RECHTSWISSENSCHAFT 30 zukunft forschung <strong>02</strong>/22 Foto: Andreas Friedle
RECHTSWISSENSCHAFT MENSCHENRECHTE IN ÖSTERREICH SCHÜTZEN Verena Murschetz beobachtet seit sieben Jahren, wie es um die Einhaltung von Menschenrechten in Justizanstalten, Polizeianhaltezentren und anderen Orten des Freiheitsentzugs in Tirol und Vorarlberg steht. Im Interview gibt Murschetz, Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Innsbruck, Einblick in ihre Tätigkeit und erzählt, wie diese in <strong>Forschung</strong> und Lehre einfließt. Seit dem Jahre 2012 wird in Österreich das OPCAT, eine Ergänzung zum Anti-Folter-Übereinkommen der Vereinten Nationen, umgesetzt: Expert*innen-Kommissionen auf regionaler und Bundesebene machten seither durchschnittlich 450 Besuche pro Jahr in Einrichtungen des Freiheitsentzugs. Im Zuge dieser Kontrollmaßnahmen wurden in bis zu 80 Prozent der Fälle Defizite festgestellt. Die Juristin Verena Murschetz leitet die Kommission für Tirol und Vorarlberg. Im Folgenden spricht sie über Menschenrechtsschutz in Praxis, <strong>Forschung</strong> und Lehre. ZUKUNFT: Was ist OPCAT und wie wird es umgesetzt? VERENA MURSCHETZ: Als fakultatives Zusatzprotokoll zum Antifolter-Abkommen trägt OPCAT den Staaten, die es ratifizieren, auf, einen sogenannten Nationalen Präventionsmechanismus einzurichten. Darunter ist ein zusätzlicher Kontrollmechanismus zu verstehen, der durch Kontrollbesuche präventiv vor Menschenrechtsverletzungen schützen soll. In Österreich involviert dieser die Volksanwaltschaft und sechs Länderkommissionen sowie eine Bundeskommission. Diese haben die Aufgabe, unangekündigte Besuche in Einrichtungen, welche die Freiheit entziehen oder auch nur potenziell entziehen können, zu machen und darüber zu berichten. In Österreich sind wir vergleichsweise gut aufgestellt und können daher nicht nur die klassischen Orte des Freiheitsentzugs wie Justizanstalten, Polizeianhaltung und Psychiatrien, sondern auch Alten- und Pflegeheime, Einrichtungen für Kinder und Jugendliche und für Menschen mit Behinderungen besuchen. ZUKUNFT: Sie sind seit 2015 Leiterin der Kommission 1 für Tirol und Vorarlberg. Was machen Sie und Ihre Kommission ganz konkret? MURSCHETZ: Als Kommissionsleiterin entscheide ich zunächst, welche Einrichtungen wir prüfen und in welcher Expert*innen-Zusammensetzung. Wir gehen dann unangekündigt in die Institutionen, führen Gespräche mit den Insass*innen, Klient*innen oder Bewohner*innen, aber auch mit dem Personal und der Leitung. Wir protokollieren alle Gespräche und treffen dann zu bestimmten Themen wie zum Beispiel zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen Feststellungen und eine menschenrechtliche Beurteilung. Das heißt, wir erklären im Protokoll und auch in einem abschließenden Gespräch vor Ort, warum etwas menschenrechtlich zu beanstanden ist und formulieren konkrete Empfehlungen bzw. Verbesserungsvorschläge. Das Protokoll über den Besuch erhält dann die Volksanwaltschaft und kommuniziert die Beanstandungen und Empfehlungen an das zuständige Ministerium bzw. die Landesregierung sowie die zuständigen Trägerinstitutionen. ZUKUNFT: Kommt es im Zuge solcher Besuche auch manchmal zu Anzeigen? MURSCHETZ: Ja, wenn ein Problem so schwerwiegend ist, dass es strafrechtlich relevant ist, wie z. B. jüngst der Pflegeskandal in Salzburg. Das ist nicht so häufig, kommt aber vor. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, nachträglich zu prüfen, ob ein Verschulden vorliegt, zum Beispiel, wenn ein Suizid während eines Freiheitsentzugs stattgefunden hat. Unser Ziel ist es, strukturelle Probleme aufzudecken und konkrete Empfehlungen zur Beseitigung der festgestellten Defizite vorzuschlagen. ZUKUNFT: Ist es in der Alltagspraxis nicht schwierig, rechtliche von strukturellen oder sozialen Problemen abzugrenzen? MURSCHETZ: In meiner Kommission sind verschiedene Expert*innen vertreten. Wir haben zwei Jurist*innen, eine davon ist auch Sozialpädagogin, einen Psychiater, einen diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger, eine Fachsozialbetreuerin für Altenarbeit, eine Psychologin und einen Experten für Behindertenrecht. Die Zusammensetzung und Stärke der Kommission richten sich „Wir merken, dass unsere Besuche sehr viel bewirken, gerade im Sozial- und Gesundheitsbereich. Insbesondere bei Alten- und Pflegeheimen stellen wir eine hohe Reflexionsbereitschaft und Offenheit für unsere Vorschläge fest.“ nach der Einrichtung und den konkreten Schwerpunkten, die wir prüfen. In einem gemeinsamen Protokoll hält jedes Kommissionsmitglied seine Wahrnehmungen fest und bewertet diese aus seiner Expertise. Rein rechtlich gesehen gibt es für die jeweiligen Einrichtungen verschiedene, aber klare Vorgaben, z. B. das Strafvollzugsgesetz für Justizanstalten, das Heimaufenthaltsgesetz, das Unterbringungsgesetz oder die Behindertenrechtskonvention. Insofern ist die Einschätzung nicht so schwer. zukunft forschung <strong>02</strong>/22 31