Lehrbuch des Estnischen und Finnischen

diesem Film, der ohne Untertitel lief: Als ich fragte, woher dieser Film sei,
bekam ich in einer Mischung aus Deutsch und Finnisch diese
bemerkenswerten Worte zu hören: „Das sind unsere estnischen Brüder
und Schwestern auf der anderen Seite des Meeres. Wir dürfen nicht zu
ihnen und sie dürfen nicht zu uns.“ Diese Antwort beeindruckte mich so
tief, dass ich sie seitdem nie mehr vergessen habe.
Tatsächlich verlief der frühere Eiserne Vorgang nicht nur durch
Mitteleuropa, den Balkan und die Ostsee sowie zwischen Norwegen und
der Gulag-Sowjetunion ganz im Norden, wo ich einmal während einer
Lappland-Reise direkt neben der schwer bewachten Grenze in einem Zelt
übernachtete, sondern auch durch den Finnischen Meerbusen. Wer in
Helsinki und in den anderen Küstenstädten eine entsprechende Antenne
hatte, konnte tatsächlich estnisches Fernsehen schauen und
Radioprogramme von Tallinn aus hören, da die Strecke zwischen diesen
beiden Städten weniger als hundert Kilometer beträgt. Umgekehrt war das
zwar ebenfalls möglich, aber viel schwerer, weil die sowjetischen
Störsender alles versuchten, um möglichst viel Einfluss durch „schädliche“
westliche Programme vom nördlichen Nachbarland aus zu verhindern.
Gerade auch dies trug mit dazu bei, dass die estnische Nationalhymne,
welche die gleiche Melodie hat wie die finnische und im Bereich der Gulag-
Sowjetunion unter Androhung von Gefängnis bis hin zu einem sibirischen
Lager - vor allem unter Stalin - im Bewusstsein der Esten lebendig blieb,
weil es auch in Finnland der Brauch war, dass am Schluss einer Fernsehoder
Radiosendung immer die Nationalhymne erklang, und so ist es noch
heute.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich mich nicht nur mit Finnland,
sondern auch mit Estland immer besonders verbunden fühlte: Das liegt
am deutschen Schriftsteller Edzard Schaper, den ich noch heute als
meinen eigentlichen Lieblingsschriftsteller bezeichne. Er wurde im Jahr
1908 zwar in der Provinz Posen geboren, das damals noch zum
Deutschen Kaiserreich gehörte - also in den „goldenen“ 43 Jahren
zwischen 1871 und 1914 aus deutscher Sicht -, wanderte aber schon als
junger Mann nach Estland aus. Dort machte er sich nicht nur als Autor
mehrerer Romane einen Namen, sondern auch als Übersetzer von
estnischen und finnischen Schriftstellern, so auch von Frans Eemil
Sillanpää, der im Jahr 1939 den Nobelpreis für Literatur bekam und bis
heute der einzige Finne geblieben ist, der damit ausgezeichnet wurde. Wie
abenteuerlich Schapers Leben war, zeigte sich auch darin, dass er sowohl
4