br />

<strong>und</strong> betreut dort den laboraufbau <strong>und</strong> die lehre <strong>und</strong> Forschungsarbeit<br />

in immersiven, virtuellen Umgebungen. Projektseite: http://kwahl.de/motox<br />

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