06.12.2022 Aufrufe

Zukunft Forschung 02/2022

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

ESSAY<br />

REGULIEREN JENSEITS<br />

DER GRENZE<br />

Der Jurist Andreas Th. Müller über das Völkerrecht als Recht zu<br />

Koordinierung von näher oder ferner gelegenen Nachbarn.<br />

„Das ‚moderne‘<br />

Völkerrecht, gerne<br />

mit dem 1648<br />

geschaffenen<br />

Westfälischen System<br />

in Verbindung<br />

gebracht, geht von der<br />

souveränen Gleichheit<br />

der Staaten aus,<br />

gesteuert vom Leitbild<br />

der ‚Arena‘, nicht des<br />

‚Turmes‘.“<br />

ANDREAS TH. MÜLLER<br />

(*1977) studierte Philosophie<br />

und Rechtswissenschaften<br />

an der Universität Innsbruck.<br />

Beide Studien schloss er 2003<br />

mit dem Magister ab, zudem<br />

2009 den Master of Laws an<br />

der Yale Law School. Der Promotion<br />

2010 an der Universität<br />

Innsbruck folgte 2016 die<br />

Habilitation. Müller lehrt und<br />

forscht seit 2005 in Innsbruck,<br />

seit 2018 ist er Universitätsprofessor<br />

am Institut für Europarecht<br />

und Völkerrecht.<br />

Für das Völkerrecht spielen Staatsgrenzen<br />

eine entscheidende Rolle. Denn<br />

während die Grenzen eines Staates den<br />

äußeren Rahmen für seine nationale Rechtsordnung<br />

bilden, ist das Völkerrecht jenes<br />

Recht, das jenseits dieser Grenzen reguliert:<br />

im Verhältnis inter nationes, zwischen den<br />

Staaten, international.<br />

In der Bedeutung der Grenzen manifestiert<br />

sich die Territorialität des heutigen Völkerrechts.<br />

In seinem Zentrum stehen Staaten als<br />

Territorialsubjekte, d. h. als Rechtssubjekte,<br />

die dadurch charakterisiert sind, dass sie sich<br />

über einen Teil der Erdoberfläche erstrecken.<br />

Das war nicht immer so, verstand sich das<br />

Völkerrecht doch lange mehr als Recht inter<br />

reges, also zwischen Monarchen.<br />

Das „moderne“ Völkerrecht, gerne mit<br />

dem 1648 geschaffenen Westfälischen System<br />

in Verbindung gebracht, geht von der souveränen<br />

Gleichheit der Staaten aus, gesteuert<br />

vom Leitbild der „Arena“, nicht des „Turmes“<br />

(Douglas M. Johnston). Es versteht sich von<br />

daher im Kern als Recht zu Koordinierung<br />

von näher oder ferner gelegenen Nachbarn.<br />

Vor allem nach 1945 sind dem Völkerrecht<br />

neben diesen horizontalen auch vermehrt<br />

vertikale Funktionen zugewachsen, etwa die<br />

Ansiedlung des Monopols legaler Gewaltausübung<br />

beim UN-Sicherheitsrat. Wie gerade<br />

der Überfall Russlands auf die Ukraine<br />

schmerzlich bewusst macht, steht das Völkerrecht<br />

gegenwärtig in beiderlei Hinsicht auf<br />

dem Prüfstand. Dies enthebt es freilich nicht<br />

seiner Hauptaufgabe: des permanenten Ringens<br />

um Zähmung und Kontrolle politischer<br />

und militärischer Macht durch von der Staatengemeinschaft<br />

gemeinsam angenommene<br />

Regeln.<br />

Aber auch jenseits der Kardinalfrage von<br />

Krieg und Frieden ist das Völkerrecht als<br />

Recht „jenseits der Grenze“ gefordert. Nur<br />

einige wenige Herausforderungen seien genannt:<br />

Während ein Staat über das, was innerhalb<br />

seiner Grenzen geschieht, abgesehen etwa<br />

von universalen Menschenrechtsstandards,<br />

frei disponieren kann, gilt es zu regeln, wie die<br />

„Governance“ von Räumen jenseits der Summe<br />

der Staatsgebiete erfolgen soll: Welches<br />

Regime gilt für die Weltmeere, namentlich für<br />

den für die wirtschaftliche Ausbeutung immer<br />

attraktiver werdenden Tiefseeboden? Wer entscheidet<br />

über die Polarregio nen, die durch die<br />

Eisschmelze immer mehr Begehrlichkeiten<br />

auf sich ziehen? Und als völkerrechtliche Frage<br />

par excellence: Welche Rechtsregeln gelten<br />

jenseits der planetaren Grenze, also im Weltraum?<br />

Schon seit Jahrzehnten ist ein space law<br />

im Aufbau begriffen, das sich gegenwärtig vor<br />

allem mit Fragen von Weltraummüll und der<br />

Regulierung der immer wichtiger werdenden<br />

privaten Weltraumnutzer beschäftigt. Dass<br />

sich funktional verwandte Fragen in einem anderen<br />

„entgrenzten“ Raum stellen, wird nicht<br />

überraschen. Denn auch der „Cyberraum“<br />

generiert fundamentale Herausforderungen.<br />

Als Kehrseite von Globalisierung, komplexen<br />

Lieferketten, erhöhter Mobilität und intensiviertem<br />

Austausch auf allen Ebenen<br />

stellt sich auch immer mehr die Frage, wie<br />

sehr die „westfälische“ Grundprämisse des<br />

Völkerrechts, dass es nämlich eine Vielzahl<br />

grundsätzlich selbstständiger und räumlich<br />

einigermaßen klar abgegrenzter Staaten gibt,<br />

noch trägt. In verschiedensten Zusammenhängen<br />

wird nach der völkerrechtlichen Relevanz<br />

von „extraterritorialen“ Phänomenen<br />

gefragt: angefangen von militärischen Auslandseinsätzen,<br />

traditioneller, aber auch Cyber-Spionage<br />

über Wirtschaftssanktionen,<br />

Plattformregulierung im Ausland, Migrationsströme<br />

bis hin zu Treibhausgasemissionen.<br />

Keine Herausforderung markiert die<br />

Grenze des Denkens und Handelns in Grenzen<br />

so deutlich wie jene des Klimawandels.<br />

Denn hier sind alle zugleich Täter und Opfer,<br />

freilich in ganz unterschiedlichem Maße und<br />

mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, zu<br />

Klimaschutz und Klimaanpassung beizutragen.<br />

Hier, soweit sind sich die meisten einig,<br />

wird man nur durch intensivierte globale Zusammenarbeit<br />

vorwärts kommen. Hier ist das<br />

Völkerrecht, mit all seinen Grenzen, einmal<br />

mehr unverzichtbar. <br />

50 zukunft forschung <strong>02</strong>/22<br />

Foto: privat

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!