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MOMENTE MAGAZIN NO. 7

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DAS KORBINIANS KOLLEG<br />

<strong>MOMENTE</strong> <strong>MAGAZIN</strong><br />

KRISEN<br />

UNSERER<br />

ZEIT<br />

Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl<br />

18. November 2022<br />

Dr. med. Heike Melzer<br />

–– Enthemmte Zeiten – Warum wir die Kontrolle<br />

verlieren und was wir dagegen tun können<br />

Wir leben in einer Zeit der Krisen. Es ist auch eine Zeit des<br />

Krisen-Geredes. Deswegen ist es wichtig, sich darüber klar<br />

zu werden, was Krisen sind. Es sind keine Zustände, sondern<br />

dynamische Prozesse. Solche Prozesse werden meistens von<br />

Zuständen ausgelöst, die langsam oder plötzlich instabil geworden<br />

sind. Kriege sind solche Prozesse. Es sind Krisen,<br />

solange sie nicht beendet sind, und wenn sie beendet sind,<br />

sind es keine Krisen mehr, lösen aber mit großer Sicherheit<br />

andere Krisen aus. Krisen sind Prozesse, die aus Asymmetrien<br />

entstehen. Etwas ist aus dem Lot geraten, die Gesundheitspolitik<br />

durch Corona, die Kaufkraft des Euro durch die neue<br />

Inflation, der Arbeitsmarkt durch sinkende Nachfrage oder<br />

Lieferschwierigkeiten, die Innenpolitik durch Fluchtbewegungen<br />

und Migration. Was am Ende solcher Krisen steht, ist<br />

schwer oder gar nicht vorauszusehen. Das ist so mit allem<br />

Zukünftigen. Da es aber in der Politik, in der Wirtschaft, im<br />

Gesundheitswesen, in der Kultur und in allen anderen Lebensbereichen<br />

darum geht, Krisen zu meistern und zu beenden,<br />

werden Rezepte angepriesen und Prognosen gewagt. Manches<br />

davon basiert auf soliden Analysen, manches nicht. Wenn<br />

Krisen-Rezepte und Prognosen über die Bewältigung von Krisen<br />

tagespolitischen Zwecken oder der eigenen Bekanntheit<br />

dienen, handelt es sich um Krisen-Gerede. Für viele Menschen<br />

ist es schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden.<br />

Als Neurologin und Psychotherapeutin kennt Frau Dr. Melzer die Auswirkungen<br />

der Triebenthemmung durch zwanghaftes und süchtiges Verhalten,<br />

Verrohung, Angst, Halt- und Maßlosigkeit in Sexualität, Ernährung, Konsum<br />

und Unterhaltung. Ihre Beobachtungen decken sich mit den Erkenntnissen<br />

der Neurowissenschaften, die dafür eine Stoffwechselstörung des Gehirns<br />

verantwortlich machen, eine Dysbalance zwischen hemmenden kognitiven<br />

und steuernden Strukturen des Großhirns. Belohnungsreize gewinnen an<br />

Einfluss. Es kommt zu einer Dysregulation im Neurotransmitterhaushalt,<br />

welche das Denken und Fühlen nachhaltig verändert. Belohnungsreize<br />

versprechen schnelle Triebbefriedigung. Sie fragmentieren die Aufmerksamkeit,<br />

vernebeln das Denken und beeinflussen das Wollen und Können.<br />

Willensschwache Dauerkonsumenten reifen heran, die ihre Triebe nicht<br />

mehr kontrollieren können. Es gibt Profiteure dieser Entwicklung, die über<br />

die Lebenszeit, den Konsum und die Datenstraßen das Konsumverhalten<br />

steuern, manipulieren und gewinnbringend monetarisieren.<br />

Dr. med. Heike Melzer, M(geb. 1965) ist Fachärztin für Neurologie und<br />

Psychotherapie mit Schwerpunktpraxis für Paar- und Sexualtherapie<br />

in München. Sie ist Autorin des Buches „Scharfstellung – die neue<br />

sexuelle Revolution“, gefragte Interviewpartnerin und Dozentin für<br />

Hypnose und Sexualtherapie an verschiedenen Instituten. Der Titel des<br />

Beitrags ist der Titel eines gleichnamigen Buches, das im Herbst dieses<br />

Jahres erscheinen wird.<br />

Das Korbinians-Kolleg untersucht im Wintersemester<br />

2022/23 einige, bei weitem nicht alle, derzeitigen Krisen. Es<br />

sind nicht nur politische, soziale und wirtschaftliche, nicht<br />

nur kollektive, sondern auch persönliche Krisen, die uns als<br />

einzelne Menschen heimsuchen können, die wir selbst durch<br />

unser Verhalten auslösen oder die über uns hereinbrechen,<br />

ohne dass wir schuld daran sind. Keine der kollektiven Krisen<br />

lässt uns individuell in Ruhe. Das ist ein Motiv, aber nicht das<br />

einzige für das Thema „Krise“ in diesem Wintersemester.<br />

WILHELM VOSSENKUHL<br />

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