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Zukunft Forschung 02/2022

Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck

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TITELTHEMA<br />

keine besondere Bedeutung, oft waren sie nicht<br />

einmal exakt definiert: „Man wusste natürlich,<br />

welches Dorf welchem Fürsten gehört, aber wo<br />

genau die Grenze zwischen den Dörfern verläuft,<br />

war nicht immer klar – und eben über<br />

weite Strecken irrelevant.“<br />

Zaristisches Kontrollbedürfnis<br />

Eine Ausnahme bildete lange Zeit Russland:<br />

Schon für das 16. Jahrhundert ist belegt,<br />

dass man sich bei Einreise in das Zarenreich<br />

im ersten Dorf anmelden und beim jeweils<br />

verantwortlichen Adeligen auch ein Formular<br />

mit Fragen zu weiteren Zielen und dem<br />

Zweck der Reise ausfüllen musste, eine Art<br />

Passbrief, den man auch bei weiteren Stationen<br />

erneut vorzeigen musste. „Das ist nur mit<br />

einem gewissen Kontrollbedürfnis des Zaren<br />

zu erklären, der zu jeder Zeit informiert sein<br />

wollte, welche Fremden sich in seinem Gebiet<br />

aufhielten. Dieses Verhalten war mit ein<br />

Grund dafür, und auch das wissen wir aus<br />

Quellen, dass der Rest Europas Russland<br />

damals noch nicht als europäische Macht begriff,<br />

sondern als etwas strukturell Anderes,<br />

wo man sich auch anders zu benehmen hatte“,<br />

sagt der Historiker. Dieses Verhältnis zu<br />

Russland sollte sich erst im 18. und 19. Jahrhundert<br />

ändern. „Ab dem 18. Jahrhundert,<br />

unter Peter dem Großen, hat Russland sich<br />

geöffnet und expandierte, und das führte<br />

dazu, dass das Reich auch nicht mehr als so<br />

fremd wahrgenommen wurde.“ Diese mental<br />

maps, durch unterschiedliche Sichtweisen,<br />

Konzepte und Praktiken geprägte Konstruktionen<br />

von europäischen Gemeinsamkeiten<br />

und Unterschieden, wandeln sich stetig, und<br />

dementsprechend verschieben sich auch definitorische<br />

Grenzen des „Europäischen“.<br />

Generelle Überlegungen über ein europäisches<br />

Mächtegleichgewicht sind bereits aus<br />

dem 15. Jahrhundert belegt, etwa in den Memoiren<br />

des französischen Diplomaten Philippe<br />

de Commynes (1447 – 1511). Die bisher erste<br />

bekannte Quelle für eine Benennung dessen,<br />

was wir heute als „europäische Werte“ bezeichnen<br />

würden, hat Stefan Ehrenpreis gemeinsam<br />

mit seinem Kollegen Niels Grüne in<br />

Korrespondenz rund um den Spanischen Erbfolgekrieg<br />

(1701 – 1714) entdeckt: „Der Konflikt<br />

war vielschichtig und ist kaum in einem Satz<br />

zusammenzufassen. Aber kurz umrissen standen<br />

sich damals in Europa Österreich mit dem<br />

Heiligen Römischen Reich, die Niederlande<br />

und England auf der einen und hauptsächlich<br />

Frankreich auf der anderen Seite gegenüber,<br />

auf dem Spiel stand das Mächtegleichgewicht<br />

auf dem Kontinent – der französische König<br />

Ludwig XIV. wollte sich selbst die Herrschaft<br />

über Spanien sichern, die Gegenparteien wollten<br />

das verhindern. Und die Kriegsparteien<br />

schlossen den französischen König Ludwig<br />

XIV. sozusagen aus Europa aus – er verhalte<br />

sich uneuropäisch, wie ein Tyrann, das kenne<br />

man nur von außerhalb Europas, vom russischen<br />

Zaren oder vom osmanischen Sultan.“<br />

Die Mächte definierten auch Merkmale Europas,<br />

denen Ludwig XIV. nicht (mehr) entsprach:<br />

Die Mitbeteiligung der Stände an der<br />

Politik, eine gewisse regionale Selbstverwaltung<br />

und der Schutz des Privateigentums.<br />

Nationalismus<br />

Das 19. Jahrhundert bildet in vielerlei Hinsicht<br />

eine Zäsur im Verständnis von Grenzen<br />

und Zugehörigkeiten: Der damals aufkeimende<br />

Nationalismus beförderte eine genauere<br />

Definition von Staatlichkeit und Staaten,<br />

das schließt auch die Staatsgrenzen mit ein;<br />

und schon im Wiener Kongress 1815 wurden<br />

in der damals erfolgten Aufteilung Europas<br />

Grenzverläufe recht detailliert benannt. Damals<br />

entsteht der moderne Staat mit seinen<br />

Symbolen, die wir bis heute kennen: Reisepässe,<br />

Grenzbalken, Nationalflaggen und -wappen,<br />

dazu kommen später heutige Selbstverständlichkeiten<br />

wie nationale Telefonvorwahlen<br />

und Internet-Domains.<br />

„Das 19. und 20. Jahrhundert bringen bekanntlich<br />

große Umwälzungen. Die Öffnung<br />

Russlands endete mit der Revolution 1917, da<br />

entstanden auch neue mental maps in Europa<br />

– Russland wurde erst Hoffnungsgebiet für<br />

Sozialisten und Kommunisten, der Zweite<br />

Weltkrieg und der Kalte Krieg brachten dann<br />

erneut neue Grenzen und Zuschreibungen“,<br />

sagt Stefan Ehrenpreis. Gleichzeitig halten<br />

sich andere Konzepte teils über Jahrhunderte<br />

– wenn etwa ein Kommentator in der Financial<br />

Times während der Finanzkrise noch 2011<br />

den damals aktuellen Konflikt in der Eurozone<br />

zwischen nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten<br />

auf den Dreißigjährigen Krieg<br />

und den Unterschied zwischen (vermeintlich)<br />

prassenden Katholik*innen und sparsamen<br />

Protestant*innen bezieht. „Generell wurde<br />

und wird ein Europa-Argument genauso oft<br />

als Mittel des Ausschlusses verwendet wie als<br />

eines der Einigung“, betont der Historiker.<br />

„Auch historisch ist das leicht belegt: Europa<br />

als Konzept wurde und wird ganz unterschiedlich<br />

benutzt, mit ganz unterschiedlichen<br />

Folgen. Nicht nur Historikerinnen und<br />

Historiker wissen: Quellenkritik ist stets angebracht,<br />

auch, wenn es um Europa und seine<br />

Grenzen geht.“<br />

sh<br />

STEFAN EHRENPREIS ist<br />

seit 2014 Universitätsprofessor<br />

im Arbeitsbereich Geschichte<br />

der Neuzeit am Institut für<br />

Geschichtswissenschaften<br />

und Europäische Ethnologie<br />

der Universität Innsbruck.<br />

Ehrenpreis ist auch Leiter des<br />

<strong>Forschung</strong>szentrums „Europakonzeptionen“<br />

der Universität.<br />

Dieses Zentrum will zur wissenschaftlichen<br />

Aufklärung über<br />

Vorstellungen und Wahrnehmungen<br />

von Europa beitragen.<br />

Sowohl innerhalb als auch<br />

außerhalb Europas entstanden<br />

Bilder des Kontinents und soziale<br />

Praktiken seiner Lebenswelten,<br />

die zur Wirklichkeit<br />

europäischer Gesellschaften<br />

gehörten und gehören. Das<br />

<strong>Forschung</strong>szentrum untersucht<br />

die Entstehung von Narrativen<br />

und Praktiken zu Europa als<br />

auch deren Wandel in Vergangenheit<br />

und Gegenwart.<br />

Neben Texten werden auch<br />

visuelle und künstlerisch-ästhetische<br />

Quellen genutzt und<br />

so die Zusammenarbeit der<br />

„Buchwissenschaften“ mit den<br />

„Bildwissenschaften“ in Innsbruck<br />

systematisch gestärkt –<br />

beteiligt sind hier insbesondere<br />

die Institute der geisteswissenschaftlichen<br />

Fakultäten.<br />

zukunft forschung <strong>02</strong>/22 19

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