Zukunft Forschung 02/2022
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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PHARMAZIE<br />
Prognosen sagen voraus, dass es 2030<br />
über 22 Millionen Krebspatient*innen<br />
pro Jahr geben wird. Dementsprechend<br />
wird ein großer Fokus auf die Krebstherapie<br />
und Entwicklung neuer Wirkstoffe<br />
gerichtet. Anita Weidmann will<br />
allerdings auch die Erfahrungen der Patient*innen<br />
im Verlauf der Behandlung<br />
verbessern. In einer qualitativen Studie<br />
hat sie deshalb gemeinsam mit ihrem<br />
Team die Erfahrungen von Krebspatientinnen<br />
und -patienten untersucht. Dabei<br />
begleiteten die Wissenschaftler*innen<br />
16 Menschen, die aufgrund ihrer Darmkrebs-Diagnose<br />
in ein bestimmtes Behandlungsschema<br />
fielen, über ihren gesamten<br />
Behandlungszeitraum.<br />
„Wir haben versucht, die Auswirkungen<br />
der Therapie für die Patientinnen<br />
und Patienten ganzheitlich darzustellen<br />
– sowohl was die Lebensqualität als<br />
auch was andere interne und externe<br />
Einflussfaktoren wie beispielsweise die<br />
finanzielle Situation betrifft“, erklärt die<br />
Klinische Pharmazeutin. „Da betreuende<br />
Angehörige im Verlauf einer Therapie<br />
auch eine wesentliche Rolle spielen,<br />
haben wir auch ihre jeweils engste Bezugs-<br />
und damit Betreuungsperson in<br />
die Studie aufgenommen und befragt“,<br />
beschreibt Weidmann das Studiendesign.<br />
Basis dieser qualitativen Studie war das<br />
sogenannte patients lived experience model,<br />
das von den Wissenschaftlerinnen und<br />
Wissenschaftlern durch intensive, systematische<br />
Literaturrecherche für den<br />
onkologischen Bereich angepasst wurde.<br />
Im Anschluss wurden die Patientinnen<br />
und Patienten über den Zeitraum ihrer<br />
sechsmonatigen Behandlung insgesamt<br />
vier mal interviewt.<br />
Ernüchterung & Überforderung<br />
„Unsere Gespräche haben gezeigt, dass<br />
viele Patientinnen und Patienten nach<br />
der Diagnose Darmkrebs eine Chemotherapie<br />
begonnen haben, weil ihre<br />
Hoffnung auf Heilung größer war als<br />
die Angst vor den Nebenwirkungen der<br />
Behandlung. Leider waren sie dann gegen<br />
Ende der Behandlung allerdings oft<br />
desillusioniert, weil sie feststellten, dass<br />
es keine Heilung gibt und dass sie sich<br />
wohl anders entschieden hätten, wenn<br />
sie zu Beginn der Behandlung die richtigen<br />
Fragen gestellt und mehr Informationen<br />
zu ihrem Fall gehabt hätten“, so<br />
Weidmann.<br />
ANITA WEIDMANN, geboren und aufgewachsen<br />
im deutschen Rheinhessen,<br />
absolvierte ihr Pharmaziestudium an der<br />
Robert Gordon University in Schottland,<br />
wo sie 2007 promovierte. Sie war einige<br />
Jahre als Apothekerin in öffentlichen<br />
und Krankenhausapotheken in Großbritannien<br />
tätig, absolvierte Auslandsaufenthalte<br />
und lehrte und forschte im<br />
Bereich Clinical Pharmacy an der Robert<br />
Gordon University. Seit Jänner 2<strong>02</strong>1 ist<br />
sie Universitätsprofessorin für Klinische<br />
Pharmazie an der Uni Innsbruck. Zudem<br />
ist sie Gastprofessorin an der Universität<br />
Graz und der Robert Gordon University<br />
und Mitglied der Expert*innengruppe zur<br />
Verschreibung von Generika im österreichischen<br />
Bundesministerium für Soziales,<br />
Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz,<br />
sowie im wissenschaftlichen<br />
Beirat der European Society of Clinical<br />
Pharmacy und der österreichischen Plattform<br />
Patientensicherheit.<br />
Es zeigte sich auch, dass die Patientinnen<br />
und Patienten zwar mit der Behandlung<br />
an sich und mit dem medizinischen<br />
Personal sehr zufrieden waren, in den<br />
Phasen zu Hause allerdings oft mit den<br />
Nebenwirkungen überfordert waren.<br />
Auch ihr Empfinden darüber, ein aktives<br />
Mitbestimmungsrecht zu haben, war oft<br />
nicht vorhanden. „Die Auswirkung der<br />
Medikamentierung auf die Lebensqualität<br />
– nicht die des Krebses selbst – wurde<br />
von allen Befragten als beträchtlich angegeben.<br />
Auch die Betreuungspersonen, die<br />
als Ungeschulte in den Zeiten zu Hause<br />
auch für die Medikamentengabe verantwortlich<br />
waren, fühlten sich oft überfordert“,<br />
erläutert Anita Weidmann.<br />
Insgesamt hat die Studie gezeigt, dass<br />
das System sehr gut funktioniert, Patient*innen<br />
und deren Angehörige aber<br />
teilweise komplett überfordert sind, weil<br />
der Zugang zur Information meist relativ<br />
generisch gehalten wird. Diese Überforderung<br />
führt dazu, dass Patient*innen,<br />
wenn sie zu Hause sind, öfter Ärztinnen<br />
und Ärzte oder die Notaufnahme kontaktieren<br />
und so zusätzlichen Druck auf<br />
das Gesundheitssystem aufbauen.<br />
Individualisierte Information<br />
„Dieser zusätzliche Druck könnte vermieden<br />
werden, wenn man Patient*innen<br />
und Angehörige sowohl bei der Diagnose<br />
als auch bei der Entlassung aus dem<br />
Krankenhaus richtig schult, ihnen genau<br />
erklärt, was auf sie zukommen wird,<br />
welche Medikamente sie bei welchen<br />
Symptomen und Nebenwirkungen verabreichen<br />
können und ab welchem Punkt<br />
sie wieder ärztliche Hilfe in Anspruch<br />
nehmen müssen. Ein individuell zugeschnittenes<br />
Beratungsgespräch könnte<br />
den Patientinnen und Patienten sowie ihren<br />
pflegenden Angehörigen Einiges erleichtern<br />
und am Ende auch das Gesundheitssystem<br />
entlasten“, ist die Klinische<br />
Pharmazeutin überzeugt. Zudem glaubt<br />
Anita Weidmann, dass auch individuelle<br />
Informationsgespräche während der Behandlung<br />
und eine gezieltere Förderung<br />
des Austausches zwischen Patientinnen<br />
und Patienten ihre Erfahrungen mit der<br />
Behandlung verbessern könnten.<br />
„Auch wenn alle in der Krebstherapie<br />
tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie das<br />
Pflegepersonal sehr genau wissen, wie es<br />
den Patientinnen und Patienten geht,<br />
glauben wir, mit qualitativen Studien wie<br />
dieser, wissenschaftliche Evidenz zu<br />
schaffen, um die sich stets wandelnden<br />
Erfahrungen der Patient*innen mit ihren<br />
Arzneitherapien festzuhalten, um die Betreuung<br />
in dieser Hinsicht verbessern<br />
und standardisieren zu können. Denn<br />
eine Verbesserung der Erfahrungen der<br />
Patient*innen ist auch für den Behandlungserfolg<br />
wesentlich“, ist Weidmann<br />
überzeugt. <br />
sr<br />
zukunft forschung <strong>02</strong>/22 35